Inhalt
Zu diesem Heft
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Heft 73/2016
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Literaturbericht
Ulfrid Kleinert
Sozialarbeit und Seelsorge im Kontext von Strafvollzug und »Resozialisierung«
5
Rezensionsaufsätze
Firat Yildirim
Von der vermittelten Nichtidentität und neuen Wegen aus der Systemkrise:
Darrow Schecters Reformanstoß der kritischen Theorie im 21. Jahrhundert.
41
Michael Winkler
Alltagsverstand, politische Bildung und Soziale Arbeit
47
György Széll
Gesellschaftstheorie heute
52
Timm Kunstreich
Erziehung als »respektables Kampfmittel«, »die Macht der herrschenden Klasse
zu sichern«. Eine ermutigende Re-Lektüre von Siegfried Bernfelds Schriften zu
Psychoanalyse und Pädagogik
61
Holger Ziegler
Professionalität
67
Sammelbesprechung
Albert Scherr
Menschenrechte, nationalstaatliche Demokratie und funktionale Differenzierung–
Wahlverwandtschaften oder Gegensätze?
73
Forschungsbericht
Manfred Liebel
Globale Kindheiten und das Versprechen der Kinderrechte
79
Essays
Stephen Mennell
Die us-amerikanische Heuchelei – Ein Erklärungsversuch
103
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Heft 73/2016
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Inhalt
Gerard Delanty
Nachdenken über die Bedeutung von Solidarität für das heutige Europa
123
Christoph Sänger
Den Marxismus lebendig erhalten. Pädagogische Impulse zweier Vordenkerinnen
des demokratischen Sozialismus: Anna Siemsen und Alice Rühle-Gerstel
134
Reinhart Wolff
Moderner Kinderschutz in der Unsicherheitsgesellschaft – ganzheitliche Hilfe oder
autoritäres Risikomanagement – Entwicklungstrends und aktuelle Herausforderungen
150
Einzelbesprechungen
Peter Hammerschmidt/Ute Kötter/Juliane Sagebiel
Die Europäische Union und die Soziale Arbeit
(Franz Hamburger)
162
Amanda Klekowski von Koppenfels
Migrants or Expatriates? Americans in Europe
Lars Meier
Migrant Professionals in the City: Local Encounters, Identities, and Inequalities
(Dani Kranz)
165
Stefan Gillich/Rolf Keicher
Suppe, Beratung, Politik – Anforderungen an eine moderne Wohnungsnotfallhilfe
(Georg Bastian)
167
Holger Brandes/Markus Andrä/Wenke Röseler/Petra Schneider-Anrich
Macht das Geschlecht einen Unterschied? Ergebnisse der Tandemstudie zu
professionellem Erziehungsverhalten von Frauen und Männern. (Anna-Maria Kreienbaum)
168
Sarah Helm
Ohne Haar und ohne Namen. Im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück.
(Dagmar Lieske)
170
Hilmar Schäfer
Die Instabilität der Praxis: Reproduktion und Transformation des Sozialen in der
Praxistheorie (Lars Alberth)
173
Wolfdietrich-Schmied Kowarzik
Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk
(Micha Brumlik)
175
Autorinnen/Autoren
178
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Heft
Literaturbericht
Vor dem Hintergrund der heute fast vergessenen Geschichte der Debatten von vor 40 Jahren
über »Abolitionisten«, die – sozialwissenschaftlich orientiert – die Gefängnismauern einreißen
wollten und über die Bestrafung von Straftätern,
deren Sinn, Funktion und Folgen nachgedacht
haben, beschreibt Ulfrid Kleinert anhand einer
Vielzahl von Veröffentlichungen zum einen –
mit Bezug auf offizielle Ideologien und Ideen
– in einer weitgreifenden und grundlegenden
Weise die Situation von Gefängnisinsassen und
Analysen der Institution »Gefängnis«, zum anderen professionelle Praxen von Sozialarbeit
und Seelsorge im Kontext von Strafvollzug und
»Resozialisierung«. Gerade jene Literatur, die
von »Eingeweihten« unterschiedlicher Provenienz geschrieben wurde, verdeutlicht das Versagen des Kriminaljustizsystems im Bereich des
Strafvollzugs über weite Strecken.
Rezensionsaufsätze
Die klassische Kritische Theorie verstand sich
als Wissenschaft in praktischer Absicht, d.h.
als Beitrag zu einer emanzipatorischen Gesellschaftsveränderung. Gesellschaftsanalyse war
damit gesetzt als Aufgabe, in/an den widersprüchlich verfassten Bedingungen der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaftsformation
Elemente einer besseren Gesellschaft zu entziffern. Firat Yilderim rekonstruiert wesentliche
Elemente einer neuen Studie zur Bedeutung der
Kritischen Theorie im 21. Jahrhundert und zeigt,
wie – jenseits des Versagens der neueren Kritischen Theorie – Möglichkeiten einer wirklich
kritischen Analyse heute im Spätkapitalismus
insbesondere angesichts der neoliberalen Konterrevolution möglich sind und welcher Leitmotive sie sich dabei bedienen kann.
Die eher kategorial verfassten Überlegungen
zuvor werden im Beitrag von Michael Winkler
wesentlich »nach unten hin, zu den Erfahrungen der Menschen«, wie einst von Negt/Kluge
formuliert, verlängert, wenn er neuere Beiträge
zur Vermittlung zwischen Alltagsverstand, politischer Bildung und Sozialer Arbeit vorstellt. Im
Anschluss an das Werk des italienischen Marxis-
ten Antonio Gramsci erfolgt hier unter anderem
eine kritische Diskussion über die Beziehungen
zwischen Kultur und Sozialer Arbeit, in die Fragen der Konstitution von Alltagsbewusstsein
und deren Überwindung eingelassen sind.
Heft 73/2016
Rezensionsaufsätze
Literaturbericht
Zu diesem
Mit Fragen zum gegenwärtigen (Zu)stand von
Gesellschaftstheorie und politischer Theorie
ist der Text von György Széll befasst. Er resümiert in kritischer Art – vor allem bezogen auf
Fragen der Auswahl und deren Kriterien – Erträge eines voluminösen Internationalen Handbuchs, das in 42 Kapiteln ein breites Spektrum
heutiger Themen und Debatten ausbreitet, sich
allerdings doch in vielem als Englisch zentriert
erweist. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob
und welchen Einfluss diese Theoretisierung auf
neue soziale und politische Bewegungen – in
Europa oder in der Welt – nehmen kann bzw.
genommen hat.
Der grundlegenden Frage nach dem Verhältnis
von Theorie/Analyse und Politik/Praxis widmet
sich auch Timm Kunstreich in seiner Vorstellung
des fünften Bandes der Bernfeld-Ausgabe. Enthalten sind hier wesentliche Werke Bernfelds,
die sich dem Verhältnis von Marxismus und
Psychoanalyse am Gegenstand der Untersuchungen zu pädagogischer Praxis wie Theorie
widmen. Im Zentrum steht dabei »Sisyphos oder
die Grenzen der Erziehung« mit der Frage nach
dem Verhältnis von Erziehung und Gesellschaft,
spezifischer den Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderung in emanzipatorischer Absicht.
Es fragt sich, ob Rettendes für diese Perspektive
auch aus einer Konzeption – oder vielen – von
»Professionalität«, respektive »Professionalität
und Pädagogik« erwachsen kann. Holger Ziegler rekonstruiert ihm wesentliche Aspekte unterschiedlichster Debatten und Beiträge aus einem großformatigen Band, zu Ehren von Bernd
Dewe publiziert. Deutlich wird dabei, dass auch
angesichts bzw. in Anerkennung der Fortschritte in Professionstheorie und Professionspolitik
nach wie vor Herausforderungen existieren.
Sammelbesprechung
Angesichts der gegenwärtigen Zeitläufte stellt
sich mit einer gewissen Dringlichkeit die Frage
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nach dem Zusammenhang von Menschenrechten
und nationalstaatlich organisierter Demokratie.
Albert Scherr stellt dabei eine grundsätzliche
Interpretation des modernen Verständnisses
von Menschenrechten heraus, die auf das Selbstverständnis moderner, demokratisch verfasster
Gesellschaften zu beziehen sei. Neue Veröffentlichungen machen jedoch deutlich, dass es – wie
dies bereits bei Marx aufzufinden ist – durchaus
eine grundsätzliche Kritik an der Vorstellung eines positiven Passungsverhältnisses zwischen den
Menschenrechten und den Strukturen moderner
Gesellschaften gibt.
Forschungsbericht
Auch der Text von Manfred Liebel ist in einer
grundlegenden wie grundständigen Weise mit
Rechtsfragen und deren Verwirklichungspotenzial bzw. Verwirklichungsversprechen befasst, wenn
er Zusammenhänge zwischen globalen Kindheiten und dem Versprechen von Kinderrechten
thematisiert. Konstatieren lässt sich zumindest,
dass sich mit Bezug auf die Analyse globaler
Kindheiten neue Resultate finden, dass der Blick
auf Kindheiten und Kinderrechte in verschiedenen Teilen der Welt offener und differenzierter
werden muss und die konkreten Lebensverhältnisse der Kinder stärker zu beachten sind. Daran
ließe sich ein kritisches und auf soziale Transformationen gerichtetes Potenzial einer emanzipatorischen Kinderrechtsforschung aufweisen.
Essays
Die US-amerikanische Machtposition in der Welt
hat dieses Land und seine Regierenden in einer
besonderen Weise empfänglich für Heuchelei
und kollektive Selbsttäuschungen gemacht, was
die Griechen »Hybris« genannt haben. Dies führt
– nicht nur – in der auswärtigen Politik zu Desastern. Stephen Mennell analysiert mit besonderem
Bezug auf die Ukraine Krise von 2014 ein Beispiel.
Mithilfe der Etablierte-Außenseiter-Analyse von
Norbert Elias sucht er zu verstehen, warum sich
die USA zum »Rest der Welt« verhalten, wie sie
sich verhalten. Es geht mithin um Verständnis wie
Zu diesem Heft
Erklärung der Grundlagen und Folgen des USamerikanischen Imperialismus im Kontext eines
manichäischen Weltbildes für »die Anderen«.
Dem anderen gegenwärtigen Politikproblem in
unserer Welt, der Frage nach der Bedeutung von
Solidarität für das heutige Europa, geht der Text
von Gerard Delanty nach. In einer fundierten Analyse, die darauf aufruht, die Frage nach der Solidarität als vorrangig gegenüber der nach Freiheit und
Gleichheit zu setzen, entschlüsselt er divergente
Möglichkeiten der Konzipierung von Solidarität im
Rahmen u.a. der Frage nach den Voraussetzungen
und Folgen unterschiedlicher Vergesellschaftungsmuster für nationalstaatlich organisierte Mitgliedschaften.
Wie alles anders, besser, in der Welt werden könnte, diskutiert der Text von Christoph Sänger am
Beispiel des Werkes zweier pädagogischer Sozialistinnen, Anna Siemsen und Alice Rühle-Gerstel.
Es geht um die Perspektive eines demokratischen
Sozialismus, aufruhend auf demokratischer Bildungsarbeit – dementsprechend um einen weiteren
Beitrag zum Thema »neue Menschen« und »alte
Strukturen«.
Emanzipation aus einer weiteren Problemstellung,
einem Konzept von Kinderschutz, das Gegenwart,
Kindheitsforschung und demokratischen Ansprüchen folgt bzw. genügt, wird in den Überlegungen
von Reinhart Wolff thematisch. Zugleich wird ein
Panorama von Vorstellungen zur Professionalität
sichtbar, in Vorstellungen von funktional differenzierten modernen Gesellschaften eingelassen, ohne
dass damit zugleich etwas über ihre Lösungskompetenzen ausgesagt wäre. Denn im Fall moderner
Kinderschutzarbeit gilt es, sich der verschärfenden
gesellschaftlichen Widersprüche, die zu neuen fachlichen Herausforderungen geführt haben, bislang
aber in der Kinderschutz Diskussion zu wenig im
Blick gewesen sind, bewusst zu werden.
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Ulfrid Kleinert
Sozialarbeit und Seelsorge im Kontext von Strafvollzug
und »Resozialisierung«
Heft 73/2016
Rezensionsaufsätze
Literaturbericht
Literaturbericht
A In die Sammelrezension einbezogene Literatur1
I. (auto)biografisch (Erfahrungsberichte)
1. Bernd Maelicke: Das Knastdilemma – Wegsperren oder resozialisieren? Eine Streitschrift,
München: C. Bertelsmann 2015, 256 S. 19;99 €
2. Thomas Galli: Die Schwere der Schuld – ein Gefängnisdirektor erzählt, Berlin: Das neue
Berlin 2016, 191 S. 12,99 €
3. Hubertus Becker: Ritual Knast – Die Niederlage des Gefängnisses, Leipzig: Forum Verlag
2008, 200 S. 13,80 €
4. Werner Schumann: Gefängniszeit eines Leipzigers, Dreieich-Buchschlag: Dr. Werner Schumann 1991, 129 S., 10,00 €
II. Sozialwissenschaftlich
5. Heinz Cornel / Gabriele Kawamura-Reindl / Bernd Maelicke / Bernd Rüdeger Sonnen (Hg):
Resozialisierung Handbuch 3. Auflage, Baden-Baden: Nomos-Verlag 2009, 623 S. 59 €
6. Gabriele Kawamura-Reindl / Sabine Schneider: Lehrbuch Soziale Arbeit mit Straffälligen,
Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2015, 386 S., 29,95 €
7. Werner Päckert: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser – zum Versuch der Implikation professioneller Sozialarbeit in das System des Strafvollzugs In: J.M. Häußling / R. Reindl (Hg)
Sozialpädagogik und Strafrechtspflege – Gedenkschrift für Max Busch, Centaurus-Verlag
1995 S.539-565, 50,11 €
8. Christoph Flügge / Bernd Maelicke / Harald Preusker (Hg): Das Gefängnis als lernende
Organisation, Baden-Baden: Nomos-Verlag 2001, 375 S., 46 €
9. Harald Preusker / Bernd Maelicke / Christoph Flügge (Hg): Das Gefängnis als RisikoUnternehmen, Baden-Baden: Nomos-Verlag 2010, 297 S., 49 €
III. juristisch
10. Klaus Laubenthal: Strafvollzug 7., neu bearbeitete Auflage, Berlin und Heidelberg: SpringerLehrbuch 2015, 793 S., 37,37 €
11. Laubenthal / Nestler / Neubacher / Vettel, München: C.H. Beck 2015, 1459 S., 119 €
12. Johannes Feest (Hg): Strafvollzugsgesetze – ein Kommentar, 7. Auflage Neuwied Winter
2016/2017, 1174 S., 129 €
13. Heinz Cornel / Frieder Dünkel / Ineke Pruin / Bernd-Rüdeger Sonnen / Jonas Weber: Diskussionsentwurf für ein Landesresozialisierungsgesetz – Nichtfreiheitsentziehende Maßnahmen
und Hilfeleistungen für Straffällige, Mönchengladbach: Forum-Verlag Godesberg 2015, 156
S., 17 €
1 Im Folgenden werden nur die Publikationen genannt, die im Einzelnen besprochen werden; auf andere Literatur
zum Thema wird in den Anmerkungen Bezug genommen. Ausführlicher berücksichtigte und als besonders wichtig
erscheinende Publikationen sind im Folgenden fett gedruckt. Die arabischen Ziffern vor den Literaturangaben
werden im Folgenden als Kürzel für die Publikation verwendet.
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IV. theologisch
14. Rainer Dabrowski: verknackt – vergittert – vergessen, ein Gefängnispfarrer erzählt, Gütersloh:
Gütersloher Verlagshaus 2015, 223 S. 17,99 €
15. Ulrich Tietze (Hg): Nur die Bösen? Seelsorge im Strafvollzug, Hannover: Lutherisches Verlagshaus: Hannover 2011, 231 S. 12,90 €
16. Ursula Unterberger: Religion – die letzte Freiheit, Religionsausübung im Strafvollzug, Marburg: Tectum-Verlag 2013, 123 S. 24,90 €
17. Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge: »Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir
gekommen« – Leitlinien für die Evangelische Gefängnisseelsorge in Deutschland, Hannover:
EKD 2009, 55 S.
18. Alexander Funsch: Seelsorge im Strafvollzug – Eine dogmatisch-empirische Untersuchung zu
den rechtlichen Grundlagen und der praktischen Tätigkeit der Gefängnisseelsorge, BadenBaden: Nomos-Verlag 2015, 618 S., 159 €
21. Martin Hagenmaier: Mythen, Konstruktionen, Lebensentwürfe – Perspektiven evangelischer
Seelsorge in Zwangseinrichtungen, München: Akademische Verlagsgemeinschaft 2009, 422
S., 74,90 €
22. Martin Hagenmaier: Straftäter und ihre Opfer – Restorative Justice im Gefängnis, Sierksdorf:
Text-Bild-Ton Verlag 2016, 260 S., 12,90 €
B Vorstellung der Literatur im Überblick
I
(auto)biografisch (Erfahrungsberichte)
1
Wege aus dem Knast-Dilemma – zu Bernd Maelickes Streitschrift
Wenn, wie es in den meisten Bundesländern fast Jahr für Jahr geschieht, Gefängnisse des Landes
für Tausende Besucher öffnen, gibt es nicht wenige, die davon sprechen, wie gut heute Gefangene
untergebracht sind. Und in der Tat: vergleicht man die Freiheitsentziehung heute mit der in den
Zuchthäusern der Vergangenheit, so geht es jetzt vielerorts menschlicher dort zu. Strafgefangene
haben das Recht auf menschenwürdige Behandlung. Entzogen wird ihnen »nur« ihre Freiheit,
freilich mit allem, was damit an Fremdbestimmung verbunden ist. Sieht man von den wenigen
lebenslang Sicherheitsverwahrten ab, geschieht dies auch »nur« für eine begrenzte Zeit. Dass
nicht nur sie, sondern auch ihre Familien und Freunde mitbestraft werden und dass im geschlossenen Vollzug höchstens ein kleiner Teil von ihnen lernt, »ein Leben in sozialer Verantwortung
ohne Straftaten« zu führen (so die gesetzliche Bestimmung der Aufgabe des Strafvollzugs), wird
dabei oft übersehen.
Bernd Maelicke hat ein anschaulich, spannend und fachkundig geschriebenes Buch veröffentlicht, das er »eine Streitschrift« nennt und unter den Titel »Das Knast-Dilemma« stellt. Maelicke
bringt den Konflikt auf den Punkt: »Wegsperren oder resozialisieren?«, lautet seine Frage an
Gesellschaft und Staat. Sie kommt von einem, der es wissen muss. Sein Leben lang hat sich Maelicke mit den Menschen beschäftigt, die Gesetze übertreten haben. Und anders als alle Krimis
auch damit, was mit ihnen geschieht, wenn das Urteil gesprochen ist. Nachdem er persönlich,
wie er selbst darstellt, mit Glück vor einer kriminellen Karriere bewahrt wurde (S. 17-24), schildert er, »wie man ein Verbrecher wird« (S. 24-31). Schritt für Schritt beschreibt Maelicke dabei
den Lebensweg des Straftäters Simon S., der nach realen Vorbildern als exemplarische Fiktion
von Maelicke gestaltet ist. Dessen Entwicklung vor, während und nach dem Gefängnis wird im
ersten Teil des Buches nachgezeichnet (S. 31-128). Der Leser, die Leserin empfindet mit, was
Simon während der Gerichtsverhandlung, beim Ankommen in der Strafanstalt, auf der Station
mit anderen Gefangenen, beim Besuch seiner Freundin und schließlich vor und nach seiner
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Entlassung fühlt und denkt. Wer an den Tagen der Offenen Tür in deutschen Gefängnissen nicht
nur Gebäude und Räume sehen will, sondern auch wissen möchte, wie es dort zugeht: hier kann
man lebendig den Alltag der Weggesperrten miterleben - mit seinen vielen Problemen, und auch
mit seinen eng begrenzten Möglichkeiten.
Maelicke schreibt nicht nur als warmherziger zugewandter Mensch, sondern auch als Experte.
Zusammen mit seiner Frau hat er schon früh das Dilemma erkannt, das darin besteht, in der
Unfreiheit ein sozial verantwortliches Leben in Freiheit lernen zu sollen bzw. zu vermitteln. Er
hat seit Studentenzeiten nach »etwas Besserem als Strafvollzug« gesucht (S. 129-152). Mit einer
Entlassungsvorbereitungsgruppe im Südbadischen begann es. Eine Doktorarbeit über »Entlassungsvorbereitung und Resozialisierung« des jungen, an sozialer Arbeit interessierten Juristen
folgte. Dann die wissenschaftliche Unterstützung der »Alternativprofessoren«, die schon vor
knapp 50 Jahren bei der Entstehung des (zunächst nur) westdeutschen Bundesstrafvollzugsgesetzes mehr wollten als Wegsperren. Schließlich kommt für ihn nach seiner Mitwirkung an
verschiedenen empirischen Untersuchungen die praktische Bewährungsprobe (S. 153-169): die
damalige neue, zunächst allein von der SPD geführte Regierung Schleswig-Holsteins berief den
geschätzten Fachmann für 15 Jahre (1990-2005) als Leiter der Abteilung »Strafvollzug, Soziale
Dienste der Justiz, Freie Straffälligenhilfe, Gnadenwesen« ins Justizministerium. Sie ließ ihn ein
Netz von Projektgruppen, gemischt aus Fach- und Führungskräften, aufbauen. Das bescherte dem
nördlichsten Bundesland einen wirkungsvolleren Justizvollzug als andernorts. Hier wurde der
offene Vollzug ausgebaut, der keine Gefängnismauern kennt (Berlin hat inzwischen SchleswigHolstein in dieser Hinsicht längst überholt). Anstelle von Ersatzfreiheitsstrafen gab es gemeinnützige Arbeit. Der Täter-Opfer-Ausgleich wurde besonders gefördert. Und eine integrierte
Organisations- und Personalentwicklung mit besonderer Verantwortung für die Anstaltsleiter
sorgte für ein besseres Klima, das der Kooperation mit Straffälligen zugute kam.
Aber auch »Resozialisierer« müssen die berechtigten Sicherheitsinteressen der Gesellschaft
anerkennen, weiß Maelicke (S. 170). Die Wenigen, die als dauerhaft gefährlich einzustufen sind
– sie sind das Thema der Medien und der Öffentlichkeit, die große Mehrheit der Straffälligen
interessiert sie kaum! –, müssen tatsächlich sicher weggeschlossen werden. Als einem von diesen aus dem als sicher geltenden Lübecker Gefängnis für vier Tage die Flucht gelingt und er
die Flucht durch ein Verbrechen zu decken versucht, steht ungerechterweise die erfolgreiche
Reform für all die anderen auf dem Spiel (S. 170-177). Maelicke kann den Erfolg der schleswigholsteinische Resozialisierungspolitik dennoch mit Fakten bilanzieren (S. 177 f.): das Land hat
heute nach Maelicke nur 40 Inhaftierte auf 100 000 Einwohner und liegt damit 50 Prozent unter
dem Bundesdurchschnitt. Die gut vernetzte Freie Straffälligenhilfe wurde konsequent ausgebaut. Die Gesamtausgaben für den Justizvollzug haben bundesweit mit Abstand die geringste
Quote, so dass die Sozialen Dienste der Justiz außerhalb des Gefängnisses besser gefördert
werden können. Maelicke zeigt: um das zu erreichen, bedarf es einer transparenten und langfristigen Reformstrategie und ihrer Wertschätzung durch Politik und Medien. Dann besteht
auch die Möglichkeit, sich den »Brennpunkten im Alltag der Resozialisierung« erfolgreich zu
stellen (S. 179-214). Diese besondere Aufmerksamkeit und Veränderung erfordernden problematischen Brennpunkte bestehen für Maelicke u.a. darin, dass Mithäftlinge oft die härtesten
Strafvollstrecker sind (Stichwort Subkultur), dass unkontrollierte Drogenverfügbarkeit den
Erfolg von Therapien gefährdet, dass Sexualität in menschenunwürdiger Weise gelebt wird und
dass die Kosten des Strafvollzugs steigen, aber nicht die positiven Wirkungen. Perspektivisch
fragt er (S. 215-233) danach, wer ins Gefängnis gehört und wer nicht (für ihn sind »maximal 30
Prozent gefährliche Straftäter«), ob nicht alle Gefangenen Sozialtherapie brauchen, »bei denen
schwere Verhaltensstörungen in ihrer Biographie begründet sind und immer wieder zu erneuter
Straffälligkeit führen«, und ob Fehlbelegungen durch Ersatzfreiheitsstrafer und durch therapie-
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Literaturbericht
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bedürftige Drogenabhängige nicht zu vermeiden seien. Er demonstriert am Fall Ulli Hoeness
die Sanktionsarmut des deutschen Strafrechts (hätte es für ihn nicht angemessenere Strafen als
Einsperren gegeben?) und fordert schließlich Resozialisierungsgesetze in allen Bundesländern.
Wie es auch anders geht, zeigen Maelicke (S. 233-242) die Modellprojekte RESI in Köln, Insel
Bastoy in Norwegen und restorative justice.
Maelickes Sachbuch ist erstens Motivation und Programm für eine rationale Kriminalpolitik
und zweitens eine biografisch angelegte, erfahrungssatte Lektüre für alle, die genauer wissen
wollen, was Freiheitsstrafe bedeutet und welche Alternativen möglich sind. Es erweist sich als sehr
gut geeignet für eine sachgemäße breite öffentliche Diskussion über Ziel und Mittel staatlicher
Sanktionen gegenüber denen, die gegen demokratisch legitimierte Gesetze verstoßen. Es verdient
deshalb, in Fach- und Politikkreisen beachtet und in seinen Intentionen umgesetzt zu werden.
2 Vom Wahnsinn der Freiheitsstrafe – Gefängnisdirektor Gallis
Erzählungen
Was Maelicke mit seiner fachlichen Biographie untermauert, zeigt Thomas Galli an neun Einzelstudien von Straftätern, denen er als Psychologe und Anstaltsleiter im Gefängnis begegnet
ist: dass es notwendig ist, eine kleine Zahl von Straftätern zugleich sicher und menschenwürdig
unterzubringen, aber die meisten von ihnen entweder bei Ausbau des Präventionsbereichs gar
nicht erst in die Situation kommen müssen, inhaftiert zu werden oder durch andere Sanktions- und
Therapiemaßnahmen inkludiert werden können (175-178). Nach dreizehn Jahren in bayrischen
Vollzugsanstalten (Amberg und Straubing) und gut zwei Jahren in Sachsen (Zeithain und Torgau)
sieht Galli sich in der »Pflicht, die Allgemeinheit nicht in falscher Sicherheit zu wiegen« (191),
sondern darauf hinzuweisen, »dass unsere Kategorien von Schuld und Vergebung nicht geeignet
sind, die soziale Wirklichkeit wiederzugeben, und noch weniger, sie zu gestalten« (188). »Das
Konstrukt von Schuld und Vergeltung (könne) vielleicht eine Eindämmung, keineswegs aber ein
Durchbrechen des Teufelskreises« des Bösen bewirken. »Und in vielen anderen Fällen wurde die
Spirale der Gewalt durch Schuld und Vergeltung, durch Strafe und Gefängnis erst eröffnet.« (24)
Galli stellt fest, dass es im Gefängnis auf beiden Seiten der geschlossenen Türen und Gitter
»sympathische und unsympathische Menschen gibt, gute und schlechte Charaktere, mitfühlende
Menschen und reine Egozentriker« (178) und dass die mediale Aufmerksamkeit auf spektakuläre
auf Personen bezogene Skandale im Gefängnis nur ablenkt davon, dass der eigentliche Skandal
das System Gefängnis selbst ist2: »Das Gefängnis als Institution wird, wenn auch von den meisten
unbewusst, nicht geschätzt für die Übernahme von Verantwortung im Sinne einer Lösung von
gesellschaftlichen Problemen und Konflikten. Das Gefängnis ist ein (in die Irre führendes U.K.)
Symbol dafür, von Menschen ausgehende Gefahren im Griff zu haben und sich dabei nicht von
blinden Gefühlen der Angst und Wut, sondern der Vernunft, gegossen in die Form des Rechts, leiten zu lassen« (133). Tatsächlich gilt: »Unser gesellschaftlicher Umgang mit straffälligen Menschen
ist eben nicht sehr rational, sondern angst- und wutgesteuert« (179). Schon einleitend formuliert
Galli deshalb seine »Überzeugung, dass das Gefängnis eine überholte gesellschaftliche Institution
ist. In ihr manifestiert sich eine ungerechte, unvernünftige und oft unmenschliche Verteilung der
Schuld.« Es könne aber nur mit »erheblichen Kraftanstrengungen in etwas Sinnvolleres aufgelöst
werden«, weil es »ein Symbol für Sicherheit«, »für Rechtsstaatlichkeit«, ein »ehernes Symbol für
die Unterscheidung zwischen Gut und Böse« sei und die Guten draußen auch noch alles dafür
zu tun vermeinen, »die Bösen auch wieder zu Guten zu machen«. (8)
2 Bezeichnender Weise hat die Bildzeitung in ihrer Berichterstattung über Gallis Publikation den Anschein erweckt,
als ginge es Galli nicht um die Kritik des Systems Gefängnis, sondern um eine Kritik an sächsischen Justizvollzugsanstalten. »Bild« geht es um Skandalisierung, nicht um Aufklärung und Problemlösungen.
8
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Wie recht Galli hat, zeigt der Umgang mit seinem Buch: auf seine Fallstudien wird so gut wie
gar nicht eingegangen – auch in der seriösen Presse nicht, die seine zitierten Grundeinschätzungen
aufnimmt. Seine Beobachtungen werden als seine private Meinung abgetan, eine Lesung in der
Leipziger JVA während der Buchmesse 2016 wird ihm mit dieser Begründung vom Sächsischen
Justizministerium untersagt. Um dieses Urteil zu widerlegen, seien hier beispielhaft einige Einzelheiten aus den Fallstudien vorgestellt. Die Fallstudien sind, wie Galli bemerkt (187), nicht
repräsentativ, weil sie sich mit »schweren Fällen« beschäftigen, spiegeln aber verschiedene Dimensionen wieder, in denen erkennbar wird, dass wir, wenn wir von Vernunft geleitet sind, etwas
anderes als Gefängnisse brauchen. In den Fallstudien wird auch deutlich, wie Galli sich selbst
seinen Gesprächspartnern und seinen Beobachtungen aussetzt, dabei professionell reflektierende
Distanz und emotionale Nähe in guter Balance hält. Am Einzelfall demonstriert er strukturelle
Probleme des Gefängniskonzepts.
Die 1. Studie erzählt von der Unmöglichkeit einer vernünftigen Vollzugsplanung für einen
zu 37 Jahren Haft wegen Mittäterschaft bei Polizistenmorden und Vergewaltigung verurteilten
Menschen (Galli nennt ihn Thaler). Die Planung erfolgt nicht so, dass »zwei vernünftige Parteien
... in sinnvoller Weise ihre gemeinsame Zukunft gestalten« (13). Wenn mangelnde Impulskontrolle
einvernehmlich von allen Seiten als tatverursachend angesehen wird, könnte eine einjährige
freiwillige therapeutische Maßnahme die »Impulskontrolle mit guter Aussicht auf Erfolg deutlich
verbessern,« meint Galli. Diese müsse, um wirkungsvoll zu sein, »in seinen (scil. des Straftäters)
normalen Alltag eingebunden« sein. Der Staat habe also »seinen Vergeltungsanspruch soweit zu
reduzieren, dass einer möglichen Resozialisierung Vorrang gegenüber einer absoluten Sicherheit
gegeben wird« (13 f.). Hier sieht Galli das erste Dilemma. Das zweite Dilemma sind die diametral gegensätzlichen Ziele von Anstalt und Gefangenem: »der Gefangene möchte so schnell wie
möglich entlassen werden, die Anstalt möchte kein Sicherheitsrisiko in Kauf nehmen und muss
dokumentieren, was sie dem Gefangenen alles an Therapie- und Behandlungsmaßnahmen angeboten hat« (14); sie gibt, zumeist sinnlos, dafür viel Geld aus, das anderswo fehlt. In einer Reihe
von Gesprächen macht Thaler nun seinem Gefängnisdirektor Galli deutlich, dass der Staat ihn
als Geisel nimmt, »wie ich dies mit anderen getan habe« (17). Für Thaler ist »das ganze TherapieTheater reine Augenwischerei und höchstens eine Beschäftigungstherapie« (19). Galli berichtet,
wie Thalers Lebenslauf »in den so wichtigen ersten Jahren wie der der allermeisten Straftäter
von Vernachlässigung, Gewalt und Missachtung seiner natürlichen Bedürfnisse geprägt« war.
Als seine Mutter, die ihn früh weggeben hat, » gezeichnet von jahrelangem Alkoholmissbrauch
in einem Pflegeheim« lebt und zu ihm Kontakt aufnimmt, freut er sich »wie ein kleines Kind«
und überweist ihr monatlich 50 Euro von seinem in der Haft erarbeitetem Geld. (27 f.). Ein Jahr
nach ihrem Tod erhängt er sich mit einer Bettdecke an den Fenstergittern seiner Zelle. Er hatte
zuvor vergeblich Ausgänge beantragt; sie wurden ihm aufgrund von drei sich widersprechenden
Gutachten abgelehnt. »Dass kaum ein Gutachter einem Gefangenen bescheinigt, dass von ihm
keine Gefahr ausgeht, liegt auf der Hand.« (24 f.).
Eine genauere Darstellung der anderen Fallstudien würde den Rahmen dieser Rezension
sprengen. Darum hier nur der Hinweis, worum es bei diesen Fällen geht. Fall 2 zeigt, wie die
Macht der Subkultur des Gefängnisses am Beispiel der Russenmaffia die Resozialisierung eines
jungen Russlanddeutschen verhindert. Fall 3 demonstriert den Verlust der schwierigen Balance
zwischen Nähe und Distanz gegenüber einem wegen Betrugs Inhaftierten durch eine junge
idealistisch gesinnte unerfahrene Sozialarbeiterin. Fall 4 verdeutlicht, wie der unvermeidliche
Drogenhandel in der JVA allgegenwärtig ist und die Interaktionen bestimmt. Fall 5 erzählt von
einem möglicherweise unschuldigen, wegen der Ermordung seiner Schwester allein aufgrund
eines denkbaren Motivs Verurteilten; er ist inhaftiert, weil er kein sicheres Alibi vorweisen kann.
6. berichtet vom Verlauf der Geiselnahme eines ehrenamtlichen Pfarrers durch einen Gefange-
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nen, den Galli als »eine tickende Zeitbombe« charakterisiert. Dem Inhaftierten ging es darum,
seine Macht allen gezeigt zu haben. Als dies erfüllt ist, kann er den Pfarrer frei lassen. 7. stellt
den im Knast nicht seltenen Typ eines sich pausenlos beschwerenden »Vollzugsteilnehmers« vor.
8. führt dem interessierten Lesepublikum einen Muttermörder vor Augen, der im Gefängnis
»Nestwärme, Geborgenheit, Struktur, Halt, Sinn« findet und deshalb nicht mehr raus will (156).
Schließlich diagnostiziert Galli im 9. Fall einen Psychiater, der selber geheilt werden muss, aber
nach wie vor im Justizvollzug beschäftigt werden soll. An allen diesen Fällen zeigt Galli exemplarisch anhand seiner Aufzeichnungen die institutionstypische Verhaltenslogik und den dem
Institutionsziel widersprechenden Un-Sinn des Gefängnisses sowie die Notwendigkeit eines
anderen Sanktions- und Hilfeinstrumentariums auf.
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Kluge Kritik aus der Sicht eines langjährigen Gefangenen – Hubertus Becker analysiert das »Ritual Knast« und diagnostiziert »die
Niederlage des Gefängnisses«
Er ist heute 65 Jahre alt, weit gereist, kennt sich mit Drogenhandel und Geldwäsche durch eigene
Beteiligung aus, schreibt viel und saß insgesamt fast 20 Jahre in (süd-)deutschen Gefängnissen.
Ihm ist die beste mir bekannte reflektierte »Bestandsaufnahme« zum heutigen Knast gelungen,
weil er es versteht, seine Erfahrungen gut zu systematisieren, mit Expertenaussagen zu verknüpfen
und anschaulich pointiert zu schildern – und unter einen passenden Buchtitel zu stellen. Dass
er dabei nicht frei von Arroganz3 und Fehleinschätzungen ist, ändert am Gesamturteil nichts.
Wer den Knast von innen kennen lernen will, sollte lesen, was Hubertus Becker zwischen einem kurzen Kapitel über Soziale Konflikte und unseren Umgang damit am Anfang und einem
längeren Kapitel über Fiktionen, Funktionen, Alternativen und Perspektiven am Schluss meist
ins Schwarze treffend zu skizzieren weiß. Nach einer Beschreibung des Inhaftierungsprozesses
mit seiner obligatorischen Zugangskontrolle und von Konzept und Wirkung der Gefängnisarchitektur stellt Becker die beteiligten Personengruppen so vor, dass die Betroffenen in Beckers
Beobachtungen sich verfremdet zum Teil gut wieder erkennen werden und von Beckers Wahrnehmungen lernen können. Das gilt für die Anstaltsleitung genauso wie für die Verwaltungs- und
Fachdienste. Und für den Vollzugsdienst, der für Becker ungerechterweise immer noch pauschal
unter dem Stichwort »Wärter« firmiert. Und es gilt auch für die Gefangenengruppen, die Becker
systematisierend in »Verweigerer«, »Konformisten«, »Pragmatiker« und »Rebellen« einteilt.
Wegen der spezifischen Gefangenenperspektive sind auch die folgenden Kapitel sehr lesenswert. In ihnen geht es um das unterschiedliche Vollzugsrecht der verschiedenen Bundesländer,
um Disziplin und Strafen in der JVA, um Arbeit (sie ist in Beckers 2008 erschienenem Buch
noch »Zwangsarbeit«, was heute auch de jure nicht mehr in allen Bundesländern zutrifft), um
Konsum der Inhaftierten, um Bedeutung persönlicher Bindungen (und in deren Kontext auch
der Sexualität), um das »Wissen« der »Wissenschaften«, um Gesundheit und medizinische Versorgung, schließlich um Knastsprache und offizielle Kulturveranstaltungen. Aufmerksam lesen
wird der Fachmann auch, was Becker zu den Widerstandsformen der Gefangenen schreibt; sie
sind für ihn nur wirksam, wenn sie solidarisch-kollektiv erfolgen können. Die Seiten 124-129
zur Subkultur geben einen informativen Einblick, sind aber – ungewöhnlich für Beckers sonst
differenzierte Sicht – sehr unkritisch. Vielleicht will Becker aber auch nur provozieren, wenn
er die Subkultur »das Gesunde, das Lebendige im Knast« nennt und als Begründung hinzufügt,
dass sie »der Kunst wie auch der Gesetzeswidrigkeit Raum zur Entfaltung« und den Gefangenen
»einen Rest von Individualität bewahren« lässt? Anscheinend ist er nie in der Situation eines
3 S. 200 dankt er einer Reihe von angesehenen Kriminologen für »Anregungen und Lektorat«!
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Opfers dieser eigene harte Hierarchien ausbildenden Subkultur des Gefängnisses gewesen
(Maelicke bezeichnet in seinem »Knast-Dilemma« Mithäftlinge nicht ohne Grund als »oft die
härtesten Strafvollstrecker«). Anders als für Becker ist für den Rezensenten die Subkultur auch
ein deutliches Anzeichen der »Niederlage des Gefängnisses«, die Becker ansonsten so klar aufzuzeigen vermag; zwischen einzelnen Inhaftierten gibt es zwar durchaus gelegentlich – und meist
symbiotisch - »Leben in sozialer Verantwortung«; aber unkontrolliert agierende Gruppierungen
von Gefangenen sind fast immer ein Machtfaktor, der mehr oder weniger rigide gegen andere
ausgespielt - oder aber zum Schutz gegen andere gebraucht - wird.
In seinen Schlusskapiteln benennt Becker dann zutreffend und in Übereinstimmung mit vielen
externen Strafvollzugs-Experten: 1. Auswirkungen und Funktionen des Gefängnisses, die seiner
erklärten Aufgabe widersprechen, 2. wichtige Anstöße für Alternativen und Perspektiven. Auswahlweise seien daraus hier einige Sätze zitiert; sie können die Stärke, aber auch die Grenzen
von Beckers »Bestandsaufnahme« verdeutlichen.
Zu 1.: »Die zeitliche Überschaubarkeit unserer Projekte und Lebensphasen ... gestattet uns
zielgerichtetes Handeln. ... Im Gefängnis ist der Mensch dieses Existenzprinzips beraubt. Die
Illusion, Herr über seine Zeit zu sein, kann dort nicht aufrecht erhalten werden... Die Zeit schwebt
als permanente Drohung über dem Leben im Gefängnis, und sie macht vielen Angst. ›Die Zeit
schlich durch diese Wüste der Ereignislosigkeit, als wäre sie gelähmt‹« (155 f.). »Eine nicht zu
unterschätzende Belastung stellt die Verunsicherung im Hinblick auf das Entlassungsdatum dar.
Kaum ein Gefangener kennt den exakten Tag seiner Freilassung« (158). »Das Gefängnis versucht,
den Menschen zum Wegschauen und zur Feigheit zu erziehen ... hin zum isolierten Individuum,
das am einfachsten zu verwalten, auszubeuten und zu beherrschen ist... Je länger eine Inhaftierung dauert, um so gründlicher werden die früheren Bindungen zu den Mitmenschen draußen
zerstört... ›Du musst hier ein Leben aufbauen, getrennt von der Außenwelt‹.« (158) Es gibt eine
»Tendenz zur Lebensuntüchtigkeit durch die Komplettversorgung«(160)... »Das Einsperren ... ist
eine so nachhaltige Störung der individuellen Lebensführung, dass das Vertrauen des Bestraften
in das Wohlmeinen des Strafenden verloren geht. Die üblichen Reflexe – Trotz, Verachtung,
Hass – verhindern, dass ein Lernprozess überhaupt in Gang kommt ... Tatsächlich handelt es
sich um die Fiktion, dass der Entzug der Freiheit, das Zufügen von Schmerz, den Menschen zu
sozialem Lernen und zu normenkonformem Verhalten führe« (165). Mit Arno Plack und Michel
Foucault kritisiert Becker die herrschenden Straftheorien als »Fiktionen« (170-173). Vielmehr
erfülle das Gefängnis die Funktion, »das Bedürfnis nach Vergeltung für Normabweichungen und
die Schadenfreude gegenüber dem überführten Rechtsbrecher« des Volkes zu erfüllen (174).
Zu 2.: Becker plädiert für »Entkriminalisierung« und für »Prävention und Konfliktmanagement«
(180f). Er benennt »Strategien zur Haftvermeidung«. In Hinsicht auf den Strafprozess favorisiert
er ein Drei-Phasen-Modell des norwegischen Kriminologen Nils Christie für die »Aufarbeitung
zwischenmenschlicher Auseinandersetzungen«: es müsse – erste Phase – »zunächst geklärt werden,
ob das Gesetz tatsächlich gebrochen wurde und ob der Beschuldigte tatsächlich der Täter war.
In einer zweiten Phase sollte die Tat aus der Perspektive des Geschädigten betrachtet werden
... Dabei sollen Täter und Opfer miteinander in Dialog treten, die soziale Umwelt (Nachbarn,
Kollegen, Freunde) sollten ebenfalls ihre Erwartungen und ihre Phantasien einbringen. ... Erst
wenn sich keine andere Lösung abzeichnet, sollte auf staatliche Möglichkeiten, unter Umständen
auch unter Anwendung von Zwang, zurückgegriffen werden. Im Anschluss – 3. Phase – wäre
zu überlegen, was für den Täter getan werden kann, ob es zum Beispiel notwendig erscheint,
ihm Therapien oder sonstige Hilfen anzubieten« (182-184). Becker weiß, dass Christies Modell
»persönlich Geschädigte« voraussetzt und sich »auf intakte soziale Umfelder« stützt. Deshalb
ergänzt er es mit erprobten Diversionsverfahren (Wiedergutmachung, Täter-Opfer-Ausgleich,
Schlichtungsverfahren (184 f.)).Und er hält es für nötig, in begründeten Fällen »aggressive Psy-
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chopathen ein Leben lang sicher in Quarantäne zu verwahren«, wobei auch in diesem Fall das
Prinzip von Schuld und Sühne nicht nur verzichtbar, sondern unangebracht ist (vgl. 186 f.), weil
es in allen Fällen um den Schutz und die Förderung eines »Lebens in sozialer Verantwortung«
geht.4 Dass für die Verwirklichung solcher Alternativen perspektivisch »ein Rest von Hoffnung«
durch »den Wandel von innen: die solidarische Organisierung der Gefangenen« und durch einen
europäischen Zusammenschluss »zu einer großen Gefangenengewerkschaft« ... »in Zusammenarbeit mit Menschenrechtsorganisationen, Kriminologen, Gefangeneninitiativen und politischen
Gruppierungen« bleibt (192 f.), erscheint dem Rezensenten anders als Becker, jedenfalls was
die Gewichtung der Akteure mit der Vorrangstellung der Gefangenen angeht, als utopisch.
Immerhin: Becker ist eine Bestandsaufnahme gelungen, die zur Aufklärung beiträgt. Dass sich
in den acht Jahren seit deren Erscheinen manches zum Positiven geändert hat – Vollzugsteams
können jetzt unter Supervision kontinuierlich auf einer Station arbeiten (gegen 57 f.), das Recht
auf Einzelzellen wird zumeist realisiert (gegen 79), Arbeit ist kein Zwang mehr (gegen 98 f.),
Tendenzen zur Privatisierung des Gefängnisses haben sich nicht durchgesetzt (gegen 190) und die
Wissenschaftler schweigen nicht mehr, wie die hier vorliegende Sammelrezension zeigt (gegen
169) – lässt sich als ein Zeichen Realität gewordener Hoffnung verstehen.5
4 Werner Schumanns Gefängniszeit eines Leipzigers – das Gefangene
noch heute ansprechende Tagebuch eines Unschuldigen
Über ein halbes Jahr, vom 30. Juli 1936 bis zum 21. Februar 1937, war der Leipziger Kaufmann
Werner Schumann im Leipziger Polizeigefängnis (ein Tag), im Leipziger Untersuchungsgefängnis
(zehn Tage) und im Bautzener Strafgefängnis (28 Wochen) inhaftiert - wie sich in 3. Instanz 1943
herausstellte zu unrecht. Er hat während der Haft täglich seine Beobachtungen und Erfahrungen
protokolliert und seine Protokolle 1991 im 3. Band seiner Biografie im Eigenverlag veröffentlicht.
Seine Schilderungen beziehen sich zwar auf die Situation in drei sächsischen Gefängnissen vor
80 Jahren, sind aber als unmittelbare Aufzeichnungen und Reflektionen zur Gefängniskultur
aus der subjektiven Sicht eines humanistisch gesinnten Inhaftierten bis heute von großem
Erkenntniswert. Weil Schumann seine Gespräche, Gefühle und Wahrnehmungen im Leipziger
Polizei- und Untersuchungsgefängnis, beim ersten Sonntag in Haft, in der Abgangszelle, beim
Gefangenentransport, als Fadenzieher, Hilfsarbeiter und Kalfaktor, im Gefängniskrankenhaus,
zu Weihnachten und bei Suiziden unverzüglich und authentisch aus seiner prinzipiell menschenfreundlichen Perspektive notiert hat, können sich noch heute viele Inhaftierte mit ihm und seinen
Erfahrungen identifizieren.6 In allen Gefangenen, denen er begegnet, versucht Schumann den
liebebedürftigen Menschen und nicht den Verbrecher wahrzunehmen, so dass viele sich ihm anvertrauen – und ungewöhnlicherweise wie selbstverständlich ihm auch von den Taten berichten,
deretwegen sie inhaftiert sind. In Schumanns Perspektive gibt es nur wenige, die zum Schutz der
Gesellschaft und vor sich selbst inhaftiert werden müssen. Sein Fazit: »Ein Staat ist gut, wenn
seine Gefängnisse leer sind; und ein Staat ist schlecht, wenn seine Gefängnisse überfüllt sind.«
4 Zu Nils Christies Drei-Phasen-Modell für den Strafprozess ist zu vergleichen, was die Autoren Doye, Kleinert, Rabus,
Sonntag und Weth in ihrem »Plädoyer für ein Maßnahmerecht« in: U.Kleinert Strafvollzug – Analysen und Akternativen, München/Mainz 1972 S.68ff (insbesondere S. 85-91) bereits vor 44 Jahren geschrieben haben.
5 Zu den Teilen des Buches, in denen der Gefangene Becker Personengruppen, Gremien und Verfahren im Gefängnis
beschreibt, ist das jetzt im Sommer 2016 in Berlin und Hamburg im Assoziation A – Verlag publizierte, 679 Seiten
umfassende und von einem Redaktionskollektiv herausgegebene, von Gefangenen als Orientierung für Gefangene
geschriebene informative Werk »Wege durch den Knast, Alltag – Krankheit – Rechtsstreit« zu vergleichen, das nicht
nur aus der Perspektive einer Person subjektiv beschreibt, was im Knast läuft und gilt (vgl. meine Renzension des
Buches in: Der Riegel – Dresdner Gefangenenzeitung Nr. 3/2016: 35 f.).
6 Das zeigen z.B. Gespräche in der Redaktion der Dresdner Gefangenenzeitung »Der Riegel« im Frühjahr 2016.
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II.
sozialwissenschaftlich
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Resozialisierung – ein unentbehrliches Handbuch
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Sind die Monographien 1.-4. aus der Perspektive unmittelbar Betroffener und Beteiligter geschrieben, so handelt es sich bei den Publikationen 5.-9. um Fachbücher, die sich gemeinsamer
praxisbezogener sozialwissenschaftlicher Arbeit verdanken. Nach wie vor das wichtigste Werk
zum Thema ist dem Rezensenten das 2009 in 3. Auflage im Nomos-Verlag erschienene Handbuch
»Resozialisierung«. Es wird von den Kriminologen Heinz Cornel, Gabriele Kawamura-Reindl,
Bernd Maelicke und Bernd Rüdeger Sonnen herausgegeben und von 21 Autoren so gestaltet, dass
die Beiträge bestens den Stand der Forschung wiedergeben und eine hervorragende Orientierung
für die Praxis bieten. Die Autoren sind als Pädagogen, Psychologen, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen interdisziplinär ausgewiesen, auch wenn unter ihnen die juristische Fachrichtung dominiert.
Die 70 – 170 Seiten starken 5 Hauptteile A - E der Artikelsammlung gliedern sich nach dem
Grundlagenteil A in zwei Teile zu den beiden Klientelgruppen »jugendliche und heranwachsene
Straftäter« (B) und »erwachsene Straftäter« (C) jeweils mit den Unterabschnitten »I. Ambulante
Dienste und Maßnahmen« und »II. Stationäre Maßnahmen« und zwei Teile zu »Besonderen
Zielgruppen und Problemlagen« (D) und »Vertiefungsgebiete« (E). Jeder der unter diesen
Sammel-Überschriften stehenden 34 Einzelbeiträge (sie umfassen minimal 12 und maximal
32 Seiten) stellt eine äußerst komprimierte kleine Monografie zu ihrem Thema dar und ist mit
einem guten Literaturverzeichnis versehen. Beispielhaft gilt das in A besonders für Cornels
Beitrag »Zum Begriff der Resozialisierung«, in B I. für Trenczeks Vorstellung von Jugend- und
»Jugendgerichtshilfe«, in B II für Sonnens Darstellung von »Jugendarrest« und –strafe; für C I.
seien Grosser/Maelickes Artikel zur »Bewährungshilfe« und Kawamura-Reindls zu »freie und
kommunale Hilfen für Straffällige« genannt. In C II. beeindruckt den Vf. besonders Cornels
Artikel zum »Strafvollzug«. Zugleich umfassend und weiterführend sind die Beiträge in D zu
»straffällige Frauen«, zu »Drogenabhängige« (Stöver), »psychisch kranke Straftäter« (Hahn),
»Gewalt- und Sexualstraftäter« (Köhler), zu »Straftäter nicht-deutscher Nationalität« (Köhler),
zu »Verschuldung« (Zimmermann) und »Arbeitslosigkeit« (Stöcken). Als Vertiefungsgebiete
behandelt das Handbuch in E u.a. den »Täter-Opfer-Ausgleich« (Winter), »Hilfen für Angehörige Inhaftierter«, Fragen von »Zeugnisverweigerungsrecht« und »Datenschutz« (Riekenbrauk)
sowie »Gnadenrecht und Gnadenpraxis« (Gebhardt). Das Handbuch beschließen in E ein
anschaulich-anregender Beitrag zu »Resozialisierung und Medien« (Löhr) und Maelickes Resüme
zu »Perspektiven einer ‚Integrierten Resozialisierung‘«. Das zwölfseitige Stichwortverzeichnis
erschließt dem Leser ein schnelles Entdecken der Schätze, die dieses Buch birgt. Die Beiträge
qualifizieren Praxis und Politik und bieten für beide reichhaltig Perspektiven für das, was nötig
und sinnvoll zu tun ist. Der einzige kleine Nachteil: das Buch spiegelt den Stand der Entwicklung
von 2008 wieder und nennt die bis dahin erschienene Fachliteratur. Da ist es eine große Freude,
vom Verlag zu hören, dass im April 2017 eine aktualisierte 4. Auflage erscheinen soll.
6 Standards professioneller Sozialarbeit – das Lehrbuch von Kawamura-Reindl und Schneider
Mit Gabriele Kawamura-Reindls und Sabine Schneiders »Lehrbuch Soziale Arbeit mit Straffälligen« liegt seit 2015 endlich ein für Lehre und Praxis gleichermaßen geeignetes und übersichtlich
geschriebenes Werk vor, das Standards professioneller Arbeit, die in diesem problematischen
und wenig erforschten, aber wachsenden Arbeitsbereich zu gelten haben, präzise vorstellt
und entfaltet. Das Buch selbst reflektiert und überwindet die Fragwürdigkeit seines Titels: in
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ihm geht es nämlich auch um Überwindung der Stigmatisierung des betroffenen Klientels als
»Straffällige« (gemeint sind rechtskräftig verurteilte Menschen, bei denen zwischen Straftat und
Person unterschieden werden muss), sein Spektrum wird erweitert um (nur) beschuldigte und
um (später) haftentlassene Personen, und in den Blick kommen auch ihre Angehörigen und die
Opfer ihrer Straftaten.
Im 1. der 14 Kapitel (S. 16-42) werden »Allgemeine Grundlagen« verhandelt, nämlich Erscheinungsformen von Kriminalität (Hell- und Dunkelfeld, Medien, Erklärungsansätze) und
der strafrechtliche Umgang mit ihr - also Schritte des Strafverfahrens, Bereiche der Sanktionen,
Selektionsprozesse und der Unterschied zwischen »freier« und staatlicher Straffälligenhilfe.
Übersichtliche Schaubilder veranschaulichen - hier wie auch später – wirksam die klaren Aussagen
des Textes. Beispielsweise gibt es einen mit eindrücklichen »Fall«-Zahlen unterlegten »Sanktionstrichter« für das Jahr 2012 und eine Übersichtstafel über zentrale Institutionen und ihre Hilfeangebote im Bereich der Straffälligenhilfe. Kapitel 2 macht »Kriminalprävention« zum Thema
(S. 43-66). Dazu werden eingangs knapp die absoluten und die relativen Straftheorien vorgestellt;
das Dilemma des Strafrechts und -vollzugs durch Verbindung dieser Straftheorien in der heute
(noch?) maßgebenden Vereinigungstheorie (einerseits Vergeltung, andererseits Prävention) wird
aufgezeigt. Kriminalprävention geht von der Annahme und Identifikation kriminalitätsfördernder
und –minimierender Faktoren aus und benennt entsprechend Risiko- und Schutzfaktoren (S.
48). Sie unterscheidet methodisch zwischen Aufklärung und Intervention, zwischen primärer bis
tertiärer und zwischen person- und strukturbezogener Prävention. Die Autorinnen differenzieren
die Wirksamkeit von Präventions-Maßnahmen, die täter-, opfer- und situationsbedingte Risiken
minimieren wollen oder die pragmatisch-strukturell orts- und situationsspezifisch sind oder das
Entdeckungsrisiko erhöhen oder die positiv-spezialpräventiv Erziehung und Resozialisierung
betreffen. Sie diskutieren vernetzte Programme, Ressourcenaktivierung und verhaltenstherapeutische Konzepte. Für Straffälligenhilfe konstatieren sie eine doppelte Zielperspektive, die für alle
soziale Arbeit kennzeichnend ist: die Stärkung der Problemlösungs- und Handlungskompetenz
Betroffener und die Förderung geeigneter sozialer Strukturen.
In Kapitel 3 und 4 (S. 67-113) geht es dann auf der dargestellten Grundlage um die Sicherung der
Professionalität in dem ambivalenten Arbeitsfeld Justizvollzug. Dabei folgen die Autorinnen der
Maxime: »Ob und wie diese (durch Straf- und Strafvollzugs-Gesetze festgelegten U.K.) Vorgaben
mit einem spezifischen Professionalitätsverständnis Sozialer Arbeit in Einklang zu bringen sind,
welche Vorgehensweisen als fachlich angemessen gelten, inwiefern über den gesetzlichen Rahmen
hinaus Aufträge und Aufgaben Sozialer Arbeit mit straffällig gewordenen Menschen wahrzunehmen sind, kann nur aus dem Fach (aus der Disziplin) heraus, also mit Bezug auf allgemeine
Fachdiskurse Sozialer Arbeit bestimmt werden« (S. 67). Dabei gibt es für Sozialarbeit mit dem
seit 50 Jahren zusehends in den Mittelpunkt der (deutschen) Gesetzgebung und Rechtsprechung
gerückten »Resozialisierungsgedanken« einen »Wegbereiter«, dem zu folgen sich lohnt (S. 67-70).
Für die eigenständige Professionalität wird erinnert an den »doppelten Auftrag« Sozialer Arbeit,
an die drei Merkmale »Vermittlung von Wissen« zum Fallverstehen, die doppelte Bezugnahme
auf Gesellschaft und Individuum und auf die Reflexivität im Umgang mit Paradoxien. Für die
Straffälligenhilfe sind den Autorinnen insbesondere wichtig: eine menschliche Grundhaltung
(»Trete dem Unrecht stets so entgegen, dass du zugleich der Menschlichkeit Rechnung trägst«
Augustin, zitiert S. 75); die Subjektebene mit Fallverstehen statt defizitorientierter Diagnostik; ein
konkreter Beitrag zu Erziehung und Resozialisierung; die Reflexion ambivalenter Anforderungen und Kontexte; endlich die Strukturebene mit dem Ziel, defizitäre Lebenslagen anzugehen,
Kriminalisierung statt Kriminalität zu thematisieren und Stigmatisierung und Ausgrenzung entgegenzuwirken (S. 77-88). Sie fordern 1. »ein sinnerschließendes, subjektorientiertes Vorgehen
(zur ›Rekonstruktion des Eigensinns von Lebensentwürfen‹), 2. eine Analyse der häufig vorfind-
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baren Tantalus-Situationen sowie 3. Versuche der Veränderung von sozialen Orten«. Methodisch
unterscheiden sie »direkt interventionsbezogene (auf Einzelfälle, Gruppen oder Sozialraum
bezogene) Methoden von indirekt interventionsbezogenen (Supervision und Selbstevaluation)
und struktur- bzw. organisationsbezogenen Methoden (Sozialmanagement, Jugendhilfeplanung)«
(S. 91). In Text und Tafel präsentieren sie die Vielfalt der Methoden. Ausführlicher stellen sie
Formen und Phasen der Beratung, die für Zwangskontexte besonders wichtige »motivierende
Gesprächsführung«, die Krisenintervention (Beispiel Inhaftierungsschock und Suizidgefahr), das
Freiwilligenmanagement und Formen und Kriterien der Öffentlichkeitsarbeit vor (S. 95-113).
Nach all diesen prinzipiellen Klärungen macht das Lehrbuch in Kapitel 5-12 (S. 114-302) die
einzelnen Arbeitsfeldern zum Thema. Es klärt jeweils deren rechtliche Grundlagen, fachliche
Grundorientierungen und spezielle Aufgaben der Sozialarbeit. Als Felder werden behandelt:
Jugendhilfe im Strafverfahren und Jugendgerichtshilfe, neue ambulante Maßnahmen nach dem
Jugendgerichtsgesetz (u.a. Trainingskurse), Ambulante Soziale Dienste der Justiz (Gerichtshilfe,
Bewährungshilfe, Führungsaufsicht), Täter-Opfer-Ausgleich, Jugendstrafvollzug und Jugendarrest,
Strafvollzug, Maßregeln der Besserung und Sicherung, schließlich der Übergang zwischen Strafvollzug und (Wieder-)Eingliederung (Übergangsmanagement). In den beiden Schlusskapiteln 13
und 14 sind dann S. 303-352 die Arbeit mit Angehörigen Inhaftierter sowie Ergänzungsthemen
– Vermittlung gemeinnütziger Arbeit, Elektronische Überwachung, Risikoorientierung nach
Schweizer Maßstäben – dran. Es gelte nun, für Soziale Arbeit sich das immer breiter werdende
fachliche Neuland zu erschließen und dabei die miteinander verbundenen wichtigen Elemente
einer komplexen Fachlichkeit (Methodenlehre, Gesellschaftstheorie und Professionalisierung
der eigenen Person) zu erschließen.
Dieses Lehrbuch ist dazu eine unentbehrliche Hilfe. Mit seinen vielen Querverweisen, mit
Übungsaufgaben am Ende jedes Kapitels und ausführlichen Literaturangaben – das Verzeichnis
enthält alle genutzte Literatur und füllt allein 33 engbedruckte Seiten – ist es zu einem gut lesbaren Fach- und Arbeitsbuch geworden, an dem ab sofort alle Soziale Arbeit in den genannten
Feldern sich messen lassen muss.7
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Vermächtnis eines Praktikers – Werner Päckerts Versuch, professionelle Sozialarbeit in das System Strafvollzug zu implantieren
Kawamura-Reindls und Schneiders Lehrbuch entfaltet systematisch, was 20 Jahre vor ihnen
nach langjähriger Praxis im Strafvollzug der hessische Sozialarbeiter Werner Päckert in der
Gedächtnisschrift für den Wegbereiter der Pädagogik im Justizvollzug, Max Busch, als sein Vermächtnis für kommende Generationen aufgeschrieben hat. Daran sei mit Zusammenfassungen
und Zitaten an dieser Stelle erinnert. Dabei versucht der Rezensent, Päckerts Aussagen unter
vier Aspekten zu systematisieren:
a) Strafrecht und Strafvollzugsrecht
Mit Gustav Radbruch meint Päckert, dass nur die rationalen Strafrechtslehren – Erziehung
und Sicherung – sozialethisch erträglich erscheinen (546). Für unentbehrlich hält er den
Strafvollzug zur sicheren Verwahrung für eine Reihe sozial gefährlicher Gewohnheitstäter, die
aber nur einen kleinen Teil des Insassenpotentials ausmachen (557). Dass tatsächlich die Zahl
der Inhaftierten ein Vielfaches davon ist, liegt vermutlich daran, dass der Vollzug eine psychohygienische Funktion für Teile der Gesellschaft erfüllt, Gefangene werden in ihrer Gesamtheit
als Sündenböcke gebraucht (556).
Die Strafvollzugszielbestimmung hat anders als das Strafrecht ausschließlich den Täter in seinen
sozialen Bezügen im Auge (547). Das führt zu
7 Vgl. auch das Lehrbuch Kriminologie und Soziale Arbeit s. u. Anm. 62 und 66.
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b) Widersprüche
Päckert stellt fest, dass die Grundprinzipien der Sozialpädagogik denen des Freiheitsstrafvollzugs
widersprechen. Die Widersprüche zwischen Freiheitsstrafe und Sozialpädagogik ergeben sich aus
entgegenwirkenden Zielen (546). Diesen Widerspruch hält er für anachronistisch. »Dass in einem
behandlungsorientierten Vollzug Freiheitsstrafen zu verbüßen sind, deren Länge nach tat- und
schuldbezogenen Aspekten bestimmt wurde, ist anachronistisch« (550). Vielen (Gefangenen in
der JVA) fehlt der aus ihrer aktuellen Lebenssituation entstehende Leidensdruck (555). Deshalb
kann ihnen mit Freiheitsentzug nicht nachhaltig geholfen werden. Denn »alle Bemühungen, die
Lebensverhältnisse im Vollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen in Freiheit anzugleichen,
scheitern letztendlich am fehlenden Selbstbestimmungsrecht des einzelnen.« (548).
