99-Prozent-Initiative
Arme immer ärmer, Reiche immer reicher – ist das in der Schweiz wirklich so?

Eine Initiative der Jungsozialisten fordert mehr Umverteilung. Der Nationalrat hält sie für unnötig. Doch was sind die Fakten: Wer besitzt in der Schweiz wie viel, und wer kann von seinem Vermögen leben?

Lucien Fluri
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Privater Pool in Schloss Salenstein, das einst der Familie Erb gehörte. Bis zum Zusammenbruch des Firmenimperiums eine der vermögendsten Familien der Schweiz.

Privater Pool in Schloss Salenstein, das einst der Familie Erb gehörte. Bis zum Zusammenbruch des Firmenimperiums eine der vermögendsten Familien der Schweiz.

Andrea Stalder

Wer einzig und alleine von Erträgen aus seinem Vermögen leben kann, der soll mehr Steuern bezahlen. Das fordert die 99-Prozent-Initiative der Juso, zu der sich der Nationalrat am Donnerstag äusserte. «Das Kapitaleinkommen wurden in den letzten Jahren steuerlich immer stärker privilegiert. Davon profitiert nur das reichste Prozent», schreiben die Initianten. «Die Lohnabhängigen, auf deren Kosten dieses Kapital angehäuft wird, werden hingegen immer stärker.» Während die Reichen reicher geworden seien, seien die Armen ärmer geworden.

Doch stimmt dies? Wer besitzt in der Schweiz eigentlich Vermögen, wer verdient wie viel und wer zahlt wie viel Steuern? Das sind die wichtigsten Fakten zu Löhnen und Vermögen in der Schweiz.

Wer besitzt das Vermögen in der Schweiz?

  1. Zuerst einmal: Jeder Vierte in der Schweiz besitzt gar kein Vermögen. Das zeigt die eidgenössische Steuerstatistik.
  2. Das reichste Prozent besitzt fast 40 Prozent des gesamten Vermögens. Allerdings hat diese Zahl, die auf den Steuerdaten basiert, einen Haken: Die Sparguthaben in der dritten Säule werden in den Steuererklärungen nicht erfasst. Dies verzerrt das Bild; die Reichen scheinen noch etwas reicher.
  3. Tatsächlich aber werden die Reichsten immer reicher. Gerade die Super-Vermögen sind gewachsen: 2003 besassen 3 Prozent der Bevölkerung die Hälfte aller Vermögen. 2016 besassen dann schon die reichsten 1.9 Prozent gleich viel, wie die restlichen 98.1 Prozent zusammen.

Quelle: BFS; Redaktion: Lucien Fluri; Grafik: Lea Siegwart

Und wie sind die Löhne in der Schweiz verteilt?

  1. Die Mehrheit in der Schweiz verdient bei einem 100-Prozent-Pensum zwischen 4000 und 7000 Franken netto. 27 Prozent haben einen Nettolohn von mehr als 8000 Franken pro Monat. 13,9 Prozent der Schweizer Bevölkerung leben jedoch nahe an der Schwelle zur Armut.
  2. Zwischen 2007 und 2016, so zeigte im Juni eine Studie der Bank Cler, sind die Durchschnittseinkommen gestiegen. Der durchschnittliche Haushalt konnte also profitieren.
  3. Allerdings ist bei den Topverdienern ein starke Zunahme festzustellen. Laut den Gewerkschaften hat sich die Zahl der Lohnmillionäre innert zwanzig Jahren mehr als verdreifacht. 3200 Personen verdienten 2018 mehr als eine Million. Das bestverdienendste Prozent erhält elf Prozent der Einkommen. Zudem sind die Topverdiener ein eher abgeschlossener Kreis: Es gelingt nur ganz wenigen dorthin aufzusteigen.

Quelle: BFS; Redaktion: Lucien Fluri; Grafik: Lea Siegwart

Öffnet sich die Schwere zwischen Arm und Reich in der Schweiz tatsächlich?

