Lencis Historia
«Complot» und «Meuterey»: Der erste aktenkundige Streik der Schweiz fand in Niederlenz statt

Gleicher Lohn für mehr Arbeit? Das wollten die Arbeiter der Hünerwadelschen Spinnerei in Niederlenz nicht. 1813 streikten sie deshalb – was gar nicht gut ankam.

Eva Wanner
Drucken
Luftaufnahme von 1972 mit Blick auf das Areal der früheren Spinnerei der Hünerwadels, später der «Schweizerischen Leinenindustrie A.-G. Niederlenz» (im Volksmund «Pfupfi» genannt) und dann der «Hetex AG».

Luftaufnahme von 1972 mit Blick auf das Areal der früheren Spinnerei der Hünerwadels, später der «Schweizerischen Leinenindustrie A.-G. Niederlenz» (im Volksmund «Pfupfi» genannt) und dann der «Hetex AG».

Bild: ETH-Bibliothek /Stiftung Luftbild Schweiz/az

Wie weit fortgeschritten ist die künstliche Intelligenz – kann sie den Menschen schon bald ersetzen? Solche Gedanken sind nicht neu; auch wenn der vermeintliche Gegner ein anderer war. Ebenso wenig die Arbeit niederzulegen, um für bessere Arbeitsbedingungen oder gegen Entlassungen zu protestieren.

Eine Gemeinde im Bezirk Lenzburg hat dahin gehend Geschichte geschrieben: «1813 kam es in der Hünerwadelschen Spinnerei zu einem Aufstand der Angestellten, der als erster Fabrikarbeiterstreik der Schweiz in die Geschichte einging», heisst es im Online-Inventar der Kantonalen Denkmalpflege Aargau. In den Lenzburger Neujahrsblättern von 1975 führt Werner Weder die Umstände von damals genauer aus.

Weniger Arbeitskräfte benötigt

Von einem «Complot», gar einer «Meuterey» ist die Rede, wenn es um den Streik bei der Firma Hünerwadel in Niederlenz geht. Hünerwadel? Genau, ebenjenes Geschlecht, das Lenzburg geprägt hat wie kaum ein anderes.

Die Familie gäbe Stoff für mehrere Bücher her. Ein Kürzestabriss nach Informationen von Autor Weder: 1601 kommt Marcus Hünerwadel von Schaffhausen nach Lenzburg. 1688 errichtet Notar Hans Martin Hünerwadel eine Bleiche, sein Neffe später eine Indienne-Druckerei. Die bunten Stoffe verhelfen der Stadt zum Aufschwung – und der Familie. 1811 wird die Hünerwadelsche mechanische Spinnerei in Niederlenz eröffnet.

Es ist im ganzen Kanton erst das zweite Werk seiner Art. Das erste hatte Herzog von Effingen in Aarau in Betrieb genommen. Diese Art der Fabrikation bedeutet für die Landbevölkerung vor allem eines: den Verlust von Arbeitsplätzen. Es wird nur noch ein Bruchteil von Arbeitskräften benötigt, um dieselbe Menge Garn herzustellen. Das löst eine «sozialpolitische und fortschrittsfeindliche Bewegung gegen die mechanischen Betriebe» aus, wie Weder schreibt.

Arbeiter sollen belangt werden

Viel bekannt ist über den Streik an sich nicht. Allerdings: Es existiert ein Schreiben von Gottlieb Heinrich Hünerwadel, der – wie Herzog von Effingen – Mitglied im Kleinen Rat (heute: Regierungsrat) ist, an die Ratskollegen.

Er wendet sich an die «Hochgeachteten Herren», beschreibt seine Fabrik, wo «täglich bei 150–160 Menschen, groß und klein, ihr Brod finden; beträchtlich genug, um in so klammen Zeiten die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich zu ziehen». Ein Arbeiter habe sich trotzig und ungebührlich aufgeführt, sei entlassen worden, wie schon dreimal zuvor, aber immer wieder eingestellt «auf sein dringendes Anhalten und Bitten».

Ebendieser Mann habe wohl die anderen dazu verleitet, zu protestieren: Sie wollten nicht mehr arbeiten für denselben Lohn. In allen Ländern aber, so schreibt Hünerwadel, würden «Meuterey und Complot unter Arbeitern zum Nachtheil der Fabriken polizeylich gestraft». Das habe der Fabrikbesitzer denn auch verlangt, vom Polizeipräsidenten persönlich. Und vor allem, dass weitergearbeitet wird – mindestens 14 Tage lang, die gesetzliche Kündigungsfrist.

Der Kleine Rat reagiert prompt und weist den Bezirksammann von Lenzburg an, die Arbeiter zu belangen. Denn schliesslich: «Es kann Uns nicht gleichgültig sein, daß Fabriken und andere Anstalten, welche den Einwohnern umliegender Gegend Verdienst verschaffen und Unsern Kanton von den Industrieerzeugnissen des Auslandes unabhängiger machen, durch solche Auftritte gehemmt, ihre Besitzer in Verlust gesetzt werden.»

Regelmässig werfen wir einen Blick zurück. Wir schauen, was die Stadt und das Umland vor 20, 70 oder auch 210 Jahren bewegt hat, und zeigen hübsche Trouvaillen zum Kichern, zum Ärgern oder zum Besserwissen.