Auch gilt, dass zur Zeit finanzielle Ressourcen von Maßnahmen zur äußeren Sicherung der Anstalten verbraucht werden und für Behandlungsmaßnahmen nicht mehr zur Verfügung stehen
(550 f.). Wegen der Dominanz der Sicherungsaufgaben wird der Justizvollzug vom Misstrauen
bestimmt. Aber »ohneVertrauen geht es nicht« (551).
c) Aufgaben der Sozialarbeit(erInnen)
Bei der Strafvollzugsgesetzgebung8 wurde durch die bruchlose Übernahme traditioneller Aufgaben die Chance der Innovation verpasst. Die mit dem Strafvollzugsgesetz einhergehende
zunehmende Bürokratisierung und Formalisierung von Handlungsabläufen im Vollzug bewirkte
eine zunehmende Belastung der Sozialarbeiter mit sozialadministrativen Aufgaben. Das führte
zu einer Technokratisierung der Sozialarbeit. Sozialarbeiter wurden zusehends fremdbestimmt
(544 f.).Erst durch Neuerungen in der Organisation der Vollzugsanstalten (Wohngruppenvollzug.
Enthierarchisierung durch Neuordnung von Verantwortungsbereichen) konnten die Sozialarbeiter neue Aufgabenfelder besetzen (545). Die Gefangenen haben oft zu einzelnen Beamten des
Aufsichtsdienstes ein wesentlich offeneres und vertrauensvolleres Verhältnis als zu denen, die
statt (mit) Schlüsseln und Kontrolle mit Vertrauen und Kommunikation arbeiten wollen: die Sozialarbeiter (552 cf. Ortner). Faktisch bedeutet die Übernahme entscheidungsrelevanter Aufgaben
im Justizvollzug immer auch eine Verbesserung der Durchsetzungsmöglichkeiten berufs- und
fachbezogener Strategien (553). Für soziale Arbeit gilt auch, was generell für Erziehung gilt: sie
»... ist stets unter nicht idealen Rahmenbedingungen zu realisieren« (557). Allerdings ist wichtig,
»... dass der Sozialarbeiter ständig bereit und in der Lage sein muss, Konflikte offenzulegen und
auszutragen« (558). Denn »wenn der Gefangene im Umgang mit dem Sozialarbeiter die möglichen
Konsequenzen seiner Mitteilungen und Handlungsweisen kennt und ihm die Entscheidungsfreiheit bleibt, sich mehr oder weniger intensiv in einen Prozess des kommunikativen Austauschs
einzulassen, so kann sich auf dieser Basis durchaus eine vertrauensvolle Beziehung entwickeln«
(558 f.). Gegenseitige Achtung, Beständigkeit und Zuverlässigkeit sind für die soziale Arbeit die
wichtigsten Tugenden (559). Das Vollzugsziel (lernen zu leben »in sozialer Verantwortung ohne
Straftaten«) muss Richtschnur und Leitlinie sein ... – als weitestgehende Zielvorgabe (555). Trotz
dieser Zielvorgabe gilt nach wie vor: Sozialpädagogik und tatbezogene Freiheitsstrafe passen nicht
zusammen (554). Sozialarbeit ist auf Öffnung nach draußen und auf Vertrauen angewiesen (554).
Über die konkrete Arbeit mit Klienten hinaus »... muss auch die Sozialarbeit ... die
Aufgabe einer moralischen Instanz wahrnehmen« (559). Auch deshalb ist es ihre Aufgabe,
»darauf hinzuwirken, dass es in naher oder ferner Zukunft möglich sein wird, auf den Strafvollzug
ganz zu verzichten (560). Zu den im Folgenden (Abschnitt d)) anstehenden Aufgaben insgesamt
leiten die Thesen über, die Päckert unter der Überschrift »was jetzt für die Sozialarbeit zu tun
ist« S. 560-564 aufstellt und die als konkrete Aufgaben bis heute nicht erledigt sind: 1. Reform des
Strafvollzugs (Renten- und Krankenversicherung, Arbeitsentgeld, aktive Sühneleistung für Wie8 Päckert meint die Strafvollzugsgesetzgebung der Bundesrepublik (in Westdeutschland) von 1976, sein Urteil gilt
aber leider genauso für die Strafvollzugsgesetzgebung der Bundesländer nach 2006.
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dergutmachung) 2. Behandlungsaspekt neu definieren (systemische statt medizinische Bedingtheit
abweichenden Verhaltens) 3. Zielorientierung strafrechtlicher Sanktionen von dem ursprünglichen Tat-Schuldausgleichsdenken verabschieden, stattdessen an der Behandlungsbedürftigkeit
und – fähigkeit des Delinquenten und am unbedingt notwendigen Schutz der Allgemeinheit
vor gefährlichen Straftätern orientiert sein, die Möglichkeiten einer behandlungsorientierten
Strafaussetzung zur Bewährung ausweiten. 4. materielle und psychische Opferhilfe 5. permanente Dialogbereitschaft aller Beteiligten 6. Eigenverantwortliches Handeln der Gefangenen
fördern, der sinnvolle Einsatz und Ausbau von Mitwirkungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten
7. Zusammenwirken der Fachdienste 8. Einrichtung des Wohngruppenvollzugs, Ausbau des
offenen Vollzugs, Verlagerung von Verantwortungsbereichen 9. eingeschränktes Zeugnisverweigerungsrecht 10. Tätigkeit auch auf das soziale Umfeld des Inhaftierten außerhalb der Anstalt
beziehen, durchgehende und ganzheitliche Behandlungsarbeit, Arbeitseinsätze an Sonn- und
Feiertagen und in den Abendstunden 11. Zusammenarbeit mit Anlauf- und Beratungsstellen
der freien und behördlichen Straffälligenhilfe 12. Ehrenamtliche Kräfte verstärkt werben und in
den Vollzugsablauf einbeziehen, Vollzug durch Einbindung gesellschaftlicher Institutionen und
Kräfte der Außenwelt öffnen 13. Arbeitsbedingungen und Wirkungsmöglichkeiten verbessern,
Supervision institutionalisieren, Fort- und Weiterbildung, disziplinärer und interdisziplinärer
und internationaler Informationsaustausch 14. Zusammenwirken der sozialen Dienste in der
Justiz und Einbeziehung der Jugendgerichtshilfe, Dienst- und Fachaufsicht für durchgängige
Betreuungsarbeit.
d) Aufgaben insgesamt
Notwendig sind Bemühungen um eine verstärkte Einbindung der Öffentlichkeit (549).
Für die Umsetzung von Behandlungsmaßnahmen und die dabei notwendige Öffnung des
Vollzugs sind nötig: qualifiziertes Behandlungspersonal, Mitwirkungsbereitschaft des einzelnen
Straftäters, realitätsbezogene (also nicht realitätsferne) Kriminalitätsfurcht der Bevölkerung,
verantwortungsbewusste Medien, eine unverzichtbare Bereitschaft zum Risiko (550).
Heft 73/2016
Literaturbericht
8 und 9 Vom Gefängnis als »lernender Organisation« und als
»Risiko-Unternehmen« zum (fast) sicheren Ort für
gefährliche Straftäter?
Auf dem Weg zur Beschreibung des »Knast-Dilemmas« und zum Aufzeigen von eher Erfolg
versprechenden Alternativen zur Resozialisierung straffällig gewordener Menschen hat Bernd
Maelicke zusammen mit Weggefährten eine Entwicklung vollzogen, die sich an zwei Büchern
widerspiegelt. Gemeinsam mit dem europaweit vernetzten Berliner Justizvollzugsgestalter
Christoph Flügge und dem ehemaligen baden-württembergischen JVA-Leiter und nach der
Wende für Sachsens Gefängnisse zuständigen Ministerialdirigenten Harald Preusker als Herausgeber entstanden zwei Werke, deren Titel schon ihre innovativen Impulse erkennen lässt: »Das
Gefängnis als lernende Organisation« (2001) und »Das Gefängnis als Risiko-Unternehmen«
(2010). Theoretische Konzepte der Organisations- und Personalentwicklung, zu Führungs-,
Projekt- und Vollzugsmanagement und zur neuen Steuerung werden 2001 von 22 erfahrenen
Vollzugs-, Rechts-, Psychologie-, Betriebswirtschafts-, Verwaltungs- und Sozialarbeitsexperten
auf ihre Umsetzung für eine lernende Gefängnisorganisation hin geprüft und angewandt. Der
Fortsetzungsband 2010 hat dann einen weitgehend neuen Autorenkreis. Beim Verstehen, Kalkulieren und Managen des Risikos geht es den Autoren nicht um ökonomische Fragen, sondern
um Probleme von Diagnose und Prognose, von Behandlung und Erziehung, von erfolgreicher
Entlasssungsvorbereitung, Übergangsmanagement und Nachbetreuung, auch um Kontrolle und
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Relevanz der Wissenschaften. Entsprechend wichtig sind nun neben Juristen Soziologen, Psychologen, Erziehungswissenschaftler. Auch die zunehmend europäische Perspektive fällt auf. Beide
Bücher enthalten nach wie vor bedenkenswerte Artikel zu Grundsatz- und Einzelfragen, sind
aber vor allem historisch bedeutsam für eine Strafvollzugswissenschaft, die sich neuen Entwicklungen kritisch stellt – und am Ende, wie jetzt an Maelickes »Knastdilemma« zu erkennen ist, das
Gefängnis in seiner heutigen Form grundsätzlich infrage stellt, so dass es höchstens für einen
kleinen Teil der heutigen Insassen, der eine bleibende Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, zur
sicheren Verwahrung unter humanen Lebensbedingungen erforderlich ist.9
III. juristisch
10 und 12 Juristische Perspektiven – Laubenthals Lehrbuch zum
Strafvollzug und die Kommentare zu den Strafvollzugsgesetzen von Laubenthal und Feest
Drei vielhundertseitige Nachschlagewerke sind hier zunächst und vor allem zu nennen, die nicht
nur für angehende und praktizierende Juristen, sondern für alle mit Strafvollzug und Resozialisierung befasste Berufs- und Personengruppen geeignet sind. Sie gehören in jede Bibliothek
von Sozialstäben im Bereich der Justiz.
Der Würzburger Strafvollzugsrechtswissenschaftler Klaus Laubenthal hat im vorigen Jahr sein
Lehrbuch »Strafvollzug« (10) in der 7. Auflage auf den neuesten, neben dem alten Bundesstrafvollzugsgesetz die ihm damals vorliegenden Strafvollzugsgesetze von elf Bundesländern berücksichtigenden Stand gebracht. Er hat dabei systematisch für Lernende, Lehrende und Praktizierende
in bewährter Manier alles Wissenswerte in knapper Form zusammengetragen und in gut lesbare
Form gebracht. Nach einer kurzen, den freiheitsentziehenden Strafvollzug problematisierenden
Einleitung stellt er »Grundlagen des Strafvollzugs« vor und meint damit Gesetzesgrundlagen,
Bundesländerzuständigkeit und Typen der Vollzugsanstalten und ihrer Population. Es folgt eine
gut orientierende Skizze der historischen Entwicklung der Freiheitsstrafe seit der 2. Hälfte des 16.
Jahrhunderts über die angloamerikanischen Reformansätze des 19. Jahrhunderts, über Kaiserzeit,
Weimar und Nationalsozialismus bis zum bundesdeutschen Strafvollzug (zwei Seiten gehen auch
auf die DDR-Vorschriften ein). In den weiteren Kapiteln werden im Einzelnen abgehandelt:
Vollzugsaufgaben und Gestaltungsprinzipien, personelle Rahmenbedingungen (darunter S.190197 der Sozialstab), schließlich der Vollzugsablauf als Interaktionsprozess in seiner formalen und
inhaltlichen Bestimmtheit. Der letzte Teil des Lehrbuchs widmet sich den speziellen Formen des
Frauenvollzugs, anderen besonderen Vollzugsformen (Jugendstrafvollzug, Maßregelvollzug und
Haftarten von Untersuchungs- über Abschiebungs- bis zur Auslieferungshaft), den Fragen von
Sicherheit und Ordnung, dem Vollzugsverfahrensrecht und dem Datenschutz.10 Die Darstellung
ist von Laubenthals rechtspolitischer Liberalität geprägt.
Das gilt auch für Laubenthals gemeinsam mit Nina Nestler, Frank Neubacher und Torsten Verrel
unter Mitwirkung von Mario Bachmann und Johannes Koranyi verfassten Band »Strafvollzugsgesetze«. Er ist als 12., vollständig neu bearbeitete Auflage des bisher von Heinz Müller-Dietz und
9 Nach Fertigstellung des Manuskripts erschien in 2. durchgesehener Auflage das von Bernd Wischka, Willi Pecher
und Hilda van den Boogaart herausgegebene Fachbuch Behandlung von Straftätern – Sozialtherapie, Maßregelelvollzug, Sicherungsverwahrung; Centaurus-Verlag, Freiburg (2013) mit wichtigen Einzelbeiträgen, auf dir hier nicht
mehr eingegangen werden kann.
10 In Laubenthals Gliederung sind die »besonderen Vollzugsformen« von den »Besonderheiten des Frauenvollzugs«
getrennt durch die Kapitel zur Sicherheit und Ordnung und zum Vollzugsverfahrensrecht, das Kapitel über den
Datenschutz beschließt das Lehrbuch.
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Rolf-Peter Callies geschriebenen Bd. 19 der sog. »Beckschen Kurz-Kommentare« auf 1459 Seiten
erschienen (11). Das Kunststück, ein Gesetz zu kommentieren, das seit 2006 in – bis 2014 – 11
Bundesländern (die inzwischen verabschiedeten Gesetze von Bremen, Nordrhein-Westfalen
und Thüringen hat der 2015 erschienene »Kommentar« noch nicht berücksichtigt) in unterschiedlichen Fassungen verabschiedet wurde und dabei auch das in den übrigen Ländern noch
gültige alte Strafvollzugsgesetz der Bundesrepublik von 1976 und die aktuelle Rechtsprechung
zu berücksichtigen, gelingt formal gut für den vergleichenden juristischen Blick, ist aber weniger
überzeugend (vor allem nicht sehr übersichtlich) für den an der Gesetzgebung seines eigenen
Bundeslandes und deren Möglichkeiten und Grenzen interessierten Praktiker. Dabei sind die
Autoren schon einen Kompromiss eingegangen: sie dokumentieren jeweils zu den einschlägigen inhaltlichen Abschnitten nacheinander alle elf ihnen 2014 vorliegenden Gesetzestexte
und kommentieren dann vergleichend die einzelnen Gesetzesbestimmungen. Das ergibt eine
Mischung von Kommentar, rechtsvergleichenden Studien und zum Teil auch systematischem
Handbuch. Auf die mancherorts sehr lehrreiche kritische, wiewohl die Beschränkung des Strafvollzugsrechts auf freiheitsentziehende Maßnahmen nicht zur Diskussion stellende, Kommentierung im Einzelnen wird später zurückzukommen sein. Hier seien die systematischen Kapitel
genannt, die den Kommentar so gut es geht ordnen. Sie folgen dem fortlaufenden Gesetzestext:
A enthält einleitende Bemerkungen (Geschichte des Strafvollzugs, Gesetzgebung durch Bund
und Länder, Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, internationale Vorgaben, statistische
Entwicklungen und »Privatisierungstendenzen«, unter deren Überschrift auch »Ersatzfreiheitsstrafen« verhandelt werden). B behandelt »Vollzugsgrundsätze« mit »Ziel und Aufgaben« und
»Gestaltung« des Vollzugs, »Stellung des Gefangenen«, »Einschränkungen von Grundrechten«
und einem kurzen vergleichenden Blick auf die Regelungen der früheren DDR. C geht mit
Aufnahmeverfahren, Behandlungsuntersuchung und Vollzugsplan die Schritte des Strafantritts
durch. In D geht es um »Unterbringung und Verlegung«. E kommentiert die Bestimmungen für
»Kontakte zur Außenwelt«, F für »Arbeit, Bildung«, G für »Freizeit«, H für »Gesundheit und
Soziales, Kleidung, Verpflegung«, I für »Religion«, J für »Sozialtherapie«, K speziell für weibliche
Inhaftierte, L dann, wieder für alle Inhaftierten, für »Entlassungsvorbereitung, Entlassung«, M
für »Sicherheit und Ordnung«, N zur »Anstaltsorganisation«, zu der neben äußerem und innerem
Aufbau der Justizvollzugsanstalten und ihrer »Aufsicht« auch Vollstreckungsplan, Anstaltsbeiräte
und Kriminologische Forschung gezählt werden. Den Kommentar beschließen die Kapitel O
»Datenschutz«, P »Rechtsbehelfe« und Q »Besondere Vollzugsformen«, unter die Psychiatrisches
Krankenhaus, Strafarrest und Zivilhaft gefasst werden.
Laubenthals mit Nestler, Neubauer und Verrel geschriebener Gesetzeskommentar ist – wie
sein Lehrbuch – als solides juristisches Standardwerk anzusehen. Außer Anfragen an Übersichtlichkeit und Praktikabilität ist zu bedauern, dass – durch das Erscheinungsdatum bedingt – die
Ländergesetzgebung nicht vollständig berücksichtigt werden konnte.
Das wird anders sein, wenn im Winter 2016/2017 (so die Verlagsankündigung) der Kommentar
zu den Strafvollzugsgesetzen erscheint, der von Johannes Feest gemeinsam mit Wolfgang Lesting
und Michael Lindemann in 7. Auflage herausgegeben wird (12). Es ist zu erwarten, dass Feests
Kommentar wie dessen Auflagen in der Vergangenheit sich dadurch auszeichnet, dass er verlässlich
aktuelle Gesetzgebung und Rechtsprechung kommentiert und insofern wie bisher ein mindestens gleichwertiges Komplement zu dem jetzt von Laubenthal u.a. herausgegebenen Beckschen
Kommentar darstellt. Darüber hinaus stellt er Gesetzgebung und Rechtsprechung auch kritisch
in den Zusammenhang sozialwissenschaftlicher Fachdiskussion. Dazu bedient Feest sich zahlreicher praxiserfahrener und theoretisch ausgewiesener Autoren. In der im Entwurf vorliegenden
7. Auflage sind das außer den Mitherausgebern u.a. Elke Bahl, Daniela Böning, Sven-Uwe
Burkhardt, Thomas Galli, Jochen Goerdeler, Christine Graebsch, Corinna Grühn, Erich Joester,
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Florian Knauer, Helmut Pollähne, Gerhard Rehn, Joachim Walter, Elke Wegener, Oliver Weßels
und für die Telekommunikation Florian Knauer. Feests neuer Kommentar berücksichtigt die nun
vorliegenden Strafvollzugsgesetze aller Bundesländer, also auch von Bremen, NRW und Thüringen. Anders als Laubenthal dokumentiert er sie vollständig in ihrem Gesamtzusammenhang
im Anhang. Der »Kommentar« selbst ist eher systematisch-handbuchartig aufgebaut und nimmt
jeweils zum Thema, ausgehend vom »Musterentwurf«, der der Gesetzgebung der Mehrheit der
Bundesländer zugrundeliegt, und vergleichend mit europäischen Regelungen, auf den Wortlaut
der einzelnen Gesetzesfassungen Bezug. Dadurch wird eine bessere Übersichtlichkeit erreicht.
Zu erwarten ist, dass wie in den früheren Auflagen ein gut geordnetes Register die Schätze des
Kommentars erschließt. Inhaltlich weist er insofern in die Zukunft, als er über die Freiheitsstrafe
hinaus auch andere mögliche staatliche Sanktionsformen für Rechtsbrecher thematisiert. Schon
die dem Rezensenten ebenso wie ausgewählte Teile des Kommentars vor Veröffentlichung zur
Verfügung gestellte Gliederung in insgesamt VII Teile deutet daraufhin. Teil I enthält die knappe
Einleitung der Herausgeber. Der auf den Vollzug der Freiheitsstrafe und des Strafarrestes bezogene II. Teil ist mit seinen zwanzig Abschnitten wie zu erwarten der weitaus umfangreichste Teil;
er entspricht in seinem Aufbau weitgehend den Kapiteln des Laubenthal-Kommentars; auffällig
ist allerdings, dass in Abschnitt zehn die »Gelder der Gefangenen« bei Feest eigens thematisiert werden. In den Teilen III-VI geht es um »Datenschutz«, »Gerichtlichen Rechtsschutz« (Vf.
Margret Spaniol), »Sozialrecht/Sozialversicherungsrecht« (Vf. Corinna Grühn) und »Besondere
Vollzugsformen« (Sicherungsverwahrung/Therapieunterbringung, forensische Maßnahmen,
Sozialtherapie). Besonders gespannt darf man auf Teil VII sein, in dem über die Erfordernisse
eines Kommentars hinaus »Besondere Personengruppen« genauer vorgestellt werden, die von
strafrechtlichen staatlichen Sanktionen betroffen sind: Ausländer, Drogenabhängige (Vf. Heino
Stöver). Frauen, Lebenslängliche, Menschen mit Behinderung (Vf. Oliver Tolmein) und Psychisch
Kranke. Aufgrund des bisherigen Charakters des Feestschen Kommentars, des VII. Teils und einzelner Gliederungsstichworte ist eine nicht nur juristische, sondern auch sozialwissenschaftliche
Problemsicht als spezifischer Charakter des handbuchartigen Kommentars zu erwarten. Um das
zu verdeutlichen, seien im Folgenden drei Sätze aus den in der Einleitung genannten Maximen
der Herausgeber zitiert und im Übrigen wie für Laubenthals Kommentar auf die inhaltlichen
Ausführungen unten in Teil C S. 126 ff. dieser Rezension zu einzelnen Themen verwiesen.
Unter »Kommentar« verstehen Feest, Lesting und Lindemann »Auslegung des Gesetzes, aber
auch Diskussion der nach der Auslegung verbleibenden Handlungsspielräume und ihrer Ausfüllung, schließlich auch Kritik des Gesetzes...«. Juristische Auslegung ist für sie mit Radbruch »nicht
Nachdenken eines Vorgedachten, sondern Zuendedenken eines Gedachten«. Das heißt für sie
auch: »Gerade bei Begriffen und Sachverhalten, welche Gegenstand erfahrungswissenschaftlicher Analysen und Forschungen sind, ist der Stand der betreffenden Wissenschaften sorgfältig
zu ermitteln und bei der Auslegung heranzuziehen.«
13 Politisch der nächste Schritt: Landesresozialisierungsgesetze –
ein Diskussionsentwurf
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht hat konsitent das Ziel der sozialen (Re-)
Integration bzw. »Resozialisierung« direkt aus der Würde des Menschen, aus dem Recht auf
freie Entfaltung der Persönlichkeit und dem Sozialstaatsprinzip abgeleitet, ihm insofern Verfassungsrang zugesprochen und unter diese Zielvorstellung auch die freiheitsentziehenden
Maßnahmen des Staates gestellt.11 Sie hat damit die seit 2006 für den Strafvollzug zuständigen
11 Belege dazu z.B. in 5 S. 33-35.
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Bundesländer dazu angehalten, in ihren neuen Landesjustizvollzugsgesetzen die Umsetzung
dieses Ziels zu fixieren. Wenn sich aber herausstellt, dass dieses Ziel für viele Straftäter besser
durch weniger in Grundrechte des Einzelnen eingreifende Maßnahmen und auf wirksamere
Weise als durch Freiheitsentzug erreicht werden kann, so ist auch rechtlich geboten, diese Chancen wahrzunehmen. Hier knüpft der Diskussionsentwurf für ein Landesresozialisierungsgesetz
– Nichtfreiheitsentziehende Maßnahmen und Hilfeleistungen für Straffällige der Autorengruppe
Heinz Cornel, Frieder Dünkel, Ineke Pruin, Bernd-Rüdiger Sonnen und Jonas Weber an (13); in
der Autorengruppe hatte zunächst auch Bernd Maelicke mitgearbeitet.12 Da ein umfassendes,
den Strafvollzug einbeziehendes Resozialisierungsgesetz nach Verabschiedung der Länderstrafvollzugsgesetze nicht mehr möglich ist, geht es den Autoren um eine engere Fassung, die neben
die bestehenden Landesgesetze zu Strafvollzug, Jugendstrafvollzug, Untersuchungshaftvollzug
usw. gestellt werden kann. Zu ergänzen ist hier: ... und gestellt werden muss, wenn man die vielen
nichtfreiheitsentziehenden und nachgewiesenermaßen oft wirksameren Möglichkeiten der Resozialisierung für die große Zahl der dafür geeigneten Straftäter nutzen will. Ein Gesetz ist dafür
nötig, weil auch Maßnahmen wie ein in seiner Kompetenz erweitertes und verbessertes System
von Bewährungs- und Gerichtshilfe, des Täter-Opfer-Ausgleichs, forensischer Ambulanzen und
der Sozialarbeit von Freien Trägern der Straffälligenhilfe Eingriffe in Grundrechte impliziert
und zu seiner Stabilisierung und Vernetzung gesetzlicher Unterstützung bedarf.
Der vorliegende Diskussionsentwurf will – als ganzer – eine Orientierung für Ländergesetze
sein, kann aber auch mit seinen einzelnen Ideen als »Steinbruch« von Landespolitikern für ein
Landesresozialisierungsgesetz genutzt werden (41). Dem zur Diskussion gestellten Entwurf eines
möglichen Gesetzestextes (5-31) folgt eine ausführliche Begründung (33-122). Der Ergänzung
dienen Vorschläge für nötige oder günstige bundesrechtliche Reformen (125-132) und ein die
zugrundeliegende Literatur nennendes Verzeichnis (133-153). In des Gesetzestextes Erstem
Abschnitt (§§ 1-4) mit Anwendungsbereich, Ziel und Hilfearten werden auch die im Text verwendeten Begriffe (§ 3) so präzise wie in Kürze möglich bestimmt. Nach »Klient«, »Fachkräfte
der Sozialen Arbeit«, »Hilfen« und »Maßnahmen« wird der Resozialisierungsbegriff - in am
Ende freilich unbeholfener Weise - definiert: »Als Resozialisierung wird der Prozess zwischen
der Gesellschaft und Straffälligen bezeichnet, der deren Wiedereingliederung und insbesondere
zukünftige Straffreiheit befördert. Resozialisierung ist Teil des lebenslangen Sozialisationsprozesses, immer eingerahmt von der allgemeinen Lebenslage der Straffälligen und kann und darf nicht
gegen deren Willen und ohne ihr Mitwirken erzwungen werden.« Zu den Gestaltungsgrundsätzen
im Zweiten Abschnitt (§§ 5-14) gehören »Wiedergutmachung«, »Vorrang pädagogischer Hilfen
vor Kontrolle«, das Prinzip der »durchgehenden sozialen Hilfe« (Vermeidung eines Fachkräftewechsels) und die Mitwirkung der Gesellschaft. § 12 steht unter der Überschrift »Rechte und
Mitwirkungspflichten der Klienten«, benennt jedoch leider keine Rechte, dafür aber auch keine
Pflichten. Stattdessen spricht § 12 fachlich korrekt von einer freiwilligen Mitwirkung der Klienten
am Wiedereingliederungsprozess, zu dem sie »motiviert« werden sollen. Der Dritte (§§ 15-30)
und Vierte Abschnitt (§§ 31-35) skizziert 16 verschiedene Hilfearten zur Resozialisierung und zu
ihrer Durchführung - von der Koordinierung und Planung bis zur Beendigung, Dokumentation
und Evaluation. Besondere Beachtung verdienen im Fünften Abschnitt zum Thema »Organisation und Ausstattung« das neu zu schaffende »Landesamt Ambulante Resozialisierung«, die
gemeinwesenbezogenen regionalen »Soziale(n) Integrationszentren« mit Beiräten und deren
Zusammenschluss in einer landesweiten Konferenz »Resozialisierung«. Im letzten Abschnitt
werden u.a. »Resozialisierungsfonds« beim Justizministerium angesiedelt, die geeigneten Klienten
»einen Neuanfang in wirtschaftlich geordnete Verhältnisse« und Beiträge zur Wiedergutmachung
ermöglichen sollen.
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12 Maelicke ist inzwischen an der Vorbereitung des Hamburger Resozialisierungsgesetzes beteiligt.
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Insgesamt finden sich in dem Diskussionsentwurf eine klare Struktur, viele Anregungen, aber
auch manche ergänzungs- und verbesserungsfähige Formulierung. Eine gute Startgrundlage für
ein notwendiges Gesetzgebungsverfahren ist der Entwurf in jedem Fall.
IV. theologisch
14 bis 22 Seelsorge im Strafvollzug – Schriften zum Verstehen einer
Sonderrolle
In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts hatte der Rezensent Gefängnisseelsorger als
engagierte, mitdenkende und beharrliche Vertreter der (west-) bundesdeutschen Strafvollzugsreform, die im neuen Strafvollzugsgesetz wenigstens zum Teil zum Ausdruck kam (z.B. Resozialisierung als Vollzugsziel, Vorrang des offenen Vollzugs vor dem geschlossenen), kennen und schätzen
gelernt13 und später als Mitglied bzw. Vorsitzender der Beiräte der Justizvollzugsanstalten von
Hamburg-Fuhlsbüttel und Dresden dieses ihr Engagement bestätigt gefunden. Deshalb hat er
erwartungsvoll das in Gütersloh 2015 erschienene Buch des nach 23jähriger Berufstätigkeit in der
Berlin-Tegeler JVA pensionierten »Landespfarrers für Seelsorge in Justizvollzugsanstalten für den
Bereich Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz« Rainer Dabrowski zur Hand genommen.
Der Titel »verknackt – vergittert – vergessen – ein Gefängnispfarrer erzählt« (14) erscheint zwar
etwas reißerisch, aber erinnert an den kurz zuvor erschienenen, durchaus informativen Bestseller
»Knast« von Joe Bausch, in dem »ein Gefängnisarzt erzählt« – aus der nordrheinwestfälischen
JVA Werl, ebenfalls nach jahrzehntelanger Praxis. Um es kurz zu machen: der Rezensent hat das
Buch bis zum Ende gelesen, erst mit wachsendem Unbehagen, dann voller Ärger, weil hier ein
Autor und ein Verlag (Gütersloher Verlagshaus in der Verlaggruppe Random House GmbH) in
ästhetisch ansprechender Form mit einer Serie nicht reflektierter Anekdoten und oberflächlicher
Beschreibungen Leser / Käufer zu gewinnen versucht und dabei einen Berufsstand und jede systematische zielorientierte Arbeit im Gefängnis diskreditiert. Man fragt sich, wofür einer seinen
Beruf ausgeübt hat, der in seinem Berufsresüme – um nur eins von vielen möglichen Beispielen
zu nennen! - in einem Kapitel über das Privileg von »Sondersprechstunden im Pfarramt« die
Halbwahrheit zum Besten gibt: »Die relativ kurze Zeit der Inhaftierung reicht weder für eine
allumfassende Resozialisierung noch für Eheseminare oder Fragen der Kindererziehung aus«
(S.43). Dass es sehr wohl in anderen JVAs von Sozialarbeitern und wo nötig auch von Seelsorgern
gut durchdachte und evaluierte Eheseminare gibt (z.B. in NRW) und in Stationen für inhaftierte
Väter vor und nach mehrstündigen Treffen mit deren Kindern innerhalb und außerhalb der JVA
Fragen der Kindererziehung besprochen werden, ohne dass damit freilich dem Anspruch einer
»allumfassenden Resozialisierung« genügt werden kann, scheint Dabrowski nicht bekannt zu sein.
Mehr über die alltägliche Arbeit der »Seelsorge im Strafvollzug« (so der Untertitel) erfährt
man da aus Niedersachsen in dem von Ulrich Tietze mit dem Titel »Nur die Bösen?« herausgegebenen Buch (15). In ihm werden von niedersächsischen Gefängnispfarrern und einer -pfarrerin
Biografien von jugendlichen und erwachsenen Strafgefangenen skizziert (S. 9 ff., 31 ff., 94 ff.,
137 ff.), Unterschiede zu weiblichen Gefangenen besprochen (93 ff.), Kontakte mit Bediensteten (106 ff., 149 ff.) und Angehörigen (145 ff.) charakterisiert sowie Arbeitsfelder im Einzelnen
vorgestellt – an erster und wichtigster Stelle Einzelgespräche, dann Gottesdienste (43 ff., 155 ff.),
13 Vgl. Ulfrid Kleinert Seelsorger oder Bewacher? Pfarrer als Opfer der Gegenreform im Strafvollzug – Der Fall Dieter
F. nach dem Mannheimer Gefängnisskandal, Reinbek 1977 (rowohlt aktuell Nr. 4116 ). Siehe auch die Beiträge der
Gefängnispfarrer Martin Steller (»Seelsorge im Gefängnis«), Dieter Hölzner/Otto Seesemann/Helmut Weller (»Probleme pfarramtlicher Tätigkeit«) und Dieter Frettlöh (»Gemeinde«) In: Ulfrid Kleinert (Hg) Strafvollzug – Analysen
und Alternativen, München / Mainz 1972 S. 94-112,118-124, 128-136, 139-154.
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Gruppen (151 ff., 187 ff.), Außenkontakte und Öffentlichkeitsarbeit (159 ff.). An einer Untersuchung zu Gottesbildern von Gefangenen anhand von 10 multiple-joice-Fragen beteiligen sich 45
Inhaftierte aus den Seelsorgegruppen ihrer beiden – methodisch allerdings etwas dilettantisch
forschenden – Seelsorger (61 ff.). Einen guten Einblick gewährt der Herausgeber in Verfahren,
selbst geschriebene Texte, Aufführungspraxis und Wirkung der Theatergruppe der Seelsorge an
der JVA Hannover; vor allem die in positiver Weise anstößige Weitererzählung und Reflektion
der biblischen Geschichte »Noah – die zweite« (203 ff.) ist bemerkenswert. Dass ein gemeinsam
mit Sozialarbeitern vorbereitetes Projekt »Familientreffen« (von Inhaftierten und ihren Angehörigen) aus Sicherheitsgründen abgesagt wurde (151 ff.), befremdet. Als 1999 der stellvertretende
Anstaltsleiter und der stellvertretende Küchenleiter von einem Inhaftierten ermordet werden,
ist Seelsorge auf unterschiedliche Weise von Politikern, Bediensteten und Inhaftierten herausgefordert (171 ff.). Das Buch bleibt – unter Vernachlässigung systematischer Analyse – durchgängig
nah an der Praxis und zeigt den Seelsorger, die Seelsorgerin als »den freiesten Mann« (und die
freieste Frau) im Knast (106), aber genau deshalb auch als Außenseiter (134).
Die Religionswissenschaftlerin Ursula Unterberger hat ihre Diplomarbeit an der Wiener
Universität 2008 zur »Religionsausübung im Strafvollzug« Österreichs geschrieben, sie 2012
aktualisiert und 2013 unter dem Titel »Religion – die letzte Freiheit« im Marburger TectumVerlag veröffentlicht (16). Nach einer Einführung in das Gefängnissystem Österreichs stellt sie
die gesetzlichen Grundlagen von Religionsfreiheit und die auf ihnen beruhenden Möglichkeiten
der Gefangenenseelsorge in unserem Nachbarland vor. Dazu nutzt sie die statistischen Daten
des Wiener Justizministeriums, stellt die religionsausübungsrelevanten Raumkonzepte für
Gebetsräume, Küche und Bibliothek vor und befragt ausgewählte Seelsorger und InsassInnen
(insgesamt 19 der Justizanstalt Wien-Josefstadt). Da die Untersuchung keinen Anspruch auf
Repräsentativität erheben kann, ergibt sie lediglich einen ersten Blick auf die Zulassung und
relevanten Veranstaltungsformate anderer Religionen (Islam, Judentum, Buddhismus) und der
christlichen Konfessionen (Katholizismus, Protestantismus, Orthodoxie) sowie mögliche Fragestellungen für eine vertiefte Bearbeitung des Themas. Bei dieser vertieften Bearbeitung sollte
auch das von einem Wiener Wachdienstbeamten entlehnte interessante Titel-Diktum von der
Religion als letzter Freiheit in der Justizanstalt einer genaueren Überprüfung und Bestimmung
unterzogen werden.
Mit einem Vorwort des damaligen Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in
Deutschland (EKD), Bischof Prof. Dr. Wolfgang Huber, hat die »Evangelische Konferenz für
Gefängnisseelsorge« 2009 »Leitlinien für die Evangelische Gefängnisseelsorge in Deutschland« (17)
herausgegeben, an denen sich seither »die Pfarrerinnen und Pfarrer und andere Mitarbeitende
in der Gefängnisseelsorge«, aber auch »Verantwortliche in Kirche, Justizvollzug und Straffälligenhilfe« orientieren sollen und können. Den Titel der Leitlinien bildet ein Wort des Jesus von
Nazareth, wie es der Evangelist Matthäus Kapitel 25, Vers 36 im sog. Gleichnis vom Weltgericht
überliefert hat: »Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr habt mich besucht.« Die gut 50 Seiten füllenden Leitlinien enthalten, behutsam und abgewogen formuliert, präzise Aussagen, überprüfbare
Praxiskriterien, klare Handlungs- und Politikperspektiven. Sie sind nicht hierarchisch von oben
»vorgeschrieben«, sondern im Prozess einer Arbeitsgruppe aus Praktikern vor Ort, beraten von
Fachleuten, »von unten« entstanden und verbinden Erfahrungen alltäglicher Berufspraxis mit
theologisch und sozialwissenschaftlich reflektierten Perspektiven. Sie gliedern sich in fünf Kapitel,
beginnend erstens mit einer knappen Skizze »Fremde Welt Gefängnis« (Untertitel: »Mit wem und
wo arbeitet die Gefängnisseelsorge?«). In den 6 Abschnitten dieser Skizze werden nicht nur statistisch, sondern mit praxisrelevanten Hinweisen versehen, vorgestellt: die Gefangenen (Zahlen,
Deliktarten, Haftart und -zeit, Alter und Geschlecht, kulturelle und religiöse Herkunft, Maßregelvollzug und Sicherungsverwahrung), ihre Angehörigen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
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des Strafvollzugs, externe Mitarbeiter/innen, die Institution Gefängnis (mit ihren Hierarchien,
ihren widersprüchlichen offiziellen und inoffiziellen Zielen, der tendentiellen Vernachlässigung
von Offenem Vollzug und Strafaussetzung zur Bewährung sowie mit ihrer Wahrnehmung in den
Medien), schließlich die aus ethischen Gründen kritisierte Abschiebehaft, für deren unglückliche
Opfer die Gefangenenseelsorger/innen dennoch da sein wollen, obwohl es Abschiebehaft nach
deren begründetem Urteil gar nicht geben dürfte. Im zweiten Kapitel »Gerechtigkeit – Auftrag
und Vision« (Untertitel: »Welche Grundsätze und konkrete Utopien leiten die Gefängnisseelsorge?«) werden ausführlich »Theologische Grundlagen« erläutert: die »Opferorientierung« der
Bibel, die »Vision von Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung«, die »Zuwendung zu den Schuldiggewordenen und Gescheiterten«, die »Ernüchterung« in der Wahrnehmung des inhaftierten
Menschen und seiner trotzdem unaufgebbaren »Würde«. Diesen theologischen Grundsätzen
korrespondieren »rechtsstaatliche und menschenrechtliche Grundsätze«, wie sie insbesondere
in den Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarats von 2006 formuliert sind. Auf dem
Hintergrund dieser Grundsätze wird der historische Beitrag der Gefängnisseelsorge zu einem
menschenwürdigen Umgang mit Straftäter/innen benannt und für die Zukunft nach »Alternativen zum Freiheitsentzug« gesucht sowie »die weitgehende Vermeidung von strafrechtlichen
Sanktionen zugunsten von Wiedergutmachung, Konfliktregelung und Täter-Opfer-Ausgleich«
anvisiert. Im dritten Kapitel geht es um »Räume der Seelsorge« (»Auf welcher Grundlage und wie
arbeitet Gefängnisseelsorge für und mit Menschen im Gefängnis?«). Weil Gefangenenseelsorge
»im Spannungsfeld von Staat und Kirche« und an einer ihrer Schnittstellen steht, bedarf es klarer,
die Interessen beider Seiten berücksichtigender Vereinbarungen und rechtlicher Grundlagen.
Zu diesen gehören auch die Regelung der Dienst- und Rechtsaufsicht, von Seelsorgegeheimnis,
Schweigepflicht und Zeugnisverweigerungsrecht.14 Die Gefängnisseelsorge arbeitet – trotz ihrer
punktuellen institutionellen Einbindung - auf der Basis von Unabhängigkeit und Freiwilligkeit.
Als »Formen« ihrer Arbeit werden u.a. genannt: Gottesdienst, Gespräche, ggfls langfristige Begleitung Gefangener, Gruppenseelsorge, Zusammenarbeit mit Bediensteten und mit Angehörigen,
Öffentlichkeitsarbeit einschl. Kontakten zu Gemeinden und Bildungseinrichtungen. Das vierte
Kapitel benennt »Qualitätsstandards und Ressourcen« (»Was braucht Gefängnisseelsorge?«). Die
über ein Theologiestudium hinausgehenden nötigen Kompetenzen werden in einer qualifizierenden Weiterbildung für Seelsorge in Justizvollzugsanstalten vermittelt; diese wird gemeinsam
mit der EKD am Seelsorgeinstitut der Kirchlichen Hochschule Bethel-Bielefeld durchgeführt.
Hinzu kommen kontinuierliche berufsbegleitende Supervisionen, Konferenzen, interdiszipinäre
Tagungen und Arbeitsgemeinschaften. Die im Einzelnen genannten Kompetenzbereiche sind
pastoralpsychologischer, theologisch-geistlicher, ethischer, personaler und kommunikativer,
arbeitsfeldbezogener sowie interreligiöser und interkultureller Art. Im fünften und letzten Kapitel formulieren die Leitlinien »Herausforderungen an die Praxis« (»Welche Veränderungen
nimmt die Gefängnisseelsorge in den Blick?«). Hier werden klar und deutlich »Probleme und
Defizite der gegenwärtigen Justiz- und Strafvollzugspraxis« benannt. Dazu zählen im Einzelnen:
negativ Behinderung eines Prozesses umfassender Wahrheitsfindung, weitere Verminderung
der unterentwickelten Alltagskompetenz der straffällig gewordenen Menschen, verstärktes
Vergeltungsdenken, unverhältnismäßige Gewichtung der Sicherheitsprobleme; positiv Ausbau
der Mediation und besondere Aufmerksamkeit für die Arbeit der restorative-justice-Zentren,
Verbesserung der Opferhilfe, verstärkte Förderung des bürgerschaftlichen Engagements, weitergehende Haftvermeidung bei Ersatzfreiheitsstrafen, Drogenabhängigen und Kranken, Ausbau
ambulanter Maßnahmen und des offenen Vollzuges, Alternativen zur Sicherungsverwahrung. Zu
den Herausforderungen an die Kirche heißt es: »Kirchengemeinden sollten einen Empfangsraum
14 Vgl. das V. Kapitel »Möglichkeiten einer Neuorientierung sozialer Arbeit im Strafvollzug«, in dem es u.a. um Konfliktfähigkeit geht, in: U. Kleinert Seelsórger oder Bewacher? Reinbek 1977 S. 135-142.
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bieten sowohl für Opfer von Straftaten als auch für Strafentlassene und Angehörige Inhaftierter«.
Gemeindearbeit vor Ort, Gefängnisseelsorge und Diakonie seien besser zu vernetzen. Neben
der Gefängnisseelsorge müsse es eine Opferseelsorge geben.
Fazit: für einen auf gesellschaftlichen Frieden ohne Ausgrenzungen zielenden Justizvollzug
können diese Leitlinien eine sehr gute Orientierung sein. Es erscheint wünschenswert, dass sie
für alle in der evangelischen Gefängnisseelsorge Tätigen tatsächlich handlungsleitend sind und
– ggfls mit spezifischen Modifikationen – auch für die »Seelsorge« anderer Konfessionen und
Religionen gültig würden. Zu begrüßen ist, wenn auch Sozialarbeiter/innen und alle anderen
im Justizvollzug tätigen Berufsstände ihre Leitlinien ähnlich klar formulieren. Dann werden
sich vermutlich Konvergenzen für die gemeinsam voranzutreibende Weiterentwicklung eines
humanen Justizvollzugs ergeben.
Alexander Funsch nennt seine 2015 im Nomos-Verlag erschienene Tübinger Doktorarbeit zur
»Seelsorge im Strafvollzug« (18) im Untertitel »Eine dogmatisch-empirische Untersuchung15 zu
den rechtlichen Grundlagen und der praktischen Tätigkeit der Gefängnisseelsorge«. Tatsächlich
ist das über 600 Seiten umfassende Opus weit mehr als das geworden. Stellt es doch nach dem
der Einleitung dienenden kurzen 1. Kapitel bereits im 150seitigen 2. Kapitel knapp und präzise
auch die historische »Entwicklung der Gefängnisseelsorge im Gefüge des Strafvollzugsrechts«
in ihren verschiedenen Etappen (bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, dann bis Weimar, danach
in der Weimarer Republik, im Dritten Reich, in der Nachkriegszeit, ab 1977, schließlich heute)
anhand ausgewählter, im Anhang nachlesbarer Quellen dar. Wo er dabei auf regional Spezifisches
Bezug nimmt, ist Württemberg und Baden der für einen Tübinger Promovenden naheliegende
engere Bezugsraum. Schon hier zeigt sich, was das Buch insgesamt auszeichnet: Funsch versteht
es, zeit-, sozial-, kultur- und institutionsgeschichtliche Zusammenhänge differenziert aufzuzeigen,
dabei gut verständlich und für den Leser nachprüfbar zu schreiben und seine Interpretationen
einem weitergehenden Diskurs zugänglich zu machen. So entsteht ein auch didaktisch gut aufgebautes Werk, in dem am Beispiel der Gefängnisseelsorge die Entwicklung des Vollzugs der
Freiheitsstrafe, ihrer Formen, Probleme und Alternativen bis in die Gegenwart nachvollzogen
werden kann. Zugleich legt Funsch eine methodisch reflektierte Studie zu Rahmenbedingungen,
Konzeption und alltäglicher Praxis eines außerordentlichen Berufsstand im Justizvollzug vor, die
man sich im Interesse einer Professionalisierung aller Arbeit im Justizvollzug ähnlich qualifiziert
und praxisnah auch für andere Fachdienste wie Sozialarbeiter_innen, Psycholog_innen und
Vollzugsdienst wünscht.
Dass es Funsch um mehr geht als nur »rechtliche Grundlagen und praktische Tätigkeit« der
Gefängnisseelsorge, zeigt auch das 3. Kapitel, in dem »Der Zweck der Strafe und das Ziel des
Strafvollzugs« thematisiert werden. Er unterscheidet hier zunächst einerseits zwischen »strafrechtlichem Strafzweckverständnis« mit den absoluten und den relativen Strafzwecktheorien
sowie den Vereinigungstheorien und andererseits dem Strafzweckverständnis der Kirchen, das
er – unterschieden nach »göttlichen« und »weltlichen« Strafen – aus Altem und Neuem Testament, von bedeutenden Theologen der Kirchengeschichte (u.a. Augustin, Anselm von Canterbury,
Thomas von Aquin, Martin Luther, Philipp Melanchthon, Johannes Calvin, Karl Rahner, Paul
Althaus, Emil Brunner, Friedrich Schleiermacher, Karl Barth) und kirchlichen Verlautbarungen
bis in die Gegenwart hinein ableitet. Beide Strafverständniskomplexe bilden den Hintergrund
zum Verstehen der von Gefängnisseelsorgern favorisierten Strafverständnisse; diese sind durch
eine von Funsch durchgeführte empirische Untersuchung erhoben. Die Untersuchung selbst
Heft 73/2016
Literaturbericht
15 Was eine »dogmatisch-empirische Untersuchung« ist, weiß der Rezensent auch nach der Lektüre des Buches nicht.
»Dogmatisch« bezieht sich vermutlich auf systematische und juristische Begriffe und Definitionen und meint die
rechtlichen Grundlagen, mit »empirisch« dürfte die konkrete Befragung der Gefängnisseelsorger gemeint sein,
aber was ist »dogmatisch-empirisch«?
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wurde methodisch sorgfältig vorbereitet, durchgeführt und ausgewertet; Funsch dokumentiert
sie im Anhang und stellt ihre Ergebnisse im Text in vielen Schaubildern übersichtlich dar. Die
sorgfältig geplante und vorgestellte Untersuchung hat allerdings ein Manko, das nicht in die
Verantwortung des Untersuchers fällt. Denn an ihr haben sich nur 139 der insgesamt rund 600
deutschen evangelischen und katholischen Seelsorger beteiligt. Grund dafür war anscheinend
ein dem Rezensenten nicht berechtigt erscheinendes Misstrauen der aus Theologen bestehenden
untersuchten Gruppe gegenüber einem Forschungsvorhaben aus dem juristisch-kriminologischen
Fach.16 Bedauerliches Resultat dieses Misstrauens ist, dass »eine Verallgemeinerung der Untersuchungsergebnisse nur begrenzt möglich ist« und sie nur »als Richtungs- oder Tendenzwerte
zu würdigen« sind (S. 273 f.). Entsprechend ist das Ergebnis einzuschätzen, nach dem unter den
Strafzwecken für die Gefängnisseelsorger »künftige Straflosigkeit / Resozialisierung des Täters«,
»Schutz der Allgemeinheit vor dem Täter« und »Vertrauen der Gesellschaft in die Rechtsordnung
stärken / Verteidigung der Rechtsordnung« in dieser Reihenfolge deutlich vorrangig sind gegenüber »Abschreckung des Täters vor weiteren Taten« und »Abschreckung anderer potentieller
Täter« sowie – als Schlusslicht – »Vergeltung für das begangene Unrecht« (S. 293 ff.). Vom Strafzweck der Strafrechtsprechung zu unterscheiden ist das im Strafvollzugsgesetz bestimmte Ziel
des Strafvollzugs. Es wird von Funsch ebenfalls aus den drei Perspektiven des Strafvollzugsrechts,
der Kirchen und der Gefängnisseelsorger dargestellt. Auf Funschs differenzierende Frage an die
Gefängnisseelsorger nach ihrem eigenen Strafvollzugsziel und dem der Strafvollzugspraxis fällt
auf, dass für sie selbst die Resozialisierung des Straftäters an erster Stelle und die Vergeltung für
begangenes Unrecht an letzter Stelle steht, wohingegen sich diese Priorität für die Vollzugspraxis
insgesamt umkehrt (S.316ff), obwohl keine der im Strafvollzug tätigen Berufsgruppen als ganze
von den Seelsorgern für diese Umkehrung als verantwortlich angesehen wird. Da auf Details
der Funschschen Arbeit später zurückzukommen sein wird (siehe unter C), sei hier nur noch
darauf hingewiesen, dass Funsch – vor dem kurzen zusammenfassenden 5. Schluss-Kapitel – im
4. Kapitel, sowohl die Fachliteratur als auch die Befragung auswertend, über die theologischen
Grundlagen der Gefängnisseelsorge sowie ihre Konzepte und Ziele informiert. Ihre Tätigkeitsfelder werden in quantitativer und qualitativer Hinsicht vorgestellt, Konflikt- und Problempotential
werden diskutiert und die Einschätzung der Gefängnisseelsorger zum Stellenwert ihrer Arbeit im
Rahmen des Strafvollzugs wird wiedergegeben und erörtert. Das Buch können alle mit großem
Gewinn lesen, die haupt-, neben- und ehrenamtlich in der Gefangenenseelsorge tätig sind, die
mit ihr zu tun haben und sich über sie informieren möchten.
Funsch gibt als theologisch gebildeter Jurist ausführlicher als die knappen »Leitlinien« wie
diese eine gute Übersicht und Orientierung über »Seelsorge im Gefängnis«. Wer genauer und
profunder sowohl eine Theorie der Seelsorge und ihre Konkretisierung in einzelnen Problembereichen der »Seelsorge in Zwangseinrichtungen« kennen lernen als auch in die Analyse von
Einzelgesprächen in Justiz- und Maßregelvollzug einsteigen will, dem sei Martin Hagenmaiers
2008 in Bonn vorgelegte und 2009 in München unter dem Titel »Mythen, Konstruktionen, Lebensentwürfe« (19) publizierte Doktorarbeit empfohlen. Hagenmaier hat Jahrzehnte als Pastor
in norddeutschen Kirchengemeinden, in Psychiatrie und Gefängnis (zuletzt bis 2015 in der JVA
Kiel) praktisch gearbeitet, bevor er nun als Frucht seiner Berufspraxis dieses 420seitige Werk
vorlegt. Es wird in seinen 11 auch einzeln für sich zu lesenden und auf IV Kapitel verteilten Abschnitten durch seine Bevorzugung systemisch-konstruktivistischen Denkens zusammen gehalten.
Hagenmaier spricht im 11. und letzten Abschnitt, der zugleich das IV. Kapitel seines Buches
16 Funsch wurde nicht einmal gestattet, auf den Konferenzen der Seelsorger in 5-10 Minuten sein Untersuchungsvorhaben vor und zur Diskussion zu stellen. Womöglich wäre ein gemeinsam von juristischen, theologischen und
sozialwissenschaftlichen Fachleuten durchgeführtes Forschungsvorhaben nicht auf solches Misstrauen gestoßen;
tatsächlich erweist sich Funschs Arbeit als solide interdisziplinär angelegt.
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bildet, »vom Anfang der Seelsorge« in »individuellen Konstruktionen und Entwürfen«. »Seelsorge als Mitarbeit an einer Neu-Positionierung ... nimmt an individuellen, gruppenähnlichen
und gesellschaftlichen Kontruktionen teil und ist ein Teil derselben. Sie konstruiert ihren Ort in
der Welt in jedem Einzelnen oder im gemeinsamen Gespräch und kann das von ihrer Position
als religiöses Teilsystem aus bewerkstelligen... Wenn Seelsorge mit der `Umkehr`, der Sinnesänderung und ihrer selbst bestimmten Position bei den Verlierern arbeitet – die Sieger bedürfen
definitionsgemäß keiner Seelsorger, sondern der Vergewisserung ihrer Siege – tendiert sie stets
dazu, Systeme in ihrer ungehemmten Fortkonstruktion ... zu stören.« (S. 391 und 393). Hagenmaier
ortet dieses sein Seelsorgeverständnis theologisch in der »Offenheit im Werden Gottes, der nicht
ohne den Kampf und die Aufnahme von Zerstörerischem und Schaffendem in sich und damit im
Prozess der Menschwerdung gedacht werden kann.« (394) So verstandene Seelsorge stellt »das
Gegenüber in den Mittelpunkt der Begegnung« und ist »gleichzeitig prophetisch«. (396) In den
Fundamentalismen jedweder Provinienz wird »nicht geredet, sondern deklamiert. Der einzelne
Mensch soll (in den von Hagenmaier kritisierten Fundamentalismen U.K.) nicht die ihm eigene
subjektive Konstruktion der Welt entwickeln. Vielmehr soll er Subjektivität als `Unordnung`
empfinden lernen...«. Dagegen »geht es im Reden in der Seelsorge mit einzelnen um `Individualisierung` und im Reden im prophetischen öffentlichen Raum um die Lebendigkeit der Vielfalt
der Wirklichkeiten unter der gegenseitigen Anerkennung als Mitmenschen und deren stetige
Weitergestaltung.« (399). Die äußere Gestalt der Seelsorge ist folgerichtig durch Kooperation und
Multiperspektivität gekennzeichnet. Hagenmaier bestimmt den Ort der »Seelsorge in Zwangseinrichtungen« abschließend S.406 so: »Seelsorge findet ihren Platz da, wo konkrete Individuen
ihren jeweiligen Platz in der Welt konstruieren und verhandeln. Ihre methodische Neigung zu
denen, deren Platz in der Welt bestritten wird, entspringt aus dem Umgang Jesu mit denen, die
die anderen für Sünder hielten, aus den Grundlegungen der Urgeschichte zur gesellschaftlichen
`Konstitution` des abweichenden Verhaltens, aus den Gnadenzusagen der Propheten auch an die
schuldig Leidenden und aus der Rechtfertigungsvorstellung der Annahme aller Menschen, die
sich nicht selbst rechtfertigen müssen, obwohl sie es immer zu müssen meinen und auch tun.«
Das auf diese Weise mit Hagemaiers Worten beschriebene Seelsorgeverständnis verbindet
seine Darstellung zu unterschiedlichen Themen in den einzelnen Kapiteln und Abschnitten,
die ansonsten auch gut für sich gelesen werden können. In den drei Abschnitten des I. Kapitels
»Vom Mythos Therapie zum Mythos Beziehungsgerechtigkeit« skizziert Hagenmaier aus seiner
Sicht »1. Die Seelsorgebewegung« (S. 23-70), 2. »Kontrolle und Kontrollverlust« am Beispiel des
Gottesdienstes im Gefängnis und seiner Verarbeitungsmuster im Hinblick auf Motivationen (S.
71-85) und 3. die Implikationen des Vorhabens »Identität als Dauerkonstruktionsaufgabe« (S.86107). In den 6 Abschnitten des II. Kapitels »Perspektiven der Seelsorge mit Strafgefangenen«
(in Hagenmaiers fortlaufender numerischer Zählung sind es die Abschnitte 4-10) geht es im 4.
Abschnitt (»Seelsorge im Gefängnis« S. 111-162) um Entwürfe zur Gefängnisseelsorge auf dem
Hintergrund von Gefängnispopulation und -institution, im 5. Abschnitt um eine »Wirkungsgeschichtliche Perspektive« (S. 163-179) der biblischen Überlieferung, 6. um die »Perspektive Männlichkeit« als hegemoniale Männlichkeit in Hinsicht auf Kriminalität und Seelsorge (S.180-216), 7.
um »Die besondere Situation der Ausländischen Gefangenen« (S. 217-251), 8. um »Fälle aus der
Seelsorge mit Verurteilten« (S. 252-282), und 9. um »Sexualstraftäter und ihre Inszenierung« (S.
283-315). Das III. Kapitel (»Seelsorge und das Ende der Migrationskette«) umfasst allein den 10.
Abschnitt, in dem »Seelsorge in der Abschiebungshaft« zum Thema wird (S. 319-388). Besonders
die Abschnitte 7 und 10 machen deutlich, wie Hangemaiers Seelsorgeansatz zu leidenschaftlichem
Engagement führt; zeigt er doch, wie Ausländer in der Haft doppelt benachteiligt sind und dass
Abschiebehaft nicht nur nichts im Kontext von Justizvollzug zu suchen hat, sondern es sie gar
nicht geben dürfte, aber der Seelsorger dennoch dort eine Aufgabe hat.
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Literaturbericht
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2016 hat Hagenmaier in seinem Sierksdorfer Text-Bild-Ton-Verlag sein systematisches Hauptwerk veröffentlicht. In ihm stellt er unter dem etwas missverständlichen Titel »Straftäter und ihre
Opfer« Geschichte und Konzept von »Restorative Justice im Gefängnis« (so der Untertitel) mit
vielen anregenden Reflektionen und Impulsen vor (22). Er sieht in der »heilenden Gerechtigkeit«
(so die verbreitete deutsche Übersetzung von »restorative justice«, im Folgenden abgekürzt als
rj) die Zukunft sowohl für einen angemessenen Umgang mit Übertretern von Strafgesetzen als
auch für eine biblisch begründete »(Gefängnis)seelsorge« (S. 194 f.). Die schon in der Titulatur
angedeuteten Grenzen der sehr lesenswerten Monografie seien zuerst genannt:
1. das Konzept der heilenden Gerechtigkeit sprengt den Rahmen eines Rechts, dem es um
eine wie auch immer konstruierte schuldangemessene Strafe für eine begangene Straftat geht.
»Gerechtigkeit« besteht im bisher maßgeblichen Strafrecht aus »Schuldfeststellung und daraus
folgende(r) Strafzumessung«, während sie für rj »eine gemeinsame, allseitige Anstrengung zur
Wiedergutmachung oder gar Verbesserung der Lebensumstände« ist, wie Hagenmaier selbst in
einer übersichtlichen Gegenüberstellung beider Ansätze im Blick auf »Verständnis von Kriminalität und Strafe«, »Perspektiven der Betrachtung« und »Folge der Bearbeitung von Kriminalität«
S. 21 zeigt.17 Entsprechend verlässt rj, konsequent angewandt, auch den Rahmen des Gefängnisses.
Rj bedeutet zwar »nicht zwangsläufig das Ende der Gefängnisse« (S. 190), aber – Hagenmaier
formuliert hier sehr zurückhaltend – »in weiterer Zukunft ließe sich unter Umständen die Vorstellung verwirklichen, dass nur wirklich gefährliche Straftäter hinter Schloss und Riegel gebracht
werden müssen, aber nicht die Täter, die kleine Straftaten dauernd wiederholen« (S.195).
2. Weil Hagenmaier in seiner Darstellung den Rahmen des Gefängnisses nicht verlässt, liegt ein
Schwerpunkt seines Buchs auf einem methodischen Vorgehen, das sich im Gefängnis realisieren
lässt, nämlich dem »Opferempathietraining« (OET). Zu ihm hat er ein wissenschaftlich begleitetes
Projekt in der Kieler JVA durchgeführt und ausgewertet (S. 117-143). Und dieses OET setzt er
in Beziehung zum »Gefängnisalltag«, indem er den Empathiebegriff erläutert, die Teilnehmer
und ihre Geschichte vorstellt, Probleme der Gruppenarbeit in der JVA und kriminologische
Nebenaspekte benennt (S. 145-186).
3. Als weniger bedeutende Grenze ist schließlich zu nennen, dass eine stringente Lektorierung fehlt, die für eine strengere Systematik der Darstellung hätte sorgen können.18
Höchste Zeit nun, auf die Stärken des Buchs hinzuweisen. Bereits S.10 markiert die Grundannahmen von rj: »An Straftaten sind nicht nur Täter beteiligt, sondern auch Opfer. Sie spielen sich
nicht im luftleeren Raum, sondern in der Gesellschaft ab. Also müssen die Gesellschaft, die Opfer
und die Täter an einer Lösung des Falles beteiligt sein und einen Weg zur Wiedergutmachung
finden. In der Idealform wird zunächst der Schaden festgestellt und die Frage geklärt, welche
Bedürfnisse die Opfer haben. Dann werden die Verantwortung und die Bedürfnisse des Täters
eingeschätzt, um eine Form zu finden, in der der Täter seiner Verantwortung gerecht werden kann.
Die Gesellschaft gibt beiden Seiten die Möglichkeit, im geschützten Rahmen einen Ausgleich zu
finden und steht zu ihrer Verantwortung gegenüber beiden. Das kann in Form von Konferenzen
oder Einzelmediationen vor sich gehen, Hilfe bei Therapien zur Bewältigung des Tatgeschehens
einschließen und möglicherweise das Gefängnis überflüssig machen.« Rj verdankt sich als eine
Bewegung verschiedenen Wurzeln: eine ist der Abolitionismus, der sich gegen Strafrecht und
Gefängnis generell wendet,19 eine andere die verstärkte Wahrnehmung des bisher auf eine Zeugen- oder Nebenklägerrolle beschränkten Opfers, eine dritte der religiöse Impuls von »Prison
17 Vgl. auch die Tabelle 2 S. 32, in der retributive bzw. distributive Justiz einerseits und rj andererseits nach Eglash
gegenübergestellt werden.
18 Sie hätte auch vermieden, dass es in der Gliederung des Buches zweimal ein 2. Kapitel gibt.
19 Hagenmaier nennt in einer Anmerkung zu S. 12 Sebastian Scheerer, Arno Plack und Hermann Bianchi; ebenso ist
hier mit Hagenmaier S. 25 f. auf Christie zu verweisen.
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Fellowship« mit seinem an der biblischen Zachäus-Geschichte orientierten Programm »sycamore
tree« (S.12 f.)20. Wie stark die christlichen Wurzeln von rj sind, zeigen auch Hagenmaiers Bezugnahmen auf den metanoia-(Buß-)ruf des Neuen Testaments, auf Jesus (Bergpredigt Matthäus 5,
25 f., 41 f.), Paulus (Galater 6, 1-5), Mennoniten, ÖRK, EKD im Abschnitt über die Herkunft von
rj S. 48-53 und das Anhangskapitel »rj und die Bibel« S. 199-212.21 Der Täter-Opfer-Ausgleich
(TOA) in Deutschland und der außergerichtliche Tatausgleich (ATA) in Österreich könnten im
Kontext von rj stehen, wenn sie nicht zur Zeit durch ihre Implementierung im deutschen Recht
»zu einer Methode der Strafjustiz als Element der Strafzumessung« degradiert bzw. in Österreich
»eindeutig eine Maßnahme der Justiz und keine gesellschaftsverändernde Vision mehr« wären
(S. 60 und 63).