  1. Grundsätzlich gilt: Die Schweiz verfügt über sehr stabile Verhältnisse. Nur wenige Länder haben eine ausgeglichenere Verteilung. Die Lohnschere ist in der Schweiz prinzipiell nicht gross aufgegangen. Dies ist im internationalen Umfeld die Ausnahme. Zur Stabilität trägt bei, dass mehr Frauen (Teilzeit) arbeiten und so zusätzlich Einkommen generieren. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Rentner zu. Bei der AHV sind die Einkommensdifferenzen geringer.
  2. Festzustellen ist aber: Die Topverdiener unter den Gutverdienern sind davongezogen. Ihre Löhne haben in den vergangenen Jahrzehnten überdurchschnittlich stark zugenommen. Einerseits zog die Schweiz bewusst Gutverdiener an. Andererseits dürfte dies ein Effekt internationaler Konzerne sein. Die Aufstiegschancen sind nicht besonders gross: Wer einmal in der Kategorie ist, bleibt vergleichsweise lange dort.
  3. Stärker gewachsen ist die Ungleichheit bei den Vermögen. Zwischen 2003 und 2015 ist das Gesamtvermögen in der Schweiz von 1038 auf 1792 Milliarden Franken gewachsen. Insbesondere die grossen Vermögen haben zugenommen.
  4. Grundsätzlich gilt: Mit gut laufender Konjunktur steigt die Ungleichheit. Wer Aktien besitzt oder als Lohnbestandteil erhält, verdient mehr. In Wirtschaftskrisen dagegen stützen die Sozialsysteme den Mittelstand.
  5. Die Erbschaften perpetuieren Vermögenszustände. Zwei Drittel der Erbschaften, die 1 Mio. Franken übersteigen, gehen an die reichsten zehn Prozent. Sie stiegen von 36 Milliarden Franken im Jahr 1999 auf geschätzte 95 Milliarden Franken im Jahr 2020. Gleichzeitig ist die Steuerlast auf Erbschaften gesunken, so zeigte eine Studie von Marius Brülhart von der Uni Lausanne: Waren es pro vererbtem Franken 1990 noch 4,1 Rappen, sind es nun 1,4 Rappen.

Und wie sieht es bei den Steuern aus?

  1. Das reichste Prozent der Steuerpflichtigen kommt für zirka 35% der gesamten Einnahmen der direkten Bundessteuer auf. Und: Die steigenden Vermögen sorgten auch für zusätzliche Steuern: Gemäss Zahlen der eidgenössischen Steuerverwaltung haben die Kantone und Gemeinden 2015 Vermögenssteuern über 6,6 Milliarden Franken erhalten. 2,2 Milliarden mehr als noch 2003.
  2. Es gibt aber, so zeigte eine Untersuchung im Kanton Obwalden auch, «das Phänomen des einkommensschwachen Millionärs». 16 Prozent unter den reichsten zehn Prozent, hatten dort ein Einkommen, das unter dem Medianeinkommen lag.
  3. Tatsache ist: Das Steuersystem leistet in der Schweiz nur einen geringen Beitrag zur Umverteilung. Dies dürfte am Steuerwettbewerb der Kantone liegen, der die Steuerlast tief hält. Darin dass die Einkommenskonzentration langfristig aber stabil ist, zeigt sich, dass die Umverteilung über andere Kanäle wie die Sozialwerke funktioniert.

Die Verhältnisse sind stabil. Warum will die Juso dies ändern?

  1. Während die Zahl der Einkommensmillionäre zugenommen habe, arbeite immer noch eine halbe Million Menschen in Tieflohnjobs für unter 4’200 Franken, argumentieren die Gewerkschaften.
  2. Für die Gewerkschaften ist etwa zentral, dass die unteren und mittleren Löhne weniger stark gewachsen sind als die höchsten. Zudem hätten Gutverdiener und Vermögende stärker von Steuererleichterungen profitiert. Dies soll korrigiert werden.
  3. Es sei ungerecht, dass Einkommen aus Kapital oder Dividenden weniger besteuert werden als Einkommen aus Arbeit.

Wer wäre betroffen?

  1. Wie viele Personen konkret betroffen wären, kann nicht gesagt werden, da das Parlament wichtige Faktoren noch festlegen müsste. Klar ist aber: Würde die Schwelle bei 5 Millionen Franken angesetzt, so wären 0,64 Prozent der Steuerpflichtigen betroffen. Fünf Millionen gilt als gutes Beispiel: Wer so viel Vermögen hat, erhält bei einer Rendite von 2 Prozent jährlich 100'000 Franken Einkommen alleine aus dem Vermögen.
  2. Aus Sicht des Wirtschaftsdachverbandes Economiesuisse wären aber zu viele Familienunternehmen betroffen. Denn bei vielen Firmenbesitzern ist das Vermögen im Unternehmen gebunden. Economiesuisse warnt: «Zur Begleichung ihrer exzessiv hohen Steuerrechnung wären sie fortlaufend gezwungen, ihre Unternehmen zu entleeren. Zukunftsinvestitionen würden massiv erschwert.»