Hilfreich sind auch Hagenmaiers Differenzierungen zum Opferbegriff (S. 73-92) – abgesehen
davon, dass der Täter und das Opfer zwar im Blick auf den Rechtsverstoß, nicht aber generell
bestimmt werden können (S. 175). Hagenmaier unterscheidet zwischen der aktiven Opfergabe
(76 f.) und dem passiven Opferwerden (78 f.), für das es viktimologisch eine primäre, sekundäre
und tertiäre (80 f.) Version gibt. Zur Bearbeitung eines im Rechtsbruch offenkundig gewordenen
Problems können (und müssen) grundsätzlich alle Betroffenen einbezogen werden,22 unabhängig
davon, ob sie es gemeinsam oder getrennt wollen. Als Fazit bleibt: rj kann schon im Kontext des
gültigen Straf- und Strafvollzugsrechts einsetzen, erfordert aber letztlich einen Paradigmenwechsel vom vergangenheitsbezogenen Strafrecht und vom schon seines Bedingungsrahmens
wegen widersprüchlichen Strafvollzugsrecht weg, hin zu einem Konzept in der Gegenwart einsetzender und zukunftsbezogener »heilender« Gerechtigkeit, an der alle von einem festgestellten
Rechtsverstoß Betroffenen (»Täter«, »Opfer« und Vertreter von Gesellschaft, Staat) mitwirken.
Dass es dennoch auch aus der Perspektive des rj für den kleinen Teil der »wirklich gefährlichen
Straftäter« weiter geschlossene Einrichtungen geben muss, darin ist sich Hagemaier mit allen
hier vorgestellten Kritikern von Strafrecht und geschlossenem Strafvollzug einig.
Heft 73/2016
Literaturbericht
C Vergleichende systematische Auswertung der neueren Fachliteratur unter ausgewählten
Stichworten
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Resozialisierung als Vollzugsziel
Auch wenn der Begriff Resozialisierung »alles andere als klar ist« (12, A II. Nr. 3 vor § 2),
vielerorts im Vergleich zur Eignung anderer Begriffe diskutiert wird, in der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts meist synonym mit »sozialer (Re-)Integration« gebraucht wird
und im angelsächsischen Raum in der Regel von »rehabilitation« gesprochen wird, so führt in
Deutschland angesichts der Terminologie von Gesetzgebung und Rechtsprechung am Wort
»Resozialisierung« kein Weg vorbei, wenn es um die Bestimmung des Ziels des Vollzugs von
Maßnahmen gegenüber straffällig gewordenen Rechtsbrechern geht. »Resozialisierung« ist das
20 Der als Zollbetrüger geltende Oberzollpächter der Oasenstadt Jericho namens Zachäus war auf einen Sykomorenbaum geklettert, um den durch die Stadt ziehenden Jesus zu sehen. Dieser sprach ihn an und kehrte bei ihm
ein. Im Verlaufe des Besuchs beschließt er, die Hälfte seines erworbenen Reichtums den Armen zu geben, und
vierfach zurückzuerstatten, »wenn ich jemanden betrogen habe« (Lukas 19, 8).
21 Dabei überzeugen insbesondere die Hinweise auf die Dinageschichte Genesis 34 (wo ein mögliches Scheitern
von rj in den Blick kommt!) und die Anweisungen zur Wiedergutmachung Leviticus 5, 21 ff., Exodus 21, 18 f., 22
ff. sowie die Geschichten von Zachäus (siehe vorherige Anmerkung), der Ehebrecherin (Johannes 8,3-11) und die
Hinweise zum Schalom und auf Psalm 113, 7 f.
22 Schwierigkeiten bei Internetkriminalität werden S. 69 f. diskutiert. S. 71 resümmiert: »Genau besehen kann rj auf
alle denkbaren Fälle von kleiner und großer Kriminalität angewendet werden. Es gibt im Grunde keine Grenzen
dafür.«
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programmatische Leitwort für den Paradigmenwechsel, der mit der Strafvollzugsreform der
siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in der alten Bundesrepublik begonnen hat. Es markiert
die – theoretische – Abkehr vom Verwahrvollzug hin zu einem Vollzug, der problematischer
Weise zunächst meist und manchmal bis heute als »Behandlungsvollzug« bezeichnet worden ist23:
es geht um Maßnahmen, die dazu beitragen sollen, dass ein straffällig gewordener Mensch »in
sozialer Verantwortung« ein Leben »ohne Straftaten« zu führen vermag. Dass dies nicht durch
sozialtechnologische »Behandlung« gelingen kann (als würde eine Medizin verabreicht) – und
schon aus Gründen der Menschenwürde so nicht geschehen darf -, und dass dafür nicht nur der
straffällig gewordene Mensch, sondern auch sein Umfeld und staatliches und gesellschaftliches
Handeln im Focus stehen müssen, ist heute weitgehend Konsens. Resozialisierung bzw. soziale
(Re-)Integration kann nur gelingen in einem Zusammenwirken von straffällig gewordenen
Menschen als Subjekten und den Vertretern staatlicher bzw. (zivil-)gesellschaftlicher Instanzen.24
Um das Subjektsein des straffällig Gewordenen zu wahren, sollten sozialstaatlich gebotene
Resozialisierungs-Maßnahmen »Angebots-, nicht Zwangscharakter haben«; »Angeboten der
Chancenverbesserung kommt Vorrang vor der Persönlichkeitsveränderung zu«.25
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung in einer Reihe von Urteilen,
beginnend mit dem berühmt gewordenen sog. Lebach-Urteil von 1973 (vgl. 1 S. 64 f.), dem Resozialisierungsziel »Verfassungsrang« zugesprochen – vom Täter her betrachtet aufgrund Artikel 2
Abs. 1 GG in Verbindung mit Artikel 1 GG, von der Gemeinschaft her betrachtet aufgrund des
Sozialstaatsprinzips (Belege in 12, A II. Nr.3). Daran hatten sich die Bundesländer in ihrer ihnen
seit 2006 zustehenden Strafvollzugsgesetzgebungskompetenz zu halten. Wo dies nicht eindeutig
geschehen ist, werden »unüberwindbare Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes«
angemeldet (so 11, S. 40f insbesondere im Blick auf Bayern).
Auch wenn das Ziel des Justizvollzugs de jure weitgehend damit klargestellt ist,26 so ist in den
freiheitsentziehenden Maßnahmen de facto noch fast überall die sichere Verwahrung maßgebend.
23 Einen weit gedehnten Behandlungsbegriff benutzt Laubenthal in 17 S. 37-44 und 66-69; das Bayrische Strafvollzugsgesetz spricht in Artikel 2 (»Aufgaben des Vollzugs«) nicht von Resozialisierung als Vollzugsziel, sondern von
einem »Behandlungsauftrag«, wenn es darum geht, die Vollzugsaufgabe »die Gefangenen befähigen, künftig in
sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen« in einem Begriff zusammenzufassen.
24 Historisch ist noch vor dem Wort »Behandlung« von einem »Besserungsvollzug« die Rede gewesen (10, S. 63 ff.).
Ausführlich wird der Begriff der »Behandlung« diskutiert und differenziert in 11, S. 41-44. Kritischer als 11 äußert
sich dazu 12, B Nr. 5 f. Den Begriff Resozialisierung bezeichnet Cornel in 5, S.27 als »Kurzform oder Synonym für
ein ganzes Programm«; er diskutiert Definitionsvorschläge (S. 27-30), stellt die Begriffsgeschichte vor (S. 30-34),
grenzt ihn kritisch ab zu den »verwandten Begriffen« »Besserung« (S. 35), »Erziehung«, »Sozialisation«. »Behandlung«, »(Soziale) Integration« und »Rehabilitation« (S. 35-48), konstatiert betreffs seiner Wirksamkeit ausstehende
Evaluation, aber dennoch bei »zahlreichen Resozialisierungsprogrammen« »nachhaltige Erfolge« (S. 48-50) und
bestimmt seine Inhalte im Einzelnen (S. 50-52); gerade in diesen zuletzt genannten Teilen darf man auf die Neuauflage des Handbuchs »Resozialisierung« gespannt sein! 12, IV Nr. 22 resümiert: »Am Begriff der Resozialisierung
führt ... gegenwärtig kein Weg vorbei. Es empfiehlt sich jedoch, den Begriff rational zu rekonstruieren und im Sinne
einer ›sozialen Reintegration‹ ... zu gebrauchen. Das BVerfG spricht regelmäßig von ›sozialer Integration‹«. Für ein
»Maßnahmerecht«, das im Zusammenwirken von straffälliggewordenen Menschen, ihren Bezugspersonen, den
Opfern ihrer Tat und Organen des Staates zu realisieren ist und zu deren Spektrum auch gesellschaftpolitische und
gemeinwesenbezogene Interventionen gehören sollten, hatten schon 1972 die Autoren des vom Rezensenten in
München und Mainz herausgegebenen Sammelbandes »Strafvollzug – Analysen und Alternativen« plädiert.
25 12, C II Nr. 20 f.
26 11, S. 37 f. nennt die Resozialisierung der Gefangenen »alleiniges Vollzugsziel«, das »anderen Vollzugsaufgaben
vor« geht und »ausnahmslos für alle Gefangenen« gilt. Für 12, C Nr. 18 gibt es zum Resozialisierungsziel »keine
vernünftige, d.h. wissenschaftlich begründete Alternative«. Zu ergänzen ist mit Hagenmaier in 22 S. 105, dass das
Verfassungsgericht Wert auf die Aufnahmebereitschaft der Gesellschaft legt und damit erklärt, »dass die beste
Behandlung im Strafvollzug noch keine Resozialisierung darstellt«.
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Sie wird in den meisten Gesetzen unter dem Leitwort »Schutz der Gesellschaft« nicht als Ziel,
sondern lediglich als »Aufgabe des Vollzugs« genannt, was ihre Dominanz in der Realität des
immer noch bei weitem vorherrschenden geschlossenen Vollzugs aber nicht infrage zu stellen
vermag.27
Außer durch die rechtlich bedenkliche faktische Dominanz der Sicherheits- und Schutzaufgabe
vor dem Resozialisierungsziel wird dies auch da an seiner Realisierung gehindert, wo strafrechtliche Prinzipien ihm widersprechen. Denn das auf die Vergangenheit bezogene Schuldprinzip
bestimmt den Zeitrahmen der Strafe unabhängig davon, ob für eine erfolgreiche Resozialisierung
ein anderer – meist, aber nicht nur: kürzerer – Zeitrahmen geboten ist.28
Insgesamt ist der geschlossene Vollzug der Freiheitsentziehung im Unterscheid zu offenen
Vollzugsformen für die Realisierung des Resozialisierungsziels in aller Regel weniger oder gar
nicht geeignet.29 12 nennt in B I Nr. 7 pointiert mit einem Feest-Zitat das (geschlossene) Gefängnis
eher »eine Institution der staatlich verordneten De-Sozialisierung«. Auch deshalb ist nach der seit
2006 erfolgten Verabschiedung der Ländergesetze zum Strafvollzug, die sich auf geschlossenen
und offenen Vollzug in Gefängnisinstitutionen beziehen, die Diskussion und Verabschiedung
von weiter führenden Landesresozialisierungsgesetzen erforderlich.30
Das durch höchstrichterliche Rechtsprechung und Wissenschaft gewiesene Vollzugsziel der
»Resozialisierung« ist der Wegbereiter für die im Bereich der Justiz immer wichtiger werdende
Sozialarbeit.31 Um dieses Ziel politisch realisieren zu können, bedarf es allerdings besonnener
öffentlicher Aufmerksamkeit und sachgerechter Berichterstattung über Justizvollzug durch alle
Medien. Zu dieser können auch Sozialpolitik und –arbeit beitragen.32
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Literaturbericht
2 Mitwirkung und -bestimmung der straffälliggewordenen Personen
bei der »Resozialisierung«
Bevor unten (S. xxx-xxx) die Fragen der Bedeutung und Beteiligung von Zivilgesellschaft, Öffentlichkeit, Wissenschaft und Medien für eine Realisierung des Vollzugsziels Resozialisierung
im Einzelnen erörtert werden, ist zur weiteren Klärung dieses Ziels erforderlich, die Mitwirkung
und Mitbestimmung der wegen einer Straftat verurteilten Personen genauer zu betrachten.
Das Strafgericht regelt im Falle einer Verurteilung des Angeklagten Art, Umfang und Rahmen
der Sanktionsmaßnahme. Die Ausgestaltung der Sanktion im Einzelnen obliegt dem Vollzug.
Im Fall der Freiheitsentziehung ist das Vollzugsziel »Resozialisierung« von Gesetzgeber und
höchstrichterlicher Instanz vorgegeben. Dabei herrscht heute von juristischer und fachwissenschaftlicher Seite weitestgehend Übereinstimmung darin, dass dieses Ziel nicht durch einseitige
medizinische oder sozialtechnologische Maßnahmen (»Behandlung«)33 erreicht werden kann,
27 Das Resozialisierungsziel muss aber nach 11, S. 38-41 unbestreitbar Priorität haben!
28 So insbesondere der Fall »Thaler« bei Galli 2, S. 9 ff. Vgl. auch 2, S. 188; 7, S. 550 und 554.
29 s.u. im Abschnitt 3 zu »Offenem Vollzug und Lockerungen«. Vgl. 11, S. 32-36 und 12, C I. Nr. 19 zur »Entlegalisierung
der Gefängnisinstitution«.
30 Vgl. 13. Maelicke spricht in 5, S. 598 von »integrierter Integration«. In diese Richtung weisen auch Ansätze in einzelnen Landesstrafvollzugsgesetzen, die Bestimmungen zu einem »Übergangsmanagement« enthalten (vgl. 6, S.
282 ff.). Einzelne Ländergesetze weisen mit ihrer Anforderung, Justizvollzug müsse vom ersten Tag an und nicht
erst in den letzten Wochen der Haftzeit »Entlassungsvorbereitung« sein, implizit darauf hin, dass geschlossener
Vollzug, falls überhaupt nötig, baldmöglichst zugunsten offener Vollzugsformen aufzugeben ist, um ein in Freiheit
zu führendes Leben in sozialer Verantwortung bestmöglich einzuüben.
31 Vgl. 6, S. 67 ff.
32 Vgl. 5, S. 576 ff.; 6, S. 23 ff.; 7, 549.
33 Zum Begriff »Behandlung« vgl. einerseits differenziert und kritisch 5, S. 41-44 und 12, vor § 2 Nr.6, andererseits,
einen »offenen und weiten Behandlungsbegriff verwendend, positiv 10, Nr. 158, wo Behandlung »die Gesamtheit
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sondern nur unter aktiver Mitwirkung des Vollzugsteilnehmers. Dieser ist nicht das Objekt
von Resozialisierung, sondern im (Re-)Sozialisierungs- bzw. Integrationsprozess ein beteiligtes
Subjekt. Inwieweit diese Erkenntnis de jure und de facto umgesetzt wird, zeigt sich u.a. a) im
Blick auf die Beteiligung der Einzelperson an der Vollzugsplanung und b) im Blick auf die Vollzugsteilnehmer insgesamt an den Mitgestaltungs- und -bestimmungsmöglichkeiten im Vollzug.
a) Was die Vollzugsplanung für den und mit dem einzelnen Vollzugsteilnehmer betrifft, so geht
es hier in sozialpädagogischer Terminologie um einen Kontrakt zwischen Vollzugspersonal
und -teilnehmer; denn nur wenn beide Seiten sich über Art, Inhalt und Verfahrensweise von
Resozialisierungsmaßnahmen verständigen und miteinander an deren Umsetzung arbeiten, werden
sie erfolgreich sein können. Entsprechend heißt es in den neuen Landesstrafvollzugsgesetzen,
dass der Gefangene dafür zu motivieren sei.34 Sieht man sich die Gesetzgebung zur und die
Praxis der Vollzugsplanung an, kann von einem Kontrakt bisher allerdings keine Rede sein.
So ist zwischen den Kommentatoren der einschlägigen Gesetzesparagraphen schon strittig,
was es heißt, dass der Vollzugsplan mit dem, den er betrifft, »erörtert« werden muss. 11, C 37
geht zwar von einer »Mitwirkungsfunktion« des Gefangenen aus, da »eine aktive Mitwirkung
des Betroffenen an seiner Behandlung ... die Chancen einer Vollzugszielerreichung erhöht«,
sieht aber »kein subjektives Recht auf Teilnahme« an der Vollzugsplanungskonferenz. 12, Nr.
17 zu § 8 hingegen hält »die Anhörung des Gefangenen innerhalb der Konferenz« für »ein
Gebot rechtsstaatlicher Fairness« und kritisiert, dass »gegen dieses Recht des Gefangenen,
seine Meinung zu äußern und an der Entscheidungsbildung, vor Festlegungen des Vollzuges,
beteiligt zu werden ... immer noch häufig verstoßen wird.« Selbst in der als besonders progressiv präsentierten Praxis in der JVA Bremen gibt es keinen Kontrakt zwischen den Beteiligten;
als sehr positiv wird dort hervorgehoben, dass der Gefangene, weil »in die Planung ernsthaft
einbezogen«, »äußerst selten« seine Unterschrift unter die Erklärung verweigert, »dass mir der
Vollzugsplan bekannt gemacht wurde und ich Gelegenheit erhielt, mich dazu zu äußern. Ich
erkläre mich bereit, an meiner Behandlung mitzuwirken« (so nach 12, Nr. 17 zu § 8). Es scheint
also dringend geboten, dass die »subjektorientierten Unterstützungsprozesse mit inhaftierten
Menschen«, von denen 6, S.240-243 handeln, sich auch auf den Bereich der Vollzugsplanung
beziehen!
b) Das gilt auch für die in den Gesetzestexten mehrheitlich »Interessenvertretung der Gefangenen«
oder – minderheitlich – »Gefangenenmitverantwortung« genannte Beteiligung der Gefangenen
an sie insgesamt betreffenden Angelegenheiten. Der Bereich, auf den sich Interessenvertretung
bzw. Mitverantwortung bezieht, wird unterschiedlich groß bestimmt, bleibt aber doch eng begrenzt. 11, N 50 nennt hier den Freizeitbereich (z.B. kulturelle und sportliche Veranstaltungen),
Angelegenheiten der Aus- und Fortbildung, Fragen der Hausordnung (z.B. Reinigung der
Hafträume), Gestaltung des Speiseplans, der Arbeitsbereiche und »Verbesserungsvorschläge«.
12, Nr. 13 f. zu § 99 geht da weiter und zählt z.B. Organisationskonferenzen der Anstalt »selbstverständlich« dazu. In 12 in Nr. 2-7 zu § 99 werden umfassende Mitbestimmungsmöglichkeiten,
wie sie z.B. in Brasilien bestehen, diskutiert, aber als nicht übertragbar abgelehnt. Insgesamt
reicht das Spektrum je nach Bundesland und JVA von Alibi-Funktionen bis zu begrenzten, ohne
rechtliche Verpflichtung gewährten Mitbestimmungsmöglichkeiten. Auch betreffs Verbindlichkeit
der Verpflichtung der JVA, überhaupt für eine Interessenvertretung der Gefangenen zu sorgen,
bestehen de jure und de facto unterschiedliche Positionen. Die Gesetzeskommentatoren sind
sich außerdem uneins in der Frage, inwieweit durch die gesetzlichen Bestimmungen zur Interesaller Maßnahmen und Tätigkeiten im interaktiven Bereich« meint.
34 In den Gesetzestexten zur Stellung der Gefangenen variieren in § 4 Aussagen, die feststellen, dass es »zur Erreichung des Vollzugsziels der Mitwirkung der Gefangenen bedarf« und dass »ihre Bereitschaft hierzu zu wecken und
zu fördern ist«.
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senvertretung bzw. GMV die Gründung eines selbstständigen Vereins oder einer Gewerkschaft
der Gefangenen rechtlich ausgeschlossen ist (gegen einen Ausschluss votiert 12, Nr. 17 zu § 99).
c) Gibt es für a) und b) in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Vollzugspraxis großen Klärungs- und Verbesserungsbedarf, wenn der Vollzugsteilnehmer als Subjekt der Resozialisierung
ernstgenommen werden soll, so besteht schon heute vielerorts die Möglichkeit realer Mitwirkung, Mitbestimmung und Verantwortungsübernahme im Rahmen von Wohngruppen, die in der
Sozialtherapie die Regel, aber auch – mit freilich weniger Gestaltungsraum – im geschlossenen
Vollzug möglich sind.35 Der Eindruck, es handele sich hierbei um Alibis, wie er heute noch bei
Vollzugsplanung und Interessenvertretung entstehen kann, weil es dort keine klaren Mitbestimmungsrechte der Gefangenen gibt, kommt bei Verabredungen in den Wohngruppen selten auf;
hier kann Verantwortung übernommen, gestaltet, erprobt und ihre Wirkung erfahren werden.
Auch wenn solche »Wohngruppen« schon im geschlossenen Vollzug möglich sind, lässt sich viel
eher als dort ein »Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten« einüben, wenn der Vollzug
dem Angleichungsgrundsatz entsprechend (vgl. 11, B 52-54, weitergehend 12, vor § 2 Nr.) sich
so weit wie möglich öffnet für »allgemeine Lebensverhältnisse«. Das ist der Fall im Offenen
Vollzug und bei Lockerungen.
3
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Literaturbericht
Offener Vollzug und Lockerungen
Das inzwischen durch die Ländergesetze abgelöste Bundesstrafvollzugsgesetz von 1976 hatte
dem »Offenen Vollzug«36 wegen seiner besseren Eignung für die Erreichung des Vollzugsziels
und seiner besseren Gewährleistung der Vollzugsgestaltungsgrundsätze aus gutem Grund den
Vorrang vor dem Geschlossenen Vollzug gegeben. Tatsächlich aber wurden und werden die
meisten zu einer Freiheitsstrafe Verurteilten aus Sicherheitsgründen im geschlossenen Vollzug
inhaftiert. Dem tragen die neuen Landesgesetze Rechnung, indem sie keine Vorrangstellung des
Offenen Vollzugs mehr vorsehen. Jetzt sollen die Justizbehörden je nach ihrer Einschätzung der
Eignung von Verurteilten darüber entscheiden, ob und ggfls ab wann zu einer Freiheitsstrafe
Verurteilte in den Offenen Vollzug verlegt werden. Tatsächlich bestehen hier große Unterschiede
zwischen den Bundesländern.37 Diese Unterschiede sind nicht von der »Eignung der Gefangenen«
her zu begründen – wie sollte diese in einem Bundesland sechsfach günstiger sein als in einem
anderen Bundesland? Tatsächlich hängen sie einerseits davon ab, wie viele Plätze im Offenen
Vollzug das jeweilige Bundesland zur Verfügung hat (das ist eine Frage der Baumaßnahmen),
andererseits davon, um wieviel höher das augenblickliche Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung38
gegenüber einer dem Sicherheitsbedürfnis nachhaltig entsprechenden wirksamen Resozialisierungsmöglichkeit eingeschätzt wird. Nach Schätzung und Erfahrung der meisten Experten39 ist je
35 Vgl. zum Konzept von Wohngruppen 6, S. 248 f.
36 6, S. 249 f. nennt, verkürzt ausgedrückt, den Offenen Vollzug »ein Gefängnis ohne Gitter«. In ihm besteht die
Möglichkeit, zu geregelten Zeiten sich außerhalb des Gefängnisses vor allem zur Aufnahme und Durch- oder
Weiterführung einer Arbeit oder Ausbildung aufzuhalten.
37 Der Anteil der Gefangenen im Offenen Vollzug beträgt je nach Bundesland zwischen ca. 5 % und 30 % (Berlin) der
zu einer Freiheitsstrafe Verurteilten.
38 Wegschließen scheint die sicherste Form der Unterbringung zu sein, wenn es darum geht, Flucht und erneute
Straftaten während der Haftzeit optimal zu verhindern. Dass dies auf Kosten der Sicherheit der Bevölkerung und
der Gefahr erneuter Straftaten nach der Haft geht, wird nicht bedacht bzw. ist den Justizvollzugsbehörden nicht
so wichtig, da dies jenseits ihrer unmittelbaren Zuständigkeit liegt.
39 Vgl. in der besprochenen Literatur ausdrücklich Nr. 1-7 und 12 sowie 15. und 17.-19.
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nach Kriterien für 5 % bis höchstens für 30 % der Inhaftierten eine geschlossene Unterbringung
erforderlich, tatsächlich aber befinden sich 70 % bis über 90 % dort.40
Um die Erreichung des Vollzugsziels zu fördern, gibt es auch im geschlossenen Vollzug sog. Vollzugslockerungen. Zu ihnen gehören Außenbeschäftigung, Freigang, Ausführung und Ausgang.41
Sie sollen ausdrücklich keine Vergünstigungen oder Belohnungen für erwünschtes Wohlverhalten
sein bzw. sie sollen nicht als Disziplinarstrafe entzogen werden. Vielmehr sind Vollzugslockerungen selbstverständlicher Teil der Vollzugsgestaltung und sollen nicht erst zur Vorbereitung
eines zeitnahen Entlassungstermins vorgesehen werden.42 Im Unterschied zum Hafturlaub und
zur Freistellung aus/von der Haft werden Lockerungen auf die Haftzeit angerechnet. Für sie
alle gilt: »Amtliche Statistiken und empirische Erhebungen zeigen eine geringe Flucht- und
Missbrauchsquote bei Vollzugslockerungen und Hafturlaub.«43 Umso bedauerlicher ist es, dass
auch sie – wie der offene Vollzug – eher zurückhaltend und eher erst in der letzten Phase der
Haftzeit eingesetzt werden.
4 Beiräte, Medien, Öffentlichkeit
Straftaten und Strafprozesse haben schon immer die öffentliche Meinung in hohem Maße
interessiert und beschäftigt, in den letzten Jahrhunderten aber immer weniger das, was nach
dem Urteilsspruch geschieht. Maxime wie »aus den Augen – aus dem Sinn« oder »wegsperren
für immer« ließen sich jedoch spätestens seit den Skandalen in den Gefängnissen von Köln
(»Klingelpütz«) und Hamburg (»Glocke«), als Gefangene in »Beruhigungszellen« genannten
Arrestzellen Anfang der 70erJahre des vorigen Jahrhunderts zu Tode kamen, nicht mehr durchhalten. Seither wurden zuerst in westdeutschen Gefängnissen, seit der Wende 1990 dann auch
in ostdeutschen Gefängnissen Beiräte eingesetzt, die zwischen Gefängnis und Gefangenen
einerseits und Gesellschaft und Öffentlichkeit andererseits vermitteln und dabei transparent
machen sollten, was hinter den Mauern geschieht. Es hatte sich gezeigt: Justizvollzug braucht
Öffentlichkeit. Beiräte, ehrenamtliche Mitarbeiter_innen, später auch Tage der Offenen Tür für
interessierte Bürger und Gefangenenzeitungen sollten dazu beitragen. Freilich zeigte sich auch
schnell, dass Print- und elektronische Medien oft mehr an Sensationsberichterstattung als an
sachlicher Information interessiert sind. Die Ambivalenz der nach wie vor und auch in Zukunft
notwendigen Einbeziehung der Öffentlichkeit ist auch in diesen Jahren offenkundig, in denen
sich die Forderungen nach einer rationalen Justizvollzugsgestaltung für die Umsetzung des Resozialisierungsziels zuspitzen. Päckert stellt zu recht fest, »dass die Möglichkeiten der Umsetzung
von Behandlungsmaßnahmen und der dabei notwendigen Öffnung des Vollzuges (auch U.K.))
abhängig ist ... von der Kriminalitätsfurcht der Bevölkerung und (von U.K.) der dadurch
beeinflussten Einstellung der Öffentlichkeit zu Fragen der Gefangenenbehandlung determiniert
wird. Steigt das Sicherheitsbedürfnis in der Bevölkerung und entwickeln die Medien eine daran
orientierte Sensibilität gegenüber Angelegenheiten des Strafvollzuges, so sinkt im Vollzug die
für jede pädagogische Ausrichtung unverzichtbare Bereitschaft zum Risiko.«
Der ehrenamtlich tätige Beirat hat in diesem Feld eine wichtige Aufgabe. Er ist dafür allerdings rechtlich und fachlich sehr dürftig ausgestattet. Laut Gesetz und Geschichte hat er
40 10, Nr. 346 formuliert den Grundsatz: »Es sollen mittels geschlossenen Vollzugs letztlich nur solche Gefangene
den schädlichen Folgen derartiger Einrichtungen ausgesetzt bleiben, bei denen eine entsprechend sichere Unterbringung nötig ist. Dem Integrationsgrundsatz gemäß wird durch offene Vollzugsformen die Rückkehr in die
Freiheit erleichtert.« Kriterien für die Unterbringung im Offenen Vollzug diskutiert 11, Nr. D 9-11.
41 Sie sind genauer dargestellt in 10 Nr. 524 ff.
42 Cf. 10, Nr. 524 und 11, Nr. E 123 ff; vgl. 12, vor § 42 Nr. 25.
43 10, Nr. 560.
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eine »Kontrollfunktion«,44 eine »Beratungs- und Vermittlungsfunktion«45 und ist »Mittler zur
Öffentlichkeit«.46 Er soll für jede JVA gebildet werden, sich aus Personen des öffentlichen Lebens zusammensetzen und freien unkontrollierten Zugang zu Gefangenen und Bediensteten,
zu Räumen und Veranstaltungen in der JVA haben. Aber die Verfahren seiner Berufung und
seiner Arbeitsweise sind sehr unterschiedlich geregelt und nicht durchgängig sachgerecht. So
ist die Kontrollfunktion dann erschwert, wenn – wie in einzelnen Bundesländern der Fall - der
JVA vorgesetzte Behörden oder die Leiter der JVA über die Berufung von Beiratsmitgliedern
entscheiden.47
Zu den Standards seiner Arbeitsweise sollten gehören: Protokollierung der Sitzungen, die
unter Leitung des selbst gewählten Vorsitzenden stattfinden und zu denen der Leiter der JVA
häufig und/oder andere in der JVA tätige Personen gelegentlich zur Information hinzugezogen
werden können; regelmäßige Rechenschaftsberichte; wenn nötig, öffentliche Stellungnahmen
und gelegentliche Pressekonferenzen. Um das zu realisieren, bedarf es einer ausreichenden
Anzahl kompetenter Mitglieder, mindestens vierteljährlicher Sitzungen und arbeitsteiligen ehrenamtlichen Engagements in der JVA zur Erfüllung der Aufgaben zwischen den Sitzungen.48
Mit diesen Voraussetzungen ist der Beirat selbstverständlich etwas grundsätzlich anderes als ein
gelegentliches »Kaffeekränzchen beim Anstaltsleiter«, als das er mancherorts noch geführt wird.49
Für die Öffentlichkeitsarbeit des Beirats und anderer Organe des Justizvollzugs sind die
analytischen Überlegungen hilfreich, die Holle Eva Löhr zum Thema »Resozialisierung und
Medien« vorgelegt hat. Sie zeigt, wie Kriminalität fachlich betrachtet werden kann und wie sie
in den Medien erscheint, worin die öffentliche Meinung zu Strafe und Strafvollzug besteht und
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Literaturbericht
44 Sie wird in 12 verstanden als »positive Kontrolle im Sinne des Miteinanderwirkens bei der Verwirklichung des
Vollzugsziels«.
45 Hierzu gehört für 12, »Elemente von Verwahrvollzug abzubauen und auf einen angebotsorientierten Vollzug hinzuwirken«. Sie können »Vermittler zwischen den Fronten« sein (so 12 in einem Zitat).
46 So die Funktionsbestimmungen für die Beiräte in 12 zu § 103. Zur Aufgabe des Mittlers zur Öffentlichkeit gehört,
»die Bereitschaft der Öffentlichkeit zur Auseinandersetzung mit den Problemen des Strafvollzugs zu wecken und
um Verständnis für die Maßnahmen eines angebotsorientierten Vollzuges zu werben. Es muss an die Toleranz der
Öffentlichkeit appelliert werden, wenn anscheinend »Sensationelles« in den Justizvollzugsanstalten geschieht,
was angeblich zu einer Gefährdung der Sicherheit der Öffentlichkeit führen kann (z.B. Missbräuche von vollzugsöffnenden Maßnahmen).«
In 11, N 63 wird unterschieden zwischen den Aufgaben, »an der Gestaltung des Vollzugs und der Betreuung der
Gefangenen mitzuwirken«, einer »Kontrollfunktion«, die »Ausfluss des öffentlichen Interesses« ist, »das der Beirat
wahrnimmt« und in dessen Rahmen er »etwaige Missstände im Vollzug aufdecken und Verbesserungsmöglichkeiten aufzeigen« soll. Nach 10 Nr.294 soll der Beirat »folgenden Aufgaben gerecht werden: Funktion zwischen
Strafvollzug und Öffentlichkeit, Vermittlung eines realitätsgerechten Bildes vom Strafvollzug in der Öffentlichkeit,
positive Kontrollfunktion bei der Verfolgung des Vollzugsziels in der Anstalt, beratende und vermittelnde Tätigkeiten,
Mitwirkung bei der Gefangenenbetreuung, Hilfestellung bei der Wiedereingliederung Entlassener«. Zu den letzten
beiden Aufgaben vgl. die kritischen Bemerkungen von 12 zu § 103 im Abschnitt »Abgrenzung zur Einzelfallhilfe«.
47 In Sachsen schlägt der Anstaltsleiter alle Beiräte – mit Ausnahme der vom Landtag zu Beiräten bestimmten Landtagsabgeordneten – dem Justizministerium zur Berufung vor. Da aktive Beiräte Arbeit machen, kann er, wenn er
will, eine ihm bequeme Besetzung wählen. In Hamburg berufen Deputierte der Bürgerschaft die Beiräte; dass auch
diese Regelung zu Konflikten führen kann, hat der Vf. in dem Artikel »Strukturen und Tendenzen legen uns lahm
– über die Schwierigkeit heutzutage Anstaltsbeirat zu bleiben« in: Neue Praxis 1981 S. 70-77 zu zeigen versucht
(vgl. auch das Magazin Der Spiegel Nr. 23 vom 2.6.1980).
48 So 12 zu § 103.
49 Vgl. 12 zu § 103. 12 schlägt a.a.O. auch einen Gesamtbeirat auf Landesebene vor, der koordinieren und bündeln
kann, was vor Ort geschieht. Er könnte eine wichtige öffentliche Stimme sein.
35
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wie Kriminalitätspolitik und Medien miteinander verbunden sind und im Interesse der Resozialisierung konvergieren könn(t)en.50
5
Freie, ehrenamtlich tätige MitarbeiterInnen
Außer den ehrenamtlich tätigen, von einer staatlichen Instanz für eine mehrjährige Frist berufenen
fachkompetenten51 Beiräten stellen die im Vollzug und in der freien Straffälligenhilfe ehrenamtlich
tätigen freien Vollzugshelfer ein wichtiges Bindeglied zwischen »drinnen« und »draußen« dar;
auch sie können zu einer resozialisierungsfreundlicheren Einstellung und sachkundigeren und
humaneren Wahrnehmung und Begleitung des Justizvollzugs in der Öffentlichkeit beitragen.
»Qualifizierte externe und ehrenamtliche Kräfte müssen verstärkt geworben und in den Vollzug
einbezogen werden.«52 Nicht alle Anstaltsleiter, Sozialstabsmitarbeiter und Vollzugsbedienstete
teilen diese Absicht und unterstützen sie durch fachliche Begleitung. Sie seien »von vielen Vollzugsverwaltungen nur geduldet«, weil ihnen »die persönlichen Beziehungen nicht behagen, die
sich womöglich zwischen Betreuern und Gefangenen entfalten, da die meisten Ehrenamtlichen
fühlende Menschen sind und (noch) nicht diese gefühlskühle soziale Distanz der Gefängnistechnokraten entwickelt haben«, so ein langjährig Inhaftierter.53 Sicher trägt auch ihre Stellung
außerhalb der Hierarchie des Vollzugs dazu bei54 und der zusätzliche Arbeitsaufwand, der im
geschlossenen Vollzug damit verbunden ist, dass die Ehrenamtlichen nicht über einen Schlüssel
verfügen und also von Bediensteten »durchgeschlossen« werden müssen. In den meisten neuen
Landesstrafvollzugsgesetzen werden sie – anders als im alten Bundesstrafvollzugsgesetz – nicht
mehr ausdrücklich erwähnt, obwohl ihre Einbeziehung in das Leben im Gefängnis nach europäischem Recht zu fördern ist, da sie Teil der Zivilgesellschaft sind.55
Als ihre Hauptbetätigung innerhalb und außerhalb des Vollzugs werden Einzelkontakte zu
Inhaftierten,56 Durchführung kultureller oder sportlicher Veranstaltungen,57 Gesprächs- und
50 Siehe die Ausführungen von Löhr, Beitrag 33 in 5, S. 576-604.
51 Die Fachkompetenz der Beiräte betrifft insbesondere ihre Vermittlerrolle zu Medien, gesellschaftlichen Gruppen,
Wohnungs- und Arbeitsmarkt und zu sozialen Netzen.
52 7, S. 563.
53 3, S. 139.
54 Sie benötigen für ihre – in der Regel unbefristete - Zulassung nur ein polizeiliches Führungszeugnis und die einmalige
Zustimmung der Justizbehörde bzw. Anstaltsleitung, müssen die im Justizvollzug geltenden Vorschriften beachten,
haben für ihre Arbeit fachliche Begleitung, sind aber der Anstaltsleitung gegenüber nicht rechenschaftspflichtig und
nicht in die Hierarchie der Bediensteten eingebunden. Wegen ihrer Liberorolle werden sie von manchen Bediensteten misstrauisch angesehen. Im Übrigen teilen die Ehrenamtlichen mit den Vollzugsbediensteten die Aufgabe,
in ihrer Beziehung zu Gefangenen die richtige Balance zwischen Distanz und Nähe zu finden und zu wahren.
55 Nr.7 ERP nach 12, zu § 5, Nr. 23. Da wo Ehrenamtliche in den neuen Bundesländervollzugsgesetzen ausdrücklich
genannt werden, geschieht dies im Zusammenhang der Gestaltung des Vollzugs (so Sachsen in § 3 Abs. 6) oder
der Sozialen Hilfe (vgl. 17 S. 57 und 12 zu § 5 Nr.23 und § 9 Nr .31).
56 6, S. 107 nennt »Einzelbetreuungen, die u.a. regelmäßige Besuche und Briefkontakt, Begleitung bei Ausgängen
und persönliche Hilfestellungen beinhalten (z.B. bei öffentlichem Schriftverkehr oder dem Aufbau oder der Stabilisierung sozialer Beziehungen).« Sie betreffen wie die in den folgenden drei Anmerkungen genannten Tätigkeiten
zumeist Inhaftierte, für die als Reaktion auf eine Straftat andere Maßnahmen als Freiheitsentzug sinnvoll wären!
57 Dazu gehören Theater-, Film- und Musik-Auf- und Vorführungen Sie können auch für Besucher von »draußen«
zugänglich sein; die Besucher müssen sich allerdings in geschlossenen Anstalten oft aus Sicherheitsgründen
vorher anmelden. Das gilt auch für sportliche Turniere und Wettbewerbe oder für ein (jährliches) Sportfest mit
Beteiligung von »draußen«.
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Freizeitgruppen,58 Begleitung und Unterstützung Inhaftierter bei Lockerungsmaßnahmen und
Entlassungsvorbereitung,59 sowie Mitarbeit bei der Gefangenenzeitung als öffentlich zugängliche Publikation60 genannt.61 Auch wenn zwischen von den Justizbehörden zugelassenen freien
»Vollzugshelfern« einerseits und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der
Freien Straffälligenhilfe andererseits unterschieden werden muss, so sind ihre Tätigkeitsfelder
doch vielfach identisch.62 Sofern Vollzugshelfer sich in Vereinen organisiert haben, gibt es auch
für sie als zusätzliche Aufgaben: Arbeit in Vereinsvorständen, Einwerbung von Förder- und Spendengeldern, Öffentlichkeitsarbeit sowie Organisierung der Einführung neuer Ehrenamtlicher in
ihre Aufgaben und der Aus- und Fortbildung. Für die Gewinnung, Auswahl, Qualifizierung, Platzierung und Begleitung geeigneter Ehrenamtlicher bedarf es eines sozialarbeits-professionellen
Freiwilligenmanagements, das relativ unabhängig von der Justizbehörde arbeiten kann. Zu dessen
Aufgaben gehören auch Dokumentation, Erstellung von Nachweisen und Zeugnis, Etablierung
einer Anerkennungskultur und Akzeptanz und Gestaltung der Beendigung der Tätigkeit.63 Unzureichende juristische Absicherung, mangelnde professionelle Einführung und Begleitung,64
unzureichende Rollenbestimmung,65 manchmal auch fehlende Verlässlichkeit auf beiden Seiten66
führen dazu, dass die Chancen wenig genutzt werden, die durch Mitwirkung Ehrenamtlicher
dafür bestehen, dass der Weg von einem mehr oder weniger sicheren Verwahrvollzug zu einem
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Literaturbericht
58 3, S. 138 f. nennt Theatergruppen, Chöre, Musikkapellen und Schachklubs. Es gibt Koch-, Töpfer- und andere handwerkliche Freizeitgruppen und Gruppen, in denen Personen von drinnen und draußen projektbezogen thematisch
arbeiten und diskutieren.
59 Bei Ausgängen und Hafturlaub, Besuch von Tagungen und externen Veranstaltungen. 6, S. 107 nennt Begleitung
bei Behördengängen und Unterstützung bei der Wohnungssuche.
60 Hier ist zu unterscheiden die Unterstützung von Zeitungen von Gefangenen für Gefangene (so meistens) oder die
redaktionelle Mitarbeit bei Zeitungen, die für »drinnen« und »draußen« bestimmt sind, also zugleich der justizpolitischen Öffentlichkeitsarbeit dienen. Problematisch erscheinen Zeitungen, die Organ der Anstaltsleitung oder
von hauptamtlichen Mitarbeitern zur Information der Inhaftierten und/oder der Öffentlichkeit sind.
61 Für 10, Nr.290 gehören auch »Hilfestellung für Familien« und »Aufklärung der Öffentlchkeit über Strafvollzugsprobleme« zu dem »weit gefächerten Betätigungsfeld« der Ehrenamtlichen Vollugshelfer.
62 5, S. 212 Nr. 26 nennt für die Ehrenamtlichen der freien Straffälligenhilfe zusätzlich zu bisher genannten Aufgaben
das Angebot der Hilfestellung »bei gerichtlichen Verfahren, bei der Regulierung von Schulden, bei der Überwindung
von Sprachbarrieren, beim Umgang mit Suchtproblemen, evtl. Vermittlung in Beratungsstellen, bei der Auseinandersetzung mit oder der Verarbeitung von Schuld«. Zur Erfüllung der meisten dieser Aufgaben ist die fachliche
Zusammenarbeit mit Professionellen unbedingt erforderlich (vgl. die übernächste Anmerkung).
63 Vgl. 6, S. 107-110 zur »Arbeit mit bürgerschaftlich Engagierten«.
64 Dass im Freiwilligenmanagement qualifizierte, die Sozialarbeit im Justizvollzug im Gefolge Päckerts und KawamuraReindls praktizierende SozialarbeiterInnen Interesse daran zeigen und einen festen Anteil ihrer Arbeitszeit dieser
Begleitung widmen wollen und können, bildet bisher die Ausnahme. Eine genaue Bestimmung des Verhältnisses der
Kompetenzen von Professionellen und Freiwilligen steht aus; erste Ansätze dazu finden sich bei Sabine Schneider
in ihrem Artikel »Theoretische Profilierungen Sozialer Arbeit mit Straffälligen« in dem vom AK HochschullehrerInnen
Kriminologie/Straffälligenhilfe in der Sozialen Arbeit herausgegebenen und bei Beltz-Juventa publizierten Lehrbuch
»Kriminologie und Soziale Arbeit«, Weinheim/Basel 2014 S. 27-143 (hier insbesondere S. 132 2., S. 133 3. und S.
136 f.). Das Lehrbuch des Aks ist auch insbesondere zu Fragen des Verhältnisses von Kriminologie und Sozialarbeit,
zur Sozialen Arbeit in Zwangskontexten, zur Sozialanwaltskriminologie für soziale Berufe, zu Restorative Justice
sowie zu Migration und Drogen zu beachten (vgl. außerdem unten Anm. 68)
65 Sie sind keine Lückenbüßer und nicht nur für Freizeitbeschäftigungen zuständig, sondern haben als soziale
PartnerInnen der straffällig gewordenen Menschen und als unabhängige Vertreter der Gesellschaft eine wichtige
Aufgabe, in der sie selbst für sich Kompetenzen erwerben und die Erfahrung relevanter Arbeit machen können.
66 Verabredungen mit der JVA (z.B. bei Terminen für Vollzugs- und Eingliederungsplanung) und mit Inhaftierten
werden nicht immer verlässlich eingehalten bzw. nicht rechtzeitig abgesagt. Aber auch Ehrenamtliche sind – vor
allem, wenn sie vorher diesbezüglich negative Erfahrungen mit JVA oder Inhaftierten gemacht haben – nicht alle
durchgängig zuverlässig.
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konsequenten Resozialisierungsvollzug mit Unterstützung der Zivilgesellschaft erfolgreich
gegangen werden kann.
6 Vom dem Strafnachlass dienenden Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) zur
»heilenden Gerechtigkeit« (restorative justice=rj) als Alternative
zum Strafvollzug
Was das alte Bundesstrafvollzugsgesetz von 1976 als Beschreibung des Vollzugsziels – also als
Näherbestimmung dessen, was »Resozialisierung«, bezogen auf den Straftäter, meint – gewählt
hat, haben fast alle Bundesländer in ihre seit 2006 erfolgte Gesetzgebung übernommen: der
Gefangene soll »fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu
führen«. Dazu gehört – für einige Bundesländer jetzt ausdrücklich formuliert –, dass »zur Erreichung des Vollzugsziels ... die Einsicht in die dem Opfer zugefügten Tatfolgen geweckt und
geeignete Maßnahmen zum Ausgleich angestrebt werden« (so Baden-Württemberg § 2,5 als ein
»Behandlungsgrundsatz«). Brandenburg, Rheinland-Pfalz und Saarland formulieren in ihren
§§ 8,1 bzw. 3,1 noch schärfer: der Vollzug dort ist »auf die Auseinandersetzung (der Gefangenen)
mit ihren Straftaten, deren Ursachen und deren Folgen auszurichten« und das Bewusstsein für
die den Opfern zugefügten Schäden soll geweckt werden.67 Sind dies grundsätzliche Festlegungen
im Rahmen der Bestimmung von Vollzugsziel und – gestaltung in einzelnen Bundesländern, so
thematisiert die Mehrzahl der Bundesländer die Täter-Opfer-Beziehung in der Bestimmung des
verpflichtenden Inhalts des Vollzugsplans, der für jeden Gefangenen aufzustellen ist. So muss
der Vollzugsplan Angaben enthalten zum »Ausgleich von Tatfolgen« (Brandenburg § 15,1 Nr. 21,
Hessen § 10,4 Nr. 9, Rheinland-Pfalz § 15,1 Nr. 20, Saarland § 9,1 Nr. 20), ausdrücklich ergänzt
durch den Verweis »einschließlich Täter-Opfer-Ausgleich« (Mecklenburg-Vorpommern und
Sachsen in § 9,1 Nr. 20) oder anders formuliert als »Maßnahmen des Täter-Opfer-Ausgleichs«
(Hamburg § 8,2 Nr. 5).
Diese Bestimmungen werden in 11 S. 56 als »opferbezogene Vollzugsgestaltung« positiv
kommentiert, in 12 aber unter dem Stichwort »Soziale Hilfe als Opferhilfe?« als »bedenklicher
viktimologischer Paradigmenwechsel« kritisiert. Festzuhalten ist hier einerseits, dass zu einem
»Leben in sozialer Verantwortung« die Empathie für Geschädigte und ein ihren Schaden möglichst ausgleichendes Verhalten gehören, dass aber eine Instrumentalisierung des Täter-OpferAusgleichs im Vollzug und dessen »Ausrichtung« auf diesen Ausgleich zu Heuchelei und falscher
Gewichtung führen.68
67 Hessen beschränkt sich hier auf den zweiten Teil der Aussage und formuliert in § 5,1 Satz 4 als einen Grundsatz
»vollzuglicher Maßnahmen«: »Die Einsicht der Gefangenen in das Unrecht der Tat und in die beim Opfer verursachten
Tatfolgen soll vermittelt und durch geeeignete Maßnahmen zum Ausgleich der Tatfolgen vertieft werden«.
68 Sabine Schneider hat in ihrem oben in Anm. 64 genannten Artikel im Zusammenhang der Wichtigkeit der Trennung
von Person und Delikt richtig vermerkt, »dass die Straftat als solche zunächst nicht im Fokus ist, als Startpunkt für
Soziale Arbeit vielmehr die Frage zentral ist, auf welche Ausgangssituation die jeweilige Tat ein Bewältigungsversuch
darstellt« (S. 139). Sie weist u.a. auf Anti-Aggressivitäts-Trainings hin, in denen »trainiert wird, in gewaltauslösenden
Situationen andere Gefühle oder Impulse wahrzunehmen, damit auch bzw. überhaupt möglich wird, Gefühle für
Empathie für die Opfer zu erzeugen« (S. 139). Im TOA müsse »für ein produktives Ergebnis der Tatvorwurf auf eine
Konfliktkonstellation zwischen den beteiligten Personen begrenzt werden« (S. 139 f.). Zu beachten ist auch, dass
einer validen älteren empirischen Untersuchung zufolge Viktimisierungserfahrungen fast doppelt so häufig bei
straffälligen Personen vorliegen gegenüber nicht straffälligen Personen – so Gabriele Kawamura-Reindl im Lehrbuch
des AK HochschullehrerInnen (siehe Anm. 64) in ihrem Artikel »Lebenslagen Straffälliger als Ausgangspunkt für
professionelle Interventionen in der Sozialen Arbeit« S. 144-159, daselbst S. 150 vorgestellt und erörtert.
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Sinnvoller TOA bedarf einer machtunabhängigen Trägerschaft (sollte also nicht von Gefängnispersonal durchgeführt werden) und einer Freiwilligkeit aller Beteiligten. So ist auch Frank
Winter in seinem TOA-Artikel in 5 S. 477-498 zu verstehen; bei ihm findet sich eine sorgfältige
Darstellung von Geschichte, rechtlichen Grundlagen, praktischer Durchführung, Evaluation
und Innovationen des TOA in Bezug auf das geltende Recht. Winter ortet zwar den TOA im
Rahmen von Strafrecht und –vollzug und erwähnt, dass er »neben Strafen und Maßregeln auch
dritte Spur des Strafrechts genannt« wird (S. 477), gibt ihm damit aber eine Eigenständigkeit
und weitet seine aktuelle Bedeutung aus. Er stellt Modellversuche im Strafvollzug vor (S. 494),
muss aber auch die Grenzen markieren, an die TOA stößt, wenn er im Rahmen von Strafrecht
und Strafvollzug bleibt (S. 495). Winter hat bereits vor zwölf Jahren deutlich gemacht, in welchem
Zusammenhang er TOA sieht: »als Teil der Vision von einer heilenden Gerechtigkeit«.69
Auch Kawamura-Reindl und Schneider gehen in ihrem Kapitel über TOA in 6 S. 184-205 diesen
Weg: sie schildern zunächst, wie TOA seit den 1980er Jahren, zunächst durch Modellprojekte im
Jugendbereich, sich zu einem erst im Jugend-, dann auch im Erwachsenenstrafrecht zusehends
Bedeutung gewinnenden »Angebot an Beschuldigte und Geschädigte, die Straftat und ihre Folgen
mit Hilfe eines neutralen Vermittlers eigenverantwortlich zu bearbeiten und nach Möglichkeit
auszugleichen« (184 f.) auf freiwilliger Basis für alle Beteiligten entwickelt hat und jetzt im StGB
(§§ 46a, 59 und 153a) sowie im JGG (§§ 10, Abs. 1 Nr.7, § 15, Abs. 1 Nr.1, § 45 Abs. 2 und § 47 Abs. 1
Nr.2) als Möglichkeit zum Strafnachlass verankert ist (S. 187). Er bedarf ihnen zufolge konkreter
ansprechbarer und bereitwilliger Personen und kommt für alle Deliktarten in Frage – mit Ausnahme allenfalls von unerheblichen Bagatelldelikten (S. 188 f.). Sieht man von seiner juristischen
Funktionalisierung als Strafmilderungsgrund für den Straftäter ab, so dient er gleichermaßen
der Würde und Freiheit von Täter und Opfer und trägt nachhaltig zur Verarbeitung der entstandenen Probleme bei. Das Opfer erhält die Möglichkeit, u.a. »seine Emotionen, wie Wut, Trauer,
Ängste und seine Verletztheit zum Ausdruck zu bringen und hierdurch die psychischen Folgen
der Tat besser zu verarbeiten«;70 die Tatperson gewinnt die Möglichkeit, u.a. »Verantwortung für
die Tat zu übernehmen und sich von einem Schuldgefühl zu entlasten«.71 Die Vorgehensweise
des TOA wird in 7 Phasen – von Vorprüfungen und –gesprächen über Ausgleichsgespräche bis
zu Vereinbarung und Abschluss – beschrieben.72 Perspektivisch weiterführend und den Kontext
des Strafvollzugs überschreitend kann TOA in Gemeinschaftskonferenzen, Friedenszirkel oder
Restorative Justice Conferencing zur heilenden Gerechtigkeit (rj) beitragen (6 S. 202-205, vgl.
dort auch die Erläuterung zu rj S. 186).
Heft 73/2016
Literaturbericht
69 Der Titel seiner in Worpswede 2004 erschienenen Monografie zum Thema lautet: »TOA als Teil der Vision einer
heilenden Gerechtigkeit«.
70 S. 190. Grundlegend ist hier darauf hinzuweisen, dass das »Opfer« durch die Begegnung mit dem »Täter« aus der
Opferrolle herauskommt und die Souveränität seines Lebens gewinnen kann. Das hat Eva Moses Kor, eins der Opfer
der Zwillingsversuche des KZ-Arztes Mengele gewollt und gezeigt, als sie ein Treffen mit einem KZ-Arzt arrangiert
hat (vgl. die Glosse S. 74 in: Evers/Kleinert Wenn keiner den ersten Stein wirft – mit Schuld und Vergebung leben,
Anstöße und Analysen aus Recht, Psychologie und Theologie, Leipzig 2005; auf die Berichte über die »Gespräche
im Gefängnis« über »Schuld, Strafe und Vergebung« daselbst S. 123-130 sei hier hingewiesen).
71 S. 190 vgl. 22 S. 187. Statt von »Entlastung von einem Schuldgefühl« wäre vielleicht besser von Ermöglichung
eines Lebens »mit Schuld und Vergebung« zu reden (Vgl. den Beitrag »Schuld tragen und (aus) Vergebung leben«
S. 61-96 in Evers/Kleinert (Hg) Wenn keiner den ersten Stein wirft ...).
72 S. 191-198. Ähnlich sind die insgesamt 9 Schritte, die Winter in 5 S. 485 für den TOA tabellarisch darstellt.
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Konsequent umgesetzt, muss TOA die ihm eingeräumte »dritte Spur im Strafrecht« (Winter)
verlassen und wie rj Teil einer Alternative zur Schuld-und-Strafenmentalität werden.73
Schlussbemerkung
Eine vergleichende systematische Auswertung der neuen Fachliteratur lässt sich noch an vielen
anderen Stichworten vornehmen. In den hier ausgewählten und skizzierten sechs Stichworten
ging es um grundsätzliche Fragen (1. Resozialisierung, 3. Offener Vollzug, 6. TOA und heilende
Gerechtigkeit) und um oft vernachlässigte Bereiche (2. der straffälliggewordene Mensch als
Subjekt, 4. und 5. die Mitwirkung der Zivilgesellschaft), ohne deren positive Einbeziehung der
in der Fachliteratur fast einhellig angemahnte, mit dem Bundesstrafvollzugsgesetz von 1976
eingeleitete und vom Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Recht unterstützte
Paradigmenwechsel zu einem Resozialisierungsvollzug nicht gelingen kann.
Abstract
The penal system should not operate as it is the case presently if the aim is and should still be
to allow offenders a life marked by social responsibility and no further offences. Ulfrid Kleinert
shows this by a presentation and analysis of a wide range of new and older books, which are,
written by parties involved or concerned, describing the daily life in prison and are naming the
contradictions, in which social and pastoral work happens on-site. This contradictions are caused
by a conflict of objections as law both aims at punishing for both a fictitious guilt and the social
rehabilitation of offenders. Additionally there is an unenlightened need for security, which politics
and administration meet shortsighted. Autobiographical reflections and specialist literature in the
area of social science, law and theology pave the way to settings which are recognizing both the
people affected by an offence and the offenders as subjects in a social context. The realisation
of such settings calls for an attentive critical public. This public includes competent councils and
volunteers, who are regarding themselves as a part of civil society.
73 Vgl. hierzu grundsätzlich die Beiträge in Heinz Sünker/Knut Berner (Hg) Vergeltung ohne Ende? – Über Strafe und
ihre Alternativen im 21. Jahrhundert, Lahnstein: Verlag Neue Praxis 2012. Berner a.a.O. S. 28 konstatiert, dass sich
die Achtung der Person »auch im verstärkten Bemühen um die Möglichkeit des (staatlich kontrollierten) TOAs und
der nicht strafrechtlichen Wiedergutmachung« zeige. Im Übrigen seien »herkömmliche Täter-Opfer-Fixierungen zu
problematisieren ... Das Opfer wird darin zum Täter, dass es den Täter mit seiner Tat identifiziert. Und der Täter macht
sich zum Opfer, indem er möglichst viele außerhalb seiner selbst liegende Gründe dafür verantwortlich zu machen
versucht, so gehandelt zu haben« (S. 14 f.). Menschen sei, biblisch gesehen, »nicht die Kompetenz zugesprochen,
als Souverän des Strafvollzugs agieren zu können und zu dürfen.« Die Erfüllung von Revanchegelüsten sei »fast
durchgehend an Gott delegiert« (S. 3); letztlich erscheine »Gott als der einzige absolut zuverlässige Garant dafür,
dass Unrecht nicht ungesühnt bleibt« (S. 12). Menschliches Strafen werde theologisch »entmythologisiert« (S. 4).
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Firat Yildirim
Von der vermittelten Nichtidentität und neuen Wegen
aus der Systemkrise: Darrow Schecters Reformanstoß
der kritischen Theorie im 21. Jahrhundert.
Heft 73/2016
Rezensionsaufsätze
Rezensionsaufsätze
Rezensionsaufsätze
Über: Darrow Schecter: Kritische Theorie im 21. Jahrhundert. Aus dem Englischen übersetzt
von Diana Göbel. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2016; S. 261 ; brosch., 39,- €
Vor dem Hintergrund einer besorgniserregenden globalen Entwicklung, die bereits existierende
wirtschaftlichen und sozialen Krisen zunehmend verschärft, erscheint die Frage nach einem politischen Kurswechsel sowie eines tiefgreifenden Wandels institutioneller Strukturen dringlicher
denn je. Denn das »Wunderrezept« des Neoliberalismus, den Kapitalismus durch wirtschaftliches
Breitenwachstum ökonomisch praktikabel und sozialverträglich zu gestalten, hat sich als substanzlos entpuppt. So ist die erhoffte Rettung aus den sozio-ökonomischen Missständen in weiten
Teilen der Erde nicht nur ausgeblieben, sondern vielmehr noch hat das neoliberale Paradigma
etwa dazu geführt, dass es in einigen Staaten zu einer nachhaltigen und tiefgreifenderen Stratifikation der jeweiligen Gesellschaft kam.
Die große Frage dürfte nun also lauten, ob mit der neoliberalen Desillusionierung sich auch
die Möglichkeiten einer hoffnungsvollen Umgestaltung von kapitalistisch geprägten Gesellschaften theoretisch-ökonomisch erschöpft, oder aber sich möglicherweise auch gerade wegen
der offenen Krisenhaftigkeit des Systems neue Ansätze für die erforderliche Restrukturierung
von Staat, Markt und Gesellschaft auftun.
Dem letzteren Potenzial zumindest geht der britische Politologe Darrow Schecter in seinem
Buch Kritische Theorie im 21. Jahrhundert nach, welches bereits 2013 unter dem englischen Titel Critical Theory in the Twenty-First Century im Bloomsbury Verlag erschien und nun auch in
deutscher Übersetzung – als Auftaktband der Schriftenreihe Studien zur Politischen Soziologie
– im Nomos Verlag erhältlich ist.
Schecters methodische Anlage in diesem Buch dürfte dem Leser mit einem kurzen Blick in die
Einleitung gleich zu Beginn als reizvoll und ebenso erhellend erscheinen: Sein selbsterklärtes Ziel
ist es, mit diesem Buch einen programmatischen Wiederbelebungsversuch bzw. eine Rundumerneuerung der kritischen Theorie zu leisten, die zwar auf der Denkleistung der ersten Generation
der Frankfurter Schule fußt (S. 7), sich jedoch nicht ausschließlich darauf beschränken will, alte
Positionen zu gegenwärtigen Fragestellungen und dringenden Problemen der Soziologie, Rechtstheorie, Philosophie, Politiktheorie, der Medien- und Geschichtswissenschaft, der Ästhetik, der
Filmwissenschaft und der Psychoanalyse (S. 12)« zu reformulieren.
Vielmehr wird vom Autor beabsichtigt, mit einem multidisziplinären Ansatz die Forschung
gezielt anzuregen und mit der Rekonzeptualisierung der kritischen Theorie (erneut) in wissenschaftliche Wirklichkeitsbereiche vorzudringen, in denen die, wie Schecter behauptet, einstige
politische Triebkraft der kritischen Theorie, »die sie vor der von der Theorie des kommunikativen
Handelns markierten linguistischen Wende hatte« (S. 69), auch wieder zum Vorschein treten kann.
Gleichsam ein Befreiungsversuch der kritischen Theorie; u.a aus der ästhetischen Versenkung,
in der diese sich seit Habermas‘ wirkungsmächtigem Werk Schecter zufolge befindet.
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Es sei jedoch angemerkt, dass Schecter die weitergehende Präsenz einer ästhetischen Herangehensweise an die kritische Theorie an keiner Stelle des Buches grundsätzlich in Frage stellt. Denn
diese ist seiner Meinung nach weiterhin wichtig, um ein begrifflich-nichtbegriffliches Erkenntnismoment herausstellen zu können. Und dennoch sollte eine tendenzielle Überfokussierung
der ästhetischen Theorie möglichst gemieden werden, die »auf Kosten der politischen Ökonomie und der Erkundung von Macht, Kontingenz, funktionaler Differenzierung und so weiter«
(S. 13) stattfindet.
Demnach besteht die Herausforderung für die Sozialforschung im 21. Jahrhundert primär
darin, nach einem neuen Lösungsansatz zu suchen, die die von Schecter bereits in der Einleitung benannte Kernkompetenz der kritischen Theorie aufrechterhält, aber auch gleichzeitig
den Früchten der ästhetisch-theoretischen Forschungsarbeit an den Philosophielehrstühlen in
Europa und Nordamerika gerecht wird.
Das Schlüsselproblem kritischer Gesellschaftstheorie
In den ersten beiden Kapiteln Dialektik, Denaturalisierung und soziale Differenzierung (I): Von
der Öffentlichkeit zur Entwicklung der Zivilgesellschaft und Dialektik, Denaturalisierung und
gesellschaftliche Differenzierung (II): Vom kognitiven Gehalt der Ästhetik zur kritischen Theorie
vermag der Autor eine hypothetische Vorarbeit zu leisten, die dem Leser zum einem versucht die
Entstehungsgründe der kritischen Theorie im 20. Jahrhundert nahezubringen und zum anderen
den Deutungs- und Relevanzrahmen der kritischen Theorie im 21. Jahrhundert abzustecken (S. 33).
Das klar erkennbare Motiv des Autors und seine inhaltlich zentrale Behauptung im ersten
Teil, nämlich das durchaus alternative Organisationsformen zu den krisenbeladenen sozioökonomischen und politischen Systemen der Gegenwart bestehen, wird bereits in dieser Hälfte des
Buches sichtlich hervorgehoben und mit einer anderen gewichtigen Annahme gekoppelt, die dem
Leser an verschiedenen Stellen mehrfach wiederbegegnet: Demzufolge können Menschen, die
sich frei zu einer Gesellschaft zusammen geschlossen haben, auch überall dort, wo Krisen- und
Konfliktpotenziale innerhalb dieser Gesellschaft besteht, beispielsweise aus missbräuchlicher
Machtausübung und/oder einer Finanzkrise, sich verschiedenen Formen der instrumentellen
Vernunft (individuell wie aber auch als Kollektiv) bedienen, um diese aufzulösen. Vorausgesetzt,
dass aus der Staatssphäre losgelöste, autonome Handlungsmöglichkeiten, sei es eben als Einzelner oder als Gruppe, in Gesellschaften weiterhin implizit bestehen und endogene/exogene
Problemursachen per se erkannt werden können (ebd.). Worin besteht nun aber das eigentliche
Theorie-Praxis-Problem der zeitgenössischen Gesellschaftsformation laut Schecter?
An dieser Stelle rekurriert der Autor auf die kanonische Traditionslinie der dialektischen
Gesellschaftstheorien, die vom Hegelschen Idealismus über den Marxschen Materialismus bis
hin zu der programmatischen kritischen Theorie Adornos reicht und deren Analyseschemata er
sich bedient, um die gegenwärtigen Systemprobleme für den Leser anschaulich freizulegen. So
wird Schecter zufolge bereits in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts auf eine eklatante Dichotomie zwischen den Menschen im Naturzustand und der bürgerlichen Gesellschaft
hingewiesen, dessen Überwindung sich nur mittels einer politischen Ordnung verwirklichen
kann, die es schafft, zwischen Bürgern, Recht und Staat de facto eine »Einheit« zu vermitteln:
»Dem Begriff der politischen Freiheit und Autorität zufolge, der von Hegel und anderen
Theoretikern einer weltlichen politischen Ordnung vertreten wird, gibt es eine vermittelte Einheit zwischen Bürgern, Recht und Staat. Diese Konstellation institutioneller Kräfte bindet den
einzelnen Bürger in eine territorial abgegrenzte nationale Gemeinschaft ein, innerhalb derer die
Bürger Rechte und Pflichten haben. Der Begriff vermittelte Einheit drückt den Gedanken aus,
dass Repräsentation unmöglich wäre, wenn es gar keine Einheit zwischen Bürgern und Staat gäbe.
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Darin zeigt sich, dass Vermittlungsprozesse und die Möglichkeit vernünftiger Repräsentation
für Hegel und viele andere eng verbunden ist. Bestünde hingegen Identität zwischen Bürgern
und Staat, anstelle von vermittelter Einheit, so wäre eine Repräsentation überflüssig.« (S. 63)
Wie sich aus diesem Absatz erkennen lässt, steht das gesellschaftliche Verwirklichungspotenzial von Einheit und Freiheit in Anlehnung an Hegel in einem Konnex mit vernünftigen
Vermittlungsstrategien, die einzelne Staaten verfolgen (sollten). Hegels Philosophie des Rechts
zufolge besitzt der ideale Staat deshalb zwangsläufig ein immanentes Interesse daran, in Form
eines objektivierten Geistes die vermittelte non-identity, die beispielsweise von der bürgerlichen
Gesellschaft verkörpert und gefördert wird, durch eine vermittelte Einheit abzulösen. Im Anschluss an Hegels Theorieerbe knüpft auch Marx an die Idee der vermittelten Einheit an und
erweitert diese entscheidend um eine höher gerichtetere Form innerhalb seiner materialistischen
Dialektik: Der Klassenlosigkeit und damit einer unmittelbareren, undifferenzierteren Einheit
innerhalb der Gesellschaft.
Jedenfalls ist sowohl Hegel als auch Marx gemein, dass ihrer Ansicht nach mit der institutionell vermittelten Uneinigkeit ernsthafte soziale Probleme einhergehen, und jener nur durch die
schrittweise Abtragung der stark differenzierten gesellschaftlichen Schichten und der gleichzeitigen Schaffung einer authentischen Einheit ernsthaft begegnet werden kann.
Der auf die Gemeinsamkeiten beider Denker gelegte analytische Fokus ist Schecter zunächst positiv anzurechnen, auch wenn er gewiss nicht -und das kann man dem Leser bereits
vorausschicken- beider Ansichten teilt, dass die zentrale Idee der Einheitsvermittlung auch im
21. Jahrhundert potentiell zur Lösung aller gegenwärtigen Probleme beitragen könnte. Vielmehr
kann man die Dysfunktion modernen Staaten nur begreifen, wenn man auch gewillt ist, den
historisch-eindimensionalen Blick auf die Individuum-Gesellschaft, Subjekt-Objekt Beziehung
und die Klassentheorie zu verlassen, und sich stattdessen mit ihrer durchaus komplexen Aufbaustruktur und Kommunikationsform auseinanderzusetzen. So sind moderne Staaten aus ihrem
Selbstverständnis heraus zwar im wesentlichen auch Einheit vermittelnde Instanzen (exempl.
Gleichheit vor dem Gesetz), doch in Wirklichkeit ist deren autonome Handlungsfähigkeit in
ein autopoietisches System übergegangen, welches der paradoxen Logik einer fortwährenden
funktionalen Differenzierung und Stratifikation und damit letztlich der (Re-)Produktion von
Ungleichheit folgt. Am Ende einer solchen Entwicklung von Gesellschaftssystemen bleibt laut
Schecter eine asymmetrische Konnexion der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen übrig,
die schließlich in einer spannungsgeladenen Relation mündet. Diese künstlich geschaffene
»Asymmetrie« selbst wirkt wiederum wie ein Katalysator für soziale und wirtschaftliche Krisen,
wie wir sie in weiten Teilen der Erde beobachten können
Die Ursachen dieser Entwicklung liegen, so Schecter, darin begründet, dass heutige Staaten
mit ihrem Vermittlungsanspruch heillos überfordert und deshalb nicht mehr in der Lage sind,
das Auseinanderfallen von einst interagierenden Systemen wie Recht, Politik, Wirtschaft und
Gesellschaft aufzuhalten: Eine lähmende institutionelle Machtzerstreuung wurde in Gang gesetzt, die sich nur noch schwer stoppen lässt. Und schon gar nicht mit einer veralteten politischen
Theorie für die Gegenwart, die sich an dem mythologischen Urkonflikt zwischen Kapital und
Arbeit bereits erschöpft (S. 54-57).
Stattdessen plädiert Schecter in seinen Überlegungen erkennbar für die Suche nach neuen
geeigneten Vermittlungs- und Kommunikationsstrategien, die die auseinanderdriftenden pluralen
Systeme wieder effektiv aneinanderkoppeln und vernetzen können, ohne jedoch die Macht (erneut) in Form einer zentralen Instanz zu konzentrieren. Zusammengefasst müsste die kritische
Theorie als Herzstück ihrer Forschungsarbeit sich demnach mit der Frage auseinandersetzen:
»Was könnten die Möglichkeiten für die Verwirklichung eines dezentrierten, pluralen Netzwerkes
von Vermittlungen anstelle einer einheitlichen vermittelnden Instanz sein (S. 67)?«
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Kritische Theorie und vermittelte Nichtidentität, kritische Theorie und
politische Theorie, aber auch neue Wege jenseits der Marx-FreudSynthese?
Mit dieser gewichtigen Frage erhält der Leser auch einen Ausblick auf den Inhalt des zweiten
Teils im Buch. Schecters Augenmerk konzentriert sich in dieser Hälfte jedoch nicht ausschließlich auf die oben aufgeworfene Fragestellung, sondern erweitert den Untersuchungsgegenstand
durch Hinzunahme der Kulturphilosophie Simmels um eine dritte, und damit entscheidende
deskriptive Dimension. Sein zentraler Gedanke dabei ist, dass im Anschluss an die von Simmel
in Die Philosophie des Geldes thematisierte Metaebene sozioökonomischer Zusammenhänge
(als ihr wesentliches Strukturmerkmal) in modernen Gesellschaften dynamische Prozesse in
Gang gesetzt werden, die außerhalb der Subjekt-Objekt-Form liegen, und deren Erklärung sich
vor allem auf diese nicht reduzieren und begrenzen lassen (S. 123 f., 245.). Das heißt, es existiert
mindestens »ein drittes, von den Tauschpartnern hervorgebrachtes, aber für keinen von ihnen
vorhersehbares Element (S. 124)«, welches es (neu) zu bestimmen gilt. Dieses dritte Element
zielt darauf ab, sich an der Gestaltung von die Mikro- und Makrobedingungen gesellschaftlichen
Zusammenlebens zu beteiligen und die Reflexion über Autonomie und Vernunft seitens der
Individuen zu steuern – eben in Form von Geld (ebd.).
In Anlehnung an Simmel geht vom Geld und seiner anfänglich als ein reines Tauschmittel
gedachten Transaktionsfunktion zwischen Konsumenten und Produzenten in modernen Gesellschaften mittlerweile eine Transformationsbewegung des Sozialen aus, die sich zwar nur noch
schwer kontrollieren lässt, die Kontrolle darüber jedoch nicht gänzlich unmöglich erscheint:
Sofern man eine offene Dialektik verfolgt, die ohne die Subjekt-Objekt-Beziehung als einzigen
Referenzpunkt der Gesellschaftstheorie auskommt bzw. die Mehrfachrelation gesellschaftlicher
Prozesse anerkennt (S. 125).
Ähnlich verhält sich auch mit der von Simmel thematisierten objektiven sozialen Norm. Diese
besitzt nämlich einen eigenen, dezentralen Charakter, aus der sich keine grundlegenden Motive
der Form- und Gesetzgebung ableiten lassen und die sich deshalb dem Einfluss von Natur und
Mensch entziehen (S. 122). So ist es offensichtlich, dass Schecter Simmels Theorie eine gewisse
Überlegenheit zu attestieren scheint, die sich aus einer innovativen soziologischen Denkweise
ergibt, die die Konstellation moderner Gesellschaften besser begreifen kann, indem sie, im Gegensatz zu Hegel oder Marx, methodisch dezentriert und flexibler operiert.
Sollte sich die kritische Theorie im 21. Jahrhundert jedoch, wie oben erwähnt, der Fortführung
einer flexiblen Dialektik im Sinne Simmels annehmen, so würden sich möglicherweise neue
Möglichkeiten eröffnen, die den dogmatisch materialistischen Ansatz der kritischen Theorie
zunächst aufweichen und diesen Prozess schließlich beschleunigen können; indem man die Gesellschaftsverhältnisse eben nicht nur darauf reduziert, dass sich die »entfremdeten, ausgebeuteten, demokratischen Mehrheiten [...] und hinterlistigen, ausbeuterischen, antidemokratischen
Minderheiten (S. 128.)« unversöhnlich gegenüberstehen. Dadurch könnte endlich der ernsthafte
Versuch unternommen werden, nach einer geeigneteren/bedürfnisorientierteren Methodologie
für die Sozialforschung im 21. Jahrhundert zu suchen (ebd.), die die deutlich komplexeren Anlagen der verschiedenen Gesellschaftsformen samt ihrer individuellen Probleme anerkennt bzw.
zu Beginn ihrer Überlegungen mit einbezieht (S. 122). Schecter betont die potentielle Tragweite
einer solchen Neupositionierung der kritischen Theorie durch »die Möglichkeit einer entsprechend flexiblen Dialektik, die weder vereinigende Grundlagen voraussetzt noch auf vorgeformten
Synthesen beruht (S. 267).«
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Und dennoch verfällt er zu keinem Zeitpunkt seiner Ausführung der naiven Annahme, dass
eine etwaige Neupositionierung der kritischen Theorie von heute auf morgen geschehen kann
und wird. Durchaus fordert er aber von der Forschung die nötige Insistenz, um auf die gegenwärtig vordringlichste politische Frage nach einer passenden Lösung zu suchen, die lautet: »wie
kann man sich auf diese Reformprozesse begeben, ohne zu einem zentralisierten Planen zu
greifen, das mit großer Wahrscheinlichkeit bürokratisch, propagandistisch und daher ineffektiv
sein wird (S. 273)?« Eine scheinbar klare Absage an diejenigen, die in dem realsozialistischen
Projekt noch möglicherweise eine echte Systemalternative sehen und ihre Energie für Fehlerkorrekturen immanent maroder Modelle aufbringen wollen. Der Schlüssel zu einer erfolgreichen
Rekonzeptualisierung der kritischen Theorie im 21. Jahrhundert wird daher wohl auch ein Stück
weit darin liegen, inwieweit die Forschung bereit sein wird, die dogmatische Verteidigung ihrer
eigenen Grundsätze und Errungenschaften aufzugeben, um nach zeitgemäßen Analyseinstrumenten zu suchen.
Zum Abschluss seiner Überlegungen mutmaßt Schecter, dass beispielsweise durch die totale
Entkopplung der Wirtschaft vom politischen System, auch wenn dies zunächst befremdlich
klingen mag, Potentiale freigesetzt werden können, die beide Seiten von der eingangs genannten Überlastung wieder befreien können. Diese würden dann nämlich nicht mehr von einer
gesamtgesellschaftlichen Erwartungshaltung getragen werden, als Garant für gegenseitige
Stabilität zu fungieren. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Wirtschaft zwangsläufig dem freien
Spiel der Märkte ausgesetzt werden sollte – vielmehr würde seinem Plädoyer zufolge genau
der gegenteilige Effekt erzielt werden können, nämlich, dass die Wirtschaft dann nicht mehr
nur blind der passiven Adaption an das fehlerhafte politische System folgt (und umgekehrt),
sondern erstmals unbefangen Funktionskriterien für eine erneute Zusammenführung beider
Systeme von außerhalb formuliert werden können, die ihrer inhärenten Komplexität und den
Gesetzen der globalisierten Welt gerecht werden (S. 251). Was dem Autor an dieser Stelle offensichtlich vorschwebt, ist der Gedanke, beim Leser die nötige Sensibilität für alternative Modelle
zu aktivieren und die Marschroute der Forschung für die Entwicklung dieser Modelle mit dem
vorliegendem Buch größtenteils abzustecken.
Die Liste an kreativen Vorschlägen zur Lösung der bedeutsamen Systemprobleme der Moderne
ließe sich problemlos fortsetzen – und dennoch lässt sich Schecters Postulat mit folgendem Satz
sicherlich gut zusammenfassen:
»Statt über die möglichen Unterschiede zwischen »falschem« und »wahrem« Bewusstsein und
zwischen »reaktionärem« und »reformistischen« und »revolutionärem« sozialem Handeln zu
spekulieren, versucht die kritische Theorie [des 21. Jahrhunderts] unter Bezug auf den Idealismus
sowie auf Baudelaire, Marx, Nietzsche, Freud, Benjamin und Adorno Kriterien zu entwickeln, um
zu beurteilen, was willkürlich und veränderbar ist, im Verhältnis zu dem, was sich als historische
Objektivität und Tatsache darstellt (S. 121).«
Der Autor vermag in fünf Kapiteln einen durchaus kontrastreichen Überblick über die Anfänge
der kritischen Theorie zu geben und darüber hinaus eine gelungene Wirkungsbestimmung zu
liefern. Für die fachkundige Leserschaft dürfte er zudem an der einen oder anderen Stelle gute
Impulse setzen, die das Interesse für weitere Forschungsarbeit auf diesem Gebiet wecken sollte.
Es soll hier jedoch nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass Schecter sich mit seinem inhaltlich äußerst verdichteten Buch gezielt an ein Publikum richtet, welches nur mit ausreichenden
thematischen Vorkenntnissen den stellenweise deutungsoffenen Inhalt bewältigen kann.
Trotz allem ist es dem Autor positiv zuzuschreiben, dass er an keiner Stelle des Buches mit
überschwänglichen und unbrauchbaren Thesen daherkommt, sondern beim Lesen stets den
Eindruck erweckt, mit aller wissenschaftlichen Ernsthaftigkeit nach geeigneten Lösungen zu
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suchen, die die Grundprobleme aller Systeme angehen, in denen wir uns als vergesellschaftete
Subjekte bewegen. Es bleibt nur mit Spannung abzuwarten, mit welchem Impetus die Folgebände
der Nomos Schriftenreihe Studien zur Politischen Soziologie Darrow Schecters Ideen nach einer
Neubewertung der kritischen Theorie im 21. Jahrhundert aufgreifen und folgen werden.
Abstract
The »miracle recipe« of neoliberalism to make capitalism socially acceptable and economically
viable through economic growth has turned out to be without substance and the expected redress
of socio-economic grievances in many parts of the world has not only failed – in some states a
sustained and more profound stratification of society has been set in motion by the neoliberal
paradigm. In this context, Darrow Schecter’s book makes an important contribution to one of
the big questions we face globally: is the claim that neoliberal disillusionment opens up a chance
for the transformation of capitalist societies theoretically exhausted, or is it still possible that
new approaches will emerge to bring about a necessary restructuring of the state, market and
society? Schecter, a British political scientist, argues for the latter by bringing the work of the first
generation of the Frankfurt School to bear on current issues whilst at the same time considering
how these ideas might need to be reformulated to account for current time. The author argues for
using multidisciplinary research approaches to realise a return to the political powerhouse that
critical theory offered before the linguistic turn to communicative action. In doing so, Schecter
not only gives the reader a smart and comprehensive introduction to the tradition of Critical
Theory but also develops insights into the current relations between dialectics, mediation, functional stratifications and differentiations of societies in the 21st Century.
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Michael Winkler
Alltagsverstand, politische Bildung und Soziale Arbeit
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Uwe, über: Hirschfeld: Beiträge zur politischen Theorie Sozialer Arbeit. Werkstatt-Texte 05.
Hamburg 2015 a: Argument Verlag. Kt. 263 Seiten, 9,90€
Uwe, über: Hirschfeld: Notizen zu Alltagsverstand, politischer Bildung und Utopie. WerkstattTexte 06. Hamburg 2015 b: Argument-Verlag. Kt. 243 Seiten, 9,90€
Wer auf den Webseiten der Evangelischen Hochschule in Dresden nach Uwe Hirschfeld sucht
(der dort politische Wissenschaften und auch soziologische Theorie in der Ausbildung für die
Soziale Arbeit lehrt), macht eine etwas irritierende Erfahrung. Hirschfeld stellt sich nämlich mit
einer seltsamen Aufnahme vor, die die Züge des Abgebildeten nur ahnen lässt. Unscharf, verfahren, in der Bewegung festgehalten, nicht festgelegt jedenfalls, in dunklem Braunton und zugleich
doch beleuchtet, wirkt das Bild ein wenig mystisch und magisch, fast spirituell. Fast ein wenig
mittelalterlich, jedenfalls schon vor der Aufklärung entstanden, erst recht weit vor aller Moderne.
All das überrascht ein wenig, vom ästhetischen Reiz der Aufnahme mal ganz abgesehen. Sie
passt nicht so recht zu dem, was und wie Uwe Hirschfeld schreibt; vielleicht setzt sie einen Kontrapunkt, aber so recht weiß man das nicht. Und dennoch wird sie ihm auf eine fast paradoxe
Weise gerecht, zuerst übrigens seiner – im gute Sinne – bescheiden und zurückhaltend wirkenden
Schreibweise: Hirschfeld tritt in seinen Büchern gerne hinter die Überlegungen zurück, die er
vorträgt, er präsentiert sie unprätentiös, ihm fehlt wohl jegliche Eitelkeit, der man selbst bei
wissenschaftlichen Autoren (oder erst bei diesen) eher häufig begegnet.
I.
Im Widerspruch steht die Aufnahme jedenfalls vor allem zu den beiden Büchern, die Hirschfeld
im vergangenen Jahr in der Reihe der »Werkstatt-Texte« des Hamburger Argument-Verlags
vorgelegt hat, den Band »Beiträge zur politischen Theorie Sozialer Arbeit« sowie diesem folgend
die »Notizen zu Alltagsverstand, politischer Bildung und Utopie«. Im Widerspruch deshalb, weil
diese ganz und gar nicht unklar oder undeutlich ausgefallen sind, sondern im Gegenteil sehr präzise und in einer Weise argumentieren, die als kritische Aufklärung und als Beiträge zu einer – in
einem gute Sinne des Ausdrucks – politisch ambitionierten Bildungstheorie verstanden werden
dürfen und müssen. Nur in einem entsprechen sie dann doch der Eigenpräsentation Hirschfelds:
Hirschfeld versteht seine Überlegungen selbst als solche im Prozess einer politischen Bildung,
die eine gemeinsame Praxis sein will – in diesem Fall des Autors und seiner Leserinnen und
Leser. Er hält sich fern von aller Dogmatik des besser Wissenden, um das Selbstdenken und die
Arbeit am eigenen Bildungsprozess zu ermöglichen – und selbst hier taugt die Formulierung
nur bedingt, weil sie doch noch zu autoritativ klingt und daher dem kollektiven, solidarischen
Charakter solcher Bildungsprozesse nicht gerecht wird.
Beide Bände gehören jedenfalls zusammen. Der eine bereitet mit Einzelstudien vor, was
der andere dann doch systematisch und umfassend entwickelt und darstellt: Die »Beiträge zur
politischen Theorie Sozialer Arbeit«, entstanden aus einer Reihe von Aufsätzen und Vorträgen, sondieren das Feld, auf dem sich Hirschfeld mit seinen Überlegungen bewegt, markieren
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Dimensionen und Perspektiven; sie greifen übrigens den einen oder anderen Autoren auf – so
etwa Dankwart Danckwerts –, die inzwischen zu Unrecht vergessen sind, obwohl sie Wichtiges
zur Debatte beigetragen haben. (Nebenbei: es gehört zu den Seltsamkeiten letztlich aller Sozialwissenschaft, vor allem jedoch der mit Sozialer Arbeit befassten Disziplinen, Debatten einfach
aufzugeben, ohne sie wirklich zu Ende zu führen – sofern das überhaupt möglich ist; so wurde
etwa die Kritische Theorie gleichsam abgelegt und vergessen, obwohl ihr Leistungspotential
längst nicht ausgeschöpft war.)
Grundsätzlich geht es Hirschfeld nun um das Verhältnis, das die Soziale Arbeit zur Kultur
hat, weil ihm dieses als ihr eigentlich politisches Zentrum gilt. Er ignoriert damit keineswegs die
Aufgabe, Bedingungen und Verhältnisse in einer Weise zu gestalten, die dann als gerecht oder
als solche der Gleichheit begriffen werden kann; ebenso wenig übersieht er, dass und wie gesellschaftliche, politisch-ökonomische Strukturen der Macht und Herrschaft die Problemlagen und
das Handlungsfeld der Sozialen Arbeit gleichsam figurieren. Im Gegenteil: Hirschfeld situiert
die Debatte um Soziale Arbeit sehr wohl im Kontext der Veränderungen, die meist mit dem
Begriff des Neoliberalismus verbunden werden: »Die de-regulierenden Umbrüche sind noch
in vollem Gange und es zeichnet sich noch nicht klar erkennbar ab, welche neuen Strukturen
und Organisationen entstehen (können)« (Hirschfeld, 2015a: 162). Aber er insistiert zum einen
darauf, dass das Kulturelle im Widerspruch zum Ideologischen steht und dieses doch ergänzt (cf.
Hirschfeld, 2015 a: 170), deshalb eben nicht vernachlässigt werden darf; im Gegenteil komme
es sehr wohl auf eine sozialistische Politik des Kulturellen an, die sich in die Kämpfe einmischt
– wie, um das zu ergänzen, versteckt und verborgen, verstellt und vergessen diese vollzogen
werden (wobei es sicher kein Zufall ist, dass und wenn Hirschfeld gerne und regelmäßig an die
cultural studies erinnert, die auf die ganz eigenartige Ausprägung von Klassenbewusstsein und
–kämpfen im Medienzeitalter erinnert haben und durch die große Studie von Mike Savage u.a.
eben wieder als Klassenauseinandersetzung deutlich gemacht worden sind). Zum anderen lässt
sich Soziale Arbeit als politische eben nicht von den Auseinandersetzungen mit den doch immer
kulturell auftretenden materiellen Erscheinungsformen trennen, die aufgeklärt und verstanden
werden müssen, wenn und sofern die Subjekte sie selbst und zugleich doch auch sich verändern
wollen – was sie tun müssen, wenn und sofern sie nicht den sozial erzeugten Habitus dauerhaft
reproduzieren wollen.
So lässt sich Soziale Arbeit für Hirschfeld nur im Kontext einer Analyse fassen, welche die
beteiligten Akteure als Intellektuelle begreift, die als solche ein politisches Mandat wahrnehmen,
auch um zu bewältigen, was er in schöner Mehrdeutigkeit als »Die kompetente Katastrophe des
Kapitalismus« bezeichnet; so hat er zumindest den zentralen Beitrag des Bandes überschrieben.
Er knüpft an Adorno wie an Heydorn an, um einen Begriff kritischer Bildung zu entfalten, der
daran erinnert, dass »Bildung als die Entfaltung der Möglichkeiten der Menschheit (Gattungspotenz) im und durch das Individuum« zu fassen ist (Hirschfeld, 2015 a: 175 f.); Bildung des
Menschen verweist aber auf beides, auf Reflexion und auf die gemeinsame positive Gestaltung
der Lebensumstände. Man könnte auch anders formulieren: Auf soziale Arbeit als eine Praxis,
die dann und darin politisch wird, weil und wenn sie nicht bloß als professionelle Tätigkeit Menschen adressiert und objektiviert, sondern eben in einem präzisen Sinne soziale Praxis, nämlich
kollektive Tätigkeit an den Verhältnissen ist. Eben das aber tritt in den neuen Debatten, allzumal
in jenen vorgeblich an Bildung interessierten um Kompetenz in den Hintergrund, wenn es nicht
ganz verschwiegen wird – und ein wenig schärfer als Hirschfeld selbst muss man wohl sagen,
dass dieses Verschweigen längst zum Geschäft sowohl des Bildungssystems wie aber sogar der
Sozialen Arbeit geworden ist, die sich einer politischen Bildung doch schon verweigert.
In nahezu allen »Beiträgen« klingen nun zumindest Verweise auf Antonio Gramsci an, der
letzte Aufsatz gilt ausdrücklich diesem und greift den Zusammenhang zwischen seinem Leben
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und Werk auf, mit der durchaus berührenden Einsicht übrigens, dass »Armut, Krankheit und
Leid als zentrale Erfahrungen« dieser eine besondere Sensibilität gegeben haben, nicht nur um
soziale Verhältnisse in ihren kulturellen Bedeutungen zu begreifen, sondern vor allem auch, um
gerade in den fragmentarisch gebliebenen Texten ein politisches Denken zu ermöglichen, das
ermächtigend wirken konnte oder hätte wirken können; es gibt schließlich allen Anlass zu der
Vermutung, dass am Ende wenigstens auch den dem Kasernenkommunismus verpflichteten
Linken Gramsci und die Offenheit seines Denkens ziemlich suspekt erschienen.
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Rezensionsaufsätze
II.
Wie auch immer: Von diesem letzten Aufsatz in den »Beiträgen« ergibt sich ein direkter Übergang
zu den »Notizen zu Alltagsverstand, politischer Bildung und Utopie«. Wieder ist ein Widerspruch
zu konstatieren, diesmal der zwischen der Formulierung von den »Notizen«, die man doch fast
ein wenig als kokett empfinden möchte, hin zu dem dann doch systematisch durchkomponierten
Buch. Hirschfeld leistet nicht nur einen bemerkenswerten Beitrag zur Debatte Gramscis, die ja
doch eher marginal geführt worden ist, allzumal im Blick auf Bildung; zu erinnern ist besonders
an die Bücher von Manacorda (der erstaunlicherweise auch im Literaturverzeichnis fehlt) und
Armin Bernhard. Dabei liegt eine besondere Leistung des Buches von Hirschfeld darin, dass
er Gramscis Einsichten nicht mehr solitär oder gar erratisch aufnimmt, sondern in einen von
ihm umfassend entfalteten Erkenntnis- und Denkzusammenhang einbettet, den er durch den
Fokus auf politische Bildung konstituiert. Gramsci gewinnt damit als – wenn man so will – realwissenschaftlich ausgerichteter Theoretiker ein Gewicht, das ihm in der Auseinandersetzung
bislang noch nicht zugestanden wurde, weil man ihn dann doch geradezu als Aphoristiker lesen
und vielleicht sogar immunisieren hat wollen. Auf diesem Weg gelingt es Hirschfeld, zumindest
einen der zentralen Gedankenbögen zu rekonstruieren, die dem Werk Antonio Gramscis dann
doch eine innere Einheit geben. Dieser Gedankenbogen lässt sich auf der einen Seite durch das
Interesse am Alltagsverstand bestimmen, auf der anderen Seite eben durch den Pol der Utopie,
die nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet ist, dass sie die Zerrissenheit des alltäglichen Denkens
überwindet, ohne jedoch in falsche, scheinhafte Kohärenz aufzugehen. Zwischen diesen beiden
Polen entfaltet sich eine stets zeitlich gebundene Praxis der politischen Bildung, die aber ihrerseits doch selbst offen, in gewisser Weise theoretisch unentschieden bleiben muss; es gibt keine
Theorie, welche dann latent oder subtil den Subjekten normative Vorgaben machen könnte.
Dem entspricht die Gliederung des Buches, die sich einer dialektischen Synthese verweigert:
Den ersten Teil hat Hirschfeld mit »Begriff und Bedeutung des Alltagsverstandes bei Antonio
Gramsci« überschrieben und als sorgfältige Interpretation der einschlägigen Passagen insbesondere der »Gefängnishefte« angelegt, zum Schluss in deutlicher Abgrenzung gegenüber
trivialisierenden und (was inzwischen wohl keinen Unterschied mehr ausmacht) psychologischen Begriffen von Alltagsverstand. Dieser erste Teil, dient mit seinen knapp siebzig Seiten
als Grundlegung. Auf ihn baut der zweite Teil auf, überschrieben mit »Politische Bildung«, der
seinerseits in drei Abschnitte gegliedert ist. Verhandelt werden zunächst die »Intellektuellen in
der Bildungsarbeit«, zunächst im vielfach strukturell und prozessual ausdifferenzierten Spannungsverhältnis von Individuum und Subjekt, sowie als Organisatoren des »Zusammenhangs und
des Selbstverständnisses«, mit einem Ausblick übrigens auch auf das in der Debatte um Bildung
meist ausgeblendete Verhältnis von Fühlen und Wissen. Ein zweiter Abschnitt ist eher didaktisch
angelegt, auch wenn er mit »das mäeutische Moment in der politischen Bildung« überschrieben
ist; er verhandelt Themen und Gegenstände, dann vor allem jedoch die für politische Bildung
maßgebenden Problemkreise; ein Begriff, mit dem sich Hirschfeld absetzt von der Vorstellung
der Anlässe. Er geht dann über zu methodischen Fragen, dann vor allem zu einer konzeptionell-
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begrifflichen Entdeckung, die sich einigermaßen unvermeidlich aus der Grundeinsicht ergibt,
den Prozess politischer Bildung als den kollektiver Praxis verstehen zu wollen: Hirschfeld fasst
die Akteure mit dem Kunstwort von den »Lehrnenden«, die sich in einer gemeinsamen, parteilichen und solidarischen Erkenntnis- und Veränderungsarbeit ihrer Welt vergewissern, durchaus
als einer alltäglichen Lebenswelt, die aber doch in ihrer Veränderung, eben utopisch begriffen
und gestaltet wird, mithin selbst ästhetisch präsentiert und dokumentiert wird. Gegenüber dem
zerrissenen Alltagsverstand bildet sich so der Zusammenhang in einem Prozess des Verstehens
und Handelns aus.
Hirschfeld macht dabei auf die Schwierigkeit aufmerksam, die sich zunächst schon daraus ergibt,
dass der Alltagsverstand im Kern pragmatisch denkt und auf Lebensbewältigung ausgerichtet
ist; es lässt sich schlecht an ihm anknüpfen, weil ihm das Moment des Utopischen fehlt, das
Transzendenz ermöglichen würde. Der Alltagsverstand ist brüchig, widersprüchlich, in gewisser
Weise aber doch von sich selbst überzeugt, weil er damit zu tun hat, dass sich Menschen in ihrem
Leben behaupten müssen und auch wollen. Darin liegt der Grund, dass er sich dann doch einer
kritischen Selbstreflexion entzieht und insofern zur passiven Vergesellschaftung beiträgt (Hirschfeld, 2015b: 29). Er ist insofern affirmativ. Aber: im Unterschied zu vielen, ideologiekritischen
Ansätzen des politisch linken Denkens weist Gramsci nun darauf hin, dass die nicht hegemonial
agierenden »Subalternen« zwar weder kritisch noch kohärent denken, wohl aber spontan, vor
allem jedoch gebunden an eine kollektive Praxis, die mit solidarischer Vergesellschaftung einhergeht (vgl. Hirschfeld 2015b: 45). Im Grunde könnte man hier die in der Theoriedebatte der
Sozialen Arbeit einigermaßen diskriminierte und so um ihren Ertrag gebrachte Differenz von
Gemeinschaft und Gesellschaft anschließen, die aber doch insofern erweitert und überwunden
wird, als sie in einem Vorgang politischer Bildung auf eine fast paradoxe Weise als Einheit in
praktischer Veränderung zugänglich und erfahren wird. Hier trägt politische Bildung als Akt der
Subjektivität dazu bei, einen Zustand in der conditio humana zu überwinden, den Hirschfeld mit
der schönen Formulierung fasst, nach welcher der Mensch dann doch eine bizarre Konstruktion
sei (Hirschfeld, 2015b: 92).
Das macht auf eine Provokation aufmerksam, die bei Gramsci angelegt und von Hirschfeld
aufgegriffen wird. Gramsci hat sich der anthropologischen Dimension des politischen Denkens
nicht verweigert, ohne einer substanzontologischen Vorstellung vom menschlichen Sein zu verfallen. Die menschliche Existenz war historisch und gesellschaftlich bestimmt, immer als eine
praktische zu fassen, dennoch nicht zu hintergehen, weil sie den Grund des emanzipatorischen
Prozesses und somit auch einer politischen Bildung ausmacht. Diese anthropologische Perspektive ist deshalb so wichtig, weil eine Praxis der politischen Bildung nur in ihr und mit ihr einem
Dilemma zu entgehen vermag, dem insbesondere wohl die jüngeren Sozialwissenschaften erlegen
sind, welche an die Soziologie anknüpfen. Soziologisches Denken tendiert zum Positivismus, weil
es in seiner Sozialisationstheorie zwar soziale Bestimmung rekonstruieren, nicht jedoch aufzeigen
kann, wo die Möglichkeit einer kritischen Praxis – theoretisch wie denn auch im realen Handeln
- begründet werden kann. Genau diese Möglichkeit greift Hirschfeld auf, wenn er die Methodik
politischer Bildung als die einer Herstellung von Distanz fasst (Hirschfeld, 2015b: 132), die den
»Lehrnenden« doch schon im Alltagsverstand möglich ist. Kritik und Selbstkritik legen sie frei.
Hirschfeld ist mit seinen »Notizen zu Alltagsverstand, politischer Bildung und Utopie« ein
bemerkenswertes Buch gelungen, das – nicht zuletzt aufgrund seines niedlichen, ein wenig an
die Reclam-Bände erinnernden Formats – zu einem Begleiter im Alltag werden kann. Das Buch
legt eine aufregende Interpretation und Rekonstruktion des Denkens von Antonio Gramsci vor,
die allzumal in der Thematisierung des Begriffs Alltagsverstand einen grundlegenden Beitrag
zum Verständnis seiner Theorie leistet; ohne die Offenheit Gramscis zu zerstören, wird eine doch
maßgebende Linie seines Denkens sichtbar und so wohl erstmals festgehalten. Hirschfeld hat
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zugleich eine Theorie der politischen Bildung verfasst, die an die Tradition kritischer Theorie
realistisch anknüpft und auf eine durchaus optimistisch stimmende Weise die Möglichkeiten einer
kollektiven Praxis der – wie er sie nun nennt – »Lehrnenden« entfaltet. Er hat damit einen – wie
mir scheint – wichtigen und bedeutsamen Beitrag für die Auseinandersetzung um Theorie und
Praxis politischer Bildung vorgelegt, der dazu beitragen könnte, die – zumindest für den Außenstehenden - eher depressiv-realistischen Tendenzen in dieser zu überwinden. Endlich und vor
allem aber hat Hirschfeld mit beiden Bänden der Debatte um Soziale Arbeit einen überzeugenden
und vor allem energischen Impuls gegeben, sich nicht nur ihrer kritischen Tradition zu besinnen,
sondern vor allem ihr eigenes kritisch-emanzipatorisches Potenzial wieder aufzunehmen und
geltend zu machen; das geschieht in Verbindung mit der Entfaltung einer elaborierten pädagogischen Theorie der Bildung. Sie tut ja wirklich not, gegenüber all dem staatstragenden und
gesellschaftlich affirmativen Realismus insbesondere in der sozialwirtschaftlich ausgerichteten
Sozialen Arbeit an ihre Aufgabe politischer Aufklärung – übrigens aller Beteiligten – zu erinnern.
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Rezensionsaufsätze
Abstract
Uwe Hirschfeld can be valued as an outstanding scholar dealing with the works of Italian
Marxist Antonio Gramsci. In the year 2015 Hirschfeld published two books, based on a critical
discussion of Gramsci’s theory. Both are concerned with the relation between culture and social
work. One is directed to the political thinking in Social work as a profession. In the other book
he discusses with a more philosophical intention Gramsci’s concept of the daily rationality and
understanding, political education and utopia. While the first book is of high importance for the
debates on politics and social work, the book with the »notes on daily understanding« is one of
the best analyses of Gramsci’s thinking published in the last years.
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György Széll
Gesellschaftstheorie heute
Über: Gerard Delanty und Stephen P. Turner (Hrsg.), Routledge International Handbook of
Contemporary Social and Political Theory. London & New York: Routledge 2014, 2. Auflage.
S. 510, 65,95 US$
Dieser Sammelband ist die Paperback-Ausgabe eines zuerst 2011 als gebundene Ausgabe erschienenen Buches. Der Titel ist anspruchsvoll und scheint auf den ersten Blick auch diesem
Anspruch zu genügen: In drei Teilen und 42 Kapiteln wird ein breites Spektrum heutiger Themen
und Debatten ausgebreitet. Dabei ist es wahrscheinlich nicht überraschend, dass in Hinblick auf
die avisierte englischsprachige Leserschaft 32 der 47 Beiträger angelsächsisch sind. Dieser Bias
findet sich auch in den Literaturhinweisen wieder:
Es handelt sich fast ausschließlich um englischsprachige – mit Ausnahme der für Lateinamerika,
bzw. bei Basaure (2), Wilkinson (2) und Harrington. Dieser Bias ist sicherlich nachvollziehbar,
da der gesamte Band ja auf Englisch verfasst ist und daher auch – sofern vorhanden – die diesbezüglichen Übersetzungen zitiert werden.
Die beiden Herausgeber, Gerard Delanty und Stephen P. Turner, sind bereits in der Vergangenheit durch zahlreiche Veröffentlichungen zur Thematik hervor getreten. Gerard Delanty ist
Professor für Soziologie sowie soziales und politisches Denken an der Universität Sussex. Stephen P. Turner hält eine Forschungsprofessur für Philosophie an der Universität von Südflorida.
Nach der ausführlichen Einleitung der beiden Herausgeber folgt Teil 1, der mit ›Lebendige
Traditionen‹ betitelt ist und erfreulicherweise mit dem Marxistischen Vermächtnis von Peter
Beilharz anfängt. Jedoch wird leider dieses marxistisches Vermächtnis auf die Frankfurter Schule
reduziert, die wiederum mehr Hegel als Marx verpflichtet ist. Es geht weiter in einem gewissen
Potpourri, wobei nicht immer klar ist, nach welchen Kriterien die Auswahl erfolgt. Es erscheint
hier – wie häufig bei Sammelbänden – eher die persönliche Bekanntschaft als eine stringente,
kohärente Auswahl vorzuherrschen. So setzen sich in den folgenden Kapiteln Gary Wickham mit
Michel Foucault, Thomas Docherty mit den Poststrukturalisten, Yannis Stavrakanis mit Lacan
und Marcel Fournier mit Pierre Bourdieu auseinander. Natalie J. Doyle gibt einen Überblick
über die gesamte französische Philosophie und Mauro Basaure widmet sich Axel Honneth als
Kontinuität und Bruch mit der Frankfurter Schule.
Interessanterweise haben die französischsprachige Autoren – über Ernesto Laclau und Chantal
Mouffe – heute einen erheblichen Einfluss auf die neuen sozialen und politischen Bewegungen,
insbesondere in Spanien (Podemos) und Griechenland (Syriza), ohne dass dies von den Autoren
beim Verfassen ihrer Beiträge 2010 so vorher gesehen wurde.
Die folgenden Kapitel widmen sich der amerikanischen Tradition. Jeremy Shearmur behandelt die politische Philosophie vor John Rawls, Charles Blattberg den Liberalismus nach dem
Kommunitarismus, Richard Bellamy den Republikanismus, Robert B. Talisse den Pragmatismus, James Bohman den methodologischen und politischen Pluralismus, Patricia Hill Collins
die kritische Rassentheorie, Clare Colebrook feministische Sozial- und politische Theorie, José
Maurício Domingues und Aurea Mota Lateinamerika und schließlich Patrick Baert und Joel
Isaac die Intellektuellen.
Der zweite Teil ist den neuen und entstehenden Rahmenbedingungen gewidmet. Dabei geht
es Stewart Clegg um Macht, Legitimität und deren Rahmenbedingungen, Peter Wagner um
Modernität, Karen S. Cook sowie Brian D. Cook um soziales und politisches Vertrauen, Timothy
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W. Luke um Umwelt und Risiko, Amelia Arsenault um Netzwerke, Moya Lloyd um linguistische
Performativität bzw. soziale Performanz, Steven Grosby um Nationalismus, Krishnan Kumar um
Imperium und Imperialismus, Fuyuki Kurasawa um Kosmopolitismus, Bryan Kaldi um Natur
und Gesellschaft, Piet Strydom um kognitive und metakognitive Dimension von Sozial- und
politischer Theorie, John G. Gunnell um kognitive Neurowissenschaften, Elena Ruiz-Aho um
feministisches Grenzdenken und schließlich Guanjun Wu um gegenwärtiges chinesisches soziales
und politisches Denken.
Der letzte Teil dreht sich um neue Probleme. Saskia Sassen behandelt die Grenzen von Macht
und Komplexität von Machtlosigkeit am Beispiel der Immigration, Sheila Nair Souveränität,
Sicherheit und die Ausnahme am Beispiel des postkolonialen homo sacer, Georg Sørensen die
Zukunft des Staates, Paul Blokker den modernen Konstitutionalismus und die Herausforderung des komplexen Pluralismus, Erik O. Eriksen reflexive Integration, Donatella della Porta
und Raffaele Marchetti transnationalen Aktivismus und die globale Gerechtigkeitsbewegung,
Thomas Faist die transnationale soziale Frage, Meyda Ye eno lu Gastfreundschaft, Rechte und
Wanderschaft, Iain Wilkinson soziales Leiden und die neue Politik der Sentimentalität, Adam
Arvidson neue Formen der Werteproduktion, Daniel Levy die Erinnerungspraxis und -theorie
in Zeiten der Globalisierung und schließlich Austin Harrington die post-säkulare Gesellschaft.
Offensichtlich bietet der Band ein breites Spektrum. Dieses wird eingangs wie folgt vorgestellt:
Die meisten Theorien seien bisher an der Vergangenheit und disziplinär orientiert gewesen. Es
bedürfe aber neuer, interdisziplinärer Theorien, um die neuen Probleme zu erkennen und ihre
Ursachen zu erklären (S. 3). Eines der Hauptprobleme für die heutigen Sozial- und politischen
Theorien sei der Gegensatz zwischen Sozialdemokratie und Liberalismus im Zusammenhang
mit dem Wohlfahrtsstaat (S. 7). Dabei wird insbesondere einerseits auf die »französische« andererseits auf die »deutsche« Kritik eingegangen (S. 9). Zudem werden die folgenden neuen und
entstehenden Rahmenbedingungen thematisiert: Pluralität, Kontingenz, Relationalismus und
Transformation (S. 17). Ein Ergebnis der Transformationen durch Globalisierung sei, dass der
Nationalstaat keineswegs abgeschafft wurde, aber sich verändert habe (S. 25). In der Einleitung
kommen die beiden Herausgeber zu folgender Schlussfolgerung:
»Liberalism and the socialist Left, as well as European Conservatism and Fascism, presented
simplified but compelling images of society which were integrated into the subjectivity and
self-reflective activity of the people whose activity created their politics and society. The modern
welfare state struck a balance between the claims produced under these images, to justice, freedom,
and stability. Contemporary social, political, and cultural theory is not so much a continuation
of this project as the continuation of the reflective activity of people who experience modern
society. As with past social theory, this reflection is aided and stimulated by social movements and
counter movements. But for the most part it is not concerned with inventing new simplifications
or claiming external authority – from God, Science, or Reason itself – for new simplifications.
Instead it is focused on the problem of understanding what is, and what is not comprehensible
in terms of these past images.« (S. 29)
In Bezug auf das Marxsche Erbe stellt Peter Beilharz eingangs zutreffend fest, dass die Entwicklung der letzten Jahrzehnte einerseits die Marxsche Theorie voll bestätigt habe, insofern alle
zu Marxisten geworden seien, andererseits gleichzeitig Marx – insbesondere an den Hochschulen
– marginalisiert wurde (S. 33). Er sieht die Tragik des Marxschen Erbes darin, dass die meisten
Marxisten Marx zumeist nie richtig gelesen, geschweige denn verstanden hätten. Dies betreffe
zuvörderst die Hauptprotagonisten, von Engels angefangen über Kautsky, Lenin und Stalin – und
ich würde hinzufügen Mao Dze Dong. Die Komplexität der Marxschen Theorie wurde dabei
simplifiziert und zum Marxismus-Leninismus reduziert. (S. 40) Nun blieben die Postmarxisten
übrig (S. 41). Beilharz kommt zum Schluss, dass Marx sowohl Sohn der Aufklärung als auch der
Romantik gewesen sei. Beilharz meint gar, er sei ein Träumer gewesen. Insofern sieht Beilharz
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als Marx’ Vermächtnis in Anlehnung an Ernst Bloch einen ›warmen Strom des Marxismus‹, der
uns zu den Wurzeln der Modernität zurück führe (S. 43).
Gary Wickhams Darstellung von Foucault scheint mir demgegenüber widersprüchlicher geraten zu sein. Er zitiert ihn in Bezug auf die Entstehung von Macht als von unten entstehend
mit unzähligen Ausgangspunkten (S. 47). Hier wird der Mangel an dialektischem Denken bei
Foucault deutlich: Mit einem solchen Ansatz kann man Machtkonzentration und Konflikte nicht
erklären. Auch Stavrakakis’ Lacansche Theoriepräsentation führt uns m.E. nicht weiter. Die
Behauptung, dass Lacan das ›Konsum-Paradox‹ entdeckt habe, ist so nicht aufrecht zu erhalten
(S. 74). Bekanntlich gibt es den Hedonismus, d.h. den Zwang zum Vergnügen, seit der Antike.
Bei Marcel Fourniers Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieu scheint mir die moderne
Sozialtheorie demgegenüber substantieller. Bourdieu verbinde Aktions-, Gesellschafts- und
soziologische Wissenstheorie und stehe daher auf einer Stufe mit Durkheim, Marx, (Max) Weber
oder Parsons (S. 77). Ob diese Annahme Bestand haben wird, ist noch offen. Zumindest ist er
nach verschiedenen Rankings der meist zitierte soziologische Autor der letzten Jahre (Caren,
2012; Pereira, 2013). Der Beitrag von Natalie J. Doyle in Hinblick auf die Wiedergeburt der
französischen politischen Philosophie ist durchaus lesenswert, indem sie jeweils Autoren wie
Cornelius Castoriadis und Claude Lefort, Pierre Manent und Marcel Gauchet in Bezug auf
Demokratie, Autonomie, Historizität, den Nationalstaat und Liberalismus gegenüberstellt. Eine
kritische Anmerkung muss jedoch im Kontext mit der Darstellung von Tocquevilles Analyse der
USA gemacht werden: Die Annahme, dass die USA keine prädemokratische Geschichte habe
(S. 95), kann so nicht stehen gelassen werden. Da es sich im Wesentlichen um eine Einwanderernation und lange Zeit zudem um eine Kolonie handelte, gab es durchaus eine prädemokratische
Geschichte – größtenteils importiert. Sie kommt zum Ergebnis, dass angesichts der weltweiten
Krisen insbesondere Pierre Rosanvallons Ansatz einer Weltdemokratie für die weiteren Debatten
fruchtbringend sei.
Überraschend zumindest für deutsche Leser ist, dass Axel Honneth ein eigener Beitrag gewidmet
ist, der seine Kontinuität und seinen Bruch mit der Frankfurter Schule zum Gegenstand hat.
›Anerkennung‹ als fundamentaler sozialer Mechanismus sei sein Hauptbeitrag zur Sozialtheorie
(S. 99). Das ist nun m.E. nicht besonders originell. Jeremy Shearmurs Lehren aus der politischen
Philosophie des 20. Jahrhunderts vor Rawls konzentriert sich auf Hayek und Popper, weil er am
leichtesten über diese beiden schreiben könne. (S. 111) Ein etwas seltsames Auswahlkriterium.
Die Annahme beider, dass es sich nicht mehr lohne, sich mit anti-humanitären Positionen
auseinander zu setzen (S. 112), ist leider heute angesichts von Fundamentalismen, aber auch
damals angesichts von Faschismus und Stalinismus nicht aufrecht zu erhalten. Interessanterweise
kommt der Autor zu der Überzeugung, dass die Marxsche Tradition – um ihren teleologischen
Optimismus reduziert – im heutigen Kontext weiterführender sei als die Wiener Schule des
kritischen Rationalismus (S. 118).
Richard Bellamy zeichnet ein sehr positives Bild der Europäischen Union als erfolgreichstes
Modell der Verbindung von Freiheit und Regulierung (S. 137). Dieser Beitrag wurde aber verfasst,
bevor die Auswirkungen der Finanzkrise (Griechenland, Banken) sowie die derzeitige Flüchtlingskrise voll sichtbar wurden. Nichtsdestotrotz kann man zu Recht die Position vertreten, dass
es ohne diese Konstruktion der EU und ihrer Rettungsschirme alles noch viel schlimmer wäre.
Robert B. Talisse erörtert den Pragmatismus als politische Theorie, die nach Dewey ›Demokratie als Lebensweise‹ definiert (S. 139). Diese Lebensweise verwirkliche sich durch vernünftige,
ständige, direkte Kommunikation (S. 140). Nach Richard Rorty sei die Aufgabe der politischen
Philosophie, ›soziale Hoffnung‹ und ›nationalen Stolz‹ zu geben (S. 141). Das Letztere sollte
angesichts durch Nationalismus angezettelten, unzähligen Kriegen gründlich hinterfragt werden.
James Bohman behauptet, dass Habermas vielleicht der Erste gewesen sei, der die vollen Implikationen von methodologischem und theoretischem Pluralismus in den Sozialwissenschaften
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erkannt habe (S. 151). Und er fragt, ob es einen Ausweg aus dem epistemischen Dilemma des
Pluralismus gäbe (S. 157). Die Antwort ist: kritische Sozialtheorie (S. 158). Aber welche? Patricia
Hill Collins propagiert eine kritische gegenüber einer traditionellen Rassentheorie. Dabei stellt
sich mir die Frage: Wenn es keine menschlichen Rassen gibt – Stand der Forschung, wie kann
man dann eine kritische Rassentheorie vertreten? Sollte man dann nicht zumindest ›Rasse‹ in
Anführungszeichen setzen?
Auch der Feminismus kommt nicht zu kurz. Clare Colebrook vertritt den Ansatz, dass feministische Sozial- und politische Theorie interessengeleitet sei (S. 177). Leider ist die gesamte
Darstellung weit unterkomplex (Morin 2008) und setzt sich nicht hinreichend mit kritischen
Positionen auseinander. Der Artikel von Domingues und Mota über Lateinamerika hat den
Vorteil, dass weitgehend unbekannte Autoren wie Dussel und Unger vorgestellt werden. Dussels
Beitrag zur Befreiungsethik ist die Betonung der Exteriotität als notwendiges Element. Demgegenüber begründete Unger die Bewegung der kritischen Rechtswissenschaften. Dabei setzt er
seine Hoffnung anstatt auf das Proletariat auf die Kleinbürger und die große Masse der zumeist
unorganisierten Arbeitnehmer. Dabei übersehen Unger und die Autoren, dass genau diese Gesellschaftsschichten die Träger von Faschismus sind und waren (Franke, 1988).
Stewart Clegg behauptet, dass jede soziologische Diskussion zu Macht, Legitimität und Autorität mit Max Weber beginnen müsse (S. 215). Müssten wir nicht viel weiter zurück gehen: in die
griechische Antike, zu Macchiavelli, Hegel ...? Karen S. Cook und Brian D. Cook beschäftigen
sich mit einem der gesellschaftlichen Grundbegriffe, i.e. soziales und politisches Vertrauen. Sie
setzen mit international vergleichenden Studien wie die von Francis Fukuyama an, vernachlässigen aber vollständig die wichtigen Beiträge von Geert Hofstede und anderen zu dem Thema.
Auch die Zuordnung des Begriffs ›Sozialkapital‹ zu Robert Putnam greift zu kurz (S. 237). Bereits
10 Jahre zuvor hat Pierre Bourdieu den Begriff verwendet, ganz zu schweigen von Jane Jacobs
(1961), Glenn C. Loury (1977) oder James S. Coleman (1987). Weiterhin kritisch anzumerken
ist, dass die Rolle des Rechts, der Religion sowie zeitlicher Entwicklungen nicht berücksichtigt
ist. Zudem fehlt jegliche theoretische Fundierung. Und ob man wirklich soziales und politisches
Vertrauen strikt von einander trennen kann (S. 245), ist kaum nachvollziehbar. Aber kann man
von Vertrauen reden, ohne den Hass zu erwähnen?
Timothy W. Luke stützt sich in seinem Beitrag zu Umwelt und Risiko insbesondere auf Beck,
Foucault und Sunstein, vergisst aber vollkommen die Arbeiten des International Panel on Climate
Change (IPCC, 2013-2014) sowie die systematische Diskreditierung der Wissenschaft durch die
Energielobby. Proctor und Schiebinger kennzeichnen diese Politik als ›Agnotologie‹ (2008).
Amelie Arsenault liefert eine gute Zusammenfassung der Arbeiten von Manuel Castells zur
Netzwerkgesellschaft, an denen sie selber teilweise beteiligt war. Die Akteurs-Netzwerk-Theorie
(ATN), die sich auf die Arbeiten von Bruno Latour bezieht, wird in Bezug zum Leviathan gesetzt
und stellt damit die Machtfrage. Die Netzwerkanalyse geht als breiter Ansatz nach ihrer Meinung über die bisherigen Theorie und Methoden hinaus. Netzwerkkriege und Netzwerkeffekte
sind Phänomene, die die ganze Gesellschaft direkt bzw. indirekt beträfen (S. 266). Die bisherige
Netzwerktheorie werde schlussendlich in ihrer Entwicklung durch eine ungenügende empirische
Basis sowie disziplinäre Beschränkungen behindert (S. 268).
Im Beitrag zu Nationalismus und Sozialtheorie geht Steven Grosby mit der bisherigen Forschung hart ins Gericht, indem er sie als theoretisch primitiv charakterisiert (S. 280). Er fordert
stattdessen ein, dass Sozial- und politische Theoretiker mehr Aufmerksamkeit dem menschlichen
Verhalten schenken sollten. Um Nationalität zu konstituieren, gäbe es zwei Ursprünge. Dabei
seien sowohl ›territoriale‹ als auch Blutsverwandtschaft wichtig, die aber durch die Dichotomie
zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft verwischt worden wären. Der deutsche Begriff der
Heimat – unübersetzbar – leistet wohl diese Funktion der territorialen Verwandtschaft. Die
Paradoxien menschlicher Existenz prägten sich sowohl in der Nationalität aber auch in der Kultur
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aus. Fuyuki Kurasawa widmet sich dem Kosmopolitismus und erkennt ebenfalls eine Paradoxie,
wie sie von Hannah Arendt bereits 1968 in Bezug auf die heimatlosen Ausländer formuliert wurde:
Sie seien somit Weltbürger, da keiner Nation angehörend. Der Verfasser unterscheidet in Bezug
auf die theoretische Grundlegung zwischen formalistischen, ethizistischen und materialistisch
analytischen Orientierungen. Thematisiert wird in diesem Kontext auch die ›globale Zivilgesellschaft‹ (s. dazu auch meinen Beitrag von 2013). In Bezug auf die Eingebettetheit in den globalen
Kapitalismus fehlt leider der Verweis auf George Soros (1998). Verschiedene Kosmopolitismen
werden im weiteren Verlauf der Argumentation unterschieden: so z.B. banaler vs. imperialer
Kosmopolitismus (S. 306 f.). Darüber hinaus wird argumentiert, dass ziviler Nationalismus bzw.
Verfassungspatriotismus durchaus mit Kosmopolitismus vereinbar seien. Der sogenannte ›verwurzelte‹ Kosmopolitismus sei eine von verschiedenen sich überlagernden Identitäten – von
lokal über regional, national und kontinental. Es sollte aber hinzu gefügt werden, dass Kosmopolitismus häufig durchaus negativ besetzt ist, insbesondere in Verschwörungstheorien wie die
des Weltjudentums. Die Schlussfolgerung lautet, dass auf Grund der definitorischen Ambiguität
und thematischen Elastizität von Kosmopolitismus dieser gleichzeitig als epistemologischer Ansatz, normative Instanz, institutionelles Design und Beschreibung des sozialen Lebens fungiere
(S. 309). Insofern hänge die theoretische Prominenz vom jeweiligen Kontext ab.
Das Kapitel zu Natur und Gesellschaft von Byron Kaldis handelt von der humanen Soziobiologie. Die Debatte, die seit Jahren zwischen Sozial- und Naturwissenschaftlern in dieser Frage
geführt wird, ist die um Determinismus und Reduktionismus, d.h. ob menschliches Handeln
letztlich von unseren Genen gesteuert wird, also letztendlich keine menschliche Handlungsfreiheit existiert. Diese Debatte kulminierte gar zu einem Wissenschaftskrieg (Flyvbjerg, 2003).
Aber Sozialanthropologen wie Michael Tomasello haben die menschliche Natur bemüht um
nachzuweisen, dass Altruismus und nicht nur das Überleben der Fähigsten zur menschlichen
Grundausstattung gehöre (2010). Bisher kann die Soziobiologie nicht erklären, wie es bei gleichen
Genen zu Unterschieden, unterschiedlichen Entscheidungen und Verhalten kommt. In diesem
Punkt ist die Methode von Edgar Morin erheblich besser dazu geeignet. Bedauerlicherweise ist
von seinem sechsbändigen Hauptwerk bisher nur der erste Band ›Natur der Natur‹ ins Deutsche übersetzt worden (2010), aber auch dieser allein ist in diesem Zusammenhang schon sehr
hilfreich. Auch Kaldis geht in seinem Schlussabschnitt in dieselbe Richtung und plädiert für
›kulturelle Evolution‹, um die zunehmende Komplexität zu berücksichtigen. Er thematisiert auch
die Gefahren der Medikalisierung und neuer Eugenik (S. 324 f.), die bereits so weit fortgeschritten seien, um einen ›neuen‹ Menschen zu schaffen. Piet Strydom führt diese Debatte in seinem
Beitrag zu kognitiven und meta-kognitiven Dimensionen fort. Er plädiert für einen ›schwachen
Naturalismus‹. In diesem finden sich die Berücksichtigung der ›kognitiven Revolution‹, die u.a.
die Berücksichtigung von Emotionen und anderen unbewussten Faktoren unter Einschluss von
Dialektik führe (S. 330). Zu unterscheiden seien dabei mikro-, meso- und makro-generative Mechanismen (S. 331 f.). In Habermas‹ Theorie der Kommunikation fänden sich all diese Elemente
wieder. Im Gegensatz jedoch zum von Habermas propagierten herrschaftsfreien Diskurs fänden
wir zahlreiche pathologische Formen – wie Faschismus, Nationalismus, Rassismus und Laissez
faire-Liberalismus – vor. Strydon hofft auf entstehende transnationale und globale Bedingungen
– z.B. Kosmopolitismus, um meta-kognitives Versagen zu vermeiden (S. 334). Die Hauptaufgabe
von kognitiv inspirierter Sozial- und politischer Theorie sei, kritisch den Prozess der Konstitution
und Organisation der entstehenden Weltgesellschaft zu begleiten (S. 337). Wer aber die Akteure
einer solchen aufklärerischen Politik wären, bleibt im Dunkeln. John G. Gunnell setzt diese
Debatte mit seinem Aufsatz zur kognitiven Neurowissenschaft fort. Die beiden letzten Autoren
nehmen immerhin Bezug aufeinander. Der Artikel bietet einen konzisen Überblick über die
Positionen in dem Bereich, wenn auch ein so wichtiger, früher Beitrag zu kognitiver Dissonanz
(Festinger, 1957) den Fachleuten heutzutage offensichtlich nichts mehr sagt. Ein Verweis über
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neueste Forschungen zu ›Spiegelneuronen‹ bei Affen, die angeblich möglicherweise auch das
Verhalten bei Menschen steuern, stelle neue Fragen (S. 347). Der Beitrag endet aber mit der
eindeutigen Aussage, dass biologische Komponenten menschliches Verhalten nur zu einem stark
begrenzten Teil zu erklären vermögen und damit keineswegs Sozialtheorien überflüssig machten.
Guanju Wus Beitrag zum heutigen chinesischen sozialen und politischen Denken ist nicht nur
wegen der Bedeutung Chinas von größter Relevanz, sondern auch gerade in Hinblick auf die
diesbezügliche Geschichte der letzten Jahrzehnte. Seit der Kulturrevolution über die Öffnung
Chinas seit 1978 und der Gründung der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften 1977
sind bis heute zahlreiche Brüche festzustellen. ›Der Kampf zweier Linien‹ (Mao Dze Dong) setzt
sich bis heute ungebrochen fort. Die Suche nach einem eigenen Weg der Modernisierungen, die
nicht bestimmte westliche Vorstellungen von Demokratie und Marktwirtschaft reproduzierten,
stehe auf der politischen Tagesordnung. Dies wird natürlich aufmerksam von Auslandschinesen
und besonders in Taiwan, Hong Kong sowie Singapur beobachtet und kommentiert. Besondere
Bedeutung hat in diesem Zusammenhang Konfuzius. Nachdem er im Mao-China verbannt war,
kehrt er in hunderten von Konfuzius-Instituten, die von der chinesischen Regierung finanziert
werden, sowie in sehr erfolgreichen Fernsehsendungen zurück. Post-Tianmen-Diskurse – noch
immer unter strenger Kontrolle der KPCh – begleiten diesen Prozess. Nationalismus hat als
vorherrschende Ideologie mittlerweile den Kommunismus ersetzt. Chinas Sozialwissenschaftler
stellen sich dem internationalen Diskurs. Im Bereich der Politikwissenschaften verbleibe aber
weiterhin der Marxismus-Leninismus als herrschende Ideologie (He, 2012).
Der Beitrag von Saskia Sassen ließ mehr erwarten. Die Reduktion auf Immigration lässt viele
ihrer Thesen – die wohl von 2010 stammen – hinsichtlich der EU-Politik angesichts der derzeitigen Flüchtlingskrise obsolet erscheinen. Sheila Nair nimmt sich als Gegenstand in Anlehnung an
Agamben den postkolonialen homo sacer vor. Der Konflikt zwischen Sicherheit und Souveränität
bilde den Kern der Modernität. Die terroristischen Bedrohungen führten zu einer Entpolitisierung, wobei zu beachten sei, dass diese eng mit postkolonialen Strukturen zusammen hingen.
Notstandssituationen würden zur Regel. Die Zukunft des Staates stellt Georg Sørensen in Frage.
Nach Umfragen hatten 2009 mehr Menschen Vertrauen in undemokratische als in demokratische
Führungspersönlichkeiten. Der Autor differenziert zwischen vier Staatstypen: der moderne, der
postmoderne, der schwache postkoloniale und der sich modernisierende Staat. Dahl wird in
Hinblick darauf zitiert, dass internationale Organisationen per se nicht demokratisch seien, da
Bürger nicht an deren Entscheidungen partizipieren könnten. Demgegenüber formulierte Held
1995 ein Modell einer ›kosmopolitischen Demokratie‹. Dazu mag angemerkt werden, dass die
EU als supranationale Konstruktion das Prinzip der Subsidiarität vereinbart hat, damit eine
größtmögliche Partizipation der Bürger gewährleistet werde. Ob dieses Modell – das bereits
jetzt innerhalb der EU auf Schwierigkeiten stößt – in einer Welt mit mehrheitlich mehr oder
weniger (meist weniger) demokratischen Staaten global umgesetzt werden kann, muss mit einem
großen Fragezeichen versehen werden. Die Konklusion ist, dass die Globalisierung keineswegs
den Nationalstaat abgeschafft habe, wie bereits in der Einleitung des Bandes konstatiert wurde.
Nichtsdestotrotz ständen alle vier aufgeführten Staatstypen vor riesigen Herausforderungen
(S. 403 f.). Paul Blokker diskutiert den modernen Konstitutionalismus und den komplexen
Pluralismus und kommt zum Ergebnis, dass der moderne Konstitutionalismus zu einer globalen
Konvergenz des rechtlichen Verständnisses desselben führe (S. 415). Gleichzeitig bedrohe der
Trend zur Fragmentierung von Souveränität den modernen Konstitutionalismus. Das bedeute,
dass eben dieser moderne Konstitutionalismus sich in ständigem Wandel befinde und daher
post- und sub-staatliche Pluralisierung staatlicher Ordnungen produziere.
Erik O. Eriksen widmet sich unter der Überschrift ›Reflexive Integration‹ der Transformation
Europas. Das quasi-föderale System bleibe weniger als ein Staat (S. 419). Nicht beachtet werden in diesem Beitrag die wichtigen Arbeiten zu dem Thema von Schutter und Lenoble (2010).
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Gegenüber dem Zeitpunkt des Verfassens des Beitrags vor mehr als fünf Jahren hat sich aber
hinsichtlich einer gemeinsamen Armee und Polizei – notabene in Bezug auf die Flüchtlingskrise
– doch einiges geändert: Es gibt zumindest einen Embryo europäischer Streitkräfte und es gibt
Frontex. Diese Strukturen verstärkten den supranationalen Charakter der EU, der weltweit
einmalig ist. Zweifelsohne haben die Mitgliedsstaaten einen erheblichen Teil – nicht nur die
Euro-Länder – ihrer Souveränität abgetreten, was gerade den sogenannten populistischen Kräften seit Jahren erheblichen Auftrieb gibt. Der Autor spricht gar von einem ‹kosmopolitischen
Subset‹ (S. 424 f.) und endet mit einem optimistischen Ausblick – obwohl er als Norweger gar
nicht Mitglied der EU ist.
Auch Donatella della Porta und Raffaelle Marchetti nehmen sich die globale Zivilgesellschaft
im Rahmen von transnationalem Aktivismus vor. Sie sprechen in Anlehnung an Sousa Santos
von einem ›subalternen‹ Kosmopolitismus und in Anlehnung an Claus Offe von Meta-Politik
(S. 432). Sie favorisieren eine ›sozialen‹ Kosmopolitismus (S. 435). Der Beitrag bleibt insofern
Wunschdenken, als er von einer Basisbewegung träumt – die leider bis auf attac kaum zu sehen
ist. Originell ist der Aufsatz von Meyda Ye eno lu in Hinblick darauf, dass Gastfreundschaft
thematisiert wird. Bezug nimmt er dabei auf Levinas und Derrida. Kant war von einer konditionierten Gastfreundschaft ausgegangen. Nicht ganz folgen kann ich der Argumentation, dass es
eine Verschiebung von einem Recht auf zu einer Ethik der Gastfreundschaft gegeben habe. Der
moderne Nationalstaat habe gegenüber traditionellen Gesellschaften eine sehr restriktive Akzeptanz des Fremden: Willkommen als kaufkräftiger Tourist oder Arbeitskraft bzw. Unternehmer,
jedoch Ablehnung als Immigrant. Angesichts der gegenwärtigen Flüchtlingskrise ist die Frage
nach ›Willkommenskultur‹ vs. Abschottung von höchster Brisanz und nicht nur in theoretischer,
hypothetischer Hinsicht. Soziales Leid und eine neue Politik der Sentimentalität ist das Thema
von Iain Wilkinson. Dank der Massenmedien nähmen wir täglich Teil am Elend der Welt (Bourdieu et al., 1997). Jedoch ist die historische Unkenntnis erschreckend, wenn behauptet wird, dass
erst seit den 1990er Jahren menschliches Leid Forschungsgegenstand geworden sei (S. 462). Sind
denn die Untersuchungen von Friedrich Engels zur Lage der arbeitenden Klasse in England von
1845 heute vollkommen vergessen? Und am Ende zu behaupten, dass diese Elendsforschung
uns an die Grenzen der Sozialwissenschaften führe (S. 468), ist ebenfalls nicht nachvollziehbar.
Adam Arvidssons Beitrag zu neuen Formen Wertschöpfung baut u.a. auf den Arbeiten von
Boltanski und Chiapello zum neuen Geist des Kapitalismus auf. Der Autor argumentiert, dass
die sogenannten intangibles (Marken, intellektuelles Kapital, Reputation), also immaterielle
Werte, heutzutage mehr zur Wertschöpfung beitrügen als die materielle Produktion selber.
Das ist durchaus nachvollziehbar, wenn man die Netzökonomie betrachtet, die teilweise seit
Jahrzehnten keinerlei Gewinne macht, aber einen höheren Börsenwert als die reale Ökonomie
hat. Auch Serviceleistungen bringen häufig mehr Gewinn als die materielle Produktion selber.
Demgegenüber würde eine ›ethische‹ Ökonomie dieser Fehlentwicklung Einhalt gebieten
können (S. 476). Eine Rückbesinnung auf Marx’ allgemeines Wissen in den Grundrissen böte
einen Ansatzpunkt zum Verständnis dieser Neuen Ökonomie. Vergessen hat Arvidsson dabei
aber auch die Rolle der Gratis-Reproduktionsarbeit und Gorz’ Modell der Alternativökonomie
(1980). Zum guten Schluss propagiert der Autor eine Synthese von ›Reputationsökonomie‹ und
finanzieller Umverteilung als neues Wertgesetz, wie sie bereits bei den Unternehmen der sozialen Medien stattfände. Ist diese ›Brave New World‹ wirklich wünschenswert, um die derzeitigen
Krisen nachhaltig zu überwinden?
Der Aufsatz von Daniel Levy zu Gedenkpraxen orientiert sich an Foucaults Gegengedenken
sowie Noras Konzept der Demokratisierung der Geschichte. Er plädiert im Sinne von Jan Assmann für eine Mnemo-Geschichte, d.h. eine epochale Erinnerung, die sich zwischen lokalen
Bedingungen und globalen Strömungen verortet. Das bedeute aber auch eine Pluralisierung
von Erinnerung auf Grund von Fragmentierung derselben (S. 490). Eine Gleichzeitigkeit der
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Ungleichzeitigkeit. Wie soll aber unter solchen Bedingungen Identität und gemeinsames Handeln
entstehen? Austin Harringtons post-sekuläre Gesellschaft benennt eine brennende Frage angesichts von neuen Religionskriegen und religiösen Fundamentalismen: Richtigerweise konstatiert
er, dass Europas Säkularisierungstendenzen der letzten Jahrhunderte eher die Ausnahme als die
Regel gewesen seien (S. 494). Harrington wagt die These, dass Religion jedoch subjektiviert und
ein Konsumartikel geworden sei (S. 500). Religiosität ist zwar für die große Mehrheit eher eine
soziale, passive Form der Partizipation, nichtsdestotrotz haben religiöse Institutionen erheblichen
Einfluss und Macht. In historischer Perspektive verweist er zu Recht u.a. auf die Pilgerväter,
die aus religiösen Gründen England verließen, um ihren Glauben frei zu leben (S. 497). Auf der
anderen Seite hat aber die Aufklärung seit Erasmus von Rotterdam die Säkularisierung der
Alten Welt befördert. Das Absterben der Religion als Opium des Volkes, wie Marx und andere
es erhofft hatten, ist offensichtlich nur teil- und zeitweise eingetreten. Und die Entwicklung der
postsowjetischen Gesellschaften aber auch Chinas zeigen die Grenzen der Aufklärung (Széll,
2001). Und in der sogenannten Dritten Welt, in der trotz oder gerade wegen des Kolonialismus
die Aufklärung nur sehr begrenzt verwirklicht wurde, ist Religion in Verbindung häufig mit
ethnischen Differenzen stärker denn je. Aber auch im sogenannten aufgeklärten Westen ist der
Papst eine der populärsten Figuren und Opus Dei treibt ungebremst sein Unwesen.
Trotz der zahlreichen Beiträge sind m.E. wichtige Autoren und ihr jeweiliger Einfluss gar nicht
oder nur marginal berücksichtigt: so z.B. Karl Polanyi (S. 77), Niklas Luhmann (S. 194, 237), Edgar Morin, Ernst Bloch, Amitai Etzioni, Johan Galtung, Paul Feyerabend, Ludwig Wittgenstein
(S. 226) sowie George Ritzer mit seiner McDonaldization-Theorie. Auch wesentliche Aspekte
wie die Umwelt (S. 20), Krisen (S. 73), Homosexualität, Religion, Kirchen, Neofaschismus, Islamismus, Universalismus und die Aufklärung (S. 229; Baier, 2000) werden nicht thematisiert.
Man hat einmal mehr den Eindruck, dass Moden auch und gerade in den Sozialwissenschaften
Themen und Autorenauswahl bestimmen. Der Band ist zudem sehr heterogen, dabei beziehen
die Autoren – trotz tw. identischer Themen – sich zumeist nicht aufeinander. Unterbelichtet
ist insgesamt die Ökonomie als Basis der Gesellschaft. In dieser Hinsicht sind außer Marx nur
der Neoliberalismus mit Friedrich Hayek und Raimund Popper sowie ihre Schüler in Chicago
vertreten. Ein so wichtiger Schüler von Popper, George Soros (1998), der einen anderen Weg
als den des Neoliberalismus propagiert, scheint allen Autoren ebenfalls unbekannt zu sein.
Nicht thematisiert wird auch die Frage einer integrierten Sozialtheorie (Széll/Yazawa, 1993).
Im Band sind zudem keine der großen Namen als Autoren – mit Ausnahme von Saskia Sassen
und Stewart Clegg – vertreten, sondern hauptsächlich NachwuchswissenschaftlerInnen – was
im Prinzip nicht schlecht ist. Jedoch hat dies den Nachteil, dass viele Positionen aus zweiter
Hand präsentiert werden. Obwohl es sich in der zweiten Auflage um eine Paperbackausgabe
handelt, erfolgte weder eine Aktualisierung noch eine Korrektur der zahlreichen Druckfehler.
Immerhin ist erfreulicherweise ein ausführlicher Index vorhanden, wie es bei Sammelbänden
immer wünschenswert ist.
Zum guten Schluss die Frage: Kann man den Band und ggf. wem empfehlen? Er ist kein
Lehrbuch, da zu eklektisch und unsystematisch. Da ist zum Beispiel der Band von Hans Joas
und Wolfgang Knöbl (2004) weiterhin bei aller Kritik (Széll, 2005) viel eher geeignet. Wer sich
trotzdem einen gewissen Überblick über bestimmte aktuelle Debatten – hauptsächlich im angelsächsischen Bereich – verschaffen möchte,
sollte ruhig in diesen Band ab und zu hinein
schauen.
Literatur
Baier, H., 2000: Soziologie als Aufklärung, oder die Vertrei-
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Rezensionsaufsätze
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Nicolaou-Smokoviti, L. et al. (Hrsg.), Citizen Participation in Social Welfare, Social Policy and Community
Involvement. Shaping trends and attitudes of social
responsibility, Frankfurt a.M. et al.: 115-122
Széll, G./Yazawa, S., 1993: ›The Re-Integration of Social
Sciences – Methodological and Epistomological
Foundations of Integrated Social Sciences<, Hitotsubashi Journal of Social Studies, vol. 25/2, December:
Abstract
This volume is the paperback edition of the book, which first was published in 2011. The title is
promising and seems at first glance to fulfil this promise: In three parts and 42 chapters a large
spectrum of today’s tpoics and debates is unfolded. It may not be a surprise that in regard to the
envisaged English speaking public 32 of the 47 authors are Anglo-Saxon. This bias can also be
found within the references: They are nearly exclusively in English – with the exception for Latin
America and a few others. Nevertheless this bias is understandable, as the volume is in English
and therefore – if available – only the translations are referenced.
The two editors, Gerard Delanty and Stephen P. Turner, are already well known through many
publications in the field. Gerard Delanty is professor of sociology for social and political thought
at the University of Sussex. Stephen P. Turner is a research professor for philosophy at the
University of South Florida. Altogether unfortunately a rather eclectic, and not very systematic
compilation by mostly younger academics. So, not to be recommended for teaching purposes,
however, some specific articles may be useful.
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Timm Kunstreich
Erziehung als »respektables Kampfmittel«, »die Macht
der herrschenden Klasse zu sichern«. Eine ermutigende
Re-Lektüre von Siegfried Bernfelds Schriften zu Psychoanalyse und Pädagogik
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Rezensionsaufsätze
Über: Siegfried Bernfeld: Theorie und Praxis der Erziehung. Pädagogik und Psychoanalyse.
Werke, Bd. 5, herausgegeben und mit einem Nachwort von Ulrich Herrmann, Wilfried Datler,
Rolf Göppel, Gießen 2013, Psychosozial-Verlag, 669 S., 59,90 Euro
»Bei Gott, Bürger Machiavell ist ein kluger Mann. Wir ernennen ihn zur Exzellenz Jugend- und
Sozialminister und beauftragen ihn, dies teuflische Kunststück der Neuorganisation Sozialer
Dienste durchzuführen. Er – schlau wie er ist – studiert keineswegs als Vorbereitung die Methodik
der Einzelfallhilfe, belegt kein einziges Kolleg von Bäuerle, hat eine diabolische Art, Watzlawiks
Kommunikationstheorie und Hofstädter zu loben, ohne sie zu lesen, hat aber die Psychoanalyse
profund kapiert und hält den Sozialoberräten und Leitenden Sozialarbeitern seines Ministeriums
vor ungefähr folgende Programmrede (gekürztes Stenogramm):
›… Dieses, unser Ziel, zu erreichen, schlage ich Ihnen folgende organisatorische Maßnahmen
vor. Sie müssen nämlich verstehen, dass die Organisation der Sozialen Dienste das entscheidende
Problem ist, dass wir konsequent und unerbittlich unserem Einfluss restlos vorbehalten müssen,
während wir die Methoden der Sozialarbeit, den Einsatz von Medien, selbst Supervision beruhigt
den Sozialpädagogen, den Ideologen der ›hilflosen Helfer‹, ja selbst dem Sozialistischen Büro
überlassen können. Doch werde ich auch hier taktisch vorgehen. Fordern Sie z.B. mehr Weiterbildung, lassen wir lange um sie kämpfen und gewähren sie in Form einer Konzession immer
dann, wenn wir eine Ablenkung der Aufmerksamkeit von Wichtigerem für nötig erachten…‹«
(Textvariante, 84 f.).
Diese modernisierte Fassung der berühmten Rede Machiavellis aus Bernfelds wohl bekanntestem Werk »Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung« stellten wir – der Arbeitskreis Kritische
Sozialarbeit Hamburg – einer längeren und grundsätzlichen Analyse der behördlichen Sozialarbeit
um 1980 voran – unter dem Titel: »Neuorganisation Sozialer Dienste = neue Strategie sozialer
Befriedung?« (Informationsdienst Sozialarbeit, Heft 27: 60-96). Bernfelds klare und professionell
nicht gerade schmeichelhafte Kritik war mir von meiner Lektüre des Sisyphos zehn Jahre zuvor
am nachhaltigsten in Erinnerung geblieben. Als ich nun nach fast 50 Jahren die 120 Seiten noch
einmal las, war ich überrascht, denn in meiner Erinnerung überwog die soziologische/marxistische Argumentation, die Re-Lektüre machte mir aber deutlich, dass der Sisyphos nicht nur
die weiterhin gültigen Grenzen der Erziehung analysiert und miteinander in Beziehung setzt,
sondern zugleich auch eine interessante Einführung in psychoanalytisches Denken gibt. Diese
Verschiebung der Aufmerksamkeit hat sicherlich auch subjektive Gründe: Mein Interesse liegt
heute stärker auf der Objekt-Relations-Theorie, d.h. zum Beispiel auf der Frage, welche psychosozialen Dynamiken dazu beitragen, auch und gerade die modernisierte Sozialbürokratie »zu
lieben«. Zusammen mit der Tatsache, dass allein die Lektüre des Textes wegen seiner Ironie und
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seiner wohldosierten Polemik ein Genuss ist, sind es gerade die vielfältigen Anknüpfungspunkte,
die jede Leserin und jeder Leser auffordern, die eigenen Anfragen an Text und Sache kritisch
zu vertiefen. Was den Text bis heute so einzigartig macht, ist die gelungene Verschränkung psychoanalytischer und marxistischer Argumentationsstränge. Anders als bei den meisten Ansätzen
zur Verbindung von Psychoanalyse und Marxismus während der Studentenbewegung, in denen
diese beiden kritischen Theorieansätze eher additiv aufeinander bezogen wurden, gelingt es
Bernfeld quasi nebenbei, beide »Logiken« von der Sache bzw. vom Inhalt her zu verschränken.
Diese Lesart soll am Beispiel der drei Grenzen der Erziehung verdeutlicht werden, zumal damit
auch die Verbindung zu den anderen in diesem Band aufgenommenen Texten möglich wird.
Vorausgeschickt seien jedoch vier Grundannahmen, die in allen Texten des Bandes zu finden
sind, wenn auch natürlich in unterschiedlicher Intensität:
(1) »Sinn und Funktion der Pädagogik ist die Rationalisierung der Erziehung« (21). Rationalisierung steht hier für ein Vernünftig-werden von Erziehung, nicht für eine Ökonomisierung
oder Verkürzung. Mit diesem Begriff will Bernfeld wohl auch deutlich machen, dass er die neu
entstehende Pädagogik als Wissenschaft für so unterentwickelt hält, dass diese Erziehung eher
»gefährdet« (21). Die Entwicklung der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft ist gerade eine
Aufgabe, an der Bernfeld mitwirken will. Deshalb nennt er die bisherigen Vertreter der Pädagogik:
»Pädagogiker« (21 f.). Besonders die Didaktik unterzieht er beißender Kritik. Wissenschaftlichkeit
fehle ihr. »Schlimmer noch, sie gerät in eine lächerliche, und von der revolutionären Pädagogik
her gewertet, verbrecherische Situation. Und zwar durch eine der bitteren Paradoxien, deren
die Geschichte der Pädagogik so reich ist. Das Schulwesen hat offenbar Wirkungen, die über
den eigentlichen Unterricht weit hinausreichen. Die Schule – als Institution – erzieht« (30 f.).
(2) »Die Schule – als Institution – erzieht« (31) – und zwar um die Klassenspaltung nicht nur zu
befördern, sondern – so würden wir heute sagen – sie hegemonial bedeutsam zu machen. Genau
das ist Sinn und Ziel der Rede des »sehr klugen und klassenbewussten Bürgers Machiavell…:
Die Kinder müssen die bürgerliche Klasse lieben lernen« (84)1.
(3) »Die Erziehung ist… die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache« (48). Diese berühmte Feststellung enthält nicht nur eine fundamentale Kritik am separierenden bürgerlichen Individualismus, sondern hebt vor allem hervor, dass die Wechselwirkungen
zwischen ökonomischen, sozialen, psychischen und physischen Prozessen von entscheidender
Bedeutung sind. »Kein Wirtschaftszug, der nicht mit – und wäre es unkennbar fein sublimierter
Form – Sexualität gefärbt wäre, keine Regung der Biopsyche, die nicht eingeengt wäre in die
konkreten Bedingungen einer Wirtschaft« (78).
(4) Bernfelds Ziel ist eine »psychologisch und soziologisch fundierte Erziehungswissenschaft,
die in ihrem Gegensatz zur, nach wie vor allein anerkannten, geisteswissenschaftlichen Pädagogik
als naturwissenschaftliche, im Gegensatz zu der idealistischen Gesinnung der heute noch gültigen
Pädagogik als materialistische bezeichnet werden müsste« (13)2. Eine grundlegende Relation in
einem derart verstandenen Wissenschaftsverständnis ist nach Bernfeld die »Paargruppe«, die in
jedem Verhältnis von Erwachsenen zu Kindern entsteht, sowohl in der Familie als auch in anderen sozialen Feldern. »Wo immer diese Paargruppe hergestellt ist, ergibt sich die Möglichkeit
des Konfliktes, dass der Wille des Erziehers dem Willen des Kindes nicht entspricht« (51), ein
Konflikt, den Bernfeld mehrfach als konstituierend für jedes pädagogische Verhältnis bestimmt.
»Die Erziehbarkeit des Kindes ist beschränkt; die Erziehungsfähigkeit des Erziehers ist es
1 Wie das zu geschehen hat, macht das einführende Zitat deutlich, im Original steht Erziehung bzw. Pädagogik statt
Sozialarbeit. Vor allem die grundlegende Teilung in Volksschule und Gymnasium ist das fast perfekte Herrschaftsmittel (wie wir wissen bis heute).
2 »naturwissenschaftlich« ist hier im psychoanalytischen Sinne der Gegenstandsbestimmung und der genauen
Beobachtung zu verstehen.
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gleichfalls – diese beiden Grenzen erwähne ich in meinem Buch nur eben, weil sie seit je gekannt,
wenn auch nicht immer beachtet sind….da sie die weithin sichtbaren sind, ist ihre neuerliche
Markierung aber nicht so dringlich als die Aufdeckung der, auch heute noch unsichtbaren, dritten:
der gesellschaftlichen« (12).
Mit dieser beschäftigt er sich auf den ersten »108 Seiten« (119) des Sisyphos, auch wenn in diesen
die ersten beiden Grenzen immer wieder unter verschiedenen Aspekten thematisiert werden.
»Über die Erziehbarkeit des Kindes haben sich Pädagogiker gelegentlich sehr pessimistisch
geäußert, so sehr, dass sie eigentlich die Pädagogik als Ganzes hätten für überflüssig erklären
müssen« (120). Die Notwendigkeit und Unumgänglichkeit von Erziehung jenseits der ErzieherZögling-Diade unterstreicht Bernfeld mehrfach und hebt vor allem die Wechselwirkungen aller
Erziehungsrelationen hervor, so z.B., wenn er die Geschlechterverhältnisse in ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung rekonstruiert (und dabei erstaunlich aktuell argumentiert): »Ich
habe oft betont, dass die Scheidung der beiden Erziehungsformen, männlich und weiblich, eine
theoretische, wissenschaftliche Abstraktion ist. Im konkreten Fall sind sie in einem bestimmten
Mischungsverhältnis vorhanden und erfüllen zusammen die Gesamtfunktion: der physischen
Erhaltung der Gesellschaft, der Sicherung und Beeinflussung der organischen Rekapitulation,
deren Korrektur und Ergänzung durch Erzielung des Kulturplus: die Erhaltung der erziehenden
Gesellschaft und ihrer psychischen Struktur« (74 f.).
Dieses umfassende Verständnis von Erziehung und Erziehbarkeit markiert den roten Faden im
dritten Kapitel des Bandes unter dem Titel »Kinder verstehen – Engagement für Kinder« (213
ff. Hervorhebungen von mir – TK), »… und so weit wie möglich: mit ihnen!« (TK) – so könnte
die Quintessenz der zwölf Beiträge zur ersten Grenze unter dieser Überschrift lauten.
Die Prügelstrafe (213 und 215 ff.) ist inzwischen abgeschafft, ein Schnullerverbot (221 f.)
erscheint heute lächerlich, die Aufregung über Schundliteratur (223 ff. und 233 ff.) ist der über
den freien Internetzugang gewichen, Sexualaufklärung (241 ff.) ist heute (wenn auch nicht
unumstritten) Lehrgegenstand in der Schule. Insofern hat sich vieles geändert, auch wenn das
darunter liegende Strafverständnis weiterhin Gültigkeit hat: »Die allgemeine Wirkung, die jedes
Strafsystem allein schon durch seine Existenz hat, ist demnach, dass die Menschen in zwei Klassen
gesondert, in eine diffamierte, verachtete, und in eine wertvolle und angesehene Klasse.… (Gegenüber der ökonomischen Klassenschichtung wäre die Klasseneinteilung – TK), die sich durch
das Strafsystem herstellt, eine ideale (ideologische) zu nennen; sie überdeckt die reale Struktur
der Gesellschaft und strukturiert sie ›moralisch‹ – ohne Ansehen der Geburt, des Vermögens
usw. – in ›Gute und Böse‹« (271).
Hingegen könnten der Text über das Spielzeug (»Spielzeug ist Turngerät für die Seele!«, 229),
der Essay über den Traum (247 ff.), die Anmerkung über den Umgang mit Kindern (237 f.) sowie
die Fallvignette über einen Schülerselbstmord (255 ff.) auch heute geschrieben sein.
»… Die Möglichkeit des Konfliktes, dass der Wille des Erziehers dem Willen des Kindes nicht
entspricht« (51) trifft natürlich auch auf Funktion und Person des Erziehers zu, und damit auf
dessen Erziehungsfähigkeit – der zweiten Grenze der Erziehung. Diese »Erziehung im engeren
Sinne ist ein Spezialfall, dessen spezifische Funktion zu untersuchen ist. Diese bewusste Erziehung
ist ein historisch spätes Produkt« (49) in der »Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf
die Erziehungstatsache« (48). Dennoch sind diesem Spezialfall zwei umfangreiche Abschnitte
mit insgesamt 13 Texten gewidmet. In dem einen Abschnitt finden sich »Einmischungen in
zeitgenössische pädagogische Diskurse« (173 ff.). In drei Texten geht es dabei um das bis heute
umstrittene Anlage-Umwelt-Verhältnis. Schon damals wurden die besseren Noten von Schülern
aus den gebildeten Schichten als deren natürliche Anlage gewertet, ebenso wie die schlechten der
unteren. »Was aber besagen diese Tatsachen? Ganz offenbar: dass das Kind eines Akademikers
eine mehr als sechsfache Chance hat, gute Noten zu bekommen gegenüber dem Kind eines Ta-
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gelöhners. Und nichts weiter.… Sehr möglich, dass die Vererbung neben dem Berufswege eine
determinierende Rolle spielt… Schlichte und wissenschaftliche Voreingenommenheit aber ist
es zu behaupten, dass es die Vererbung sei, die allein außer dem Berufsmilieu des Vaters hier
mitwirke« (177). Als naturwissenschaftlich orientierter Wissenschaftler interessiert sich Bernfeld
sehr für Vererbung, allerdings nicht in der plumpen Form der sogenannten Erbbiologie: »Weil die
Arbeiterkinder unternährt, übermüdet, in körperlicher und seelischer Not in der Schule sitzen,
darum haben die Bürgerkinder achtmal so große Aussicht, gute Erfolge zu erlangen, und nicht
weil das Proletariat seine Kinder dauernd erblich belastet« (Hervorhebung i.O., 189).
Zwei weitere Artikel setzen sich mit Pestalozzi auseinander, den Bernfeld auf der einen Seite
schätzt, auf der anderen Seite aber dessen ideologische Beschränktheit kritisiert. Das pädagogische
Ziel Pestalozzis nennt er »die Herstellung einer infantilen Liebesgruppe, Erzieher – Kinder,…«
(199). »Der Ausweg, den Pestalozzi zeitlebens gesucht und den er oft genug gesehen, doch nicht
festgehalten hat, scheint mir in der Organisierung der Masse zu liegen, also etwa in dem, was mit
dem Begriff der Freien Schulgemeinde gegeben ist« (ebd.), also in den Ansätzen, die Bernfeld
in den zwanziger Jahren favorisierte.
Der letzte Text in diesem Abschnitt ist eine kurze Charakterisierung der Individualpsychologie
Alfred Adlers, die sich auf eine faire Darstellung dessen Position beschränkt, ohne die eigene,
Adlers Individualpsychologie ablehnende durchschimmern zu lassen (209 f.).
Der weitere große Abschnitt zur Erziehungsfähigkeit von Pädagogen bzw. deren Grenze umfasst »Schriften zur psychoanalytischen Ausbildung von Pädagogen« (283 ff.). Diese schließen
thematisch an die drei umfangreichen Erörterungen zum Verhältnis von Psychoanalyse und
Erziehungswissenschaft an, die im ersten Abschnitt nach dem Sisyphos-Text aufgenommen
wurden. Zusammen ergeben sie eine umfangreiche, auch heute noch (oder wieder) gültige Auseinandersetzung mit diesem Verhältnis.
Wer seine psychoanalytischen Kenntnisse auffrischen oder erst neu in dieser Materie einsteigen
möchte, dem oder der sei empfohlen, mit den Schriften zur psychoanalytischen Ausbildung von
Pädagogen zu beginnen. Denn diese bestehen im Wesentlichen aus Protokollen und Mitschriften
von MitarbeiterInnen und TeilnehmerInnen an Kursen in Berlin und Wien sowie aus Notizen von
Bernfeld selbst. Die Lektüre beginnt mit Protokollnotizen der psychoanalytisch-pädagogischen
Arbeitsgemeinschaft in Berlin, in denen die jeweiligen Autoren namentlich genannt werden, so
das eine plastische Vorstellung von Diskussionsklima und -inhalten entsteht – zum Beispiel über
»Wilde Cliquen«. In einer Art Schlussfolgerung stellt Bernfeld fest: »Die Individuen werden nicht
durch libidinöse Befriedigungen an die Organisation gefesselt, sondern durch die Gewalt, welche
sie über ihre realen Lebensbedingungen hat. Sekundär fließen dann libidinöse Forderungen in
die sachlich motivierten Organisationsformen ein« (296).
Die Mitschriften aus Bernfelds Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse für Pädagogen
in Wien sind auch heute noch geeignet, Interesse für diesen Zugang zur (Sozial-) Pädagogik zu
wecken. Aus den vielen angesprochenen Thematiken, die zum Teil auch kontrovers verhandelt
werden, sei nur die auch heute noch interessante Frage hervorgehoben, ob Erziehung ohne
Zwang möglich sei. »Die Formel gilt nicht nur für die Schule, sondern für Erziehung überhaupt:
Erziehung ohne Zwang. Merkwürdige Forderung, die ihren geistigen Vater in Tolstoi hat. Meiner
Meinung nach völlig undurchführbar, obwohl sie einen wichtigen pädagogischen Kern enthält«
(404). Für die Schule hält Bernfeld diese Forderung für angemessen – Kinder lernen nur, wenn
sie neugierig und interessiert sind –, aber: »Wenn man die Formel ›Erziehung ohne Zwang‹ soweit
verstehen will, dass sie heißt ›ohne Versagung‹, brauchen wir nicht darüber zu diskutieren, sie
ist schlechthin unmöglich« (406).
In den beiden Abhandlungen über das »freie« Institut (1949) und über die psychoanalytische
Ausbildung (1952) wird noch einmal die »antiautoritäre« im Sinne von institutionenkritischen
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Position Bernfelds deutlich: »Meine These lautet: Die in unseren etablierten Institutionen durchgeführte Ausbildung verzerrt einige der wertvollsten Grundzüge der Psychoanalyse, verhindert
deren Weiterentwicklung als Wissenschaft und als Werkzeug, mit dessen Hilfe man Verhaltensweisen ändern kann« (424). Diese Blockade macht Bernfeld an der Lehranalyse fest, deren
zentrale Bedeutung dann in Gefahr läuft, unterminiert zu werden, wenn über die Lehranalyse
zugleich über die Zulassung zum Beruf entschieden werde. Auch die Hierarchisierung im Sinne
der »besten Lehrer« sei nicht unproblematisch. Bernfeld macht abschließend keine praktischen
Vorschläge zur Veränderung, sondern möchte mit seiner Intervention dahin wirken, dass die
Diskussion (wieder?) geöffnet wird, damit sinnvolle Kompromisse möglich werden (444 f.).
Die drei im Anschluss an den »Sisyphos« aufgenommenen Texte zum Verhältnis von Psychoanalyse und Pädagogik (Der Erzieher (131 ff.); Die Psychoanalyse in der Erziehungswissenschaft
(155 ff.); Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Pädagogik (167 ff.)) thematisieren in umfassender Weise Stellung und Funktion des Erziehers/Lehrers. Ausgangspunkt ist das grundsätzlich
libidinös besetzte Verhältnis Erzieher-Kind – ein Thema, bei dem viele heute zusammenzucken
und sogleich an sexuellen Missbrauch denken. Bernfeld hebt zunächst hervor, dass diejenigen
Pädagogen, die sich dieser libidinösen Dimensionen nicht bewusst werden, »eine Art pädagogischen Cäsarismus ausbilden, hart an der Grenze des Psychotischen« (148), und zwar in zweierlei
Weise. Das eine sind die »Beglücker« (ebd.), das andere sind die »Theoretiker der Allmacht der
Erziehung« (ebd.). Ein weiterer Typus dürfte heute auch nicht seltener geworden sein: »Es sind
die Beamte, die ebenso gut oder besser einen anderen bürokratischen Dienst tun könnten, oder
Lohnarbeiter, die zufällig Disziplin statt anderer Ware produzieren« (149). Die Komplexität
dieses Verhältnisses wird noch dadurch erhöht, dass der Pädagoge nicht nur »mit dem Kinde
vor sich« sondern zugleich »mit dem Kinde in sich« zu kämpfen hat (Hervorhebung i.O., 153).
Neben dieser zentralen Thematik ist es die herrschaftskritische Analyse des Bildungssystems,
die eine wirkliche Erziehungswissenschaft zu leisten hätte (162 ff.). Die Psychoanalyse hätte in
diesem Rahmen zu erforschen,
»1.) … kurz: wie der Teil der Kultur (Ideologie), den wir Erziehung heißen, aus den Fundamenten der Gesellschaft – ihrer Wirtschaft – entsteht;
2.) in welcher Weise die Umwelt des Kindes auf die Entwicklung seiner psychischen Struktur
einwirkt;
3.) welches die Funktion der bestehenden Erziehung und aller ihrer einzelnen Bestandteile ist….
4.) die Rationalität der Erziehung zu prüfen, und die Mittel zu einer erhöhten Rationalität der
Erziehung zu bieten,…« (165 f.).
Nur wenn die Psychoanalyse in Theorie und Praxis in diesem Sinne ihre Autonomie entwickelt und auch erweitert – »wenn Schule, Haus, Erziehung, Unterricht nicht mehr ausreichen«
(171) – kann sie ihre neue und gesellschaftskritische Position behaupten und fruchtbar machen,
da sie »nur ihrem Ursprung nach ein Zweig der Medizin, ihrem Wesen und ihrer Funktion nach
aber ein Teil der heutigen Erziehung ist« (ebenda). Mehrfach unterstreicht Bernfeld allerdings:
Psychoanalyse ist kein Erziehungsratgeber oder schreibt »richtige« Erziehungsmaßnahmen vor
(z.B. 155 ff.).
Damit ist – wieder einmal – die dritte Grenze der Erziehung angesprochen, um die es Bernfeld
im Sisyphos vor allem geht: die soziale oder gesellschaftliche. Auch hier unterstreicht er mehrfach,
dass in dieser die anderen beiden (im dialektischen Sinn) aufgehoben sind: Die im Kind liegende
Grenze ist in ihr zugleich aufbewahrt, wie die im Erzieher liegende (als isolierte) nicht mehr
existent ist, da sie ohne den gesellschaftlichen Kontext nicht denkbar ist – auf diese Weise wird
die »Summe der Reaktion auf die Entwicklungstatsache« (48) auf eine neue analytische Ebene
gehoben. Auch Inhalt und Funktion dieser Grenze werden mehrfach genannt: »Erziehung ist
konservativ. Ihre Organisation ist es insbesondere« (101); »in Bezug auf die Machttendenzen
der erziehenden Gruppe intensivierend (ausbreitend, vermehrend)« (103). »Sie ist ein taugliches
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Instrument gerade durch ihre Mängel« (45) und wird gerade deshalb zu einem »gesicherten
Bestand des Bestehenden« (31). Gegen alle Tendenzen der Veränderung und Befreiung »hat
die herrschende Klasse als sehr respektables Kampfmittel die Erziehung. Sie verleiht ihr eine
Tendenz: die Macht der herrschenden Klasse zu sichern« (83 f.).
»Erwacht nun irgendeine Regung der Auflehnung, so wird sie sich in der Autorität der Schule
die empfindlichste Niederlage holen.… Da ist der Vater, der befiehlt und straft, der aber auch
freundlich ist, wenn eins sehr brav war, aber auf alle Fälle fern und übermächtig. Er trägt den
schönen Titel: Direktor. Da ist die Mutter: die Lehrerin, die freundlich, nah, liebevoll, aber
launisch ist, die man gleichfalls, aber deutlicher noch durch Bravheit gewinnt; die ihrerseits vor
dem Direktor zu zittern hat. Da sind schließlich die Geschwister Schulkameraden, nach Sitte
und Recht alle einander völlig gleichgestellt, aber freie Bahn ist dem Tüchtigen offen; der volle
Betrieb der freien Konkurrenz ist durchgeführt; man kann nach oben gelangen auf den ersten
Platz in der Klasse und der Liebe der Lehrerin, wenn man tüchtig ist, tüchtig im Wissen oder im
Schwindeln, im Schmeicheln oder in der Energie« (90) – so lässt Bernfeld seinen Machiavelli
sprechen. In seiner Schlussfolgerung ist Bernfeld so unerbittlich, als ob er sich selbst von seinem Versuch, die soziale Grenze der Erziehung zu überwinden – im Kinderheim Baumgarten
– deutlich distanzieren müsse: »Man tut gut, die soziale Grenze übertrieben scharf zu zeichnen.
Man ist vor jeder Gefahr gesichert, sie zu überschätzen. Sie bestimmt die Wege der Erziehung.
Der von ihr gesetzte Rahmen für jede Erziehung: die Organisation der Erziehung diktiert das
Erziehungsresultat,…, hilft vielmehr im gewöhnlichen Fall – dem schlechtesten – geradezu zum
Endresultat. Und dieses ist – wie es immer war – der Erwachsene dieser Gesellschaft, ihre Herrscher, ihre Bürger, ihre Proleten« (107).
Dass Erziehung Gesellschaft nicht verändern kann, ist damit mehr als deutlich, dass aber eine
Veränderung von Gesellschaft nicht ohne Erziehung – verstanden als gemeinsames Projekt von
Erziehern und Kindern – möglich ist, deutet Bernfeld in dem einzig auf Englisch geschriebenen
Text von 1940 selbst an. In diesem Beitrag über die in den USA für Jugendliche sehr bedeutsame
»Camp«-Erfahrung in den fast obligatorischen Sommerfreizeiten hebt Bernfeld mit Bezug auf
Untersuchungen seines Freundes und Kollegen Kurt Lewin das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen autoritär und demokratisch geführten Jugendgruppen hervor: Demokratisch
geführte sind anderen Gruppen gegenüber weniger feindlich gesonnen. Mit diesem vorsichtigen
Optimismus schließt er an seine Baumgarten-Erfahrungen Anfang der Zwanzigerjahre an, dass
über Erziehung unter dem Kollektiv förderlichen Bedingungen Ansätze zur Gesellschaftsveränderung möglich seien, eine Position, die er im »Sisyphos« zumindest für die Diade ErzieherZögling deutlich abgelehnt.
In diesem Sinne ist Bernfeld also nicht pessimistisch. Er praktiziert das, was Antonio Gramsci
ungefähr zur gleichen Zeit im faschistischen Gefängnis formuliert: »Optimismus des Willens,
Pessimismus des Verstandes« – oder wie Bernfeld es ausdrückt, wenn er von einer wechselseitigen
Ergänzung der Sozialwissenschaft »und zwar in ihrer härtesten und lebendigsten Form, der Marxschen,« und der Psychologie spricht, »in ihrer tiefsten und lebendigsten Form, der Freudschen«
(61). »Beide haben recht. Nicht die Marxisten und die Freudianer, sondern Marx und Freud« (79).
Abstract
Volume 5 of Siegfried Bernfeld’s works starts with his probably best known ouvre: »Sisyphus or
the Limits of Education« (translated 1973). The following ca. 500 pages can be read as explanation and deeper analysis of the three limits of education – the limit in the child, the limit in the
teacher/educator, and - most important - the limit in and of the society. Beside this the book is a
splendid introduction into psychoanalysist thinking and acting and still in the merge of radical
thinking in psychology and sociology.
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Holger Ziegler
Professionalität und Pädagogik
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Über: Martin P. Schwarz/Wilfried Ferchhoff/Ralf Vollbrecht: Professionalität: Wissen – Kontext: Sozialwissenschaftliche Analysen und pädagogische Reflexionen zur Struktur bildenden
und beratenden Handelns. Klinkhardt 844 Seiten, 49,90 Euro
»Professionalität: Wissen – Kontext: Sozialwissenschaftliche Analysen und pädagogische Reflexionen zur Struktur bildenden und beratenden Handelns«, so lautet der Titel der von Martin
Schwarz, Wilfried Ferchhoff und Ralf Vollbrecht herausgegebenen, 2014 im Verlag Julius Klinkhardt erschienenen Festschrift zu Ehren von Bernd Dewe.
In der ersten Hälfte des voluminösen Bandes (Kapitel I - III) finden sich professionstheoretische
Beiträge allgemeiner systematisch-konzeptioneller, gesellschafts- und gerechtigkeitstheoretischer
sowie methodologischer Natur, in der zweiten Hälfte (Kapitel IV) finden sich Beiträge, die sich
auf die Praxisfelder Erwachsenenbildung, Führung, Hochschuldidaktik, Schule, Betriebspädagogik und Soziale Arbeit beziehen. Damit nimmt die Festschrift Felder in den Blick, die in einem
solchen Ensemble sehr selten Gegenstand eines Bandes sind. Auf den ersten Blick scheint ihre
Gemeinsamkeit vor allem darin zu bestehen, dass sie Felder der pädagogischen und Bildungspraxis
darstellen, die in Dewes breitem Oeuvre bearbeitet werden. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus bemerkenswert, dass die Beiträge des Sammelbandes zusammengenommen ein erkennbar
kohärentes Gesamtwerk bilden, obwohl ein dezidierter Bezug auf Bernd Dewes wesentlichen
Analyse- und Theorieentwurf einer »Reflexiven Professionalität« – der als mögliche Klammer
zwischen den zunächst eher wenig verbunden erscheinenden Feldern fungieren könnte – keinesfalls in jedem Einzelbeitrag ersichtlich ist. Durchaus naheliegend ist diesbezüglich der Gedanke,
dass trotz aller Diversität und Ausdifferenzierung unterschiedlicher pädagogischer Felder die
Kernstrukturen dessen, was professionelles pädagogisches Handeln darstellt, weniger kontingent sind als manche Analysen dies bereits mit Blick auf je einzelne Arbeitsfelder nahelegen.
Betrachtet man darüber hinaus die Ähnlichkeiten dessen, was – trotz deutlich unterschiedlichen
Analyserastern und theoretischen Semantiken – als Herausforderungen an (professionelles)
pädagogisches Handeln in den unterschiedlichen Feldern beschrieben wird, spricht alles dafür,
dass Konzeptionen, die professiontheoretische Analysen mit gesellschaftstheoretischen Perspektiven verknüpfen, nicht nur möglich, sondern höchst wahrscheinlich auf dem richtigen Weg sind.
Damit ist nicht gesagt, dass jede professionstheoretische Annahme und schon gar nicht jedes der
teilweise impliziten gesellschaftstheoretischen Argumente bzw. jede entsprechende Annahme
und Diagnose in diesem Band verfängt. Dies kann auch nicht die Erwartung sein. Bemerkenswert genug ist vielmehr der Umstand, dass es dem Band in seiner Konzeption und Komposition
gelungen ist, insgesamt – bei allen unvermeidbaren Varianzen im Einzelnen – intellektuell und
theoriesystematisch exzellente Beiträge von zweifellos führenden Wissenschaftler*innen so
zu komponieren, dass sie in ihrer Gesamtheit nicht nur mit dem akademischen Projekt Bernd
Dewes, sondern mit der zentralen Herausforderung des professionstheoretischen Diskurses sui
generis korrespondieren: dem Problem der Möglichkeit einer Relationierung von Wissens- und
Handlungsformen professioneller Praxis.
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In den Arbeiten des Geehrten selbst wird dieses Problem – zunächst durchaus »klassisch« – auf
dem Fundament einer analytischen Differenzierung von Handlungswissen und Wissenschaftswissen bearbeitet. Herausgearbeitet wird dabei nicht nur – dies wäre trivial –, dass diese Wissensformen (und die damit verbundenen Urteilsformen) »different« sind, sondern ihre weitgehende
Inkommensurabilität. Genau in diesem Befund besteht die komplexe Herausforderung der Relationierung dieser Wissensformen als Professionswissen. Sofern dieses Argument faktual verfängt
– und dies erscheint wenig zweifelhaft – sind die darin enthaltenen Implikationen schon alleine
deswegen weitreichend, weil dann alle Varianten der Vorstellung, zwischen diesen Wissensformen
könne »irgendwie« vermittelt werden, ebenso verworfen werden müssen, wie die im Kontext einer
so genannten »evidence-based practice« prominent vertretene Überzeugung, wissenschaftliches
Wissen, oder genauer, empirisch fundierte Wirkungsnachweise, seien geeignet, um pädagogische
Praxis an- und notwendiges professionelles Wissen und Können abzuleiten oder gar zu erzeugen.
In der professionstheoretischen Systematik von Bernd Dewes scharfer Auseinandersetzung mit
und Kritik an solcherlei technokratischen und »effizienzorientierten« Debatten und Entwürfen,
die sich zunächst im Kontext der Diskurse um »Qualität« und »Qualitätssicherung« und dann im
Zuge einer (vermeintlich) »wirkungsorientierten Steuerung« pädagogischer Praxis finden, ist die
jüngere Kritik an Abhängigkeit einer solchen evidenz-basierten Praxis von »pre-interpreted, prepackaged sources of evidence« (Upshur, 2006: 420) bereits systematisch angelegt. Der Einwand,
dass das dort zugrunde liegende lineare Modell einer Übersetzung von Informationen aus einer
Domäne (der Forschung) in eine andere (der Praxis) so fundamental fehlerhaft sei, dass die entsprechenden Wissenschafts- Praxis-Modelle nicht nur pragmatisch zu revidieren, sondern (schon
allein um überhaupt Möglichkeiten einer fruchtbaren Auseinandersetzung zu eröffnen) schlicht
zu verwerfen seien, stammt zwar von Nick Midgley (2009: 325), hätte aber von Bernd Dewe nicht
minder scharf formuliert werden können: Nicht »Expertise« oder »Autorität«, schreibt Dewe
gemeinsam mit Hans-Uwe Otto (2010: 197-198), stehe im Zentrum professionellen Handelns,
»sondern die Fähigkeit der Relationierung und Deutung von lebensweltlichen Schwierigkeiten
in Einzelfällen mit dem Ziel der Perspektiveneröffnung bzw. einer Entscheidungsbegründung
unter Ungewissheitsbedingungen«. Die Einsicht, dass sich wissenschaftliches Wissen nicht unmittelbar in die Praxis der Sozialen Arbeit ›umsetzen‹ lässt, basiert dabei nicht nur auf faktualen
Einsichten, sondern stellt auch das Fundament einer zentralen normativen Forderung nach einer »Anerkennung der Eigenrationalität und Begrenztheit der Wissensbestände« dar, die »vor
der Überbetonung der professionellen wie auch der disziplinären Seite« bewahren und »zum
bewussten Umgang mit Wissen und Nicht-Wissen« zwingen soll (ebd.).
Diese kursorischen Anmerkungen hinsichtlich der in Dewes theoriesystematischen Analysen
angelegten Kritik an gegenwärtigen Entwicklungstendenzen werden dem Ansatz und dem
Forschungsprogramm einer Rekonstruktion der Modi der Wissensarbeit in pädagogischen Vermittlungszusammenhängen, um den kognitiven Hintergrund jenes reflexiven Verstehens und
Könnens herauszuarbeiten, das den Kern »reflexiver Professionalität« darstellt, in keiner Weise
gerecht, sie können aber erklären, warum der Anspruch der Herausgeber des Bandes »angesichts
des Vordringens von Managementkonzepten und der damit einhergehenden Ökonomisierung
von Bildung und Beratung eine Respezifizierung des Konzeptes der Professionalität […] vorzunehmen« einer der zentralen Herausforderungen der Professionsdebatte skizziert und gerade
als Gegenstand eine Schrift zu Ehren von Bernd Dewe ausgezeichnet geeignet ist.
Der gut 840 Seiten starke Band prozessiert diese Thematik in vier logisch gegliederten Kapiteln. Das erste hinführende Kapitel widmet sich dem Stand des (interdisziplinären) Programms
einer wissenssoziologisch begründeten Professionalisierungsforschung im Feld des beruflichen
Handelns. Das Kapitel besteht aus einem einzelnen Beitrag von Wilfried Ferchhoff und Martin
Schwarz, der sich in einem gewissen Sinne genealogisch mit der Durchsetzung der (klassischen)
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Professionen und dem durchaus bemerkenswerten Perspektivwechsel in der Debatte weg vom
Status der Profession hin zu Prozessen der Professionalität – und schließlich auch der »reflexiven
Professionalität« – widmet. Damit ist in der Konzeption des Bandes das Terrain eröffnet, in dem
jene Kernbegriffe zu verorten sind, denen sich das zweite Kapitel unter der Überschrift »Wissen,
Handeln, Profession, Professionalität« annähert.
Diese Überschrift wird über weite Strecken den insgesamt, wie im Einzelnen, überzeugenden
Beiträgen von Martin Baethge zu »Wissensformen, Kompetenzentwicklung und Professionalität
bei Dienstleistungstätigkeiten«, von Klaus Kraimer zur Strukturlogik professioneller »Krisenbewährung« sowie den professionssoziologischen Beiträgen von Michaela Pfadenhauer und
Thomas Kurtz gerecht. Sie trifft durchaus auch den Kern des Beitrags von Roland Becker-Lenz
zu nichtstandardisierbarem Wissen und Können, Alfred Schäfers Auseinandersetzung mit dem
Wissen des Pädagogischen und – zumindest in einigen zentralen Teilen – auch Fritz Schützes
Versuch der Fundierung einer in der Fallanalyse begründeten Profession Sozialer Arbeit. Gerade zu diesem Beitrag lohnt es sich zu bemerken, dass Schützes einflussreiche Überlegungen im
Einzelnen zwar bekannt sind, dieser Beitrag aber zu den wenigen gehört, in dem Schütze seine
Überlegungen in einer kondensierten Form auf eine Professionsanalyse der Sozialen Arbeit
in toto bezieht. Andere Beiträge fokussieren weniger auf die Frage von Wissens- und Handlungsformen in operativen beruflichen Praxisvollzügen, sondern auf normative und politische
Dimensionen von Professionen und Professionalität. So etwa Hauke Brunkhorsts Beitrag »zur
sozialen Evolution von Professionalisierung und Solidarität«, der gerechtigkeits- und demokratietheoretische Aspekte der Evolution von Professionalisierung hervorhebt sowie für den Beitrag
von Norbert Wohlfahrt, der auf Basis kapitalismustheoretischer wie -diagnostischer Argumente
gerade die – aus seiner Perspektive – gerechtigkeitstheoretisch begründete und in Emanzipationsrhetoriken gehüllte Selbstideologisierungen der Professionsdiskurse zu entzaubern trachtet.
In einem gewissen Sinne ebenfalls normativitätskritisch ist der Beitrag von Heiner Keupp, der
mit Blick auf die Soziale Arbeit vor Identitätsdiskursen und den darin angelegten – tatsächlich
oder vermeintlich – regressiven Tendenzen warnt. Möglicherweise liegen die Beiträge alleine
deswegen weniger weit auseinander als es auf den ersten Blick scheint, weil Wissens- und normative Dimensionen oder genauer faktuale und evaluative Aussagen eben keinesfalls einfach zu
trennen sind. Dabei geht es – neben der von Schäfer herausgearbeiteten Nähe des Pädagogischen
vom Politischen – um die offensichtliche Verwobenheit von Wahrnehmung- und Urteilsmustern.
Sofern diese Verwobenheit nicht berücksichtigt wird, bleiben Versuche einer Rationierung von
Wissen und Handeln alleine deswegen blutarm und formalistisch, weil Handlungsgründe fehlen.
Solche Handlungsgründe – in den Worten von Wilfrid Sellars der »realm of reason« – stecken
bereits den Bereich des Normativen ab. Das macht die Warnung vor der Sehnsucht nach einem
imaginären paradigmatischen Kern (Keupp) ebenso wenig hinfällig wie Wohlfahrts Kritik der
Selbstideologisierung. Nichtsdestoweniger ist der Verweis auf den (noch einmal mit Sellars gesprochen) »realm of causes«, der sich z.B. im Rekurs auf die Tatsache realer Produktions- und
Regulationsverhältnisse kapitalistischer Gesellschaftsformen oder (wie im Falle von Eckard
König) mit Blick auf die Logiken und Regeln sozialer Systeme beschreiben lässt, kein Ersatz für
das Problem von Handlungsbegründungen. Diese können mehr oder weniger überzeugend sein,
sie sind aber per se weder überflüssig noch ein Ausweis realitätsferner Hybris. Dies gilt zumindest
sofern man davon ausgeht, dass Handlungsbegründungen nicht nur ein Produkt dezisionistischer
Willkür sind, sondern im Prinzip zur Gattung fallibler Aussagen gehören. Dass dies der Fall ist,
haben insbesondere jüngere Arbeiten aus dem Kontext des sog. »critical realism« luzide deutlich
gemacht. Allerdings ist diese – in zahlreichen professionstheoretischen Entwürfen zumindest
implizit geteilte – Annahme nach wie vor nicht unumstritten. So etwa in der, für sich genommen
durchaus eleganten, konstruktivistischen Perspektive Michaela Pfadenhauers, die Professionalität
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als spezifische rollenbezogene Kompetenzdarstellung rekonstruiert. Diese Perspektive mag eine
rekonstruktive Professionsforschung deutlich erleichtern. Nur scheint damit der für professionelle
Handlungsbegründungen nicht ohne Weiteres aufzugebende Wahrheits- oder zumindest Gültigkeits- und Angemessenheitsanspruch nicht, wie Pfadenhauer schreibt, »inszenierungstheoretisch
[ ] eingeklammert«, sondern vielmehr theoretisch und methodologisch ausgeklammert zu werden.
Möglicherweise muss die ohnehin komplexe Relationierung von Wissen und Können erweitert
werden, in die noch komplexere Rationierung von Wissen – Urteilen – Können.
Die ein oder der andere der genannten Autor*innen wird sich im Zwischenfazit des Rezensenten
möglicherweise nicht oder nur missverstanden wiederfinden, aber der Gedanke, dass zumindest
ein wesentlicher Aspekt von Professionalität in der Form der Begründung von Inferenzentscheidungen besteht, scheint dem Rezensenten nach der Lektüre der Beiträge noch plausibler als
vorher. Die im professionellen pädagogischen Handeln aufgehobenen Wissensformen scheinen
sich in einem hohen Maße Kategorien zu bedienen, die Williams als »thick concepts« bezeichnet
hat, d.h. auf Kategorien, deren deskriptive und normative Elemente sich nicht trennen lassen.
Das hat übrigens recht wenig damit zu tun, dass diese Kategorien analytisch inferior wären. Im
Gegenteil lassen sich die Elemente nicht trennen ohne die analytische Bedeutung und gesellschaftliche Relevanz dieser Kategorien selbst in Mitleidenschaft zu ziehen. Das gilt nicht nur für
Professionsdebatten in pädagogischen Feldern, sondern für Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften im Allgemeinen. An prominenter Stelle hat der Nobelpreisträger Kenneth Arrow
(1978: 472) darauf verwiesen, dass »the discussion of any important social question must involve
an inextricable mixture of fact and value«. Diese Einsicht bezog Arrow auf Fragen, in denen es um
die Anwendung komplexer mathematischer Methoden in der politischen Ökonomie ging – auf
welcher Grundlage man sie ausgerechnet mit Blick auf einen Gegenstand bestreiten sollte, bei
dem es um die pädagogische Bearbeitung komplexer Problematiken menschlicher Lebensführung
geht, erschließt sich dem Rezensenten nicht.
Während eine Reihe der Beiträge des dritten Kapitels diese grundlegenden professionstheoretischen Debatten ergänzen und vertiefen, geht es hier insgesamt eher darum, einen Ein- und
Überblick zum Stand der theoretischen und empirischen Professionsforschung zu eröffnen. Dies
geschieht mit insgesamt elf Beiträgen von zwölf Autoren und einer Autorin, namentlich Micha
Brumlik, Gerd Antos, Michael Ballod, Frank-Olaf Radtke, Dietmar Gensicke, Horst Dräger,
Ewald Terhart, Svenja Möller, Uwe Sander, Günther Frank, Franz Lorenz, Martin Schwarz und
Harald Kerber, im Rekurs auf unterschiedliche Felder und Themenkomplexe. Die im »TheorieKapitel« skizzierten Inkommensurabilitäten und Spannungsverhältnisse zwischen professionellem
Handeln (oder weiter formuliert sozialen Handeln im Allgemeinen) und (wissenschaftlichem)
Wissen werden dabei in einer vertiefenden Weise entschlüsselt. Während einige Beiträge den
Fokus auf zentrale gesellschaftliche Herausforderungen und Diskurse (wie z.B. den um »Integration«) richten, spielt bei der Mehrheit der Beiträge die Diagnose einer »Ökonomisierung« von
Bildung und Erziehung eine wesentliche Rolle. Gegenüber einem wohlfahrtstaatlich geprägten,
gesellschaftlich-kulturellen »Sozial-Demokratismus« können solche Entwicklungstendenzen
sicherlich als eine Erschwerung des (unvollendeten) Professionalisierungsprojekts verstanden
werden. Darüber hinaus entsteht jedoch, wie eine Reihe von Beiträgen zumindest in der Konsequenz übereinstimmend herausarbeitet, mit dem sog. »Managerialismus« nicht nur ein wenig
professionalitätsförderlicher Organisationskontext, sondern ein veritables Konkurrenzprojekt,
nicht nur zu Professionalität, sondern zum »Steuerungsmodus« Profession schlechthin. Die
kardinale Frage, warum eigentlich Profession (oder zumindest Professionalität), lässt sich entsprechend weniger denn je aus gesellschaftlichen, institutionellen oder organisationalen Funktionsnotwendigkeiten ableiten. Sie ist als die Frage, warum eigentlich Professionalismus und
nicht Managerialismus, neu zu stellen und wird dabei (schon alleine weil der Managerialismus
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im Wesentlichen ein normatives Glaubenssystem darstellt) kaum ohne politisch-normative und
demokratietheoretische Argumente und Positionierungen zu führen sein.
Das quantitativ umfänglichste Kapitel mit dem etwas sperrigen Titel »Formen der Institutionalisierung und Referenzkontexte bildenden und beratenden Handelns« stellt in einzelnen
sog. ›Fallstudien‹ die Frage nach den »Bedingungen und Grenzen der Professionalitätsentwicklung« in unterschiedlichen, wie die Herausgeber schreiben, »heterogene[n], pädagogische[n]
Praxisfelder[n]«. Allerdings sind dabei nicht nur die Praxisfelder, sondern auch die Fragestellungen
der Autor*innen heterogen, zumal nicht alle Beiträge im engeren Sinn professionstheoretisch
ausgerichtet sind, sondern auch z.B. disziplinpolitische Themen im Vor- und Umfeld professionstheoretischer Fragen bearbeiten. Im Einzelnen widmen sich Peter Fuchs, Dieter Nittel, Claudia
Dellori, Jost Reischmann, Sabine Schmidt-Lauff, Wiltrud Gieseke und Alfred Langewand Fragen
und Herausforderungen der Erwachsenenbildung, Joachim Ludwig, Martin Schwarz, Daniel
Straß, Frank Nestmann und Jillian Werner setzen sich mit professionstheoretischen Themen von
Beratung sowie Führung (Elke Moning-Petersen und Jendrik Petersen) auseinander. Dorothee
Meister und Diana Urban gehen auf, als Gegenstand Professionsforschung in der Tat bislang
wenig beachtete, Entwicklungen der Hochschuldidaktik ein, während Jan-Hendrik Olbertz
eine Verteidigung der Universität als Bildungsprojekt schreibt. Es kann dahingestellt bleiben,
ob und inwiefern diesem Projekt durch eine »Rückbesinnung« auf einen »immer wieder neu
zu erfindenden« Humboldt gedient ist; die Warnung des (damaligen) Präsidenten der Berliner
Humboldt-Universität, »jedem vordergründigen Modetrend der Hochschulreformdebatte« zu
folgen, überzeugt durchaus und hat vor dem Hintergrund, dass es Olbertz dabei insbesondere
um die Frage des Sinns einer Wettbewerbslogik des modernen Wissenschaftsbetriebs inklusive
des sog. Exzellenzwettbewerbs geht, eine besondere politische Signifikanz, zumal die HumboldtUniversität ja selbst zum erlauchten Kreis jener besonders geförderten Universitäten gehört.
Die betriebliche Weiterbildung ist das Feld, auf das sich die Arbeiten von Sibylle Peters, Martin
Elbe, Sebastian Kunert, Katharina Feistel, Ralf Vollbrecht, Christine Dallmann sowie Peter
Weber beziehen. Den Abschluss stellen Fallstudien von Hans-Uwe Otto, Burkhard Müller, Silvia Staub-Bernasconi und Peter Pantucek zum wohl klassischen Feld der Professionsdebatte,
nämlich der Sozialen Arbeit, dar. Allein die Fülle der – wie angedeutet fast durchweg guten und
teils exzellenten – Beiträge macht es fast unmöglich, jeden Beitrag einzeln zu würdigen. Dies
ist aber auch nicht notwendig. Denn über den Hinweis hinaus, dass Martin Schwarz, Wilfried
Ferchhoff und Ralf Vollbrecht eine ausgezeichnete Festschrift gelungen ist, kann der Band in
seiner facettenreichen Gesamtheit als ein Kompendium verstanden werden, der den durchaus
beachtlichen State of the Art der (pädagogischen) Professionsdebatte zum Ausdruck bringt. Der
Eindruck, dass eine Form der Professionsforschung und -theorie zielführend ist, die weitgehend
dem entsprechen dürfte, was sich im Anschluss an Bernd Dewe als das Projekt einer reflexiven
Professionalisierung beschreiben lässt, scheint dabei weniger der Tatsache geschuldet zu sein,
dass es sich bei dem Werk um eine Festschrift zur Ehren von Bernd Dewe handelt, sondern ist
ein Eindruck, der nach der langen aber lohnenswerten Lektüre der umfänglichen Analysen in
der Sache unterschiedlichster pädagogischer Themen und Felder mit einer kaum hinweg zu
definierenden Notwendigkeit entsteht. Auch mit Blick auf die in dem Band skizzierten Entwicklungen und Herausforderungen scheint recht eindeutig zu sein, dass der Verweis auf Profession
und Professionalität sicherlich nicht die (Er-) Lösungsformel mit Blick auf alle Problematiken
in pädagogischen Handlungsfeldern darstellt. Ebenso evident scheint aber auch, dass eine Pädagogik, die – um die Formulierung von Hans-Uwe Otto zu borgen – akademisiert, aber nicht
professionalisiert ist, in der Vergangenheit nicht ausreichte und auch in Zukunft mit hoher
Sicherheit nicht ausreichen wird und nicht ausreichen kann.
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Literatur
Arrow, K., 1978: A Cautious Case for Socialism. In: Dissent,
25: 472-480
Dewe, B./Otto, H.-U., 2010: Reflexive Sozialpädagogik.
In: W. Thole (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. Wiesbaden
Midgley, N., 2009: Improvers, adapters and rejecters:
the link between ›Evidence-Based Practice‹ and
›Evidence-Based Practitioners‹. In: Clinical Child
Psychology and Psychiatry, 14, 3: 323-237
Upshur, R., 2006: Evidence-based medicine, reasoned
medicine or both? Commentary on Jenicek’s ›The
hard art of soft science‹. In: Journal of Evaluation in
Clinical Practice, 12, 4: 420-422
Abstract
The articel reviews the commemorative publication for Bernd Dewe. It appraises the contributions
of the volume against background of some central points of Dewe's oeuvre and indicates some
challenges for the debates on profession and professionalization in pedagogical fields.
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Albert Scherr
Menschenrechte, nationalstaatliche Demokratie und
funktionale Differenzierung – Wahlverwandtschaften
oder Gegensätze?
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Rezensionsaufsätze
Sammelbesprechung
Sammelbesprechung
Alastair Davidson: The Immutable Laws of Mankind. Dordrecht/Heidelberg/New York/London 2012: Springer, 520 S., 281.-€
Bettina Heintz/Britta Leisering (Hrsg.): Menschenrechte in der Weltgesellschaft. Frankfurt/
New York 2015: Campus, 398 S., 39, 9 €
Hans Jörg Sandkühler: Recht und Staat nach menschlichem Maßstab. Weilerswist 2013:
Velbrück Wissenschaft, 688 S., 49,9 €
Grundlegend für das moderne Verständnis der Menschenrechte ist das Postulat, dass jeder und
jedem allein aufgrund der Tatsache, dass er/sie ein Mensch ist, bestimmte Rechte zukommen
sollen, die ein Leben in Würde ermöglichen. Ganz offenkundig handelt es sich bei dieser Vorstellung um eine uneingelöste Utopie. Und ersichtlich ist ein Verständnis von Menschenrechten
als allein juristisch zu garantierenden, zureichend durch positives Recht umsetzbaren Prinzipien
unzureichend. Dies war bereits den Autoren der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
von 1948 (AEDM) bewusst. Dezidiert wird im Artikel 28 der AEDM formuliert »Jeder hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten
Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können.« Die Idee der Menschenrechte geht
damit über Vorstellung für eine Gestaltung der Rechtsordnung hinaus.
Für das Selbstverständnis moderner, demokratisch verfasster Gesellschaften ist der Anspruch
grundlegend, eine solche Gestaltung der Gesellschaft, ihrer sozialen und politischen Ordnung
gewährleisten zu können, die eine Verwirklichung der Menschenrechte ermöglicht. Die Unterstellung eines solchen Passungsverhältnisses zwischen den Menschenrechten der Strukturen
moderner Gesellschaften und den Prinzipien der Menschenrechte war jedoch bereits bei Marx
und daran anschließend in der klassischen Soziologie Gegenstand der Kritik. So formulierte Max
Weber (1920/1972: 725 f.) die ideologiekritische Einschätzung, dass die Idee der Menschenrechte
in einem engen Zusammenhang mit der Entstehung des modernen Kapitalismus steht:
»Es ist klar, dass jene Forderungen formaler Rechtsgleichheit und ökonomischer Bewegungsfreiheit sowohl der Zerstörung aller spezifischen Grundlagen patrimonialer und feudaler
Rechtsordnungen zugunsten eines Kosmos von abstrakten Normen, also indirekt der Bürokratisierung, vorarbeiten, andererseits in ganz spezifischer Art der Expansion des Kapitalismus
entgegenkommen. Wie die von den Sekten mit dogmatisch nicht ganz identischen Motiven
übernommene ›innerweltliche Askese‹ und die Art der Kirchenzucht der Sekten die kapitalistische Gesinnung und den rational handelnden ›Berufsmenschen‹, den der Kapitalismus brauchte,
züchteten, boten die Menschen- und Grundrechte die Vorbedingung für das freie Schalten des
Verwertungsstrebens des Kapitals mit Sachgütern und Menschen.«
Dass mit diesem ideologiekritischen Blick nicht das abschließende Urteil über die Menschenrechte gesprochen ist – wie in manchen Kreisen der politischen Linken vermutet wird – ist schon
deshalb evident, weil sich der philosophische, politische und juristische Menschenrechtsdiskurs seit
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Anfang des 20. Jahrhunderts substantiell weiterentwickelt hat. Bereits die Allgemeine Erklärung
der Menschenrechte von 1948 geht wesentlich über die frühbürgerliche Menschenrechtskonzeption hinaus, indem dort substantielle soziale Menschenrechte deklariert werden. Die bei Max Weber
angelegte soziologische Perspektive, die eine Wahlverwandtschaft von Gesellschaftsstruktur und
Menschenrechtssemantik annimmt, wird bei Bettina Heintz und Klaus Japp in ihren Beiträgen
zum Sammelband ›Menschenrechte in der Weltgesellschaft‹ aktualisiert. Sie gehen dabei von
der These Niklas Luhmanns aus, der in seiner Arbeit ›Grundrechte als Institution‹ (Luhmann,
1965) argumentiert hat, dass die Grundrechte nicht zureichend als Schutzrechte des Individuums
vor staatlichen Eingriffen bestanden werden können, sondern Normen sind, die der Struktur
funktionaler Differenzierung entsprechen: »Für Luhmann hat Religionsfreiheit … nicht nur
die Funktion, die Individuen frei über ihr Glaubensbekenntnis entscheiden zu lassen, sondern
dient auch dazu, die Religion vor staatlichen Eingriffen abzuschirmen. Und ähnlich schützt die
Gleichheit vor dem Gesetz … nicht nur den Angeklagten vor politisch motivierten Urteilen, sie
garantiert auch die Autonomie des Rechtssystems.« (Heintz, 1995: 32). Die analytische Perspektive
einer solchen funktionalistischen Betrachtung der Grundrechte machen sich Heintz und Japp
für eine Auseinandersetzung mit der Funktion der Menschenrechte in der Weltgesellschaft zu
eigen. Heinz formuliert dazu die These eines direkten Korrespondenzverhältnisses von Menschenrechten funktionaler Differenzierung: »Wer funktionale Differenzierung haben will, muss
gleichzeitig für die Umsetzung der Menschenrechte sorgen, und wer sich für deren Umsetzung
einsetzt, transportiert damit, willentlich oder nicht, auch eine spezifische Gesellschaftsform.«
(ebd.: 48) Diese Annahme eines wechselseitig konstitutiven Zusammenhangs ist für das Verhältnis von Politik, Religion, Recht und Kunst zwar zweifellos plausibel und führt entsprechend zu
einer normativen Fassung des gesellschaftstheoretischen Konzepts funktionaler Differenzierung,
keineswegs aber für die kapitalistische Ökonomie, deren Ausdifferenzierung historisch und
systematisch von zentraler Bedeutung für die funktional differenzierte Gesellschaft ist. Denn
dass die kapitalistische Ökonomie der Weltgesellschaft direkte und indirekte Auswirkungen hat,
die zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen führen, ist evident. Dies führt bei Klaus Japp
dazu, dass ein Korrespondenzverhältnis von Menschenrechten und Sozialstruktur einschränkend nicht für die funktional differenzierte Weltgesellschaft, sondern nur für »den Typus des
westlich-liberalen Regimes« (Japp, 2015: 81) annimmt. Japp betont dabei die Paradoxie, dass
die universell gedachten Menschenrechte systematisch eine exklusive Grundstruktur aufweisen:
»Einerseits werden orthodoxe, nicht-deliberative Positionen (insbesondere religiöser Kommunikation) ausgeschlossen […]. Andererseits steckt in der Vorstellung des Menschen an sich …
ein Exklusionskern, der sich in den harten Exklusionszonen der Weltgesellschaft zeigt, wo die
Menschen auch als Personen aus sozialen Beziehungen (vor allem Politik, Wirtschaft, Recht,
Bildung) herausgefallen sind und sich nur noch zusammentun, um das Überleben ihrer Körper
zu sichern.« (ebd.: 82) Damit greift Japp die These des späten Luhmann auf, dass die funktional
differenzierte Weltgesellschaft ihren Anspruch auf Einbezug aller Individuen faktisch nicht
realisieren kann und wendet diese zu einer dezidierten soziologischen Kritik des universellen
Anspruches der Menschenrechte: »Weltgesellschaftlich gesehen treffen weder Grundrechte
westlicher Provenienz noch deren Universalisierung zu Menschenrechten durchgehend auf
entgegenkommende soziale und personale Strukturen. […] Der blinde Fleck des menschenrechtlich legitimierten liberalen Modernitätsregimes sind die Menschenrechte selbst – bzw. ihr
eingebauter … Universalismus. Dessen Ethnozentrismus - oder anders: dessen ethnozentrische,
etwa europäische Eingeschränktheit - bleibt unsichtbar hinter dem magischen Anspruch, alle
Menschen einzubeziehen.« (ebd.: 85)
Eine solche soziologische Perspektive betont, dass die strukturellen Auswirkungen des
westlich-liberalen Regimes, insbesondere seiner Marktökonomie, weltgesellschaftlich zu Exklu-
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sionseffekten führen, die durch eine moralische Inanspruchnahme der Menschenrechte faktisch
ebensowenig aufgefangen werden können wie durch ihre rechtliche Kodifizierung. Im Sinne einer
Verteidigung der Idee der Menschenrechte gegen eine solche Kritik ist jedoch darauf hinzuweisen,
dass den Verfassern der AEDM durchaus bewusst war, dass diese einen gesellschaftspolitischen
Gestaltungsauftrag umfasst, wie im oben bereits zitierten Art. 28 deutlich wird: Die AEDM wurde
von den Staaten der Vereinten Nationen als ein »common standard of achievement« verstanden,
als eine geteilte Zielvorstellung der politischen Gestaltung der nationalen und der internationalen
Ordnung. Dass sich die Menschenrechte bislang im Hinblick auf die internationale politische
und wirtschaftliche Ordnung weitgehend als ein wenig wirksames Instrument erwiesen haben,
ist kein Einwand gegen ihre Programmatik; dies verweist vielmehr auf die Übermacht nationaler politischer sowie ökonomischer Interessen gegenüber menschenrechtlichen Ideen. Anders
formuliert: Die globale politische und rechtliche Regulation der kapitalistischen Ökonomie der
funktional differenzierten Gesellschaft wäre eine notwendige Bedingung für die weltgeschäftliche
Durchsetzung von Menschenrechten. Diese scheitert doch zentral an der nach wie vor primär
nationalstaatlichen Verfasstheit von Politik.
In seiner umfassenden Studie »Recht und Staat nach menschlichem Maß«, die ganz auf die
Begründung eine menschenrechtlich fundierten Rechts- und Staatstheorie zielt, argumentiert
Sandkühler (2013) – vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung der zentralen neuzeitlichen
Staatstheorien – entsprechend, dass eine Gewährleistung von Menschenrechten nur durch eine
Einschränkung der Reichweite kapitalistischer Vergesellschaftung durch einen »die Menschenrechte achtenden und schützenden demokratischen Rechts- und Sozialstaat« (ebd.: 13) möglich ist.
Zentral für diese These ist einerseits die Annahme, dass die in den Menschenrechten enthaltenen
moralischen Ansprüche wirksam nur durch Verrechtlichung durchgesetzt werden können und
Staaten diejenigen Institutionen sind, die eine Rechtsordnung etablieren können. Dies führt bei
Sandkühler nun aber keineswegs zu einer naiven Affirmation von Rechtsstaatlichkeit – er ist sich
sehr deutlich der Paradoxie bewusst, dass staatliche Politik und Gesetzgebung die individuellen
Menschenrechte ebenso bedroht, wie sie Bedingungen ihrer Durchsetzung sind. Sandkühler
versucht diese Paradoxie durch einen normativen und materiellen Begriff des Rechtsstaats aufzulösen: In Anschluss an Kelsen argumentiert er, dass nur eine solche Staatlichkeit als legitim
gelten soll, die auf eine Anerkennung der fundierenden Funktion des Rechts beruht (385 ff.), und
zwar eines solchen Rechts, dessen Kern die Achtung und der Schutz der Menschenwürde ist (409
ff.): »Der Gehalt des materiellen Rechtsstaatsbegriffs ergibt sich aus der Norm der Achtung und
des Schutzes der Menschenwürde und aus dem positiven Recht der Menschenrechte.« (ebd.: 412)
Den so gefassten Rechtsstaatsbegriff verbindet Sandkühler mit der demokratietheoretischen
Überlegunge, dass Demokratie zentral als »Herrschaft des Rechts« (ebd.: 583) zu bestimmen ist.
Dabei versteht er unter Herrschaft des Rechts notwendige Einschränkungen der Souveränität der
jeweils Herrschenden, aber auch der individuellen Autonomie: »Demokratie ist die permanente
Aufforderung zur Selbst-Desillusionierung über die Fähigkeit der Subjekte, unbegrenzt frei und
rational zu handeln und aufgrund von Autonomie im moralischen Sinne ohne Einschränkung
verantwortlich zu sein.« Dem liegt ein Verständnis von Freiheit zu Grunde, nach dem individuelle Handlungsfreiheit immer auch die Möglichkeit impliziert, sich für das moralisch Böse zu
entscheiden. Dies führt in der Konsequenz zu einer explizit anti-utopischen Bestimmung von
Demokratie als rechtlich gebundene staatliche Herrschaftsform. Sandkühler grenzt sich dazu
entschieden gegen ein Verständnis von Demokratie als ideale Gesellschaftsform ab, zentral
mit dem Argument, dass dies faktisch nur zu Enttäuschung, Ressentiments und generalisierter
Demokratieablehnung führen kann. Sein Verständnis von Demokratie begründet er demgegenüber zentral mit dem Argument, eine unaufhebbare Pluralität politischer Ideen und Ideale:
»Demokratie ist die politische Form einer Verweigerung: das eine Ideal, die eine Moral, die eine
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Wahrheit - sie sollen kein Privileg genießen und nicht mit Zwang durchgesetzt werden können.«
(ebd.: 581). Zentral für Sandkühlers Argumentation ist die Absicht, die Möglichkeit und Notwendigkeit eines menschenrechtlich fundierten Verständnisses von Rechtstaat und Demokratie
aufzuzeigen. Er plädiert dezidiert normativ für eine rechtliche Positivierung der Menschenrechte
und für ihre Anerkennung als aus historischen Unrechtserfahrungen abgeleitete Prinzipien mit
universeller Geltung, deren Gewährleistung zentrale Aufgabe von Rechtsstaat und Demokratie
sein soll. Sandkühler ist sich der Tatsache bewusst, dass diese Forderung voraussetzungsvoll ist:
»Demokratie kann scheitern. Sie wird scheitern, wenn nicht die Menschenrechte auf ihrem jeweils entwickeltesten Niveau die Herrschaft des Rechts und den Staat bestimmen.« (ebd.: 583)
Nimmt man diese abschließende These ernst, dann stellt sich die - angesichts globaler Ungleichheiten und des Umgangs der demokratisch verfassten Nationalgesellschaften des Nordwestens
mit den Migrations- und Fluchtbewegungen im Zeitalter fortschreitender Globalisierung – die
Frage, ob die Idee einer menschenrechtlich fundierten Demokratie nicht bereits gescheitert ist.
Denn das Interesse der nationalstaatlich verfassten Demokratien an einer globalen Gewährleistung sozialer Menschenrechte ist ersichtlich gering und die Gewöhnung daran, dass elementare
Menschenrechtsverletzungen im Umgang mit Flüchtlingen alltäglich stattfinden, schreitet fort.
Auf die menschenrechtlich fundierte Kritik der offenkundigen Widersprüche zwischen dem
Anspruch und der Wirklichkeit der Flüchtlingspolitik wird zunehmend mit einer Zurücknahme
des Anspruchs, d. h. nicht zuletzt mit restriktiveren Fassungen des Asyl- und Flüchtlingsrechts
reagiert. Für die Hoffnung auf eine »Demokratie nach dem Nationalstaat«, die sich »auf dem
Wege zu weltbürgerlichen Formen des Zusammenlebens auf der Grundlage der bürgerlichen
und politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte« (ebd.: 583) befindet,
besteht gegenwärtig wenig Anlass. Sandkühler zeigt zwar überzeugend auf, dass eine solche Perspektive staatstheoretisch und rechtstheoretisch begründbar ist, er beansprucht jedoch nicht, eine
historische und soziologische Analyse zu den Bedingungen ihrer Realisierbarkeit vorzulegen.
Insofern stellt Alastair Davidsons historische Studie mit dem Untertitel »The Struggle For
Universal Human Rights« eine notwendige Ergänzung und Erweiterung der rechts- und staatstheoretischen Perspektive Sandkühlers dar. Davidsons Interesse gilt nicht den philosophischen
und rechtlichen Begründungen der Menschenrechte, sondern der Sozialgeschichte ihrer Inanspruchnahme und Durchsetzung: Er rekonstruiert die Entwicklung der Menschenrechtsidee in
einer Perspektive, die die »Erzählungen des Leidens und der Ursachen des Leidens« (Davidson
2012: xvii; Übesetzung hier und im Weiteren A.S.) ins Zentrum stellt, die zur Einforderung
von Menschenrechten geführt haben. In seiner umfassend angelegten Studie zeigt er auf, dass
grundlegende Überzeugungen, die in den bürgerlichen Revolutionen des 18. Jahrhunderts zur
Formulierung von Menschenrechten führten, historisch weiter zurückreichen sowie dass die
AEDM und die daran anschließenden Konventionen der Kumulationspunkt eines langwierigen
historischen Lernprozesses sind. In seiner Analyse argumentiert er, dass die Forderung nach der
Anerkennung von Menschenrechten zentral von denjenigen ausging, die Unterdrückung erfahren
haben sowie dass es bestimmte historische Ausnahmesituationen waren, in denen die politische
und rechtliche Anerkennung menschenrechtlicher Standards durchgesetzt werden konnte.
Vor dem Hintergrund seiner historischen Rekonstruktion stellt Davidson zudem die Annahme
eines wechselseitig konstitutiven Zusammenhangs von Demokratie und Menschenrechten entschieden in Frage. Dies mit zwei Argumenten: Erstens wird argumentiert, dass die Menschenrechte
in der Regel nicht mehrheitsfähig waren: »Dieses Buch zeigt, dass die Mehrheit an fast allen Orten
und zu fast allen Zeiten weit davon entfernt war, diese Rechte zu wollen, die meisten Menschen
wollten sie nicht.« (ebd.: xv). Zweitens zeigt Davidson auf, dass die Idee universeller Menschenrechte historisch und systematisch in einem Spannungsverhältnis zur Realität nationalstaatlich
verfasster Demokratien steht. Davidson weist im Hauptteil seiner historischen Untersuchung
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nach, dass die Etablierung demokratischer Nationalstaaten in den USA, Frankreich und Australien von Anfang an mit gravierenden Repressionen gegenüber Minderheiten verbunden waren.
Die weitgehende Vernichtung der indigenen Bevölkerung in Nordamerika und die Massaker
an den Aborigines in Australien interpretiert er dabei als demokratisch legitimierte Genozide.
Davidson verdeutlicht das Spannungsverhältnis von Nationalstaat, Demokratie und Menschenrechte weiter an den Positionen, die in den Verhandlungen um die Allgemeine Erklärung
der Menschenrechte sowie die Charta der Vereinten Nationen eingenommen wurden. Er zeigt
insbesondere auf, dass dort einflussreiche Forderungen, nicht zuletzt seitens der USA, vorgetragen
und wirkungsmächtig wurden, dass die Menschenrechte keineswegs in einer Weise verstanden
werden können, die zu einer Einschränkung der nationalen Souveränität führt (ebd.: 432 ff.). Im
weiteren historischen Prozess erfolgte dann jedoch eine Verschiebung, in deren Folge die USA
und die EU für sich das Recht reklamieren, die Menschenrechte als Legitimation für Eingriffe
in die Souveränität von Staaten beanspruchen zu können, denen Menschenrechtsetzung vorgeworfen werden. Gleichzeitig aber reklamieren sie ihre nationale Souveränität und den Vorrang
des nationalen Rechts gegenüber universell gefassten Menschenrechten – nicht zuletzt bei der
Abschottung ihrer Außengrenzen gegen unerwünschte Zuwanderer.
Resümierend lässt sich feststellen: Historische und soziologische Studien zeigen auf, dass sich
jede naive Inanspruchnahme der kodifizierten Menschenrechte als eine vermeintlich in sich
unproblematische Wertegrundlage verbietet, während gleichzeitig mit guten philosophischen
Gründen argumentiert werden kann, dass es in soziokulturell pluralen Migrationsgesellschaften
ebenso wie auf der Ebene der Weltgesellschaft keine Alternative zur Beanspruchung der Menschenrechte als normative Grundlage von Gesellschaft- und Sozialkritik gibt. Denn der Rückzug
auf eine bloße Ideologiekritik der Menschenrechte führt ins Bodenlose, zum Verzicht auf Maßstäbe der Kritik, die als eine transkulturell und international plausible Antwort auf Unrechts- und
Leidenserfahrungen verstanden werden können. Der Rückzug auf spezifische politische und/
oder religiöse Konzepte ist meines Erachtens jedenfalls nicht die anstrebenswerte Alternative.
Eine menschenrechtliche Position, die gesellschaftspolitisch zu Forderungen nach Demokratisierung und politischer Eingrenzung der gesellschaftlichen Macht der kapitalistischen Marktökonomie als Bedingungen führt, ist jedoch schon in sich spannungsgeladen, weil sie einerseits
einen im Verhältnis zur Ökonomie starken Staat fordert, der aber gleichzeitig die weitereichende
Autonomie der Zivilgesellschaft und die individuellen Freiheitsrechte respektieren soll. Es ist
konsequent, deshalb eine starke Bindung von Staatlichkeit an kodifizierte, rechtlich bindende
Menschenrechte zu fordern. Ersichtlich aber ist dies nur als Selbstbindung von Staaten an die
Menschenrechte herstellbar, was unter Bedingungen demokratisch verfasster Gesellschaften voraussetzt, dass die rechtliche Kodifizierung von Menschenrechten, auch solcher Menschenrechte,
die mehr sind als die Grundrechte von Staatsbürger/innen, mehrheitsfähig ist.
In einer pessimistischen Perspektive kann man angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen
zu der Einschätzung kommen, dass die Hochphase des Menschenrechtsdiskurses möglicherweise
beendet, d.h. ein weiteres Zurückdrängen der politischen Bedeutung der Menschenrechte zu
erwarten ist. Die optimistische Alternative dazu wäre das Vertrauen darauf, dass sich unter Bedingungen fortschreitender Globalisierung der Einfluss der wissenschaftlichen und rechtlichen
Diskurse sowie der sozialen Bewegungen zunimmt, die eine Realisierung menschenrechtlicher
Prinzipien in der Weltgesellschaft einfordern. Zahlreiche Indizien sprechen dafür, dass die pessimistische Perspektive die realistischere ist.
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Literatur
Luhmann, N., 1965: Grundrechte als Institution. Berlin
Nassehi, A., 2015: Zirkulation als Selbstzeck? In: A. Scherr
(Hrsg.): Systemtheorie und Differenzierungstheorie
als Kritik. Weinheim/Basel: 56-79
Scherr, A., 2015: Einleitung: Keine 11. These mehr? In:
In: A. Scherr (Hrsg.): Systemtheorie und Differenzierungstheorie als Kritik. Weinheim/Basel: 13-37
Schimank, U., 2015: Die Prekarität funktionaler Differenzierung – und soziologische Kritik als »double talk«.
In: A. Scherr (Hrsg.): Systemtheorie und Differenzierungstheorie als Kritik. Weinheim/Basel: 80-103
Weber, M., 1920/1972: Wirtschaft und Gesellschaft.
Tübingen
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Trendberichte
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Forschungsbericht
Manfred Liebel
Globale Kindheiten und das Versprechen der Kinderrechte
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Sabine Andresen, Claus Koch, Julia König (Hrsg.): Vulnerable Kinder. Interdisziplinäre Annäherungen (= Reihe Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung). Wiesbaden: Springer VS 2015, 245 S., 29,99 €
Paul Close: Child Labour in Global Society (= Sociological Studies of Children
and Youth, Volume 17). Bingley: Emerald Group Publishing Ltd. 2014, 246 S.,
100,63 € (Hardcover)
Luise Hartwig, Gerald Mennen, Christian Schrapper (Hrsg.): Kinderrechte als
Fixstern moderner Pädagogik? Grundlagen, Praxis, Perspektiven. Weinheim/
Basel: Beltz Juventa 2016, 315 S., 39,95 €
Ingi Iusmen, Helen Stalford (eds.): The EU as a Children’s Rights Actor. Law,
Policy and Structural Dimensions. Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich
Publishers 2015, 331 S., 42,00 €
Brian Milne: Rights of the Child. 25 Years after the Adoption of the UN Convention. (= Children’s Well-Being: Indicators and Research 11). Cham et al.:
Springer International Publishing 2015, 225 S., 106,99 € (Hardcover)
Kate Cregan, Denise Cuthbert: Global Childhoods. Los Angeles et al.: SAGE
Publications Ltd. 2014, 196 S., 36,10 € (Paperback)
Wouter Vandenhole, Ellen Desmet, Didier Reynaert, Sara Lembrechts (eds.):
Routledge International Handbook of Children’s Rights Studies. London/New
York: Routledge 2015, 436 S., 143,28 € (Hardcover)
Einleitung
Dieser Forschungsbericht ist Monografien und Sammelbänden aus den beiden letzten Jahren
gewidmet, in denen neue und teils ungewohnte Überlegungen zur Erforschung von Kindheiten
und Kinderrechten sowie diesbezügliche Resultate präsentiert werden. Sie beziehen sich auf Fragen, die bisher nur wenig beachtet und bearbeitet worden sind. Vor allem wird in ihnen sichtbar,
dass der Blick auf Kindheiten und Kinderrechte in verschiedenen Teilen der Welt offener und
differenzierter werden und die konkreten Lebensverhältnisse der Kinder stärker beachten muss.
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Kinder als verletzliche Wesen
Die besondere Verletzlichkeit von Kindern wird oft in grob vereinfachender Weise als eine bloße
Naturtatsache dargestellt und als Rechtfertigung für die Bevormundung von Kindern benutzt,
z.B. in manchen institutionalisierten Formen und Maßnahmen des Kinderschutzes. Auch Spendenkampagnen von Kinderhilfsorganisationen bemühen oft die Bedürftigkeit und vermeintliche
Hilflosigkeit von Kindern, um Mitleid und Spendenbereitschaft zu erzeugen. Oder staatliche
Interventionsprogramme verweisen vorschnell auf vermeintliche Risiken des Kinderlebens
und damit verbundener »Fehlentwicklungen«, um Eingriffe in das Leben von Kindern im Sinne
einer bestimmten politischen oder pädagogischen Ideologie zu rechtfertigen, etwa nach dem
Motto, in die Kinder müsste mehr und früher »investiert« oder sie müssten »strenger erzogen«
werden. Um einem solch manipulativen Umgang mit der Verletzlichkeit von Kindern zu begegnen, bedarf es dringend der wissenschaftlichen Aufklärung durch möglichst interdisziplinäre
und unvoreingenommene Forschung. Dabei ist es nicht damit getan, nur auf die besonderen
Fähigkeiten, Handlungspotentiale oder die Rechte von Kindern zu verweisen, so wichtig dies
ist, sondern es muss auch den Gründen der Verletzlichkeit von Kindern selbst auf den Grund
gegangen werden. In dem von Sabine Andresen, Claus Koch und Julia König herausgegebenen
Sammelband Vulnerable Kinder wird dies versucht.
Der Ausgangspunkt für die in dem Band behandelte Thematik liegt nach Bekunden der
Herausgeber*innen in folgendem Tatbestand. Die sozial- und erziehungswissenschaftliche Kindheitsforschung mit ihrer Betonung der Akteursperspektive der Kinder habe die Verletzlichkeit
als Merkmal von Kindheit in den vergangenen Jahrzehnten eher gemieden und anderen Disziplinen wie der Medizin, der Evolutionstheorie, den Neurowissenschaften und der Psychologie
überlassen. So habe in den erziehungswissenschaftlichen Diskursen die Perspektive auf die
relative Autonomie, die Fähigkeiten und Handlungsressourcen von Kindern dominiert. Dies
sei zwar als Reaktion auf die machtvolle Konstruktion des erziehungsbedürftigen, schwachen
und unreifen Kindes nachvollziehbar, habe aber mitunter dazu geführt, »die Verletzlichkeit von
Kindern ebenso zu überspielen wie ihre physische und psychische Angewiesenheit auf bestimmte
Ermöglichungsbedingungen ihrer Selbstständigkeit« (S. 9).
Ohne die Kinder als (mögliche) Akteure aus dem Auge zu verlieren, soll in dem Band der
Akzent darauf liegen, dass und in welcher Weise Kinder verschiedenen Alters auf die Sorge und
liebevolle Zuneigung der Älteren angewiesen sind. Als »anthropologische Ausgangssituation des
Menschen« als einer »Frühgeburt« müsse die Ungleichheit im Generationenverhältnis hinsichtlich des Machtgefälles und der damit verbundenen Handlungsfähigkeiten und -spielräume mit
bedacht werden. Die »Unausweichlichkeit der Generationendifferenz« soll gesellschaftstheoretisch und subjekttheoretisch mit der Analyse der Handlungsmöglichkeiten und -fähigkeiten
von Kindern vermittelt werden.
Die Herausgeber*innen sehen sich aber auch veranlasst, darauf hin zu weisen, »dass in den
westlichen Industriegesellschaften des globalen Nordens die dramatisch in Szene gesetzte Vulnerabilität von Kindern gegenwärtig eine hohe Konjunktur hat« (S. 10). Insbesondere kritisieren sie
die »hektisch zusammengeflickten Aktions- und wohlfahrtsstaatlichen Steuerungsprogramme«
(S. 10), die nur auf die Korrektur von Verhaltens- und Entwicklungsstörungen fokussiert sind.
Das gravierendste Problem dieses Trends sehen sie darin, »dass dieses jeglicher Ambivalenz
entledigte Gefährdungsparadigma den Erkenntnissen der Kindheitsforschung, welche die
tatsächlichen Eigenständigkeiten von Kindern herausgearbeitet hat, gänzlich unvermittelt entgegengesetzt steht« (S. 10). Vor diesem Hintergrund sehen die Herausgeber*innen das Ziel des
Bandes darin, »die kindliche Vulnerabilität im Konfliktfeld von Bedingungen selbstbestimmten
kindlichen Agierens und der Gefährdung und Begrenzungen solcher Ermöglichungsbedingungen
zu diskutieren« (S. 10).
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Der Band ist in vier Teile gegliedert. Im ersten Teil wird Vulnerabilität als Dimension von
Beziehung und Bildung systematisch diskutiert. Im zweiten Teil geht es um eine historisch-kulturwissenschaftliche Rekonstruktion des Bildes vom »vulnerablen Kind« und um das Verständnis
der transgenerationellen Bedeutung des Erzählens. Der dritte Teil ist den Zusammenhängen von
sozialer Ungleichheit und Vulnerabilität gewidmet, wobei den Erfahrungen materiellen Mangels,
von Stigmatisierung und Ausgrenzung besondere Bedeutung beigemessen wird. Im vierten Teil
wird die leibliche Dimension von Vulnerabilität unter Bezug auf Sexualität und Gewalt beleuchtet.
Der Band wird mit einem Beitrag des Frankfurter Erziehungswissenschaftlers und Moralphilosophen Micha Brumlik abgeschlossen. Auch mehrere Autorinnen des Bandes beziehen sich auf
seine grundlegenden Schriften, insbesondere diejenigen zur Advokatorischen Ethik (Brumlik,
1992) und Gerechtigkeit zwischen den Generationen (Brumlik, 1995). Der Band, der auf den
Beiträgen einer Fachtagung anlässlich der Emeritierung von Micha Brumlik basiert, ist nicht
zuletzt als Würdigung von dessen Persönlichkeit und Werk zu verstehen.
Indem der hier vorgestellte Band die Thematik der Vulnerabilität zur Akteursperspektive
der heutigen sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung in Beziehung setzt, hebt er sich wohltuend von anderen Veröffentlichungen (nicht zuletzt in den Medien) zur Verletzlichkeit und
Hilfsbedürftigkeit von Kindern ab. Er vermittelt profunde und differenzierte Einblicke in die
sozialwissenschaftliche und psychologische Fachdiskussion, vor allem mit Blick auf pädagogische
Fragestellungen und Herausforderungen. Namentlich der Beitrag von Vera King macht mit seiner
präzise formulierten subjekt- und kulturtheoretischen Reflexion kindlicher Angewiesenheit auf
Ältere und der Ambivalenzen in den Generationsbeziehungen auf bisher wenig bedachte Dimensionen des Themas Vulnerabilität aufmerksam. Oder in dem Beitrag von Sabine Andresen wird
in gelungener Verbindung von kindheitstheoretischen Überlegungen und empirischen Befunden
verdeutlicht, wie die Vulnerabilität von Kindern aufs engste durch prekäre Lebensverhältnisse
und soziale Ungleichheit mit bedingt ist.
Einzelne Beiträge, vor allem diejenigen zur Diskursanalyse und psychoanalytischen Zugängen
machen es aufgrund des verwendeten Fachjargons den Leserinnen und Lesern, die nicht in diesen
Fachgebieten zu Hause sind, gewiss nicht leicht, die Argumente nachzuvollziehen. Es lohnt aber
allemal, sich auf sie einzulassen. Bei der Rede von »Subjektivierung« ist es z.B. unerlässlich, sich
näher mit dem Subjektverständnis des französischen Philosophen Michel Foucault zu befassen.
Bei der einfühlsamen Interpretation der Bilder des aus Kolumbien stammenden und in Paris
lebenden Malers Fernando Botero gilt ähnliches für die teils kontroverse psychoanalytische
Fachdiskussion zum Verständnis von Traumata, aber auch für die in postkolonialen Theorien
angesprochene »epistemische Gewalt« westlicher Diskurse, auf die die Autorin nur knapp (aber
immerhin) Bezug nimmt.
An einigen Stellen des Bandes wird darauf hingewiesen, dass sich die Beiträge auf Kinder in
den eher wohlhabenden Gesellschaften des globalen Nordens beziehen. Gleichwohl ist mitunter
in generalisierender Weise von »Moderne« oder »modernen Konzepten« die Rede, ohne diese zu
lokalisieren und zu spezifizieren. Zwar klingt in manchen Beiträgen an, dass die so bezeichneten
Phänomene in sich widersprüchlich sind und sogar zu zusätzlichen Belastungen führen und zur
Vulnerabilität von Kindern beitragen können. Aber es wird ausgespart, dass sie sich weitgehend
der Kolonisierung und Ausbeutung »fremder« Erdteile und nachfolgenden postkolonialen
Machtkonstellationen verdanken, von denen sie mit infiziert sind (z.B. in Migrationsprozessen
oder dem Kampf von Unternehmen und Staaten um wirtschaftliche Standortvorteile). Hier
wäre für die weitere Debatte und Forschung zur Vulnerabilität von Kindern wünschenswert,
auch den Blick auf Gesellschaften und Kulturen im globalen Süden zu richten, in denen oft
andere Problemkonstellationen vorliegen, aber auch andere Antworten als in Europa gefunden
werden. Dabei wären auch die postkolonialen Machtkonstellationen mit zu bedenken, wie dies
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zumindest ansatzweise in dem Beitrag von Marianne Leutzinger-Bohleber zu den Bildern von
Fernando Botero geschieht.
Über den kritischen Beitrag von Magrit Stamm und Isabelle Halberkann zum populär gewordenen Konzept der Resilienz hinaus wäre auch wünschenswert gewesen, auf das Spannungsfeld
genauer einzugehen, das zwischen den Polen von Resilienz und Verletzlichkeit angesiedelt ist. Des
Weiteren hätten die gattungsethischen Fragen um die neuen gravierenden Formen von Verwundbarkeit, die etwa Jürgen Habermas (2001) in seiner Auseinandersetzung mit dem Siegeszug der
Biotechnologien und der »liberalen Eugenik« aufwirft, mehr als nur einige Randbemerkungen
verdient gehabt. Sie finden sich immerhin in den Beiträgen, die sich um die asymmetrischen
Generationenverhältnisse drehen.
Zu drei Beiträgen sehe ich mich veranlasst, ausdrücklich kritische Anmerkungen zu machen.
Claus Koch setzt sich unter Bezug auf die sog. Bindungstheorie und darauf aufbauende empirische Studien (vornehmlich in den USA) zur Vulnerabilität im frühen Kindesalter mit aktuellen
Programmen der institutionalisierten Früherziehung in Deutschland auseinander. Er warnt davor,
die Kinder zu früh in Krippen zu betreuen, da sie durch die frühe und langdauernde Trennung
von ihren Eltern (vor allem den Müttern) emotional massiv überfordert und damit in ihrer Persönlichkeitsentwicklung, z.B. im Erwerb der Fähigkeit zur Empathie, gefährdet würden. Auch
wenn er durchaus der Qualität der Früherziehung (z.B. einem günstigen Betreuungsschlüssel)
eine gewisse Bedeutung zumisst, kommt er doch letztlich zu einem pauschalen Urteil, das sich
nur am Alter der Kinder orientiert. Der Autor hätte m.E. die konkrete Lebenssituation der
Kinder, um die es geht, ebenso mit bedenken müssen, wie den politischen Kontext, in dem diese
Debatte in Deutschland geführt wird. Da dies nicht geschieht, läuft der Beitrag Gefahr, von einer
politischen Seite vereinnahmt zu werden, die ihrerseits auf einem obsolet gewordenes Mutterbild und entsprechenden Ideologien einer vermeintlich von der Natur vorgegebenen »heilen
Gesellschaft« aufbaut (wie bei der Kampagne der CSU für das »Müttergeld«, in polemischer
Kritik als »Herdprämie« bezeichnet).
In dem Beitrag von Mechthild Wolff zur Heimerziehung als vulnerablem Lebensort für Kinder
wird der Institution selbst Vulnerabilität attestiert (»Vulnerabilität der Institution Heim«). Ebenso
wie es problematisch ist, von »lernenden Institutionen« zu sprechen und somit strukturelle Gebilde mit menschlichen Eigenschaften auszustatten, trägt die Wortwahl der Autorin dazu bei, die
Institution Heim als Ganze entweder zu idealisieren oder zu verteufeln. Es wäre weiterführend
(gewesen), sich mit unterschiedlich denkbaren Strukturen dieser Institution sowie der Stellung
und den Interessen (sowie der Ausbildung und Haltung) des hier tätigen Fachpersonals auseinanderzusetzen und Alternativen aufzuzeigen, die den Bedürfnissen, Interessen und Rechten der
hier betreuten Kinder gerecht werden (z.B. die Einrichtung unabhängiger Beschwerdestellen).
Hinsichtlich dieser Fragen ist es noch immer lehrreich, sich auf die entsprechenden Erfahrungen
und Vorschläge von Janusz Korczak (in Polen) oder Siegfried Bernfeld (in Österreich) in den
1920er Jahren einzulassen.
Noch eine (etwas längere) Bemerkung zum Beitrag von Micha Brumlik. Der Autor sieht in
der nicht-medizinisch indizierten Beschneidung der Penisvorhaut männlicher Säuglinge, wie sie
in der jüdisch-religiösen (und muslimischen) Tradition verankert ist, einen schwer zu entscheidenden »Grenzfall« der von ihm auf Immanuel Kant zurückgeführten advokatorischen Ethik,
aber letztlich gelangt er zu dem Schluss, sie verteidigen zu müssen. Brumliks Argumentation
ist – wie immer in seinen Schriften – scharfsinnig, und er macht zu Recht auf oft mitspielende
Ressentiments in der Debatte zum Thema aufmerksam. Aber bei seiner Verteidigung dieses – wie
er selbst zugesteht – äußerst schmerzhaften Rituals macht er es sich zu leicht. Der Eingriff in die
körperliche Unversehrtheit von Kindern kann m.E. nicht, wie er vorgibt, damit gerechtfertigt
werden, dass generell in Sozialisationspraktiken, wie wir sie bisher kennen, der Körper und die
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Psyche von Kindern von Anbeginn ihres Lebens »geprägt« wird, ohne dass sie eine Chance
haben, sich ihnen zu widersetzen. Es widerspricht auch ethischen Überlegungen, den Eingriff
damit zu rechtfertigen, dass er nur eine kleine Zahl von Kindern betrifft (lässt sich ein ethischer
Grundsatz in utilitaristischer Manier relativieren?), langfristige Schäden nicht zweifelsfrei nachgewiesen seien (müsste nicht eher nachgewiesen werden, dass er keine Schäden verursacht?),
oder dass seine Legalisierung durch den Deutschen Bundestag dem »Rechtsfrieden« gedient
habe (auf wessen Kosten?). Gerade im Sinne einer advokatorischen Ethik wäre stattdessen darauf zu insistieren, solche Praktiken auf ein Minimum (insbesondere auf medizinische Notfälle)
zu beschränken und sie immer wieder im Sinne des Freiheits- und Emanzipationsversprechens
an die Kinder zu problematisieren. Zumal wenn der Gedanke der Kinderrechte und die Anerkennung von Kindern als Rechtssubjekte mit eigener Menschenwürde ernst genommen wird,
sollte jegliche Form paternalistischer Machtausübung (selbst in ihren »weichsten« Varianten)
als bleibendes Problem empfunden und, wo immer möglich, vermieden oder zurückgedrängt
werden. Mit seinem Plädoyer für die Beschneidung von kleinen Jungen allein unter Bezug auf
eine jahrtausendealte Tradition setzt sich Micha Brumlik über die selbst formulierten Kriterien
einer advokatorischen Ethik hinweg. Allerdings müsste das Gleiche auch für andere Eingriffe
in die körperliche Unversehrtheit von Kindern gelten, die bisher weit weniger Aufmerksamkeit
gefunden haben, wie die von Brumlik erwähnte operative Korrektur von »Segelohren« oder
die operative »Vereindeutigung« des Geschlechts bei intersexuellen Kindern. Solche Eingriffe
sollten ebenso wie die Beschneidung mindestens solange unterbleiben, bis Kinder in der Lage
sind, ihren Willen zu bekunden und eine eigene Entscheidung zu treffen.
In der Gesamtschau ist das Buch ein differenzierter und ausgewogener Beitrag zum Verständnis
der Vulnerabilität von Kindern, ohne diese in Gegensatz zu der in der Kindheitsforschung favorisierten Akteursperspektive zu bringen. Auf eindrucksvolle Weise wird in den eher theoretisch
akzentuierten Beiträgen die Balance zwischen anthropologischen und biologischen Gründen
für die Angewiesenheit und Abhängigkeit der Kinder auf der einen Seite und den historisch
variablen sozialen und kulturellen Gründen auf der anderen Seite gewahrt und transparent gemacht. Nicht alle Beiträge sind in gleicher Weise verständlich und überzeugend, aber insgesamt
tragen sie dazu bei, einen tieferen Einblick in die verschiedenen Dimensionen der Verletzlichkeit
von Kindern zu ermöglichen. Von besonderem Wert ist, dass die Frage der Vulnerabilität mit
der Frage der Generationsdifferenzen und den darin eingelassenen Ungleichheiten, aber auch
dem damit immer verbundenen Neubeginn in Beziehung gesetzt wird. Wenn die in dem Band
versammelten Argumente ernst genommen würden, müsste sich insbesondere der bisher übliche
paternalistische und bevormundende Kinderschutz in grundlegender Weise wandeln.
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Trendberichte
Ein ungewohnter Blick auf Kinderarbeit
Die dominierenden Diskurse um Kinderarbeit und den Umgang mit ihr folgen ebenfalls paternalistischen Vorstellungen von Kinderschutz. Schon der Terminus »Kinderarbeit« ruft im
Alltagsverständnis Entsetzen hervor, und dieses Entsetzen wird von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und manchen Kinderhilfsorganisationen in ihrem erklärten »Kampf
gegen Kinderarbeit« immer wieder absichtlich geschürt (vgl. Liebel/Meade/Saadi, 2012). Dies
macht ein offenes und differenziertes Verständnis der Arbeit von Kindern und der Bedeutung,
die sie für diese ja nach Lebensumständen erlangt, nahezu unmöglich. In der Regel wird der
Terminus Kinderarbeit in sehr allgemeiner Weise verwendet, der die spezifischen Bedeutungen,
die mit dem englischen Terminus »Child Labour« verbunden werden, kaum beachtet. Darunter
wird gemeinhin eine Arbeit von Kindern verstanden, die unter ausbeuterischen Bedingungen
stattfindet und die den Kindern schadet. Der Terminus wurde in der Auseinandersetzung mit der
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rücksichtslosen Verwertung der Arbeitskraft von Kindern während der Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise geprägt. Er steht heute im Zentrum der Politik der Internationalen
Arbeitsorganisation. Diese zielt auf eine restlose Abschaffung jeder Art von Arbeit, die von
Kindern unterhalb eines bestimmten Mindestalters (in der Regel 15 Jahre bzw. vor Ende der
Schulpflicht) ausgeübt wird, insbesondere wenn sie dem Lebensunterhalt dient.
In unabhängigen Forschungen zum Thema wird immer wieder darauf hingewiesen, dass dieser
Verwendung des Terminus Child Labour und der darauf gründenden »abolitionistischen« Politik
eine vereinfachende und ideologisierende Betrachtungsweise zugrunde liegt. Insbesondere wird
angemahnt, zu beachten, dass die Arbeit von Kindern unter sehr verschiedenen Bedingungen
stattfinden kann und nicht zwangsläufig negative Konsequenzen für Kinder haben muss. Um
der Verschiedenheit der Bedingungen Rechnung zu tragen und der ausschließlich negativen
Bewertung der Arbeit von Kindern, die mit dem Terminus Child Labour verknüpft ist, entgegenzuwirken, wird deshalb in der unabhängigen Forschung nahegelegt, anstelle in bloß abwertender
Weise von »Child Labour« in nicht wertender Weise von »Child Work« oder »Children’s Work«
zu sprechen (vgl. Bourdillon et al., 2010).
Ein Problem des Diskurses und der Politik, die sich um die Termini Kinderarbeit oder Child
Labour ranken, wird auch darin gesehen, dass sie auf einem Kindheitsbild basieren, das mit der
westlich-bürgerlichen Gesellschaft entstanden und nicht ohne weiteres auf andere Gesellschaften
und Kulturen übertragbar ist. Kennzeichnend für dieses Kindheitsbild ist, dass es die Kinder trotz
gängiger Partizipationsrhetorik von der Mitwirkung und Verantwortung in wichtigen Lebensbereichen ausschließt und ihnen auferlegt, sich erst einmal der Schule zu widmen und sich dort
auf den »Ernst des Lebens« vorbereiten zu lassen. Die Schule sei der »beste Arbeitsplatz der
Kinder«, heißt es z.B. in einer Kampagne der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).
Im Rahmen des Kinderarbeits- und Child Labour-Diskurses wird Kindern, die arbeiten, deshalb auch häufig unterstellt, sie seien »Kinder ohne Kindheit«, statt sich zu fragen, ob nicht auch
andere Kindheiten möglich und im Interesse der Kinder sein können. In indigenen Gemeinschaften ist es z.B. üblich, dass Kinder von frühem Alter an kommunitären Arbeiten beteiligt
sind, ohne überfordert oder gar ausgebeutet zu werden. Arbeitende Kinder, die sich in vielen
Ländern des globalen Südens in eigenen sozialen Bewegungen (»Kindergewerkschaften«) zusammengeschlossen haben, fordern ausdrücklich für sich ein Recht zu arbeiten. Dabei geht es
ihnen nicht um jede Art von Arbeit, sondern um eine Arbeit, die ihre Menschenwürde wahrt,
auf die Herstellung lebensnotwendiger Güter gerichtet ist, ihr Leben lebenswerter macht und
ihrer persönlichen Entwicklung zugutekommt.
Von manchen Forschern wird seit den 1990er-Jahren die These vertreten, im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung veränderten sich die Formen der Arbeit von Kindern in grundlegender
Weise. An die Stelle von manueller Arbeit trete die »Schularbeit«, deren Funktion darin bestehe,
»Humankapital« zu erzeugen. Die Kinder werden als Akteure verstanden, die selbst bereits eine
produktive Rolle spielen und dafür auch Anerkennung finden und »entlohnt« werden müssten
(vgl. Qvortrup, 2000). Diese Thesen bilden den Hintergrund des Buches Child Labour in Global
Society des an der University of London tätigen Soziologen Paul Close.
Wenn der Autor von Child Labour spricht, hat er in erster Linie die »Schularbeit« im Sinn –
von ihm »educational labour« genannt. Er geht zwar am Rande auch auf Formen und Bereiche
von Arbeit ein, die von Kindern außerhalb der Schule ausgeübt werden, und setzt sich mit den
darauf bezogenen ILO-Konventionen auseinander, sieht aber keinen Anlass, sie genauer zu betrachten und eigens zu analysieren. Den Schulbesuch betrachtet er deshalb als Arbeit, weil hier
die Kinder unter Bedingungen tätig sind, die industriellen Arbeitsplätzen gleichen. Sie seien hier
in ein Zeit- und Disziplinarregime eingespannt, das ihnen keinen Raum für selbstbestimmtes
Handeln lasse. Sie würden dazu benutzt und abgerichtet, das Funktionieren der kapitalistischen
Gesellschaft und Produktionsweise zu gewährleisten.
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Der Autor geht sogar noch einen wesentlichen Schritt weiter, indem er die Schularbeit als
eine moderne Form der Sklaverei bezeichnet. Dabei bezieht er sich auf den Umstand, dass der
Schulbesuch in fast der gesamten Welt durch die Schulpflicht erzwungen und ihre Nichtbefolgung
unter Strafe gestellt wird. Um die Gleichsetzung mit Sklaverei zu plausibilisieren, beruft sich der
Autor auf eine Definition von Sklaverei, die den Sklaven oder die Sklavin nicht als persönlichen
Besitz des Sklavenhalters, sondern als Objekt von dessen faktischer Macht, über sie beliebig zu
verfügen, versteht.
Der Autor spricht vom Schulsystem als einem »industriellen Komplex«, weil dieses systematisch
nach dem Vorbild industrieller Massenproduktion ausgebaut werde. Dabei setzt er sich kritisch mit
Ideologien auseinander, die die Verallgemeinerung des verpflichtenden Schulbesuchs als Recht
und Chance zur »Bildung für Alle« legitimieren. Schließlich macht der Autor den Versuch, die
Interessen zu identifizieren, die hinter der weltweiten Verbreitung des verpflichtenden Schulbesuchs stehen. In diesem Zusammenhang setzt er sich mit den Institutionen und Organisationen
auseinander, die er »human rights industry« und »citizen-activist communities« nennt. Mit ihren
Kampagnen für die Ausbreitung des Schulsystems als Entwicklungsinstrument, die unter dem
irreführenden Motto des »Rechts auf Bildung« geführt würden, trügen sie dazu bei, die Kinder den
Interessen der erwachsenen Machteliten verfügbar zu machen und ihnen die Freiheit zu rauben,
die ihnen zusteht. An der UN-Kinderrechtskonvention kritisiert er, dass sie auf einem Verständnis
von Kindheit aufbaue, wonach Kinder »von Natur aus« unreif, schutz- und entwicklungsbedürftig
seien. Indem die Konvention das Recht auf Bildung zur Schulpflicht pervertiere (Art. 28, Abs.
1), verweigere sie den Kindern das Recht, Bürgerinnen und Bürger im vollen Wortsinne zu sein.
Dieses Recht sieht der Autor nur dann gewährleistet, wenn die Kinder aus freiem Willen über
ihre Arbeitskraft verfügen könnten und legalen Zugang zum »freien Arbeitsmarkt« fänden.
Paul Close macht auf manche Aspekte des Themas Child Labour aufmerksam, die wenig
beachtet oder gern unter den Tisch gekehrt werden. So etwa, dass die Schule, so wie sie heute
beschaffen ist, frappant ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen ähnelt, in denen die Arbeitenden
so gut wie machtlos sind und fast alles hinnehmen müssen, was von ihnen verlangt wird. Oder
dass die Schulpflicht ein obrigkeitsstaatliches Relikt ist, das selbstbestimmtes Lernen unmöglich
macht und mit dem sozialdemokratischen oder liberalen Versprechen auf Gleichheit der Bildungschancen lediglich geschönt wird. Sein Eintreten für eine Kindheit, die nicht länger dem Diktat
erwachsener Machteliten unterworfen ist und ein Leben in Würde ermöglicht, ist überzeugend
begründet und in seiner Verve kaum zu überbieten.
Und doch führt das Buch auf Abwege. Schon sein Titel verspricht etwas, was es nicht einlöst.
Das Thema Child Labour hat wesentlich mehr Facetten, als in dem Buch zur Sprache kommen,
zumal wenn es, wie der Autor beansprucht, unter soziologischen Fragestellungen angegangen wird.
Ihm fehlt nahezu vollständig ein Begriff von Arbeit, der über den Verkauf von Arbeitskraft auf
dem sog. Arbeitsmarkt hinausgeht. Arbeit kann auf sehr verschiedene Weise verstanden werden.
Aber immer gehört auch dazu, dass sie eine Voraussetzung des Lebens ist, nicht nur weil sie ein
monetäres Einkommen ermöglicht, sondern mehr noch weil sie Güter und Dienstleistungen
(»Gebrauchswerte«) hervorbringt, ohne die kein Mensch existieren könnte. In Closes Szenario
scheint der Gipfel von Freiheit und Lebenssinn darin zu bestehen, dass ein Mensch seine Arbeitskraft frei verkaufen kann. In dem Umstand, dass Kinder daran gehindert werden, sieht er
den Kern ihrer Unterdrückung.
Sicher ist richtig, dass Arbeit schon lange nicht mehr nur als manuelle Arbeit verstanden werden kann, sondern Teil eines komplexen sozioökonomischen Zusammenhangs ist, zu dem auch
Wissen und Bildung gehört. Aber daraus lässt sich nicht so gradlinig, wie es der Autor tut, ableiten,
dass das Handeln der Kinder in der Schule mit Arbeit gleichzusetzen sei. Oder gar, dass Kinder
in der globalisierten Welt nur noch arbeiten, indem sie in der Schule ihr eigenes Humankapital
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erzeugen. Nach wie vor gibt es Millionen von Kindern, die aus verschiedenen Gründen und unter
sehr verschiedenen Bedingungen außerhalb der Schule einer Arbeit nachgehen. Nicht alle, aber
die meisten werden auch in der Schule in Anspruch genommen (nicht wenige arbeiten sogar,
um überhaupt eine Schule besuchen zu können), aber das, was ihnen in der Schule ermöglicht
oder abverlangt wird, hat wenig mit der Arbeit und den Erfahrungen zu tun, die sie außerhalb
der Schule machen oder in Zukunft machen werden. Nicht von ungefähr wird deshalb immer
wieder darüber nachgedacht (und mitunter werden auch praktische Versuche unternommen),
schulisches Lernen mit konkreten Arbeitserfahrungen zu verbinden (z.B. bei Kindern, die als
»schulmüde« oder »schulungeeignet« gelten).
Sehr ernst zu nehmen ist das Argument des Autors, dass die Schule mittels der Schulpflicht dazu
benutzt wird, um Kinder von anderen, als »nicht sinnvoll« oder »nicht lernrelevant« geltenden
Tätigkeiten abzuhalten, zumal solchen, die gemeinhin als Arbeit verstanden werden. So setzt
etwa die International Labour Organisation ganz offen darauf, ihrem Ziel der »vollständigen
Abschaffung der Kinderarbeit« mittels Durchsetzung der Schulpflicht und Ausweitung der
Schulbesuchszeiten näher zu kommen. Auch hier ist zwar viel von Bildung die Rede, die den
Kindern ermöglicht werden soll, aber faktisch wird die Schule als ein Instrument verstanden,
das andere, als »nicht kindgemäß« geltende und der sozialen Kontrolle entzogene Tätigkeiten
unmöglich machen soll.
Dem Autor ist zuzustimmen, wenn er die Schule als eine Art Zwangsapparat versteht, in dem
die Kinder fremden Zwecken verfügbar gemacht und einem Verhaltenstraining unterworfen
werden, das sie zu fügsamen und vielseitig einsetzbaren »Arbeitnehmern« in einer kapitalistisch
geprägten Ökonomie abrichtet. Aber das schulische Dasein der Kinder deshalb zu einer Form
der Sklaverei zu erklären, schießt über das Ziel weit hinaus. Die Tatsache, zum Schulbesuch
genötigt zu werden und in der Schule kaum Rechte und eigene Entscheidungsbefugnisse zu
haben, macht Schüler noch lange nicht zu Sklaven. Eine solche Gleichsetzung führt ähnlich wie
Gleichsetzung des Schulbesuchs mit Arbeit dazu, die tatsächlich in vielen Regionen der Erde
(auch in Europa) weiterhin existierenden Formen von Sklaverei, Freiheitsberaubung und Unterdrückung zu verharmlosen.
Die Argumentation des Autors ist eigentümlich deterministisch, wenn er aus den gegebenen
Strukturen und Abhängigkeitsverhältnissen gradlinig den Schluss zieht, die darin eingebundenen
Individuen seien ihnen vollständig unterworfen. Er scheint sich nicht vorstellen zu können, dass
die dem schulischen Reglement ausgesetzten Kinder und Jugendlichen sich trotz kaum vorhandener Rechte auch eigene Handlungsräume bewahren und sich den erfahrenen Zumutungen
widersetzen. Gewiss kommen sie nicht umhin, vieles in der Schule als »notwendiges Übel«
hinzunehmen, aber ob das, was sie in der Schule lernen, immer oder nur dem entspricht, was sie
lernen sollen, steht auf einem anderen Blatt. Statt die Schule als hermetischen Unterdrückungszusammenhang zu dämonisieren, scheint es mir vielversprechender, die Rechte der Kinder in der
Schule und ihre Möglichkeiten zu erweitern, sich gegen Rechtsverletzungen und unzumutbare
Anforderungen zu wehren.
Besonders problematisch finde ich, dass der Autor die einzig befreiende Alternative für die
bislang dem Schulzwang unterworfenen Kinder darin sieht, dem Arbeitsmarkt als »freie Lohnarbeiter« zur Verfügung zu stehen. Trotz mancher antikapitalistischer Pirouetten findet sich in
dem Buch kein Gedanke an Lebens- und Arbeitsformen, die nicht-kapitalistischen Prinzipien
folgen. Arbeitende Kinder und Jugendliche, die für sich das Recht fordern, unter würdigen Bedingungen arbeiten zu können, sind da bereits wesentlich weiter. Sie machen sich Gedanken über
solidarische und nachhaltige Wirtschaftsformen und unternehmen sogar praktische Versuche,
diese hervorzubringen, etwa wenn sie eigene Kooperativen gründen, in denen sie über ihre Arbeitsbedingungen und die herzustellenden Produkte selbst entscheiden. Zwar sind auch solche
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Formen des Wirtschaftens und Arbeitens nicht davor gefeit, von der kapitalistischen Ökonomie
vereinnahmt zu werden – etwa wenn sich die Produzenten um Absatzmärkte für ihre Produkte
bemühen – aber sie enthalten einen Anspruch, der sich nicht mit der bloßen Konkurrenz auf
dem Arbeits- und Warenmarkt begnügt.
Trotz bester Absichten schlägt sich der Autor selbst ein Schnippchen, indem er in einem
abstrakten Freiheitsbegriff befangen bleibt, der sich Freiheit nur als Freiheit von Zwang, aber
nicht als Wegweiser zu einem besseren und befriedigenderen Leben vorstellen kann. Das Buch
vermittelt eine Reihe von bemerkenswerten Eindrücken, wie das durch die Schulplicht geprägte Schulleben für Kinder zur Qual werden und ihre Menschenwürde missachten kann, aber es
verfehlt den im Titel formulierten Anspruch, ein tiefergreifendes und differenziertes Verständnis
der Arbeit von Kindern in einer sich globalisierenden Welt zu vermitteln.
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Trendberichte
Kinderrechte als Fixstern der Pädagogik?
Vor nunmehr fast 27 Jahren, am 20. November 1989, wurde die UN-Kinderrechtskonvention
von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen. Mit ihr wurden erstmals
Kinder als Subjekte eigenen Rechts in international verbindlicher Weise anerkannt. In der Kinderrechtskonvention sind politisch-zivile, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte in einem
einzigen Menschenrechtsvertrag zusammengefasst, wobei hervorzuheben ist, dass neben Schutzund Förderrechten erstmals auch Partizipationsrechte verankert wurden. Die Konvention und
drei inzwischen beschlossene Zusatzprotokolle haben weltweit ein Umdenken über die soziale
Stellung von und den Umgang mit Kindern eingeleitet. Auch in Deutschland kamen seitdem
einige rechtliche Regelungen zustande, die kinderrechtliche Vorgaben aufnehmen und Kindern
zugutekommen, z.B. das im Bürgerlichen Gesetzbuch seit dem Jahr 2000 verankerte Recht auf
»gewaltfreie Erziehung«. Aber noch immer sind die Kinderrechte nicht im Grundgesetz verankert
und es fehlt an einem umfassenden Kinder- und Jugendgesetz, wie es in vielen anderen Ländern
inzwischen existiert (vgl. Maywald, 2012; Liebel, 2015a).
Zahlreiche Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO), die mit Kindern befasst sind, orientieren
ihre Arbeit heute an den Kinderrechten und setzen sich in Netzwerken (z.B. der »National Coalition Deutschland«) für ihre Umsetzung ein. In Deutschland haben sie erreicht, dass seit November
2015 eine unabhängige Monitoringstelle beim Deutschen Institut für Menschenrechte überprüft,
in wie weit staatliches Handeln den Maßgaben der UN-Kinderrechtskonvention entspricht. In
einer Reihe von Kommunen sind Kinderinteressenvertretungen entstanden. Sie verfügen zwar
nur selten über die notwendigen rechtlichen Kompetenzen (z.B. als Beschwerdeinstanz) und sind
nur unzureichend materiell ausgestattet, aber sie beleben das Interesse an den Kinderrechten,
nicht zuletzt bei Kindern und Jugendlichen selbst. In Deutschland wie in vielen anderen Ländern
greifen Kinder und Jugendliche die ihnen in der Konvention verbürgten Rechte heute auf und
machen sie zu ihrer eigenen Sache, teilweise auch in organisierter Weise. Mitunter formulieren
sie sogar Rechte, die in der Konvention nicht vorgesehen sind, und fordern sie ein.
Kaum jemand bestreitet heute noch, dass Kinderrechte gerade in pädagogischen Institutionen
wie Schulen, Kindertagesstätten und Heimen mehr Beachtung finden müssen und dass sich professionelles pädagogisches Handeln stärker an ihnen orientieren muss. Aber in welcher Weise dies
geschehen kann und vor allem welche Änderungen der Machtstrukturen in den pädagogischen
Institutionen und Beziehungen dafür erforderlich sind, darüber besteht noch wenig Klarheit.
Aber es wird immerhin mehr darüber nachgedacht und gestritten.
Das von Luise Hartwig, Gerald Mennen und Christian Schrapper herausgegebene Buch Kinderrechte als Fixstern moderner Pädagogik? geht auf einen Kongress zurück, der im Herbst 2014
in Koblenz von der OUTLAW-Stiftung gemeinsam mit der Universität Koblenz-Landau und der
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Fachhochschule Münster veranstaltet worden war. Die Stiftung verfolgt nach eigenem Bekunden
das Ziel, »Projekte zu fördern und/oder entsprechende Maßnahmen selbst zu ergreifen, die die
Rechte von Kindern und Jugendlichen in den Mittelpunkt stellen und publik machen« (Selbstdarstellung). Der größte Teil der Beiträge basiert auf Vorträgen des Kongresses.
Mit dem blumigen Bezug zu »Fixsternen« im Titel des Buches wollen die Herausgeber*innen
unterstreichen, dass sie die Kinderrechte – ähnlich wie die Fixsterne in früheren Zeiten für Seefahrer – als »Orientierungsmarken« für die pädagogische Arbeit verstehen. Allerdings müssten
diese von den Pädagoginnen und Pädagogen »gekannt, eingeordnet und gedeutet werden«, um
nicht »in Untiefen oder auf Klippen, die in ihrer Arbeit ebenfalls reichlich drohen« (S. 13) zu
geraten. Mit der Publikation wird das Ziel verfolgt, »geeignete Wege zu identifizieren und zur
Diskussion zu stellen, wie die Kinderrechte im alltäglichen Leben ebenso wie in aktuellen gesellschaftlichen und politischen Debatten mit Leben gefüllt werden können« (S. 17).
Die insgesamt 29 Beiträge des Buches sind drei Hauptteilen zugeordnet, die jeweils mit »Grundlagen«, »Praxis« und »Perspektiven« überschrieben sind, und enden mit einem »Schlusskapitel«,
in dem die Herausgeber*innen die Quintessenz der Beiträge resümieren und mit Vorschlägen
für den künftigen Umgang mit Kinderrechten verbinden. Fast alle Beiträge beziehen sich auf die
Bedeutung der Kinderrechte für die pädagogische Praxis im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe
bzw. folgen sozialpädagogischen Fragestellungen (zu Kinderrechten in der Schule vgl. Prengel/
Winklhofer, 2014; Krappmann/Petry, 2016).
Wie alle Sammelbände, die aus Beiträgen von Kongressen und Tagungen zusammengestellt
werden, steht auch der vorliegende Band vor der Herausforderung, diese in einer strukturierten
und gut lesbaren Form zu präsentieren. Die Unterteilung in Grundlagen, Praxis und Perspektiven
klingt gut, wirft aber die Frage auf, in welcher Weise die eher grundsätzlichen und programmatischen Beiträge mit den Berichten aus der Praxis verbunden und aufeinander bezogen werden.
Dies ist naturgemäß während eines Kongresses selbst kaum möglich, aber es ist anzunehmen,
dass sie dort wechselseitig diskutiert worden sind. Eine solche Diskussion ist in dem Band selbst
leider nicht nachzuvollziehen, zumal auch die Herausgeber*innen in ihrem Schlusskapitel auf
eine entsprechende kritische Rückspiegelung verzichten. Stattdessen konzentrieren sie sich
darauf, ihre eigene Sicht der Kinderrechte mit Blick auf die pädagogische Praxis darzustellen.
In den Beiträgen wird nicht nur thematisch ein weiter Bogen gespannt, sondern sie unterscheiden sich auch in ihren Positionierungen und ihrer analytischen Qualität. Neben anspruchsvollen
Reflexionen über den Sinngehalt der Kinderrechte und die Herausforderungen, die sich bei
ihrer »Übersetzung« in der sozialpädagogischen Praxis stellen, finden sich distanzlose Erfahrungsberichte und programmatische Aussagen, die eher Glaubensbekenntnissen gleichen. Hier
hätten die Herausgeber*innen eine Auswahl treffen oder die Darstellungen mit den Autorinnen
und Autoren vor ihrer Veröffentlichung diskutieren und bearbeiten sollen. Denn es ist ein Unterschied, Vorträgen auf einem Kongress zuzuhören oder sie nachträglich in ihrer schriftlichen
Fassung zu lesen.
Die Entscheidung der Kongressveranstalter und der Herausgeber*innen, die Kinderrechte
als »Fixstern« zu bezeichnen, legt den Eindruck nahe, dass sie der kritischen Reflektion der
Kinderrechte selbst keine große Bedeutung beimaßen. Das Bild vom Fixstern ist auch schief,
da es erstens mehrere davon gibt (und die Bezeichnung aus heutiger naturwissenschaftlicher
Sicht auch unpräzise ist) und zweitens die Kinderrechte im Unterschied zu den Fixsternen
keine Naturtatsache, sondern ein menschliches Produkt sind. Dieses ist nicht nur verschieden
zu verstehen und zu interpretieren, sondern verdankt sich auch bestimmten historischen und
soziopolitischen Konstellationen und ist für Änderungen und Weiterentwicklungen offen. Gerade die offenkundigen Schwierigkeiten, ihnen in verschiedenen pädagogischen Praxisfeldern
gerecht zu werden, laden dazu ein, darüber nachzudenken, unter welchen Voraussetzungen die
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Kinderrechte entstanden und wie sie im Licht der Praxiserfahrungen zu kontextualisieren und
nicht zuletzt weiterzuentwickeln sind.
Ohne Zweifel finden sich in mehreren Beiträgen des Bandes (vor allem in den Beiträgen
von Jörg Maywald, Hans Jürgen Schimke, Kay Biesel und Sabina Schutter) hierzu sehr bedenkenswerte Hinweise und Anregungen. Auch das Schlusskapitel der Herausgeber*innen mit
seinen Hinweisen auf die »eigenständigen Perspektiven« von Mädchen und Jungen sowie das
»Spannungsverhältnis« von Pädagogik, Erziehung und Recht enthält solche Anregungen. Trotz
mehrfach zu findender Hinweise zur Notwendigkeit der Partizipation von Kindern bleibt allerdings in fast allen Beiträgen des Bandes unterbelichtet, wie sich je nach Lebensumständen die
Kinderrechte aus der Sicht von Kindern darstellen und wie Kinder selbst sie in ihrem Interesse
nutzen können. Diese Frage ist nicht zuletzt im Rahmen pädagogischer Institutionen und Beziehungen wichtig, wo sie in Widerspruch zu den »asymmetrischen« Machtverhältnissen geraten.
Dieses Manko spiegelt sich auch darin, dass in einigen Beiträgen unbedacht (?) davon die Rede
ist, die Kinder müssten »beteiligt werden«. Bei Unternehmen, die die Umwelt schädigen, mag
eine solche Formulierung angebracht sein, um sie zur Kompensation dieser Schäden zu veranlassen, bei Kindern (und bei Menschen überhaupt) sollte Partizipation jedoch als ein Handeln
eigenständiger Subjekte verstanden und entsprechend bezeichnet werden.
Insgesamt gibt der Sammelband einen breiten Überblick über Versuche, das Handeln in
verschiedenen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe an den Kinderrechten zu orientieren. Er
vermittelt einige bedenkenswerte Grundlagen für die Reflexion der Praxis und zeigt mögliche
Perspektiven auf. Der von den Herausgeber*innen formulierte Anspruch, »Praxis-Entwicklung
und Theorie-Reflexion produktiv aufeinander zu beziehen« (S. 311), wird in dem Band selbst
allerdings nur ansatzweise eingelöst.
Heft 73/2016
Trendberichte
Europa als Fixstern der Kinderrechte?
Nach Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention hat es noch einige Jahre gedauert, bis
auch der Europarat (Council of Europe) und die Europäische Union (EU) zu Akteuren der
Kinderrechte geworden sind.
Dem Europarat, der am 5. Mai 1949 von zunächst 10 westeuropäischen Staaten gegründet wurde,
gehören derzeit 47 Staaten einschließlich der 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union an.
Der Europarat ist vor allem ein Forum für Debatten über allgemeine europäische Fragen, er ist
jedoch auch befugt, Konventionen zu beschließen, die für die Mitgliedsstaaten rechtsverbindlich
sind. Dies gilt z.B. für die am 4. November 1950 beschlossene Europäische Menschenrechtskonvention, deren Einhaltung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte überwacht wird.
Seit der Europarat im Jahr 2006 das Programm »Building a Europe for and with children«
beschlossen hatte, hat er mehrere Erklärungen und Leitlinien zu Kinderrechten veröffentlicht.
Sie kulminierten im Juli 2016 in dem Dokument »Strategie für die Rechte des Kindes (1916 –
2021)« mit den Schwerpunkten: gleiche Chancen für alle Kinder, Partizipation aller Kinder;
ein Leben frei von Gewalt für alle Kinder, kinderfreundliche Justiz für alle Kinder und Rechte
des Kindes in der digitalen Umgebung (http://www.coe.int/en/web/children/children-s-strategy;
zur Kinderrechtspolitik des Europarats siehe auch Council of Europe, 2016; van Bueren, 2008).
Die beiden wichtigsten gesetzlichen Grundlagen der Europäischen Union sind der Vertrag
von Amsterdam (1997) und die Charta der Grundrechte vom 7. Dezember 2000, die seit dem
Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags am 1. Dezember 2009 als eine Art europäische Verfassung gilt und für die EU-Staaten (mit eingeschränkter Geltung in Großbritannien und Polen,
die Vorbehalte geltend gemacht hatten) rechtsverbindlich ist. Der Amsterdamer Vertrag widmet
sich in drei Artikeln dem Kinderschutz, der Kinderarmut und sozialen Ausgrenzung sowie der
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Diskriminierung von Kindern. Die Charta der Grundrechte betont im Unterschied zu den vorangegangenen EU-Verträgen die Anwendbarkeit von Grundrechten auf Kinder. Am wichtigsten ist
der Artikel 24. Er verweist zwar nur in einer Fußnote auf die UN-Kinderrechtskonvention, aber
der Text enthält Bezüge auf »das beste Interesse des Kindes« und sein Recht auf Partizipation.
Obwohl der Artikel im ersten Absatz nur angibt, dass Kinder »ihre Sichtweisen frei ausdrücken
können«, ohne dies als Recht anzuerkennen, bedeutet er einen Fortschritt gegenüber der bisher
dominierenden Auffassung, dass Kinder nur schutzbedürftig seien. Absatz 2 geht sogar noch
weiter, indem er nahelegt, die Interessen von Kindern in allen politischen Bereichen, die sie
betreffen, zu berücksichtigen. (Eine solche oder ähnliche Verankerung der Kinderrechte steht
im deutschen Grundgesetz bis heute aus.) Die Grundrechtecharta geht damit auch über die allgemeine Erwähnung von Kinderrechten in der Europäischen Konvention für Menschenrechte
von 1950 hinaus.
Am 4. Juli 2006 hatte die EU-Kommission erstmals »Überlegungen zu einer EUKinderrechtsstrategie« veröffentlicht. Damit wollte sie die kinderrechtsrelevanten Aktivitäten
besser koordinieren und Kinderrechte stärker in die Politik der EU integrieren. Statt einer zusammenhängenden Strategie präsentierte die EU-Kommission allerdings am 15. Februar 2011
eine »Agenda für die Rechte des Kindes«, die sich auf Einzelmaßnahmen beschränkt, die in den
nachfolgenden Jahren umgesetzt werden sollten. Dazu zählen:
– die Justizsysteme in der EU kindgerechter zu gestalten;
– spezielle Aktionen zum Schutz von schutzbedürftigen Kindern in der EU: Kinder in Armut,
behinderte Kinder, Opfer von sexueller Ausbeutung und Menschenhandel, Asyl suchende
Kinder, unbegleitete oder von ihren Eltern getrennt Kinder aus Drittstaaten, Roma-Kinder;
Kinder ohne Schulabschluss und Schulabbrecher; Alarmsysteme für vermisste und entführte
Kinder; Schutz von Kindern im virtuellen Raum;
– Förderung und Schutz der Kinder außerhalb der EU: Bekämpfung der Gewalt gegen Kinder,
Bekämpfung von Kinderarbeit, Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten, Ausrottung
des Sextourismus mit Kindesmissbrauch, humanitäre Hilfe für Kinder in Not- und Krisensituationen;
– Kindern Gelegenheit geben, ihre Meinung zu äußern und angehört zu werden (ohne konkrete
Maßnahmen zu nennen; unter anderem dafür war in der »Mitteilung« der EU-Kommission
von 2006 ein »Forum für die Rechte des Kindes« vorgesehen, das seitdem zwar mehrmals
tagte, aber ohne je Kinder einzuladen);
– Kinder besser und verständlicher über ihre Rechte informieren: auf dem Webportal EUROPA
eine besondere Einstiegsseite für Kinder einrichten.
Nach einer Bemerkung, dass mehr in die Kinder »investiert« werden müsse, endet die EUAgenda mit den aufmunternden Worten: »Alle Akteure müssen ihr Engagement erneuern,
wenn die Vision von einer Welt Wirklichkeit werden soll, in der Kinder Kinder sein dürfen und
in Sicherheit leben, spielen, lernen, ihr ganzes Potenzial entfalten und das Beste aus den sich
bietenden Möglichkeiten machen können.« (http://ec.europa.eu/justice/policies/children/docs/
com_2011_60_de.pdf)
In dem von Ingi Iusmen und Helen Stalford herausgegebenen Buch The EU as a Children’s
Rights Actor wird eine kritische Bestandsaufnahme der bis dato beschlossenen Pläne und Maßnahmen der Europäischen Union zur Umsetzung der Kinderrechte innerhalb und außerhalb ihrer
Grenzen vorgenommen. Es handelt sich um einen Sammelband mit Beiträgen von Rechts- und
Sozialwissenschaftler*innen sowie von Kinderrechtsaktivist*innen aus Großbritannien, Belgien
und den Niederlanden. Die beiden Herausgeberinnen haben in den vergangenen Jahren zu Kinderrechten in verschiedenen Bereichen der EU-Politik Untersuchungen vorgelegt. Sie verfolgen
mit dem Buch die Absicht, die EU-Politik zu Kinderrechten auf ihre Stärken und Schwächen
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aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und zu einer kohärenten Kinderrechtsstrategie
und -praxis beizutragen.
Die Kinderrechtspolitik der EU wird in den Beiträgen aus zwei miteinander verbundenen
Perspektiven untersucht. Zum einen wird gefragt, wie der Schutz und die Förderung der Kinderrechte in den EU-Systemen (Politikansätze, Institutionen, Rechtsnormen und institutionelle
Prozesse) verankert sind und verbessert werden könnten. Zum anderen werden die bisherigen
Wirkungen der EU-Politik zu Kinderrechten hinsichtlich der Lebensverhältnisse und des Lebens von Kindern kritisch beleuchtet, sowohl auf EU-interner als auch auf externer Ebene. Im
abschließenden zusammenfassenden Beitrag unterstreichen die beiden Herausgeberinnen die
Notwendigkeit, über die »dekorative« Berufung auf Kinderrechte hinauszugehen und von »top
down« zu »bottom up«-Ansätzen zu gelangen, in denen den Sichtweisen und Stimmen von Kindern als Teil der Zivilgesellschaft stärkere Beachtung geschenkt wird.
Der Sammelband vermittelt einen zwar selektiven, aber vielfältigen Überblick über die Entwicklung und verschiedene Bereiche der EU-Kinderrechtspolitik. Dabei werden auch Bereiche
(wie z.B. die Rekrutierung minderjähriger Fußballer aus dem globalen Süden) aufgegriffen, die
sonst wenig Beachtung finden. Der Band erscheint zudem zu einem günstigen Zeitpunkt, da die
im Jahr 2011 beschlossene EU-Agenda zu Kinderrechten im Jahr 2015 ausgelaufen ist und zur
Überprüfung ansteht.
Die Beiträge beziehen sich zwar allesamt auf die Kinderrechte, haben aber ein durchaus
unterschiedliches Verständnis davon. In einigen Beiträgen – wie denen zur Kinderarbeit oder
den Schutzrechten der Kinder – wird das »beste Interesse der Kinder« (im Deutschen amtlicherseits schlecht mit dem Ausdruck »Kindeswohl« übersetzt), eines der Leitprinzipien der UNKinderrechtskonvention, in paternalistischer Weise gedeutet, ohne den Sichtweisen der Kinder
nennenswerte Beachtung zu schenken. Die international geführte Debatte um verschiedene
Ansätze des Kinderschutzes wird nicht aufgegriffen. Insofern wird der Band auch der erklärten
Intention der Herausgeberinnen, »bottom up«-Ansätzen in der EU-Kinderrechtsagenda zum
Zuge zu verhelfen, nicht in allen Beiträgen entsprochen.
In mancherlei Hinsicht hätte auch die Bewertung der EU-Kinderrechtspolitik kritischer ausfallen können. So wird kaum auf Widersprüche innerhalb der EU-Politik und ihre problematischen
Folgen eingegangen. Es hätte z.B. eine Auseinandersetzung damit angestanden, dass die EUKommission bei ihren »external actions« als »ausschließliches Kriterium« für die anvisierten Maßnahmen die »Bedürftigkeit« der Kinder betont und damit ein eher paternalistisches Verständnis
von Kinderrechten vertritt, das nicht die Subjektstellung der Kinder, sondern in erster Linie ihren
Opferstatus und ihre Hilfsbedürftigkeit ins Auge fasst. Die von der EU-Kommission vorwiegend
vertretene Perspektive ist die einer Helferin, die sich anderen überlegen dünkt und keinen Anlass
sieht, über die möglicherweise problematischen Aspekte eigenen Handelns nachzudenken. So ist
es gewiss kein Zufall, dass EU-intern fast nie die Frage auftaucht, ob die EU oder manche ihrer
Mitgliedsstaaten mit ihrer Handels- und Fiskalpolitik selbst dazu beitragen, die Menschen- und
Kinderrechte in anderen Ländern (auch in EU-Ländern wie z.B. Griechenland und Spanien)
zu verletzen und damit die Probleme mit hervorzubringen, die mit der humanitären Hilfe gelindert werden sollen. Umso dringender ist, dass zivilgesellschaftliche Organisationen künftig bei
der EU-Kinderrechtspolitik stärkeren Einfluss erlangen und dass vor allem endlich konkrete
Schritte eingeleitet werden, die auch Kindern und Jugendlichen ermöglichen, in effektiver und
bedeutungsvoller Weise an deren Konzipierung und Umsetzung mitzuwirken.
Ein weiteres Problemfeld der EU-Menschenrechts- und Kinderrechtspolitik, auf das in dem
Buch noch nicht eingegangen werden konnte, ist der Umgang mit den zahlreichen Flüchtlingen
aus Syrien, Irak, Afghanistan und Eritrea sowie anderen afrikanischen Ländern, die in den letzten
Jahren in der EU Schutz zu finden hofften, unter ihnen viele Kinder. Der am 18. März 2016 mit
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der Türkei hierzu abgeschlossene Deal setzt sich leichtfertig über grundlegende internationale
Normen des Flüchtlings- und Asylrechts hinweg, worauf nicht nur die Menschenrechtsorganisation Pro-Asyl, sondern auch das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen deutlich
hingewiesen hat. Auch die international verbürgten Menschenrechte der Kinder werden durch
diesen Deal flagrant verletzt. Von der EU müsste deshalb nicht nur als Akteur für, sondern auch
gegen Kinderrechte gesprochen werden.
Nicht alle Beiträge sind in gleicher Weise überzeugend, doch insgesamt vermittelt das Buch
profunde Einblicke in die verschiedenen Bereiche und Handlungsansätze der EU-Kinderrechtspolitik und regt dazu an, sich genauer mit ihr auseinanderzusetzen.
Kinderrechte zwischen Verheißung und Ernüchterung
Seit Annahme der Konvention über die Rechte des Kindes durch die Vollversammlung der
Vereinten Nationen sind zahlreiche Schriften entstanden, die sich mit Kinderrechten befassen.
Darunter befinden sich einerseits Publikationen, die die Kinderrechtskonvention einem breiteren
Publikum, zum Teil auch Kindern selbst, näher zu bringen versuchen. In diesen Schriften wird die
wichtigste Herausforderung darin gesehen, die Grundgedanken der Kinderrechte in Gesellschaft
und Politik zu verankern und ihre Umsetzung im täglichen Handeln zu befördern. Eine andere,
eher wissenschaftliche Art von Publikationen setzt sich mit dem Entstehungsprozess der UNKinderrechtskonvention, den dabei wirksam gewordenen Einflüssen, ihrem Universalanspruch
und ihrer Bedeutung als Teil des internationalen Systems der Menschenrechte auseinander. Neben
Untersuchungen aus juristischer Perspektive, die sich z.B. mit der rechtlichen Interpretation und
nationalstaatlichen Geltung der Konvention oder einzelner Artikel befassen, finden sich Studien,
die die Konvention und die darauf sich berufende oder davon stimulierte Praxis von Staaten
und nicht-staatlichen Akteuren aus soziologischer, philosophischer, ethischer oder historischer
Perspektive beleuchten. Was bisher unzureichend konzipiert bleibt, ist eine interdisziplinäre
Kinderrechtsforschung, die alle Aspekte der Kinderrechte mit der konkreten Lebenssituation
von Kindern in verschiedenen Gesellschaften und Kulturen verbindet. Das Buch des britischen
Sozialwissenschaftlers Brian Milne mit dem Titel Rights of the Child. 25 Years after the Adoption
of the UN Convention lässt sich als Herausforderung für eine solche Forschung verstehen.
Es handelt sich um die persönlich gehaltene Bilanz eines Forschers, der seit den 1980er-Jahren
in den Entstehungsprozess der Kinderrechtskonvention involviert war und sich seitdem immer
wieder an den Kinderrechtsdebatten in verschiedenen Teilen der Welt beteiligt hat. Der Autor
hatte zum Zeitpunkt der Annahme der Konvention gemeinsam mit Judith Ennew ein Buch mit
dem Titel The Next Generation. Lives of Third World Children (Ennew/Milne, 1990) veröffentlicht,
in dem ein damals ungewöhnliches Bild von Kindern in der »Dritten Welt« gezeichnet worden war.
Statt Mitleid einzufordern oder die Rettung dieser Kinder zu beschwören, wurde gefordert, ihnen
mit Respekt zu begegnen und eine Sichtweise zu überwinden, die in den Kindern nur defizitäre und
hilflose Wesen sieht. (Eine gekürzte Fassung des Buches war 1991 auch in deutscher Übersetzung
erschienen [Ennew/Milne, 1991], allerdings war der vom Verlag gewählte Titel Kinder, die nicht
Kind sein dürfen der mit dem Buch verfolgten Absicht alles andere als angemessen.) Um einen
solchen Wandel zu fördern, plädierten Ennew und Milne für eine Perspektive, die die Kinder als
Subjekte eigener Rechte anerkennt und ihnen Möglichkeiten eröffnet, an der Gestaltung ihrer
Lebensverhältnisse aktiv mitzuwirken. Die Notwendigkeit einer solchen Perspektive hatten sie
mit konkreten Fallstudien aus 12 Ländern untermalt.
Im dem nun erschienenen Buch wird dargestellt, was aus diesen Erwartungen und Hoffnungen
geworden ist und inwieweit die UN-Kinderrechtskonvention dazu beigetragen hat. Es war als
gemeinsame Bilanz der Entwicklung der Kinderrechte seit dem Erscheinen des früheren Buches
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konzipiert worden, doch der unerwartete Tod von Judith Ennew im Oktober 2013 zwang Brian
Milne, es allein zum Abschluss zu bringen. Mit dem Buch will der Autor auch an das Leben und
die Verdienste seiner Kollegin und früheren Lebensgefährtin als Forscherin und Kinderrechtsaktivistin erinnern. Judith Ennew hatte sich in ihren letzten Lebensjahren insbesondere für Kinder
unterdrückter Minderheiten in Südostasien eingesetzt und hierzu die Kinderrechtsorganisation
Knowing Children gegründet (vgl. Invernizzi et al., 2016).
Der Autor konstatiert, dass die UN-Kinderrechtskonvention vielfach nur selektiv aufgegriffen
und insbesondere die den Kindern in dieser Konvention erstmals zugebilligten Partizipationsrechte unzureichend beachtet und umgesetzt worden seien. Die »Bewegung« von einer Perspektive, die den Kindern »helfen« will, zu einer Perspektive, die die Rechte der Kinder achtet,
sei »unvollendet« geblieben. Insbesondere eigenständige soziale Bewegungen von Kindern, die
er am Beispiel der Bewegungen arbeitender Kinder veranschaulicht, seien in ihrer Bedeutung
nicht genügend verstanden und kaum gehört und gefördert worden. Bei der Umsetzung der
Kinderrechtskonvention sei meist von einem Kindheitsbild ausgegangen worden, das die Kinder als noch nicht ausreichend entwickelte Wesen betrachte und ihrer »Wohlfahrt« und ihrem
»Schutz« mehr Beachtung schenke als ihrem Handlungsvermögen (Agency). Dabei seien zu
wenig die konkreten Lebensverhältnisse der Kinder und die kulturspezifischen Eigenheiten
kindlicher Entwicklung beachtet worden, die manche der »im Westen« als »normal« vorgestellte
Entwicklungswege obsolet erscheinen lasse.
Im weiteren Verlauf des Buches erinnert der Autor daran, dass die Kinderrechtskonvention
ohne Beteiligung von Kindern zustande gekommen ist. Zwar würden inzwischen oft die »Stimmen der Kinder« beschworen und es gäbe auch mehr Events, bei denen Kinder zugegen seien,
aber ihren Stimmen seien meist bloße Dekoration und sie hätten keine erkennbaren praktischen
Auswirkungen auf die Entscheidungen der Erwachsenen. Des Weiteren setzt sich der Autor damit
auseinander, dass Kinder oft mit bestimmten Ausdrücken bezeichnet werden, die den Eindruck
erwecken, diese Kinder würden sich in ihrem Wesen von anderen Kindern unterscheiden. Dies
führe zu Abstempelungen mit diskriminierenden Folgen. Judith Ennew hatte in diesem Zusammenhang den Ausdruck »children out of place« geprägt (vgl. Connolly/Ennew, 1996). Milne
nennt als Beispiele die Rede von »Straßenkindern« und »Kindersoldaten«. Ihre Konstruktion
zu Kindern »jenseits der Normalität« widerspreche dem Geist der Kinderrechtskonvention.
Der Autor kritisiert, die mit der Kinderrechtskonvention entstandene »neue Sprache von Kinderrechten« sei inzwischen weitgehend zu leeren Formeln erstarrt. Sie ließen Kinderrechte als
etwas erscheinen, das nur »top down« gehandhabt werden könne. Es gehe kaum noch darum, die
Rechte mit dem Leben der Kinder zu verbinden, sondern ihr Leben an vermeintlich fraglosen
Normen zu messen. Dies habe unter anderem zur Folge, dass die Kinderrechte den Kindern
fremd bleiben und von ihnen nicht in Anspruch genommen werden. Der Autor bezweifelt, ob
sich seit der 1924 vom Völkerbund beschlossenen Genfer Deklaration der Rechte des Kindes
wirklich ein Verständnis von Kinderrechten als Rechte, die Kinder selbst in Anspruch nehmen
können, durchgesetzt habe. Zwar würden in der UN-Konvention von 1989 die Kinderrechte nicht
nur als Verpflichtungen von Staaten oder erwachsenen Menschen verstanden, sondern auch als
subjektive Rechte der Kinder, doch in der Praxis sei es weitgehend dabei geblieben, Rechte als
etwas zu verstehen, das Erwachsene zugunsten der Kinder handhaben. Es würde auch zu wenig
beachtet, dass Kinderrechte nicht Sonderrechte für Kinder, sondern Menschenrechte seien, die
auch und im Besonderen für Kinder gelten.
Seine Antwort auf die Frage, was sich in den seinerzeit von ihm und Judith Ennew untersuchten Ländern inzwischen geändert habe, fällt zwiespältig aus. Manches im Leben der Kinder sei
besser geworden, aber dies bleibe weit hinter den Hoffnungen und Erwartungen zurück, die er
und seine Mitautorin damals gehabt hätten, und es sei ungewiss, ob die Verbesserungen dauerhaft
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seien. Am Ende des Buches betont er, das Projekt der Menschenrechte von Kindern müssen
weiter verfolgt werden, aber sie müssten stärker als solche Rechte verstanden und ausgeweitet
werden, die aus Kindern vollwertige und gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger werden
ließen (»citizenship rights«). Außerdem müsse sich eine Forschung entwickeln, die sich an dem
Recht der Kinder orientiere, mitzubestimmen, was und wie erforscht werden soll.
Das Buch ist aus einer sehr persönlichen Perspektive geschrieben. Es ist aber nicht nur die
subjektive Meinungsäußerung eines Autors, der sich mal eine Last von der Seele schreiben wollte,
sondern basiert auf sehr genauen Kenntnissen der Kinderrechtsdiskussion und -praxis von mehr
als 30 Jahren. Angesichts der Fülle an Einzelinformationen ist es nicht immer leicht, dem Autor
zu folgen und den roten Faden des Buches im Auge zu behalten, aber dieser Nachteil wird mehr
als wettgemacht durch eine sehr lebendige Darstellungsweise und scharfsinnige Argumentation.
Einige Kritikpunkte seien angemerkt. Das Kapitel, in dem der Autor die früheren Fallstudien aktualisiert, bleibt im Vergleich zu den anderen Kapiteln eigentümlich blass und ist wohl
nur dem Bemühen geschuldet, den Faden zum früheren Buch nicht abreißen zu lassen. Auch
hätte ich mir gewünscht, dass der Autor genauer die Debatte um »objektive« und »subjektive«
oder »Wohlfahrts-« und »Handlungsrechte« der Kinder aufgegriffen und kommentiert hätte.
Schließlich finde ich es bedauerlich, dass der Autor die Geschichte der Kinderrechte erst mit
der Genfer Deklaration der Rechte des Kindes beginnen lässt und nur kurz andere historische
Beiträge streift, in denen schon früher ein klares Verständnis von Kinderrechten als subjektiv in
Anspruch zu nehmenden Menschenrechten formuliert wurde. Es ist gewiss verdienstvoll, in der
Dokumentation die von Janusz Korczak konzipierten Kinderrechte (vgl. Beiner, 2008; Liebel,
2013b) aufgenommen zu haben, aber es ist misslich, dass andere gleichermaßen wichtige Beiträge
nicht einmal erwähnt werden. Dazu rechne ich insbesondere die Moskauer Deklaration der Rechte des Kindes, die zu Beginn der Russischen Revolution in den Jahren 1917/18 entstanden war
(vgl. dazu Liebel, 2015b). Sie hat zwar ebenso wenig wie Korczaks Kinderrechte »Rechtskraft«
erlangt und ist bald im Keller der Geschichte verschwunden, aber sie lässt ein Verständnis von
Kinderrechten sichtbar werden, dass weit über all die Rechte hinausgeht, die in »offiziellen«
Dokumenten seitdem verankert worden sind.
Demgegenüber möchte ich ausdrücklich hervorheben, dass das Buch zahlreiche Einblicke in
wenig bekannte Details der Kinderrechtsdebatte der letzten 25 Jahre vermittelt, z.B. die sich
wandelnde Rolle von UNICEF, des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen, oder interne
Kontroversen in den UN-Gremien um die Beteiligung von Kindern. Dem Buch ist deutlich
anzumerken, dass der Autor über einen reichen Schatz von Erfahrungen in dem von ihm behandelten Gebiet besitzt. In ihm kommt ein Mensch zum Vorschein, der die vergangenen 30 Jahre
als einen intensiven Lernprozess erfahren hat, an dem er die Leserinnen und Leser nun über das
Buch teilhaben lässt. Sein Buch regt dazu an, sich Gedanken über die weitere Ausgestaltung der
Menschenrechte von Kindern zu machen.
Das Versprechen der Kinderrechte im Licht globaler Kindheiten
Die soziale Kindheitsforschung hat seit den 1980er Jahren den Blick dafür geschärft, dass Kindheit nicht ein natürlicher Zustand, sondern eine historisch entstandene und sich immer wieder
verändernde soziokulturelle Konstruktion ist. Sie hat auch darauf aufmerksam gemacht, dass
das, was wir unter Kindheit verstehen, davon abhängt, aus welcher Perspektive sie betrachtet
wird und von welchen Interessen diese Perspektive geleitet wird. Die Vorstellungen von Kindheit
sind auch immer von normativen Maßstäben beeinflusst, was Kindern zusteht und für sie gut ist
– und dies unterscheidet sich zum Teil beträchtlich in verschiedenen Weltregionen und Kulturen.
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Die heute dominierende und oft als universell propagierte Vorstellung von Kindheit ist mit
der bürgerlichen Aufklärung in Europa entstanden. Sie besteht darin, Kindheit als eine Entwicklungsphase zu betrachten, die strikt von der Welt der Erwachsenen getrennt und als Schutz- und
Schonraum konzipiert ist. Kindern wird ein gewisser Eigenraum zugestanden, in dem sie gleichsam
auf Probe lernen sollen, ein »richtiger Erwachsener« und ggf. auch Staatsbürger zu werden. Die
darin eingeschriebenen Elemente von Eigenständigkeit und Partizipation bleiben in der Regel
auf »Kinderangelegenheiten« beschränkt und unterliegen der Kontrolle der Erwachsenen.
Angesichts der großen Unterschiede zwischen den Lebensumständen und dem Selbstverständnis von Kindern in verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Regionen der Welt, stellt sich die
Frage, ob von einer einzigen Kindheit oder ob eher von verschiedenen Kindheiten zu sprechen
ist. Gelegentlich wird unter dem Eindruck wirtschaftlicher Globalisierungsprozesse und der
Ausbreitung elektronischer Medien angenommen, es habe sich in jüngster Zeit eine Art globaler
Kindheit herausgebildet. Zwar haben Kinder heute mehr als früher Möglichkeiten, Realitäten
außerhalb ihres nahen Lebensumfeldes wahrzunehmen, aber die Rede von der globalen Kindheit
verleitet leicht dazu, zu übersehen, dass sich in ihr vorwiegend das im globalen Norden favorisierte
Kindheitsbild spiegelt. Das Leben von Kindern bleibt von der Globalisierung nicht unberührt,
aber sie führt beileibe nicht dazu, dass alle Kinder der Welt sich in derselben Lebenssituation
befinden und dieselbe Kindheit hätten.
Die in Europa entstandene Vorstellung von Kindheit ist vielfach mit dem Anspruch verbunden,
auch in anderen Teilen der Welt durchgesetzt zu werden. Der verbreitete Sprachgebrauch (z.B.
von UNICEF), Kinder, deren Lebenssituation nicht dem europäischen Vorbild entspricht, als
»Kinder ohne Kindheit« zu bezeichnen, kann dazu führen, dass deren Leben nicht angemessen
wahrgenommen oder sogar ignoriert und herabgewürdigt wird.
Die australischen Sozialforscherinnen Kate Cregan und Denise Cuthbert befassen sich in ihrem
Buch Global Childhoods mit dem, was ein Globalisierungsprojekt von Kindheit genannt werden
könnte. Dabei gehen sie der Frage nach, wie das in Europa entstandene »westliche« Kindheitskonzept in der Welt verbreitet wird und welche unvermeidlichen Fallstricke und Widersprüche
damit verbunden sind. Da sie ihren Blick nicht auf das propagierte Ziel beschränken und dieses
nicht unbesehen für bare Münze nehmen, sondern auch die tatsächlichen Lebensverhältnisse
der Kinder in verschiedenen Teilen der Welt ins Auge fassen, kommen sie zu dem Ergebnis, nicht
von einer einzigen, sondern von verschiedenen »globalen Kindheiten« zu sprechen. Beim Blick
auf die verschiedenen Regionen der Erde unterscheiden sie zwischen dem »globalen Norden«,
von dem das Globalisierungsprojekt von Kindheit seinen Ausgang nimmt, und dem »globalen
Süden«, auf den sich das Projekt vornehmlich richtet und in dem darauf verschiedene Antworten gegeben werden. Die Unterscheidung ist nicht in einem geografischen, sondern in einem
geopolitischen Sinn zu verstehen. Zum »Norden« werden vornehmlich Europa, Nordamerika
und Australien gerechnet, zum »Süden« die sogenannten Entwicklungsländer in Afrika, Asien
und Südamerika. Dazwischen ist eine wachsende Zahl von sogenannten Schwellenländern angesiedelt, z.B. Brasilien und China.
Im ersten Teil des Buches werden grundlegende Ideen und theoretische Ansätze der Kindheitsforschung vorgestellt und diskutiert. Im zweiten Teil wird anhand von Fallstudien herausgearbeitet,
welche Herausforderungen sich für eine kontextbezogene und kultursensible Kindheitsforschung
ergeben. In beiden Teilen stehen das »westliche« Verständnis von Kindern und Kindheit und
seine Ausbreitung in der Welt auf dem Prüfstand. Es wird als ein widersprüchliches Konstrukt
identifiziert. Einerseits würden Kinder als »werdende Erwachsene« und Kindheit als »Entwicklungsphase« konzipiert (vornehmlich in Erziehung, Gesetzen und Medizin), andererseits als
kompetente Akteure verstanden, die eng mit den je besonderen Lebensverhältnissen verknüpft
seien und darin eine aktive Rolle spielen oder spielen sollen (vornehmlich in Soziologie, Anthro-
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pologie und Politikwissenschaft). Beide Varianten würden im Zuge der Globalisierungsprozesse
zur vorherrschenden Denkweise über Kinder und Kindheit in der ganzen Welt, allerdings auch
in verschiedenen Ländern und lokalen Praktiken mehr oder minder offen in Frage gestellt.
In den Fallstudien wird u.a. unter Rückgriff auf historische Forschungen nachgezeichnet, unter welchen Voraussetzungen sich das heute dominante Verständnis von Kindern und Kindheit
zwischen dem späten 17. und dem 20. Jahrhundert im westlichen Europa herausgebildet hat und
über pädagogische Handlungsanleitungen und Institutionalisierungen popularisiert worden ist.
Die Darstellung dient dazu, deutlich zu machen, in welche Fallstricke die Propagierung dieses
Kindheitsverständnisses gerät, wenn die jeweils besonderen Lebensverhältnisse der Kinder nicht
mit beachtet werden. Solche Fallstricke ergeben sich nach Ansicht der Autorinnen vor allem im
globalen Süden.
Die UN-Kinderrechtskonvention wird als Versuch diskutiert, auf globaler Ebene Normen für
eine gute Kindheit festzuschreiben. Die Vorstellungen von Kindheit hätten sich von schutzbetonten zu partizipativen Konzepten verschoben, wobei die in Europa entstandenen Kindheitsmuster zum Vorbild gedient hätten. Die Debatten um die Kinderrechtskonvention zeigten, dass
Spannungen zwischen ihrem universellen Anspruch und kultureller Diversität bestünden. Der
normative Anspruch, ein »globales Kind« zu konstruieren, müsse vor allem im globalen Süden,
in dem Grundfragen des Überlebens das Leben der Kinder bestimmen, erst noch beweisen, ob
er angemessen und wirksam sei.
Weitere Fallstudien befassen sich mit Familie, Schule und Arbeit als Orten, an denen sich
während der Kindheit Identitäten oder – wie die Autorinnen unter Bezug auf den französischen
Soziologen Pierre Bourdieu sagen – der Habitus herausbildet. Es wird gezeigt, dass ein Kindheitskonzept, das an den genannten Orten auf der Vorrangstellung von Erwachsenen aufbaut oder
bestimmte Orte für Kinder ausschließt, in vielen Situationen – vor allem im globalen Süden – zu
einer noch stärkeren Marginalisierung und Benachteiligung der Kinder führen kann und eine
Kategorie von Kindern entstehen lässt, die fehl am Platz scheinen (ähnlich schon Katz, 2004).
Eines der untersuchten Beispiele sind die sog. Child-Headed Households, die als Folge der HIV/
AIDS-Pandemie oder von Kriegen vor allem im südlichen Afrika zu finden sind. Sie erweisen
sich für Kinder, die ihre Familie verloren haben, als die bessere Alternative gegenüber der Verpflanzung der Kinder in eine besondere Institution oder Pflegefamilien (vgl. Liebel, 2013a: 148
ff.). Ein anderes Beispiel sind arbeitende Kinder. Sie hätten trotz oft prekärer Arbeits- und Lebensbedingungen eine im üblichen Kindheitsmuster nicht vorgesehene Selbstständigkeit erreicht,
die durch ihre Verpflanzung an vermeintlich »kindgemäße« Orte oder in eine hierarchisch bis
autoritär strukturierte Schule verloren zu gehen drohe. Kindern, deren Habitus dem dominanten
Kindheitsmuster nicht entspreche, würden auf diese Weise »verkindlicht« (»re-childed«). Die
Autorinnen plädieren dafür, über das gewohnte Kindheitsmuster hinauszudenken und auch
solche Orte für Kinder als legitim anzuerkennen, die darin nicht vorgesehen sind.
Andere Fallstudien sind »Kategorien« von Kindern gewidmet, deren Leben als »unkindlich«
(»unchildlike«) erscheint, z.B. »Kindersoldaten« und »Waisen«. Die Autorinnen demonstrieren,
dass die gelebte Realität der so etikettierten Kinder wesentlich komplexer ist, als die polarisierten Darstellungen in den Medien, aber auch offizielle Definitionen von UN-Institutionen wie
UNICEF und kinderrechtsbasierte Hilfsprogramme nahelegen. Sie plädieren dafür, auf solche
Kategorisierungen zu verzichten und Hilfskonzepte zu überdenken, die die Kinder nur als Opfer
von Katastrophen wahrnehmen und sie zu »retten« und »rehabilitieren« beanspruchen. Sehr
kritisch setzen sie sich auch mit der Adoption von vermeintlichen Waisen aus dem Süden in den
Norden auseinander. Sie sei ein Geschäft geworden, das den Eindruck nahelege, dass vielfach
nicht die »Waisen« Adoption benötigen, sondern die Adoptionspraxis nach »Waisen« verlangt
und sie sogar als solche erfindet. Stattdessen sollten Unterstützungsformen gefunden werden,
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die den Lebenskontext der Kinder beachten, ihre eigenen Sichtweisen, Interessen und Handlungskompetenzen respektieren und gemeinsam mit den Kindern vor Ort nach Lösungen suchen.
In weiteren Fallstudien setzen sich die Autorinnen mit der nationalistischen Rhetorik auseinander, dass Kinder zentral für die Zukunft der Nation seien. Mit zahlreichen Beispielen aus
dem globalen Norden und dem globalen Süden belegen sie, dass Kinder keineswegs in gleicher
Weise durch den Staat geschätzt und geschützt, sondern vielfach diskriminiert, ausgegrenzt und
misshandelt wurden und werden. Als Beispiele werden u.a. genannt: Indigene Kinder, die (z.B. in
Australien oder Kanada) ihren Eltern weggenommen und forcierter Assimilierung unterworfen
oder sterilisiert wurden. Oder Kinder, die bei der Gründung neuer Staaten (z.B. auf dem Gebiet
des ehemaligen Jugoslawien) ihrer Staatsangehörigkeit beraubt und zu »Staatenlosen« gemacht
wurden. Oder die willkürliche Adoption von Kindern, deren Mütter und Väter politisch verfolgt,
zum »Verschwinden« gebracht und ermordet wurden (z.B. unter dem Militärregime in Argentinien). Ein weniger bekanntes Beispiel ist die Deportation von armen, elternlosen, ausgesetzten
oder »auffällig« gewordenen Kindern aus dem britischen »Mutterland« in (ehemalige) Kolonien,
wo sie als billige Arbeitskräfte schamlos ausgebeutet wurden; eine Praxis die in Großbritannien
bis in die 1960er Jahre üblich war (vgl. Liebel, 2016). Für die heutige Zeit ließe sich die von
europäischen Staaten praktizierte Deportation von Flüchtlingskindern oder die willkürliche
Behandlung palästinensischer Kinder durch das israelische Besatzungsregime ergänzen. Die
Autorinnen bezeichnen solche Praktiken als »politically motivated social engineering«, das
einem Genozid, Ethnozid oder Ideozid, also einem rassistisch oder ideologisch motivierten
Völkermord gleichkomme.
In einem grundsätzlich angelegten Kapitel widmen sich die Autorinnen der komplexen Frage,
welcher Wert Kindern beigemessen wird. Sie verstehen »Wert« in verschiedener Weise, von der
Funktionalität oder Nützlichkeit im ökonomischen Sinn bis hin zur emotionalen, psychischen
oder symbolischen Wertschätzung. Auf den ersten Blick scheint das dominierende »westliche«
Verständnis von Kindheit eine Bewertung von Kindern nicht einzuschließen, aber bei genauerem
Hinsehen zeigt sich, dass Kinder sehr wohl auch einer wirtschaftlichen Bewertung unterliegen,
die in der Regel auf den Wert und den Vorteil, den Kinder für Erwachsene erbringen, bezogen
ist. Dies wird z.B. offensichtlich, wenn Versicherungen abgeschlossen werden, eine Adoption
geplant ist, oder wenn, wie es heute üblich ist, der Sinn schulischer Bildung darin gesehen wird,
»Humankapital« hervorzubringen. Unter Bezug auf die zuerst 1985 erschienene, bahnbrechende
Studie der US-amerikanischen Soziologin Viviana Zelizer mit dem Titel Pricing the Priceless
Child. The Changing Social Value of Children (Zelizer, 1994) machen die Autorinnen darauf aufmerksam, dass der Kindern beigemessene Wert sich im Laufe der Geschichte verändert hat und
sich in verschiedenen Kulturen unterscheidet. Er gilt auch in derselben Gesellschaft nicht für alle
Kinder in gleicher Weise, sondern wird oft davon abhängig gemacht, welches Geschlecht Kinder
haben, aus welcher Klasse oder Ethnie sie stammen oder welchen staatsbürgerlichen Status sie
haben. Die Autorinnen plädieren deshalb für eine »holistische« Betrachtungsweise, in der die
Frage des Werts von Kindern im jeweiligen sozialen und kulturellen Kontext reflektiert und mit
der Frage verbunden wird, welche Interessen sich in der Bewertung von Kindern niederschlagen.
Abschließend richten die Autorinnen den Blick auf die Veränderungen, die sich heute in
den Konzeptionen von Kindheit und dem Umgang mit Kindern oder der Nachwuchsplanung
abzeichnen. Sie untersuchen die bisher schon erkennbaren Auswirkungen biomedizinischer
Technologien, die es ermöglichen, bereits vor der Geburt das Geschlecht oder andere Eigenschaften des erwarteten Kindes zu erkennen oder sich ein Kind durch eine Samenspende oder
mittels »Leihmüttern« erzeugen zu lassen. Die Autorinnen machen auf die Folgen aufmerksam,
die diese Praktiken für das Verständnis von Familie und Verwandtschaft und vor allem für die
zukünftige Identität der auf diese Weise entstandenen Kinder haben kann. Zu Beginn des 20.
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Jahrhunderts hatte die schwedische Frauen- und Kinderrechtsaktivistin Ellen Key in ihrem
weltberühmten Buch Das Jahrhundert des Kindes (deutsche Neuausgabe Key, 2000) ein Recht
des Kindes proklamiert, seine Eltern zu wählen. Sie wollte mit diesem paradox erscheinenden
Recht Kindern ein Leben in Armut und Krankheit ersparen. Unter dem Eindruck der damals
verbreiteten Denkströmung der Eugenik verstand sie dieses Recht als Aufforderung an den Staat,
die Erzeugung von Kindern nur Eltern zu gestatten, die »gesund« sind und in verantwortlicher
Weise für das Kind sorgen können. Ohne sich auf das historische Beispiel von Ellen Key zu
beziehen, bringen auch die Autorinnen des hier vorgestellten Buches die Zukunft der Kinder
mit den Rechten in Verbindung, »wählen« und »wissen« zu können. Sie verstehen diese Rechte
aber nicht als eine Pflicht zur Kontrolle der Elternschaft, sondern als Recht der Kinder, in ihrem
(späteren) Leben die Freiheit zu haben, über ihr Geschlecht (Gender) entscheiden zu können,
und zu erfahren, wer ihre Erzeuger waren. Die Autorinnen betonen die Pflicht des Staates und
der internationalen Gemeinschaft, die möglichen Folgen der neuen biomedizinischen Technologien zu bedenken und rechtliche Regelungen zu treffen, die Kinder davor bewahren, zum
Spielball biotechnischer Willkür zu werden. Vor allem halten sie es für wichtig, dem Trend zum
»Perfektionismus« beim »biomedizinischen Management von Kindern« Schranken zu setzen.
Mit Blick auf den Medizintourismus, der sich z.B. die materielle Not indischer Frauen zunutze
macht, die sich um des Überlebens willen als Leihmütter zur Verfügung stellen, plädieren sie
dafür, die Rechte und Würde dieser Frauen ebenso zu wahren wie die der Kinder, die auf diese
Weise zur Welt kommen.
Wer sich heute mit Kindern und Kindheit(en) in der Welt befasst, kommt an der UN-Kinderrechtskonvention nicht vorbei. Dieses völkerrechtliche Übereinkommen ist nicht nur der Kulminationspunkt eines Prozesses, der mit der Erfindung der Menschenrechte in der europäischen
Aufklärung begann. Es hat auch die seitdem weltweit geführten Debatten um das, was kindgemäß
ist und Kindern zusteht, entscheidend geprägt. In diesen Debatten wird die Kinderrechtskonvention keineswegs einhellig begrüßt. Neben denen, die Kinderrechte überhaupt in Zweifel
ziehen, weil Kinder keine zum rationalen Denken fähige Menschen seien, werden selbst von den
Kinderrechtsbefürwortern mindestens zwei gegensätzliche Positionen vertreten. Während die
einen die Kinderrechtskonvention als »Meilenstein« (UNICEF) auf dem Weg zu einer besseren
Kindheit betrachten und nur noch ihre mangelnde Umsetzung beklagen, sehen die anderen in
ihr ein imperiales eurozentrisches Projekt, mit dem die »westlichen« Vorstellungen von Kindheit
ungeachtet kultureller Diversität »globalisiert« und dem »Rest der Welt« aufgedrängt werden.
Kate Cregan und Denise Cuthbert fordern mit ihrem Buch dazu heraus, über diese kontroversen Positionen hinauszugehen und zu einer differenzierteren Beurteilung zu gelangen. Sie
lassen keinen Zweifel, dass das mit der Kinderrechtskonvention transportierte Kindheitsbild
westlichen Ursprungs ist und mit dazu beiträgt, Kindheiten zu missachten und fehl zu deuten,
die diesem Bild nicht entsprechen, aber sie erkennen auch an, dass die Konvention für die Nöte
und Interessen von Kindern, die bislang wenig Beachtung fanden und auf die wenig Rücksicht
genommen wurde, sensibilisiert hat. Vermutlich wären die von Staaten zu verantwortenden Verbrechen an Kindern, über die im Buch detailliert berichtet wird, durch das pure Vorhandensein
der Konvention nicht verhindert worden, aber mit der Konvention ist ein rechtliches Instrument
entstanden, das solche Verbrechen wirkungsvoller anzuklagen und zu bekämpfen erlaubt.
Gewiss ist es nicht immer leicht, den roten Faden im Auge zu behalten, von dem sich die beiden
Autorinnen leiten lassen. Es fehlt eine konzise Einleitung und ein resümierendes Schlusskapitel,
wo die Quintessenzen des Buches hätten verdeutlicht werden können. Auch ist es mitunter verwirrend, wenn die Autorinnen Begriffe verwenden – wie »entwickelte« oder »Entwicklungsländer«
oder »Modernisierung« – die mit ihren Grundgedanken eigentlich nicht kompatibel sind und
zumindest in ihrer Problematik hätten gekennzeichnet werden sollen. Aber wer sich die Mühe
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macht, das Buch aufmerksam zu lesen (die jedem Kapitel vorangestellten wesentlichen Thesen
sind dabei hilfreich), kann durchaus erkennen, worum es den beiden Autorinnen vorwiegend
geht. Mit der scheinbar paradoxen, als Buchtitel gewählten Formulierung Globale Kindheiten
bringen sie zum Ausdruck, dass das Leben von Kindern in verschiedenen Regionen und Kulturen der Welt nicht mehr unabhängig voneinander betrachtet, aber auch nicht an dem westlichen
Kindheitsbild als einzigem Maßstab gemessen und beurteilt werden kann. Wo dies geschieht,
geraten Kindheiten im globalen Süden in die Gefahr, durch den globalen Norden auch noch nach
dem Ende der Kolonialherrschaft weiterhin kolonisiert, ausgegrenzt und unterdrückt zu werden.
Der Maßstab für den weltweiten Umgang mit Kindern, für den die Autorinnen plädieren, gleicht
demjenigen, den der polnisch-jüdische Kinderarzt und Pädagoge Janusz Korczak bereits vor
nunmehr hundert Jahren aufgestellt hat. Alle Kinder, ungeachtet ihres Alters, ihres Geschlechts,
ihrer sozialen, kulturellen und regionalen Herkunft, ihrer Hautfarbe oder ihrer persönlichen Eigenheiten sind als vollwertige Menschen anzuerkennen, ihnen ist mit Respekt zu begegnen und
ihre Menschenwürde ist zu achten. Dies heißt auch, für eine Welt einzutreten, die allen Kindern
ermöglicht, ein menschenwürdiges Leben zu führen und sich überall dort einzumischen und
Gehör zu finden, wo ihre Gegenwart und Zukunft auf dem Spiel steht.
Dies hat, wie Kate Cregan und Denise Cuthbert in ihrem Buch unterstreichen, auch Konsequenzen für den Umgang mit der UN-Kinderrechtskonvention. Sie sollte nicht als eine Art Bibel
betrachtet werden, die über jede Kritik erhaben ist und auf jede Frage in jedem Teil der Welt
eine Antwort bereithält, sondern als ein in einer bestimmten historischen Situation entstandenes
völkerrechtliches Dokument, das der ständigen Korrektur und Weiterentwicklung bedarf. Ein
solches Verständnis von Kinderrechten geht auch über die verbreitete Auffassung hinaus, die
staatlichen Autoritäten seien der Nabel der Welt. Solange die Welt nach Staaten geordnet ist,
haben diese eine besondere Verantwortung für das Wohlbefinden der Kinder, die in ihrem Einflussbereich leben. Aber diese Verantwortung kommt erst zum Tragen, wenn es auch den Kindern
selbst möglich ist, ihre Rechte zu gebrauchen und sie einzufordern, wo immer sie verletzt werden.
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Trendberichte
Perspektiven einer kritischen Kinderrechtsforschung
Solchen Maximen folgen auch Forschungsansätze zu Kinderrechten, die sich seit der Jahrtausendwende herausgebildet haben (vgl. Güthoff/Sünker, 2001; Liebel, 2012; Hanson/Nieuwenhuys,
2013). Bisher gab es zwar eine weitverzweigte und theoretisch fundierte Kindheitsforschung
und Menschenrechtsforschung, aber über das, was eine spezifische Forschung zu Kinderrechten
sein könnte, worin ihre konkreten Aufgaben bestehen und auf welchen theoretischen Grundlagen sie fußen sollte, bestand lange keine Klarheit. Insofern Kinderrechte als Menschenrechte
verstanden werden, steht die Kinderrechtsforschung vor der Herausforderung sowohl an die
Kindheitsforschung als auch an die Menschenrechtsforschung anschlussfähig zu sein und mit
ihr verzahnt zu werden.
Mit dem kürzlich von dem belgischen Rechtswissenschaftler Wouter Vandenhole und
Mitarbeiter*innen herausgegebenen Routledge International Handbook of Children’s Rights Studies liegt erstmals eine Publikation vor, die einen weitgespannten Überblick über die möglichen
Leitlinien, Aufgaben und Gebiete einer kritisch verstandenen Kinderrechtsforschung vermittelt.
Das Handbuch ist im Umfeld des Children’s Rights European Academic Network (CREAN)
[vormals European Network of Masters in Children’s Rights (ENMCR)] entstanden, zu dessen
Mitgründern und Mitstreitern in Deutschland der weiterbildende Masterstudiengang »Childhood
Studies and Children’s Rights« gehört. Dieser wird seit 2007 an der Freien Universität Berlin
und ab dem Wintersemester 2016/17 an der Fachhochschule Potsdam angeboten.
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Die Herausgabe des Handbuchs wird damit begründet, »that ›something seems to be going on‹
in children’s rights scholarship. Several scholars have recently proposed new conceptualizations
of children’s rights that reflect a shift from a top-down understanding towards a bottom-up approach of children’s rights. What unites these perspectives is their ›contextual orientation‹ that
criticizes dominant paradigms in children’s rights research« (S. XV). Dieses noch immer dominante
Paradigma wird darin gesehen, dass es ein objektives Set von Zielen postuliere, die in jedem
Kontext anwendbar seien, und dass die UN-Kinderrechtskonvention als der einzige Bezugspunkt
und Maßstab herangezogen werde. Ein solcher Ansatz sei blind für die sozialen, ökonomischen
und historischen Kontexte, in denen die Kinder aufwachsen, und beachte nicht hinreichend die
Verschiedenheit von Interpretationen und Bedeutungen, die Kinderrechte haben könnten. Um
Alternativen sichtbar zu machen, verbindet das Handbuch verschiedene disziplinäre Zugänge
und Themen mit einem kritischen Ansatz, der die Kinderrechte in verschiedenen sozialen und
kulturellen Kontexten beleuchtet und den Fokus auf die in ihnen angelegten Spannungen, Potentiale und Grenzen richtet.
Das Handbuch umfasst zwei große Teile. Im ersten Teil werden die Kinderrechte aus der
Perspektive verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen und Forschungsgebiete beleuchtet.
Hierzu wird unter anderem auf Rechtswissenschaft, Soziologie, Erziehungswissenschaft, Geschichtswissenschaft, Sozialarbeit, Geographie, Anthropologie, Gender Studies und Citizenship
Studies Bezug genommen. Die daraus resultierende Herangehensweise ist eher multidisziplinär
als interdisziplinär zu nennen und erfordert von den Nutzerinnen und Nutzern des Handbuchs,
die verschiedenen Zugänge zusammen zu denken und selbst aufeinander zu beziehen.
Im zweiten Teil werden ausgewählte Themen an den Schnittflächen des Globalen und Lokalen
betrachtet. Zu den diskutierten Themen gehören die Partizipation von Kindern, die Beziehung
von Kinderrechten zu Fragen der Bildung, Gesundheit, Gewalt, Armut, Migration oder der
Ausbeutung der natürlichen Lebensgrundlagen. Spezielle Kapitel sind arbeitenden Kindern,
indigenen Kindern, der Genitalverstümmelung von Mädchen und alternativen Formen der
Kinderbetreuung (alternative care) gewidmet. Im Schlusskapitel werden die Grundlinien einer
kritischen Kinderrechtsforschung umrissen.
Von einem Handbuch ist nicht zu erwarten, dass es alle wichtigen Themen und denkbaren
Sichtweisen behandelt oder dass die insgesamt 27 Autorinnen und Autoren zu denselben
Schlüssen gelangen. Die vorgenommene Auswahl ist jedenfalls plausibel und vermittelt einen
plastischen Eindruck, wofür eine sich als kritisch verstehende Kinderrechtsforschung gut sein
kann. Sie lässt sichtbar werden, dass es dabei vor allem um die Untersuchung und Erklärung der
Entstehungszusammenhänge, Begründungen, Manifestationen (Kodifizierungen), Umsetzungsund Wirkungsbedingungen, Bedingungen und Möglichkeiten der Weiterentwicklung, sowie der
Rezeptionsweisen der Kinderrechte und ihrer Bedeutungen für Kinder geht. Abschließend seien
einige Perspektiven benannt, die sich aus den im Handbuch präsentierten Überlegungen für die
Kinderrechtsforschung ergeben (könnten).
Sie sollte sich stärker als bisher der Frage widmen, was Kinderrechte für Kinder bedeuten
und wie sich Kinder ihre Rechte aneignen und sie selbst praktizieren können. Dies erfordert
ein kontextspezifisches Verständnis der Kinderrechte und eine situations- und lokalspezifische
Reflexion ihrer praktischen Umsetzung. Es wäre stärker der Gedanke aufzunehmen, Rechte
als einen Beitrag zur Stärkung des Individuums bzw. von Kollektiven zu verstehen, als einer Art
zusätzlicher Begründung z.B. bei der Kritik an Ungleichheit (»Ungerechtigkeit«) des Zugangs
zu gesellschaftlichen Ressourcen oder der unzureichenden Erfüllung staatlicher Verpflichtungen,
z.B. im Fall selektiver Bildungssysteme, Kinderarmut oder der Exklusion von »Behinderten«
und »Minderheiten«.
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Kinderrechte können ebenso wenig wie Menschenrechte allgemein nur als kodifizierte Rechte
(im Sinne des positiven Rechts) verstanden werden, sie bestehen also nicht nur aus den Setzungen
der UN-Kinderrechtskonvention. Deshalb ist es notwendig, auch die ethischen und moralischen
Dimensionen von Rechten oder »ungeschriebene Rechte« (Ennew, 2002) in die Betrachtung
einzubeziehen und Kinderrechte immer als work in progress zu verstehen (dafür bürgert sich
im Englischen der Ausdruck »living rights« ein; vgl. Hanson/Nieuwenhuys, 2013). Kinderrechte
sind ebenso wie Menschenrechte das Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen und Prozesse
und somit immer veränderbar und verschieden interpretierbar. Bei Kinderrechten ist auch die
Phantasie gefragt, sich Rechte als Schöpfung der Kinder vorzustellen, auch wenn Kinder im
formalen Sinn Recht weder »setzen« noch »sprechen« können (aber auch das könnte sich ja mal
ändern). Ebenso ist im Sinne einer kritischen Rechtstheorie zu bedenken, dass formal gleiche
Rechte unterschiedliche Bedeutungen und Wirkungen haben können, je nach sozioökonomischer Position und soziokultureller Verortung der Rechtssubjekte, und dass ihnen sogar eine
ideologische Funktion zukommen kann im Sinne der Verschleierung ungleicher, strukturell
bedingter Machtverhältnisse bei vermeintlicher »Gleichheit vor dem Gesetz« oder angesichts
des »Rechts auf Partizipation«. In einer solchen Perspektive könnte sich das kritische und auf
soziale Transformation gerichtete Potential der Kinderrechtsforschung erweisen.
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Trendberichte
Literatur
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of place. In: Childhood, 3(2): 131-147
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Liebel, M., 2012, with contributions by K. Hanson, I. Saadi,
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Beltz.
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Prengel, A./Winklhofer, U. (Hrsg.), 2014: Kinderrechte in
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Van Bueren, G., 2008: Childrights in Europe. Straßburg
Zelizer, V. A., 1994: Pricing the Priceless Child. The Changing Social Value of Children. Princeton, NJ
Abstract
This literature review focuses on recent monographs and anthologies in English and German,
where new and sometimes unusual considerations for childhood and children‘s rights studies as
well as relevant results are presented. Questions are addressed that have been previously little
noticed and edited. In particular, it becomes visible that the views on the social representations
of childhood and children‘s rights in different parts of the world must be more open and more
differentiated and take into account the concrete living conditions of children.
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Stephen Mennell
Die us-amerikanische Heuchelei – Ein Erklärungsversuch
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Rezensionsaufsätze
Essays Essays
O, wad some Power the giftie gie us
To see oursels as others see us!
It wad frae monie a blunder free us
Robert Burns: To a Louse
Oh, gäbe eine Macht uns die Kraft
Uns zu sehen, wie andere uns sehen!
Das würde uns vor vielen Gefahren bewahren
Weltweit werden viele Menschen immer wieder über die Hybris der amerikanischen Außenpolitik,
einschließlich ihrer neuesten Manifestation in der Ukraine-Krise, in Erstaunen versetzt. Sir Simon
Jenkins formulierte dies im Guardian (2014), in etwas antikisierender Manier scharfsinnig treffend:
Wie könnte es jemand wagen einer großen Macht dafür zu vergeben über eine kleine mit
roher Gewalt herzufallen und dies mit irgendwelchem Unsinn von Extremismus oder ›Verteidigungsverantwortung‹ zu rechtfertigen? Es sollte im 21. Jahrhundert keinen Raum in der Welt
für ein solch zynisches Mobbing geben. Und wofür soll das im Übrigen gut sein? Nur, damit
ein Testosteron-gesteuerter Leader mit Männlichkeitskomplex vor heimischem Publikum sich
groß aufspielen kann? Solche Dinge sind völlig unakzeptabel. Dies muss seinen Preis und seine
Konsequenzen haben!
Aber genug vom Irak! – Was ist mit der Ukraine?
Während hier keinesfalls die russische Intervention in die Ukraine oder Präsident Putin gerechtfertigt werden sollen, seien Polemik und kritische Fragen von Jenkins weitergeführt:
Hat kein irakischer, afghanischer, kosovaischer oder libyscher Geist über ihre Schultern geschaut? . . . Die Besetzung der Ukraine war ein Dorffest im Vergleich zum Leid und Weh, mit
dem Baghdad und Belgrad, die Schlachtfelder von Falluja und Helmand, überzogen wurden.
Und während die Westmächte ihre blutbefleckten Legionen in die Heimat zurück führten, wäre
wohl ein Anflug von Demut angemessen gewesen.
Anscheinend aber nicht . . .
Die Frage, vor die sich der Sozialwissenschaftler gestellt sieht, lautet: wie ein solcher Hochmut
zu erklären sei – oder, neutraler formuliert: ein solches Defizit kollektiven Selbstgefühls, dieses
intensive gemeinschaftliche Gefühl des Im-Recht-Seins bei den Westmächten und den USA. Im
Alltag wird dies oft als Ausdruck des in den USA ausgeprägten Patriotismus, gemeinsam geteilter
Werte (der drollige Dauerbrenner der amerikanischen Soziologie) verstanden und nicht zuletzt
auch ihrer traditionellen, beharrenden Religiosität (s. Mennell, 2007, Kap. 11). Solche ›Scheinheiligkeit‹ gibt es jedoch keineswegs nur in den USA. Wie Norbert Elias in seinen Beobachtungen
zur ›Dualität des nationalstaatlichen Normenkanons‹ ausführte:
Wie immer sie organisiert sein mögen, die meisten der souveränen, interdependenten Nationalstaaten, die zusammen die Machtbalance-Figuration des 20. Jaherhunderts bilden, bringen bei ihren Bürgern einen zweifachen Normenkanon hervor, dessen Forderungen in sich widersprüchlich
sind: einen Moralkanon egalitären Charakters, abstammend vom Kanon aufsteigende Sektionen
des tiers état, dessen höchster Wert der Mensch ist, das menschliche Individuum als solches, und
einen nationalistischen Kanon, nicht-egalitären Charakters, abstammend vom machiavellistischen
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Kanon der Fürsten und herrschenden Adelsgruppen, dessen höchster Wert ein Kollektiv ist, der
Staat, das Land, die Nation, zu der ein Individuum gehört. (Elias, 2005 [1989]: 227).1
Die für die Außenpolitik zuständigen Personen sind sich in den meisten Ländern, einschließlich
der USA, dieser Duplizität moralischer und machiavellistischer Verhaltenskodizes vermutlich
irgendwie bewusst – auch wenn sie nur den moralischen Diskurs für öffentlichkeitsgeeignet
halten –, sie selbst sind jedoch von beiden Kodizes beeinflusst. Aber die Dualität ist im Fall der
USA aufgrund ihrer Weltmachtposition besonders evident. Wie Johann Goudsblom treffend
beobachtete, hat diese die USA gewissermaßen in die Lage versetzt, in den 1890er Jahren weiter
zu existieren.2 Und seit ihre hegemoniale Position im Abnehmen begriffen ist, beginnen ihre
unablässigen brusttrommelnden Versicherungen von ihrer moralischen Tugendhaftigkeit und
Überlegenheit dem Rest der Welt auf die Nerven zu gehen. Dies ist ein guter Grund den amerikanischen Fall näher zu untersuchen. Elemente seiner ›Scheinheiligkeit‹ können am besten am
Beispiel des Sumpfes im Nahen Ostens untersucht werden; dazu wäre jedoch der Umfang eines
Buches, nicht eines Artikels, vonnöten. Die aufgezeigten Hauptprinzipien und -prozesse lassen
sich indes am Beispiel der Ukraine-Krise von 2014 verdeutlichen.
Der furor hegemonialis
Eine relativ einfache Erklärung für diesen ›Mangel an kollektivem Selbstgefühl‹ oder, positiv formuliert: für dieses Durchschlagen einer ›kollektiven Selbstgerechtigkeit‹, in den USA hat seinen
Grund im typisch kurzen Horizont und dem Fehlen historischen Wissens bei ihren Politikern.
Neben den von Simon Jenkins genannten Katastrophen jüngeren Datums könnte man darüber
hinaus anführen, dass die USA im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte alles darangesetzt haben
die der ehemaligen Sowjetunion angehörenden Staaten aus dem russischen Einflussbereich herauszulösen und in das amerikanischen Empire3 zu überführen, und zudem Russland-feindliche
Regierungen zu stärken (wo solche Einstellungen nicht ohnehin schon vorhanden waren).
Am 9. Februar 1990, nach dem Fall der Berliner Mauer und unmittelbar vor der deutschdeutschen Wiedervereinigung, vereinbarten der sowjetische Regierungschef Mikchail Gorbachev, der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl und der US-Außenminister James Baker,
dass die Truppen der Roten Armee aus Deutschland abgezogen werden und, im Gegenzug, die
NATO-Truppen nicht weiter vorrücken sollten. Der Westen hielt sich aber nicht an diese Vereinbarung, möglicherweise auf der fadenscheinigen legalen Grundlage, dass die Sowjetunion sich
in Auflösung befunden und daher der Gegenpart der Übereinkunft nicht mehr bestanden habe.
Wahrscheinlicher ist aber, dass die Amerikaner aufgrund des desolaten Zustands Russlands in
den 1990er Jahren schlicht davon ausgingen, dass sie damit durchkommen würden, wie sie auch
sonst mit ihren doppelten Standards durchzukommen pflegten.
Viele Kommentatoren hätten es für klug befunden nach Auflösung des Warschauer Paktes
die NATO ebenfalls abzuschaffen; aber sie war eben eine zu zentrale Institution des American
Empire, wie ihr Einsatz in Afghanistan, ganz außerhalb ihres offiziellen Wirkungsbereichs, offen-
1 Stephen D. Krasner argumentiert ähnlich in seinem Buch Sovereignty: Organized Hypocrisy (1999). Viel hat sich im
21. Jahrhundert nicht geändert.
2 Im persönlichen Gespräch.
3 Die Amerikaner streiten im Allgemeinen immer noch ab, dass es ein amerikanisches Empire gibt. Das Versäumnis
sich über das hegemoniale globale Bestreben des Landes klar zu werden, könnte erklären helfen, weshalb das
Ergebnis als ein ›Imperium der Unwissenden‹ oder ein ›zusammenhangloses Imperium‹ beschrieben wurde – s.
dazu Andrew Alexander (2011) und Michael Mann (2004). Noch gravierender wirkt sich dies für die wiederholte
Unfähigkeit aus ›Rückschläge‹ der amerikanischen globalen Interventionspolitik zu antizipieren (2001, 2004, 2006).
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barte.4 Stattdessen schob sich die NATO bis an die Grenzen Russlands, Weißrusslands und der
Ukraine vor. Polen, Ungarn und die Tschechische Republik – drei ehemalige Warschauer-Pakt
Staaten, aber nie Teile der UdSSR, schlossen sich 1999 an. Dann wurden 2004 die drei baltischen
Republiken Estland, Lettland und Litauen – jede zwischen den Weltkriegen ein unabhängiger
Staat, vor und nach dieser Periode jedoch zu Russland gehörend – in die NATO aufgenommen.
Drei weitere ehemals kommunistische Staaten, Bulgarien, die Slowakei und Slowenien (letztere
zuvor zu Jugoslawien gehörend), kamen im selben Jahr dazu. 2009 wurden Albanien und Kroatien
zugelassen. George F. Kennan, der Architekt der Kalten Kriegs-Politik eines sich wechselseitigen
In-Schach-Haltens, äußerte hierzu kritisch, dass die ›NATO-Erweiterung der verhängnisvollste
Fehler der amerikanischen Politik in der Nachkriegs-Ära‹ gewesen sei (1997).
Im Lichte ihrer leidvollen Geschichte ist es nun sicherlich verständlich, dass sich viele dieser
Staaten – hauptsächlich Polen, die baltischen Staaten, Ungarn, die Tschechen und die Slowaken
– vor möglichen künftigen russischen Interventionsgelüsten zu schützen suchen. Ihre Lage im
Verhältnis zu Russland ist der der lateinamerikanischen Länder zu den USA nicht unähnlich.
Man erinnere sich nur an den dem mexikanischen Präsidenten Porfirio Diaz (1830-1915) zugeschriebenen Ausruf: ›Armes Mexiko! So weit von Gott und so nah an den Vereinigten Staaten!‹
Und wieder zeigt sich hier der Mangel an historischem Wissen: Haben amerikanische Präsidenten
und Außenminister denn noch nie von der Monroe Doktrin gehört, die zur Legitimation der
permanenten amerikanischen Interventionen – militärischer, politischer, ökonomischer und
subversiver – in lateinamerikanischen Staaten benutzt wurde? Zentralamerika wurde von den
Vereinigten Staaten von Amerika als ihr ›Vorgarten‹ betrachtet. Dann ist die Ukraine eben
Russlands Vorgarten. Da Russland, und ein großer Teil der Ukraine, Bestandteile desselben
Staatskörpers waren, wäre die seinerzeitige feindliche Übernahme des tiefen Südens der USA
ein vielleicht noch treffenderer Vergleich. Wir alle wissen, welche Folgen dies 1861 tatsächlich
hatte. Solche möglichen Abwägungen haben amerikanische Politiker jedoch nicht davon abhalten
können, den Ukrainern die Möglichkeit einer NATO-Mitgliedschaft in Aussicht zu stellen. In der
Konsequenz hätte dies aber zum Verlust der historischen Marinebasis Russlands in Sevastopol
geführt und zu ihrer Übernahme durch die US-amerikanische Marine.
Im Verlauf der Verhandlungen zwischen der Ukraine und der Europäischen Union, Ende 2013/
Anfang 2014, zur vorgeschlagenen Beitrittsvereinbarung sprachen viele europäische Politiker von
der Notwendigkeit das ukrainische Volk nicht zu einer alternativen Wahl zwischen der EU und
Russland zu zwingen, in der Hoffnung, dass auch eine freundschaftliche Verbindung zu beiden
möglich sein müsste. De facto aber bot die EU ein völlig neoliberales Abkommen an – mit einer
für die fast bankrotte Ukraine völlig unzureichenden finanziellen Unterstützung – und in der
kaum verhüllten Absicht Präsident Viktor Janukowytsch die bevorstehende ukrainische Wahl
verlieren zu lassen. Dennoch traten die EU-Diplomaten, angeführt von Baroness Ashton, noch
relativ vorsichtig auf. Die Haltung in Washington war dagegen eine sehr andere. Im Gespräch
mit dem ukrainischen US-Gesandten Geoffrey Pyatt äußerte die Assistentin des Staatssekretärs
für Europäische und Eurasische Angelegenheiten beim Außenministerium, Victoria Nuland:
›Fuck the EU‹ (Zum Teufel mit der EU). Als diese Bemerkung ins Internet gelangte, musste
sie sich entschuldigen; jedoch war die Äußerung zweifelsohne symptomatisch für vorhandene
Einstellungen, die sonst bloß unterdrückt werden.5
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4 Gleichzeitig wurde die Doktrin vom ›liberalen Interventionismus‹ als Rechtfertigung für die militärischen Abenteuer
im Namen von ›Menschlichkeit‹ lanciert – eine raffinierte Methode die oben erwähnte Dualität normativer Codes
scheinbar zu versöhnen.
5 Siehe Ed Pilkingtons Bericht in The Guardian, vom 06.02.2014: Man fragt sich, ob die Geschichte darüber aufklärt,
dass die europäischen Verbündeten als – um Lenins Ausdruck zu gebrauchen – ›nützliche Idioten‹ betrachtet werden, die großen Ärger auslösen, wenn sie aufhören nützlich zu sein und stattdessen den amerikanischen Zielen
im Wege stehen.
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Diese Episode zeigt auch, wie wenig bewusst westlichen Politikern – absichtsvoll oder nicht –
die problematische und gebrochene Geschichte der Ukraine ist. Deren Grenzen, wie sie Anfang
2014 gezogen waren, sind relativ jungen Datums. Die Krim wurde, wie in jenen Zusammenhängen erinnert wurde, erst 1954 und eigentlich aus eher administrativen Gründen, von einem der
Stammstaaten der UdSSR in einen anderen überführt, von der UdSSR, worin zu der Zeit die
einzelnen Staaten nur etwa den Status von Provinzen hatten, in die Ukraine. (Der Transfer war
übrigens eine viel beiläufigere Angelegenheit als z.B. 1800 die Übergabe der westlichen Teile
von Connecticut an den Teil, der später zum Staat Ohio werden sollte.) Die Krim war seit ihrer
Annexion nach dem Sieg über das Osmanische Reich historisch immer Teil der Sowjetunion
gewesen. Mit dem westlichen Streifen der heutigen Ukraine, Galizien und Wolhynien, einst Bestandteile des Österreich-Ungarischen Imperiums, verhielt es sich sogar noch problematischer:
die Region, deren Hauptstadt Lwiw (zuvor Lvov und Lemberg) ist, war zwischen dem Ersten und
Zweiten Weltkrieg ein Teil Polens, obwohl die meisten ihrer Einwohner ukrainisch sprachen. Die
Mehrheit der Ukrainer kämpfte – sogar noch nach der von Stalin 1932-33 herbeigeführten großen
Hungersnot – an der Seite der Sowjetunion, und damit der westlichen Aliierten; andererseits
kämpften auch ziemlich viele Westukrainer in der Ukrainischen Befreiungsarmee an der Seite
der Nazis. Svoboda, eine der beim Sturz der Janukowytsch-Regierung aktivsten Parteien, hat
ihre Wurzeln in Lwiw und in der Pro-Nazi-Fraktion. Aus diesem Grund wurden sie während der
Ereignisse von 2014 von Ostukrainern als ›Faschisten‹ beschimpft – und es wurde konstatiert,
dass mit deren Eintritt in die Kiewer Regierung eine solche Partei zum ersten Mal seit dem
Zweiten Weltkrieg eine offizielle Machtbeteiligung in einem europäischen Land erlangt hat.6
Es ist auch, wie oben schon bemerkt, daran zu erinnern, dass ein ziemlich großer Teil der
heutigen Ukraine für eine lange Zeit ihrer Geschichte zu Russland gehört hat. Die Bezeichnung
›Russland‹, und ihr Ursprung, lässt sich auf das mittelalterliche Kiew Rus zurückführen; dessen
Machtzentrum wechselte wegen der mongolischen Invasion im 13. Jahrhundert von Kiew nach
Moskau. Eine bedeutsame spätere Episode bestand im Erstarken der ukrainischen Bauern im
17. Jahrhundert in der Gegend von Zaporischja in der Ostukraine, die von russischen Truppen
gegen die Ausbeutung des polnischen Adels und die Ausbreitung des Polnisch-Litauischen
Reiches unterstützt wurden. Dies markierte eine wichtige Station sowohl beim Aufstieg der
Zarenmacht in Europa sowie beim Niedergang der polnischen Großmacht.7 Bis heute spricht
ein großer Teil der ukrainischen Bevölkerung im Süden und Osten des Landes russisch als erste
Sprache und – wie die turbulenten politischen Ereignisse in der Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit 1991 gezeigt haben – fühlen sich viele ihrer Bürger nach wie vor mit Russland verbunden.8
6 Professor Don Kalb von der Zentralen Europäischen Universität, ein Spezialist dieser Region, kommentierte:
›Svoboda bekam nie mehr als 10% der Stimmen, sogar in ihren eigenen Hochburgen, aber ihre Agenda wurde zur
nationalen Agenda und, zwischen November 2013 und Februar 2014, in einem gewissen Ausmaß auch ihr Vokabular
und ihre Mythologie. Ungewollte Ergebnisse von revolutionärer Mobilisierung und insbesondere die Bereitschaft
von Liberalen sich mit Faschisten zu verbünden, die sie in und um den Maidan verteidigen konnten, erklären, mit
anderen Worten, den flotten Rechtsrutsch‹ (Äußerungen im persönlichen Gespräch).
7 Ich danke Don Kalb dafür, dass er mich auf diese historische Episode aufmerksam gemacht hat.
8 Nach in West-Zeitungen abgedruckten Landkarten zu urteilen, scheint russisch die im etwas größeren Teil der Ukraine
verbreitete erste Sprache zu sein – was nicht heißt, dass die Mehrheit der gesamten Bevölkerung russisch als erste
Sprache spricht. Solche vereinfachenden Karten verbergen eher die Komplexitäten. Don Kalb weist auch darauf hin
(ebenso im persönlichen Gespräch), dass nur sehr wenige Menschen in der Ukraine nicht beide Sprachen, russisch
und ukrainisch, sprechen. Die dies nicht tun, sind hauptsächlich die in armen Regionen mit einer geringen Bildung.
Er stellt fest, dass Eheschließungen zwischen Paaren mit den unterschiedenen ersten Sprachen vorkommen: ›In
diesen Ehen ist es nicht selbstverständlich, dass die russisch-Sprechenden sich mit Putin identifizieren und die
ukrainisch-Sprechenden mit Poroschenko oder dem Maidan sympathisieren. Ich höre viele unerwartete und tatsächlich komplexe Geschichten. Ganz allgemein gesagt: die einfache Ableitung der russischen von der ukrainischen
Ethnie ist Unsinn und fördert Gewalt (auf beiden Seiten)‹.
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Eine der ersten Aktionen des ukrainischen Parlaments nach dem Sturz von Janukowytsch war
die Abschaffung des Russischen als der offiziellen Landessprache; dies wurde wiederum zügig
rückgängig gemacht. Der russisch-sprechenden Bevölkerung im Osten und Süden des Landes
kann es jedoch kaum übel genommen werden, wenn sie die erste Maßnahme als Menetekel an
der Wand des Westens betrachtet.
Sogar diese kurze und unzureichende Darstellung der tatsächlich viel komplizierteren Geschichte der Ukraine sollte ausreichen, um deutlich zu machen, warum Diplomaten die Notwendigkeit einer umsichtigen Annäherungsweise hätten erkennen müssen.
Obwohl sich die USA bezüglich ihrer Respektierung des internationalen Rechts im Allgemeinen recht selektiv zeigen, ist ihre Außenpolitik gleichwohl von einem gewissen Juristenjargon
durchdrungen – wiederum Ausdruck der Janusköpfigkeit ihrer normativen Codes. Dies ist den
aktiven Politikern vermutlich sehr bewusst, sie halten es aber für einen Bestandteil im Rahmen
eines Gesamtpakets von Geopolitik. Im Falle der Ukraine hat – im Verlauf der Verhandlungen,
die zum Ergebnis hatten, dass die Ukraine den Teil des russischen atomaren Arsenals, das sich
auf ihrem Territorium befand, herausgeben sollte – der Westen völlig zurecht darauf hingewiesen,
dass sowohl Russland als auch die USA und Großbritannien garantiert hatten, dass die Grenzen
der Ukraine unangetastet bleiben würden. Generell lässt sich nämlich die Respektierung der
Souveränität und Autonomie von Nationen zurückverfolgen bis zum Westfälischen Frieden von
1648 und sogar bis auf das berühmte Prinzip des Augsburger Friedens: cuius regio, eius religio.
Aber solchen Abkommen wurde regelmäßig erst bei Verstößen die Ehre erteilt, besonders wenn
feindliche Bewegungen eines Staates als Bedrohung der souveränen Interessen eines anderen
empfunden wurden. Jenseits solcher grundsätzlichen Prinzipien durchzieht aber eine Voraussetzung wie ein roter Faden die amerikanische Außenpolitik, dass nämlich die Regierung eines
Landes im Namen all ihrer Bürger spreche und sie diese unter ihren Willen zusammenzubinden
vermöge.9 Diese ›homogenisierende‹ Sicht der Amerikaner auch auf die anderen Staaten der Welt
beruht wahrscheinlich auf der Tatsache, dass ein sehr großer Teil der Amerikaner ausgesprochen
patriotisch ist (oder, um es genauer zu sagen: nationalistisch), insofern sie von einem starken
›Wir-Amerikaner-Bild/Gefühl‹10 durchdrungen sind. Und analog gehen sie davon aus, dass es
in allen anderen Ländern und Völkern ebenso zugeht.11 Im Extremfall geht dies mit einer Spur
Rassismus einher. Präsident Woodrow Wilson, selbst ein Original-Südstaatler, scheint davon
ausgegangen zu sein, dass die ethnischen Grenzen Europas klar und unzweideutig seien, als er
in Versailles das Prinzip der ›Selbstbestimmung‹ propagierte. Dagegen gab Sir Ivor Jennings in
den 1950er Jahren zu bedenken:
Vor fast vierzig Jahren verkündete ein Professor für Politische Wissenschaft, der zugleich Präsident der Vereinigten Staaten war, eine Doktrin, die lächerlich war, jedoch als ein vernünftiger
Vorschlag akzeptiert wurde: die Doktrin von der Selbstbestimmung. Auf der Oberfläche schien
sie vernünftig zu sein: Lass das Volk entscheiden. Lächerlich war sie deshalb, weil das Volk nicht
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9 Dies ist ein Überhang aus einer länger bestehenden Tradition. Wie Clark (2012: 168) vom Europa am Vorabend
des Ersten Weltkriegs bemerkte, war das ›Personalisieren von Staaten-als-Einzelnen Teil der verkürzten Sichtweise
der amerikanischen politischen Karikatur, reflektierte aber zugleich eine tief eingewurzelte Denkgewohnheit: die
Tendenz, Staaten als aus Individuen zusammengesetzte Gebilde zu sehen, die von ebenso zusammengesetzten
Institutionen durch einen unsichtbaren Willen gelenkt werden.‹ Dasselbe Syndrom kann in der Dämonisierung der
Person Vladimir Putins erkannt werden.
10 ›Wir-Bilder‹ ist Norbert Elias Formel für die Art von kollektiven Selbstbildern, die sich die Mitglieder einer Gruppe
von der Gruppe, der sie angehören, konstruieren und in Bezug auf die sie emotional besetzte Wir-Gefühle ausbilden
(s. besonders Elias, 2001).
11 Ein gutes Beispiel dieser amerikanischen konservativen Sichtweise ist der Glaube daran, dass, wenn Saddam
Hussein erst einmal beseitigt und ein paar seiner Standbilder zerstört sein würden, der Demokratisierungsprozess
im Irak sich schon durchsetzen werde.
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entscheiden kann, bevor nicht entschieden ist, wer denn überhaupt dieses Volk ist (Jennings
1956: 55-56).12
Es war international bekannt, dass die Struktur der Wir-Bilder (und der korrespondierenden
Wir-Gefühle) im ukrainischen Volk alles andere als einfach ist. Das verhinderte jedoch nicht
die amerikanische Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes.
Die amerikanische Strategie der Einkesselung vorausgesetzt, 13 ist schwer verständlich, warum
Amerika hätte überrascht sein sollen als Russland zu Gegenmaßnahmen in der Krim-Angelegenheit griff. Denn Russland hatte dies schon einmal getan, als der ausgesprochen anti-russische und
pro-amerikanische Präsident Mikheil Saakaschwili, 2004 an die Macht gekommen, alles daran
setzte Georgien zum NATO-Mitgliedstaat zu machen. Es soll hier aber nicht die Intervention
Russlands in Georgien oder die Ukraine verteidigt werden. Auch soll nicht geleugnet werden,
dass die Janukowytsch-Regierung in der Ukraine, obwohl frei gewählt, durch und durch korrupt
und abscheulich war. Aber das allein kann nicht das Hauptmotiv für die von Amerika unterstützte
Destabilisierung des Regimes gewesen sein. Die USA haben stets – und haben dies immer noch
– enge Bündnispartnerschaften mit noch viel übleren Machthabern, wie z.B. in Saudi Arabien,
unterhalten. 14 Meine Absicht ist es hier – wenn wir einen Esel einen Esel nennen, sprich der
Wahrheit die Ehre geben wollen – die Klugheit der westlichen Strategie in Frage zu stellen und
diese als Ausdruck des US-amerikanischen Imperialismus zu entlarven.
Ein weiteres Symptom der amerikanischen Scheinheiligkeit in der Ukraine-Krise war die Ausbeutung des tragischen Absturzes des Fluges MH17 der Malaysischen Airline am 17. Juli 2014.
Zur Zeit der Abfassung dieses Artikels noch unklar, scheint deren wahrscheinlichste Ursache die
Abfeuerung einer Abwehrrakete durch pro-russische ›Rebellen‹ in der Donetsk-Region gegen
das, was sie für einen ukrainischen Kampfjet hielten, gewesen zu sein.15 Aber wie die Amerikaner wohl wissen – weil Donald Rumsfeld ihnen dies nonchalant mitgeteilt hatte16 – passieren
›solche Dinge‹ eben in Kriegsgebieten. Entsprechend wurde vom amerikanischen Militär der
Euphemismus ›Kollateralschäden‹ erfunden, um damit die Hunderttausende getöteter Zivilisten
begrifflich abzudecken, die den permanenten überseeischen Kriegshandlungen der USA in den
letzten Jahrzehnten zum Opfer gefallen sind. In den konkreten Einzelfällen, wie dem unbeabsichtigten Abschuss des iranischen Passagierflugzeuges im Persischen Golf durch die USS
Vincennes, am 3. Juli 1988, bei dem 299 Menschen ihr Leben verloren, scheint diese politische
12 Viel später behandelte Benedict Anderson diesen Punkt in seinem Buch Imagined Communities (1983) ausführlicher.
13 Von 2001 bis 2005 wurden die USA aufgefordert, ihren Luftstützpunkt in Usbekistan (einer vormalig russischen
Militärbasis) zu räumen, und von 2001 bis 2014 bestand einer in Kyrgisistan. Um 2001 wurde in den USA erwogen,
ob ein weiterer in Tadschikistan eingerichtet werden sollte. Die ›Stans‹ in Zentralasien sind allesamt unappetitliche
Regime.
14 Der Fall der US/Saudi-Arabischen Allianz ist besonders interessant. Das Saudi-Regime, autoritär und repressiv
gegenüber der eigenen Bevölkerung, war international ausgesprochen aktiv durch die Unterstützung der extremen
wahabi-salafistischen Richtung des Islam, die Al-Quaida und ähnliche, den USA feindlich gesonnene terroristische
Organisationen, unterstützt hat. Aber das Regime selbst pflegt daneben eine pro-westliche Einstellung, indem es
z.B. große Mengen Öl an die USA verkauft und große Mengen Waffen von den USA kauft.
15 Es wurde kolportiert, dass sich kurz vor seinem Abschuss zwei ukrainische Kampfflugzeuge in der Nähe des
Flugzeugs befunden haben sollen, aber dies schien nicht weiter untersucht worden zu sein – und schon gar nicht
von Journalisten. Der seriöse niederländische Journalist und Akademiker, Karel von Wolferen, beklagte in zwei
Blog-Nachrichten (2014) die ›Korruption‹ westlicher Journalisten, weil sie das, was ihnen das Pentagon mitteilte,
für bare Münze genommen und die MH17-Katastrophe weder aufgeklärt, noch die offizielle Losung angezweifelt,
noch sich um die weiter gehende Frage des coup d’etat von 02/2014 gekümmert hätten.
16 Am 11. April 2003, in Kommentaren zu den Plünderungen in Baghdad – vor allem des großen Nationalen Museums
von Irak –, die auf die amerikanische Invasion folgte.
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Amnesie in Kraft gewesen zu sein.17 Und ebenso wurde nicht daran erinnert, dass am 4. Oktober
2001 das ukrainische Militär zufällig ein Flugzeug der Sibirischen Fluggesellschaft auf dem Flug
von Tel Aviv nach Novosibirsk abgeschossen hatte, bei dem 78 Menschen getötet wurden. Auch
Russland hatte am 1. September 1983 den Flug KE07 der Koreanischen Airlines auf dem Weg
von New York nach Seoul versehentlich abgeschossen. Solche Vorfälle hätten doch eine besondere Vorsicht zur Folge haben müssen. Dagegen bestand die unmittelbare Antwort Amerikas
auf die MH17-Tragödie darin – Samantha Power, US-Gesandte bei den Vereinten Nationen, tat
sich hier besonders hervor –, Russland, und besonders Präsident Putin als Einzelnen18, hierfür
verantwortlich zu machen und damit zugleich zu demonstrieren, dass das Phänomen, das Elias
(2002a [1985]: 127) den furor hegemonialis nannte, voll um sich gegriffen hatte. Man kam nicht
umhin den Eindruck zu gewinnen, dass diese Tragödien nur zu gern zu Waffen im Kampf gegen
Russland umgeschmiedet wurden. Alles wurde zu einem Teil des Spiels und seiner doppelten
Standards.
Dies sind aber nur Symptome des Problems. Wir benötigen vielmehr eine Erklärung für die
amerikanische Heuchelei. Im Folgenden möchte ich die Arbeitshypothese entfalten, dass wir
die Beziehungen zwischen Amerika und dem Rest der Welt als eine den Erdball umfassende
Etablierten-Außenseiter-Beziehungsstruktur betrachten müssen. Um zu erklären, was damit
gemeint ist, wird zunächst ein kleiner theoretischer Exkurs notwendig.
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Etablierten/Außenseiter-Beziehungen
Um 1959/60 herum führten Norbert Elias und sein MA-Student John Scotson eine Untersuchung
in einer kleinen industriellen Ansiedlung in der Peripherie von Leicester durch (2002 [1965]).
Kurz zusammengefasst, wurden zwei der Arbeiterklasse zuzurechnende Gruppen (beide der
weißen Arbeiterklasse zugehörig; man sollte heute vielleicht hinzusetzen, dass es die Zeit vor der
großen Zuwanderung südasiatischer Migranten war). Die Mitglieder beider Gruppen arbeiteten
in derselben Fabrik und waren, gemäß der üblichen soziologischen Klassifikation nach ihrer beruflichen Position, soziologisch nicht unterscheidbar. Einen Unterschied gab es jedoch, der sich
als ein wesentlicher herausstellen sollte. Die eine Gruppe lebte nämlich ›im Dorf‹; das war der
Ortsteil mit den alten, um 1880 erbauten Häusern, in dem viele Familien alteingesessen waren,
über Generationen untereinander geheiratet hatten und enge Netzwerkbeziehungen unterhielten. Als langjährig Etablierte besetzten sie die wichtigsten Einflusspositionen im Ort – in den
Kirchen, den Wohlfahrtsverbänden, den Klubs, pubs usw. Die andere Gruppe, die im kurz vor
dem Zweiten Weltkrieges errichteten (Industrie)Gebiet (Estate) lebte, setzte sich aus relativen
Neuankömmlingen zusammen, von denen viele während des Krieges mit ihren Arbeitgebern
von London dorthin umgesiedelt worden waren. Das Entscheidende war nun, dass die ›etablierten‹ Dörfler sich einig waren, die an sich völlig gleichen ›Außenseiter‹ im Estate zu ignorieren.
Eine der interessantesten Beobachtungen, die Elias in diesem Zusammenhang machte, war die
Rolle, die der Klatsch dabei spielte. Die Dörfler redeten von der eigenen Gruppe, den eigenen
Gruppenmitgliedern, im Sinne einer ›Minorität der Besten‹. Auf diese Weise formten sie ein
17 Das terroristische Bombardement der Pan-American Fluges 103, das am 23. Dezember 1988 den Absturz bei Lockerbie, Schottland, mit 259 Toten an Bord und 11 am Boden, zur Folge hatte, war mit großer Wahrscheinlichkeit
eine Vergeltungsmaßnahme für dieses Vorkommnis. Jedoch wurde der Kapitän der Vinncennes nicht etwa getadelt
oder bestraft, sondern mit einer Medaille belohnt.
18 An anderer Stelle habe ich die allgegenwärtige Tendenz der Amerikaner ausgeführt, Problem- und Motivlagen zu
individualisieren, anstatt in Begriffen von de-personalisierten und ungeplanten sozialen Prozessen zu denken.
Ich glaube, dass ein solches Denken tief in der amerikanischen Kultur verankert ist und sowohl die amerikanische
Soziologie wie Ökonomie bestimmt; s. dazu Mennell (2014a).
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Wir-Image – eine Art Selbststereotyp –, das auf dem Ansehen der tüchtigsten und würdigsten
Gruppenmitglieder beruhte. Man konnte dies den ›Bewunderungs-Klatsch‹ nennen. Er sorgte
für starke Wir-Gefühle und einen gemeinsamen Sinn für Tugendhaftigkeit als Grundlage des
Gruppengefühls.
Aber es gab auch den üblen Klatsch. Der beinhaltete das ›Herziehen‹, das schlechte Reden,
über die Leute des Estate im Sinne einer ›Minorität der Minderwertigen‹; dadurch wurde das
Gegenstereotyp, das ›Sie-Bild‹ des Estate, konstruiert. Es basierte auf dem konkreten Verhalten
von tatsächlich nur zwei oder drei Familien, die durch Gewalttätigkeit, Trunkenheit oder Promiskuität auffielen, und deren Kinder in der Gefahr standen zu ›jugendlichen Delinquenten‹
zu werden. Auf die meisten Menschen des Estate trafen diese Merkmale aber nicht zu. Jedoch
konnten diese sich nicht durch eine entsprechende Welle Gegen-Klatsches zur Wehr setzen, da
ihre sozialen Netzwerke und Machtpositionen weniger gut ausgebaut waren als die der ›Dörfler‹. Elias und Scotson entdeckten aber ein noch entscheidenderes Moment, nämlich dass die
Menschen des Estate dazu tendierten, das feindliche Bild der Dörfler allmählich in ihr eigenes
Selbstkonzept zu übernehmen; sie fingen, mit anderen Worten, an, sich selbst für ›nicht so gut
wie‹ die Dörfler zu halten. Außenseitergruppen – die ohnmächtigsten gesellschaftlichen Gruppen – sind generell durch Ambivalenz, eine fluktuierende Balance zwischen Akzeptanz und
Ablehnung ihrer untergeordneten Position, gekennzeichnet. Und wenn sich, ganz allgemein, das
Machtverhältnis zwischen einer etablierten und einer Außenseitergruppe stärker ausbalanciert,
tritt die ablehnende Tendenz stärker in den Vordergrund. Später baute Elias dieses Konstrukt
zu einem wichtigen Baustein seiner allgemeinen Theorie von Machtverhältnissen aus.19
Wie können diese Einsichten nun auf die Position der USA in der heutigen Welt bezogen
werden? Amerika hat ganz offensichtlich seit 1945 die Zentren der Weltmacht besetzt und, wenigstens dem ersten Eindruck nach, noch entschiedener seit 1990. Dies manifestiert sich nicht
nur als militärische Stärke, obwohl, wie man weiß, die Ausgaben der USA für ihre Streitkräfte
ungefähr so groß sind wie die der übrigen 195 Länder der Welt zusammen. Zu erwähnen ist, dass
diese Aufblähung des militärischen Apparats einen deutlichen Bruch mit der amerikanischen Geschichte bis zum Zweiten Weltkrieg markiert, insofern bis dahin in Friedenszeiten ihre Streitkräfte
eher unbedeutend waren.20 Selbstverständlich spielt auch die ungeheure ökonomische Stärke
der USA eine große Rolle. Sie waren bereits zuvor eine enorme industrielle Macht, erlangten
aber nach dem Krieg eine nie dagewesene beherrschende Position, weil die Ökonomien ihrer
europäischen Verbündeten und ihrer japanischen Feinde im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen zusammengebrochen waren. Die Etablierung des Dollar als der Welthandelsund Reservewährung bedeutete, dass die USA im Endeffekt ›Geld drucken‹ und zu günstigen
Konditionen unbegrenzt Kredite aufnehmen konnten. Wie man in den vergangenen Jahren
gesehen hat, bildete diese neue Rolle, die der Dollar zu spielen begann, auch die Grundlage für
extensive Zuständigkeiten außerhalb des heimischen Territoriums. Denn per US-Gesetzgebung
müssen alle in Dollar getätigten Geschäfte über New York abgewickelt werden, und so wurden
– beispielsweise – europäische Banken zu massiven Geldstrafen verurteilt, wenn sie die von
den USA über Länder, wie den Iran oder Cuba, verhängten Sanktionen missachteten.21 Der
19 S. Elias Essay ›Zur Theorie von Etablierten–Außenseiter Beziehungen‹ (2002b [1976]: 7–56) und Weitere Facetten
der Etablierten–Außenseiter Beziehung: Das Maycomb-Modell (2002c [1990], in Elias und Scotson 2002: 7–56
und 285–308, entsprechend.
20 Zu Berechnungen der ›militärischen Proportion‹ (Anteil des militärischen Personals im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung) seit dem späten 18. Jahrhundert, s. Mennell (2007: 243-44).
21 Ein anderes Beispiel ist die Verurteilung Argentiniens durch ein Bundesstaaten-Gericht zugunsten eines amerikanischen Geier-Fonds (verwaltet von einem rechten Republikaner), der zufolge Argentinien den vollen Wert einer
Anleihe zurückzuzahlen hatte, die jener Fonds zuvor, nach der Zahlungsunfähigkeit Argentiniens in 2002, zu einem
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Internationale Währungsfonds, die Welt Bank und die Kreditvergabe-Institute tragen ebenfalls
dazu bei, das amerikanische Wirtschaftsregime und seine spezifischen Kapitalismusformen dem
(überwiegenden) Rest der Welt aufzunötigen. 22
Außerdem wäre da noch die Frage nach der ›sanften Macht‹ der Kultur zu diskutieren.
Ohne Zweifel haben die amerikanischen Massenmedien ihren globalen Einfluss weit über die
Verbreitung von Hollywood-Filmen hinaus ausgedehnt; dieser reicht inzwischen so weit, dass
beispielsweise der extrem rechte Fox News-Fernsehkanal und viele andere amerikanische
Unterhaltungskanäle weltweit ausgestrahlt werden. In welchem Ausmaß solche Einflüsse in
direkte politische Macht und ideologische Herrschaft umgesetzt werden können – das wird von
amerikanischen Politikern vermutlich überschätzt, da diese Verbreitung amerikanischer ›Kultur‹
zugleich die für Außenseitergruppen typischen Ambivalenzen aktiviert.
Aber kaum zu bezweifeln ist die Rolle der Massenmedien innerhalb der USA, die, als funktionale Alternative zum erwähnten ›Selbstbeweihräucherungs-Klatsch, das Selbstbild einer
kollektiven Tugendhaftigkeit, das unter Amerikanern vorherrscht, verstärken‹.23 Im Endeffekt
jedenfalls gründet die Auffassung der Amerikaner von sich selbst in der Konzeption einer ›ElitenMinorität‹, und die vom Rest der Welt in der einer ›Minderwertigkeits-Minorität‹.
Die USA sind, und dies bereits seit langer Zeit, ein sehr bedeutendes Land. In ihrer Geschichte findet sich eine Unmenge Material, auf das sich das Bild einer kollektiven moralischen
Überlegenheit aufbauen ließ. Dies ist so bekannt, dass es hier nicht näher ausgeführt zu werden
braucht. Aber der Selektionsprozess dauert immer noch an. Entsprechend gibt es viele Beispiele
dessen, was nicht zum amerikanischen Wir-Imago gehört, welche jedoch – als ›Sie-Bild‹ – in den
Augen des Restes der Welt eine große Rolle spielen. Einige davon seien im folgenden aufgelistet,
zunächst die Welt insgesamt betreffend:
– permanente militärische Interventionen der USA in Länder in vielen Teilen der Welt;
– ihre Entführungsprogramme und gezielten Beseitigungen von Menschen, die sie für ihre
Feinde halten;
– ihre aufgeblasene Militärmaschinerie;
– ihre hoch-selektive Respektierung internationalen Rechts;
– ihre Gefangenhaltungen ohne Gerichtsbeschluss;
– ihre regelmäßige Anwendung von Folter;24
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Spottpreis erworben hatte. Diese Entscheidung zwang Argentinien, das sich seit 2002 schon gut erholt hatte,
sich am 31. Juli 2014 erneut zu verschulden. Josef Stiglitz, Gewinner des Nobelpreises für Wirtschaft und früherer
Chef-Ökonom der Weltbank, sagte dazu: ›Es sind eine Menge Bomben überall auf der Welt abgeworfen worden,
und jetzt wirft Amerika eine Bombe in das ökonomische System der Welt. Wir wissen nicht, welches Ausmaß an
Zerstörung die Explosion haben wird – und das nicht nur in Argentinien (Stiglitz, 2014).
22 Godfried van Benthem van den Bergh meinte (im persönlichen Gespräch), dass der IWF, die Welt Bank und sogar
die NATO anfingen etwas weniger gefügige Marionetten der USA zu werden. Auf der anderen Seite könnte behauptet
werden, dass das gesamte ›Muskelpaket‹ von Wall Street und London in Aktion gebracht wird, um das in Gang
zu halten, was man früher den ›Washington Konsens‹ wirtschaftlicher Belange nannte. Aber dies ist ein zu weites
Feld, um hier ausreichend behandelt werden zu können.
23 Die ›sozialen Medien‹, besonders Facebook und Twitter, könnten inzwischen angefangen haben in diesem Zusammenhang eine gewisse Rolle zu spielen. Es ist gesagt worden, dass solche sozialen Medien einen demokratisierenden Einfluss bekommen könnten, indem sie die Machtbalance zwischen den vom Big-Business kontrollierten
Massenmedien und dem dazu sich hauptsächlich passiv verhaltenden Publikum korrigierten. Im Prinzip vermögen
sie es durch die Verbreitung unterschiedlicher Standpunkte schon dem mainstream der Massenmedien etwas
entgegenzusetzen. Es ist noch zu früh, etwas Genaueres darüber zu sagen, denn es gibt noch nicht genügend
schlüssige Anhaltspunkte dafür. Im Moment scheint es angebracht zu vermuten, dass die sozialen Medien die
mainstream-Meinungen ungefähr in gleichem Maße verstärken oder konterkarieren wie die älteren Massenmedien.
24 Zu seiner Ehre sei gesagt, dass Präsident Obama die Bezeichnung ›Folter‹, statt der üblichen Beschönigung ›entwickelte Befragungstechniken‹ gebrauchte. In seiner Rede an der Nationalen Verteidigungs-Universität Fort McNair,
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– ihre Spionageprogramme, sogar gegenüber denen, die sich für ihre Verbündeten halten, und
ihre willkürlichen Überwachungsprogamme rund um die Welt;
– ihre hoch selektive ›Menschenrechts‹rhetorik ;25
– ihre Unterstützung Israels und korrupter autoritärer Regierungen im Nahen Osten;
– und die offensichtliche Unfähigkeit führender amerikanischer Politiker sich in die Situation
von irgendjemand anders hineinversetzen zu können.
Die amerikanische Gesellschaft selbst betreffend:
– ein Wahlsystem, das vor allem durch Manipulationen am Wahlrecht und die Verschiebung
von Wahlkreisgrenzen ausgehebelt wird, so dass die Wahlergebnisse zunehmend verfälscht
werden;26
– eine ausgesprochen politisierte Rechtsprechung;
– die Stärke des militärisch-industriellen Komplexes, vor der Präsident Eisenhower schon 1961
gewarnt hatte, was aber geflissentlich ignoriert wurde – zum Schaden der amerikanischen
Demokratie;
– allgemeiner, eine extreme Beeinflussung der Regierung durch Großunternehmen und die
Großfinanz. Schätzungen zufolge bringt ein Tausendstel der Bevölkerung 25 Prozent der
Mittel für Wahlkampagnen auf, und so ist kaum bezweifelbar, dass die Innenpolitik der USA
den Anreizen und Imperativen politischer Spender gegenüber aufgeschlossener ist als denen
der öffentlichen Meinung. Die Citizen United-Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von
2010 schaffte tatsächlich alle Beschränkungen in der Höhe von Wahlgeschenken und –ausgaben ab, solange sie frei von quid pro quo-Bestechungen bleiben;27
– die außerordentlich große und weiter zunehmende soziale und ökonomische Ungleichheit in
der amerikanischen Gesellschaft, die – wegen der globalen ökonomischen Macht Amerikas
– auch anderen Ländern immer mehr aufgenötigt wird;28
– der Einfluss gesellschaftlicher Gruppen, die auf der Basis ihres religiösen Glaubens die Lehre
von der Evolution, aber auch aus kurzsichtigen ökonomischen Interessen Maßnahmen zur
Klimaverbesserung ablehnen;
– Amerikas hohe Gewaltquoten; diese sind in den letzten Jahren zwar etwas zurückgegangen
(wie in vielen anderen Ländern auch), sind aber immer noch viel höher als in anderen modernen Gesellschaften. Das hängt zusammen mit:
25
26
27
28
am 23. Mai 2013, merkte er an, dass ›wir in manchen Fällen unsere Grundwerte verletzt haben – indem wir die
Folter als Verhörmethode bei unseren Feinden angewendet und Menschen in einer Weise behandelt haben, die
gesetzeswidrig ist.
Die ›Menschenrechte‹ sind ein Beispiel dafür, wie Zivilisierungsprozesse ihren Weg über die nationalen Grenzen,
wenn auch selektiv, gefunden haben, mit allen internen Widersprüchen, die für Zivilisierungsprozesse generell
charakteristisch sind. Das Konzept des ›Zivilisierungsprozesses‹ ist sicherlich einer der Hauptbeiträge Norbert Elias
zu den Sozialwissenschaften (1997 [1939]). Andrew Linklater (2011) hat, im ersten Band seiner geplanten Trilogie,
angefangen die Relevanz von Norbert Elias Ideen für die internationalen Beziehungen aufzuzeigen.
Es gibt in Amerika eine lange Tradition korrupter Wahlen (s. Gumbel, 2005); aber die skandalöse Präsidentschaftswahl von 2000 lenkte die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Tatsache, dass die Durchführung von
Wahlen in den USA nicht den Standards in der weiteren demokratischen Welt entspricht. Dies hatte welthistorische
Konsequenzen.
Siehe zu diesen Punkten Martin Gilens und Benjamin I. Page (2014) und Zephyr Teachout (2014). Teachout behauptet, dass Korruption in dem weiteren Sinne einer Privilegierung privater gegenüber öffentlichen Interessen
die Hauptbedrohung für eine demokratische Regierung darstelle, wie die Urheber der amerikanischen Verfassung
bereits vorausgesehen hatten, und wie es sich inzwischen ziemlich durchgesetzt hat.
S. dazu Piketty (2013). Zu meiner Kommentierung der Verbindung zwischen Globalisierung und sozialer Ungleichheit, s. Mennell (2014).
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– der Waffen-›Kultur‹, der Besessenheit vieler Amerikaner vom Recht auf Waffenbesitz, für
das viele Außenstehende kein Verständnis haben;29
– Amerikas außergewöhnlich hohe Gefangenenrate, mit einem stark überproportionalen Anteil
an Afro-Amerikanern – Symptom des fortdauernden rassistischen Erbes in der amerikanischen Gesellschaft;
– das Festhalten an der Todesstrafe, die in den meisten westlichen Ländern nicht mehr akzeptiert
wird; 30
– und eine Diskreditierung jeden Landes, das Mitglied im Council of Europe oder der Europäischen Union werden will.
Alle diese Punkte werden viel und kontrovers diskutiert. Der hier entscheidende Punkt ist,
dass sie allesamt Kandidaten für das ›Sie-Bild‹ sind, das sich immer mehr Völker dieser Erde
von den Vereinigten Staaten machen.
Gleichwohl scheint es, als ob der Rest der Welt die Selbstkonzeption der Amerikaner – wenngleich in ambivalenter Weise – akzeptiere. Den Soziologen sind schon lange die Versuche weniger
mächtiger Gruppen bekannt den mächtigeren nachzueifern, deren Verhaltensweisen zu übernehmen und sie nachzuahmen – oft nur halb bewusst. Der Trend zur Amerikanisierung Westeuropas
ist seit dem Zweiten Weltkrieg unübersehbar. Und tatsächlich haben die europäischen Staaten in
verschiedenem Ausmaß einen Prozess durchlaufen, der mit einem technischen Ausdruck aus dem
19. Jahrhundert als ›Mediatisierung‹ bezeichnen werden kann. Dieser wurde im Kontext der deutschen Geschichte verwendet, um die Unterordnung eines geringeren unter einen größeren Staat
zu bezeichnen, wobei der Herrscher des ersteren Titel und Würde, die ihm zuvor zugekommen
waren, behielt, obwohl er an Machtfülle eingebüßt hatte. Die große Mehrheit der Fürstentümer
im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation wurde in der napoleonischen Periode auf diese
Weise mediatisiert. In einer späteren, der wilhelminischen Phase, nahmen dagegen die Könige
von (z.B.) Bayern und Sachsen einen geringeren Rang ein als die Preußenkönige, die 1871 zu
Kaisern über ganz Deutschlands erklärt wurden. Die NATO-Allianz, die nach dem Zweiten
Weltkrieg angesichts einer seitens der Sowjetunion empfundenen Bedrohung ins Leben gerufen
wurde, kann als die Fortsetzung eines solchen Mediatisierungsprozesses angesehen werden. Die
Briten stellen hier einen besonders kläglichen Fall dar. Weil Großbritannien seine Sprache mit
den Vereinigten Staaten teilt, scheinen kulturelle Assimilationsaspekte hier besonders weit um
sich gegriffen zu haben. Aber auch in der politischen Dimension: Schon seit vielen Jahrzehnten
macht die Außenpolitik Englands nicht mehr den Eindruck von Amerika unabhängig zu sein.
Einerseits scheint diese unselbständige Position von weiten Teilen des britischen Volkes akzeptiert zu sein; andererseits wird dies in einem Land, das nur ein Jahrhundert zuvor selbst eine
beherrschende Weltmacht war, als zutiefst demütigend empfunden. Merkwürdigerweise wird
dieser Groll über seinen Niedergang in den Angelegenheiten, in denen Großbritannien formal
und substantiell ein entscheidendes Wort mitzureden hat, oft auf die Europäische Union projiziert,
mehr jedenfalls als auf die Vereinigten Staaten, auf die es praktisch (trotz der eher einseitig so
gesehenen ›besonderen Beziehungen‹) wenig oder überhaupt keinen Einfluss hat, die vielmehr
die britische ›Souveränität‹ wirkungsvoller einschränken als es die EU tut.31 Viele Kommenta-
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29 Zu einer überzeugenden Erklärung der Ursprünge der Waffenkultur s. Spierenburg (2006).
30 Die Todesstrafe wurde tatsächlich in vielen Staaten abgeschafft, und Hinrichtungen sind gegenwärtig in den USA
außerhalb Staaten wie Texas nicht sehr zahlreich; auch hier sind Afro-Amerikaner stark überproportional vertreten,
s. Garland (2011).
31 Ein seltsames Beispiel ist die angeblich ›unabhängige nukleare Abschreckung‹ Großbritanniens. Die ungeheuren
Kosten für die Unterhaltung und den vor kurzem vorgenommenen Austausch der atomaren U-Boote verzehren
einen so großen Teil des britischen Verteidigungsetats, dass der Rest seiner Streitkräfte auf ein nie dagewesenes
Maß zurückgeschrumpft werden musste. Viele Politiker erklären die ›nukleare Abschreckung‹ für notwendig, um
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toren haben auf die problematische Qualität des britischen Wir-Bildes in seiner post-imperialen
Phase Bezug genommen. Norbert Elias stellte fest, »England ist in der jüngsten Gegenwart ein
bewegendes Beispiel für die Schwierigkeiten der Anpassung einer Großmacht ersten Ranges and
das Herabsinken zu einer zweit- oder dritt-rangingen Macht.« (Elias: 2005 [1989]: 11) und verglich
die hierbei ablaufenden Prozesse mit denen auf der Ebene der (individuellen) Psychogenese:
Freud ... suchte den Zusammenhang zwischen dem indivudellen und besonders dem Triebschicksal eines Menschen und dessen persönlichem Habitus aufzudecken. Aber analoge Zusammenhänge gibt es auch zwischen den langfristigen Schicksalen und Erfahrungen eines Volkes und
seinem jeweils gegenwärtigen sozialen Habitus. Auch in dieser Schicht des Persönlichkeitsaufbaus
– nennen wir sie provisorisch die ›Wir-Schicht‹ – sind oft Komplexe, Störungserscheinungen
am Werk, die denen der individuellen Neurosen an Kraft und Leidensdruck kaum nachstehen.
(Elias: 2005 [1989]: 31)
Angesichts dieser engen Identifikation mit den USA, aber auch ihrer zwiespältigen Gefühlslagen
ihrer geringer gewordenen Bedeutung in der Welt wegen, sind die Briten – oder zutreffender:
die Engländer – zu so etwas wie Amerikanern mit einem Minderwertigkeitskomplex geworden.
Wenn das für Britannien zutrifft, um wie viel schärfer müssen die ›Schwierigkeiten‹ und ›Leiden‹
für Russland sein, das im letzten Viertel des Jahrhunderts faktisch nicht nur als Welt-Supermacht,
die sich mit den USA auf Augenhöhe befunden hatte, abgestiegen war, sondern sich von diesen
auch systematische Demütigungen gefallen lassen musste.32 Aus demselben Grund auch sind wir
immer noch konfrontiert mit den Konsequenzen der traumatischen Demütigung, die Amerika
selbst durch die Angriffe auf New York und Washington am 11. September 2001 erlitten hat.
Und doch muss man zur Kenntnis nehmen, dass es – in großen Teilen der Welt, und nicht nur
in Britannien – auch eine breite Akzeptanz der amerikanischen Vorherrschaft gibt, die möglicherweise dem Gefühl entspringt, dass, trotz aller Dummheiten und schädlichen Militär- und
Diplomatenaktionen, die Amerikaner immer noch so etwas wie einen stabilen Rahmen in einer
beunruhigenden Welt darstellen. Würde es im Laufe des 21. Jahrhunderts möglich sein einen
dauerhaften inneren Frieden in der Welt zu errichten, so bedeutete das einen ungeheuren Segen
für die ganze Menschheit, etwas, wovon die Menschen seit Jahrhunderten träumen. In Frieden
zu leben, Sicherheit und Absicherung, sind ein Privileg, dessen große Teile der Weltbevölkerung
sich nicht erfreuen. Die Folgen eines solchen Weltfriedens wären unübersehbar, und es wäre
vermutlich ein rascher Zivilisierungsschub zu erwarten. Um noch einmal den entwicklungsoptimistischen Elias zu zitieren: ›wenn . in diesem oder jenem Gebiet die Macht einer Zentralgewalt
wächst, wenn über ein größeres oder kleineres Gebiet hin die Menschen gezwungen werden,
miteinander in Frieden zu leben, dann ändert sich auch ganz allmählich die Affektmodellierung
und der Standard des Triebhaushalts. ‹ (1997 [1939]: 371). Wenn es irgendeine Art Weltregierung
gäbe, brächte dies für den Rest der Welt beträchtliche Vorteile mit sich. Diese könnten in den
Augen der Regierungen der betroffenen Länder den Preis aufwiegen, den sie für eine gewisse
Mediatisierung, der sie sich unterziehen müssten, zu zahlen hätten. Ob das Erreichen eines
solchen Zieles universell gut geheißen würde, wenn es bedeutete, dass die USA diese Funktion
die permanente Mitgliedschaft Britanniens im UN-Sicherheitsrat zu rechtfertigen. Es scheint in der britischen Öffentlichkeit weniger bekannt zu sein, dass die ›britischen‹ Nuklearwaffen nicht ohne amerikanische Genehmigung
eingesetzt werden dürfen.
32 Dies war für die amerikanische Politik unter Präsident George W. Bush in den Jahren, die dem Zusammenbruch
der Sowjetunion direkt folgten, weniger typisch, setzte aber entschieden mit der Amtszeit Madeleine Albrights als
Außenministerin unter Präsident Clinton ein.
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der Weltregierung ausübten – wie dies in gewisser Weise ja bereits tatsächlich der Fall ist – ist
jedoch mehr als fraglich (s. Mandelbaum, 2006).33
Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde von einigen Idealisten, in der guten Absicht dem
Weltfrieden zu dienen, kurzzeitig eine Mediatisierung der Vereinten Nationen hoffnungsfroh ins
Auge gefasst. Ihrer Satzung zufolge war sogar eine dauerhafte Stationierung von US-Truppen
angedacht, die unter Kontrolle des Sicherheitsrats (in dem die fünf Siegermächte den Status
einer ständigen Mitgliedschaft mit Veto-Recht haben sollten) schnell handlungsfähig sein sollten. Diese Vision wurde mit dem Beginn des Kalten Krieges fast augenblicklich ad acta gelegt.
Interessanterweise erklärte Präsident Obama in seiner West Point-Rede von 2014:
Nach dem Zweiten Weltkrieg war Amerika weitsichtig genug, um Institutionen zu schaffen,
die geeignet waren den Frieden zu bewahren und den menschlichen Fortschritt zu unterstützen – angefangen von der NATO und den Vereinten Nationen, bis zur Weltbank und dem IWF.
Diese Institutionen sind nicht perfekt, aber sie haben die Kräfte vervielfacht. Sie verringern die
Notwendigkeit einseitiger amerikanischer Aktionen und sorgen für eine größere Zurückhaltung
unter den Nationen.
Mit anderen Worten: Führende amerikanische Politiker erkennen die Vereinten Nationen
nicht als eine übergeordnete Autorität an, deren Entscheidungen sogar von den USA zu respektieren sind, sondern als eine von ihnen geschaffene Einrichtung, ein Mittel der amerikanischen
Machtpolitik.34
Sollten wir uns nun – wenn uns irgendeine Form der Weltregierung langfristig wünschenswert
erschiene, und wenn diese nicht länger von den Vereinten Nationen wahrgenommen werden
könnte – einverstanden erklären mit einer Zusammenfassung aller Nationen zu einem einzigen
Weltstaat unter der Herrschaft Amerikas? Und wäre das überhaupt durchführbar?
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Essays
Warum gibt es keinen Weltstaat?
Die Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika von 2002 repräsentierte das, was ich das Dubya Addendum zur Rooseveltschen Erweiterung der Monroe Doktrin
(Mennell, 2007: 211-12) genannt habe. Der zuvor erklärte Anspruch der USA auf das Recht die
westliche Welt zu kontrollieren, sollte jetzt auf die gesamte Welt ausgedehnt werden. In seiner
West Point-Rede vom 1. Juni 2002 stellte Präsident George W. Bush fest, dass ›unsere Sicherheit
es erforderlich macht, dass alle Amerikaner … auf Präventivmaßnahmen vorbereitet sind und,
wenn nötig, unsere Freiheit und unser Leben zu verteidigen‹ (Bush, 2002; Hervorh. S. M.). Der
Anspruch auf Ausweitung der amerikanischen besonderen Interessen, insbesondere der wirtschaftlichen, auf den ganzen Erdball, wurde zuerst von Staatssekretär John Quincy Adams im
Namen Präsident Monroes formuliert. Präsident Theodore Roosevelts ›Big Stick‹ sollte jeder
Staat und jede Gruppe zu spüren bekommen, der diesen in die Quere kam. Obwohl die Präsidentschaft von Bush Junior inzwischen als eine einzige Katastrophe gilt, ist dieser Grundsatz
nie zurück genommen worden. Er wurde von seinem Nachfolger nur besonnener vorgetragen.
In seiner West Point-Rede vom 28. Mai 2014 erklärte Obama:
33 Die wirtschaftliche Stärke als Folge des Stellenwerts des Dollars als Welt-Reservewährung ist, wie ich bereits erwähnt
habe, ein wichtiger Faktor im Anspruch der USA auf Anwendung ihrer Gesetze auch außerhalb ihres einheimischen
Territoriums.
34 Die Schaffung der UN wurde mit der Vorstellung verknüpft, dass den Großmächten auch eine besondere Verantwortung beim Bewahren der internationalen Ordnung zukommen solle; seit aber zwei der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats schon bald in die Lage kamen als Amerikas Feinde angesehen zu werden und ihre Vetos
entsprechend einsetzten, ist deren Haltung zur UN immer spannungsreich gewesen.
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Seit dem Zweiten Weltkrieg resultierten einige unserer kostspieligsten Fehler nicht aus unserer
Zurückhaltung, sondern aus unserer schnellen Bereitschaft uns in militärische Abenteuer zu
stürzen, deren Konsequenzen wir nicht bedacht hatten – ohne nämlich für eine internationale
Unterstützung und Legitimierung unseres Handelns zu sorgen; ohne die amerikanische Öffentlichkeit über die notwendigen Opfer zu informieren . . . Amerika muss auf der Weltbühne immer
die Führungsrolle übernehmen. Kein anderer wird dies tun, wenn wir es nicht machen. Das
Militär, dem du angehört hast, ist und wird immer das Rückgrat dieser Führungsaufgabe sein.
Aber die amerikanische Militäraktion kann nicht jederzeit die einzige – oder selbst vorrangigste
– Komponente unserer Führungsrolle sein. Nur weil wir ein guter Hammer sind, bedeutet das
noch nicht, dass jedes Problem ein Nagel ist.
Und er fügte hinzu:
Für die Zukunft, soweit wir sie überblicken können, bleibt der Terrorismus die unmittelbarste
Bedrohung für Amerika und Übersee. Aber eine Strategie, die beabsichtigt in jedes Land, das
terroristische Netzwerke schützt, einzudringen, ist naiv und unhaltbar.
Aber andererseits:
werden die Vereinigten Staaten, wenn nötig, im Alleingang mittels militärischer Gewalt handeln,
wenn es unsere Kerninteressen erfordern – wenn unser Volk bedroht wird, wenn es um unsere
Existenzgrundlage geht oder wenn die Sicherheit unserer Verbündeten in Gefahr ist. Unter all
diesen Umständen werden wir uns harten Fragen stellen müssen, ob unsere Handlungen angemessen, effektiv und gerecht sind. Die internationale Meinung zählt; jedoch sollte Amerika nie
um Erlaubnis fragen, ob es sein Volk, seine Heimat und seine Lebensweise beschützen dürfe.
Dies lässt sicherlich einen großen Spielraum für die Definition nationaler Interessen und die
Tür für militärische Abenteuer weit geöffnet, auch wenn die Ereignisse in Afghanistan und dem
Irak einen ernüchternden Effekt hatten. Angesichts des enormen Drucks, den der extrem rechte
Flügel der amerikanischen Politik ausübt, hätte wohl kein Präsident mutiger den weltweiten
Waffeneinsatz missbilligen können. Und die Verhältnisse am Boden stimmen immer noch mit
der National Security Strategie von 2002 überein. In mehr als 150 (von ungefähr 196) Ländern der
Welt waren 2014 noch amerikanische Streitkräfte stationiert. Die USA haben den Planeten mit
Garnisonen überzogen – mit Ausnahme der großen Flächenstaaten der Russischen Föderation
und Chinas.
Aber warum ist es das Ziel des ›Dubya Addendum‹ einen Weltstaat zu schaffen? Dazu sind
einige Überlegungen zum Konzept ›Staat‹ notwendig. In der amerikanischen Alltagssprache
könnte sich eine begriffliche Unschärfe daraus ergeben, dass die ›Staaten der Union‹ ungefähr
das sind, was in Kanada die ›Provinzen‹ oder in Deutschland die ›Bundesländer‹ sind. Jedoch
ist die unter Soziologen fast einheitlich gebrauchte Staatsdefinition die Max Webers, nach der
ein Staat eine Organisation ist, die erfolgreich den Anspruch auf verbindliche Gesetzgebung
über ein Territorium auf der Basis legitimer Gewaltausübung erheben und aufrecht erhalten
kann (Weber, 1972: 30). Aufgrund dieser Definition kommt die Security Strategy von 2002 dem
Anspruch, das gesamte Territorium der Erde zu einem einzigen Staat und die USA zu seiner
Führungsmacht zu erklären, sehr nahe.
Diese doch eher beunruhigende Feststellung erfordert noch einige nähere Ausführungen.
Zunächst ist es für Webers Definition nicht erforderlich, dass der Herrschaftsapparat ein
Monopol auf den Gebrauch von Gewalt auf seinem gesamten Territorium hat. Es wird immer
Gewaltverbrechen geben. Das Entscheidende ist, dass der Staatsapparat das Monopol auf legitime
Machtausübung beansprucht. Das bedeutet für den Fall, dass private Bürger – oder für unseren
Zusammenhang wichtiger: untergeordnete Herrscher – zu den Waffen greifend, um z.B. auf
eigene Faust Rache zu üben, damit zu rechnen hätten von den Organen der monopolhaltenden
Herrschaft, die den alleinigen Anspruch auf legitime Gewaltausübung hält, bestraft zu werden.
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In der Ukraine/Krim- Krise (wie etwas früher im syrischen Bürgerkrieg) beanspruchten die
USA erkennbar ein solches Recht Strafen aufzuerlegen, waren sich aber nicht so recht darüber
im Klaren, ob sie die wirksamen Mittel dazu hätten.
Des Weiteren ist das Wort legitim für Webers Definition entscheidend, aber sie hat sich, aufgrund
ihrer statischen Konzeption, als doppeldeutig erwiesen. Hat sich Weber auf die Legitimität des
Gewaltmonopols des Herrschers in den Augen der Beherrschten berufen? Oder meinte er vielmehr, dass die Herrscher ihren Anspruch, nur ihrem eigenen Gewaltgebrauch käme Legitimität
zu, erfolgreich müssten verteidigen können? Findet Legitimation ihre Rechtfertigung zuvörderst
nur in den Augen der Herrschenden, und wird ihre Herrschaft erst im Nachhinein auch in den
Augen der Beherrschten legitimiert?
Historisch frühe Staaten könnte man als Schutzgelderpressungs-Systeme bezeichnen. Wie Johan
Goudsblom (1998) feststellte, bestanden frühe militärisch-agrarische Herrschaftseinheiten in einer
›fatalen Symbiose‹ produktiver, aber verwundbarer Landwirtschaften und unproduktiver, aber
gewaltbereiter Kriegerklassen. In der Regel mussten die Bauern vor den Übergriffen der Krieger
benachbarter Territorien beschützt werden; aber die Krieger des eigenen Herrschers konnten
bei Nichteintreten solcher Gefahren auch selbst genug Gefährdungen anzetteln, um den Bauern Anteile ihrer Produkte, Arbeitsleistung, und später auch Steuern, abzunötigen. Jedoch sind
und waren die Existenz realer Außengefährdungen und die Bereitstellung wirksamen Schutzes
dagegen auf der Seite der Subjekte die leitenden Motive für die Anerkennung der legitimen Autorität ihrer Führer. Dies könnte als der allmähliche Übergang von der Dominanz der Staats- zu
der der Nationen-Bildung betrachtet werden. Die Entwicklung eines Solidaritätsgefühls, von
Wir-Gefühlen gegenüber seinem Land, war ein wichtiger Bestandteil der Innenpolitik moderner
Regierungen bei anhaltender Gefahr in Kriegshandlungen mit andern Ländern verstrickt zu
werden.35 Goudsblom sprach von dem, was er ›das Paradox der Befriedung‹ nannte:
Ein altes Sprichwort sagt: si vis pacem para bellum – Wenn du Frieden willst, bereite dich auf
den Krieg vor. Dieses Sprichwort zeigt die eine Seite des Pazifizierungsprozesses. Für die andere
Seite könnten wir das andere römische Sprichwort anführen: si vis bellum cura pacem – Wenn
du einen Krieg riskieren willst (mit einiger Aussicht auf Erfolg), musst du dich um den Frieden
kümmern (in deinen eigenen Reihen) (Goudsblom, 2001).
Dieser Teil des Problems findet jedoch in den USA kaum Beachtung: Die Rolle, die die USA
in der Welt spielen, wird von den meisten Amerikanern für eindeutig legitim gehalten (wenn
sich Minoritäten an anti-Kriegsdemonstrationen beteiligten, hielt man sie im allgemeinen für
unpatriotisch).
Auch das Problem der Legitimation in den Augen der Anderen scheint in Amerika weniger
Beachtung gefunden zu haben.36 Die am weitesten verbreitete Meinung ist offenbar die, dass
das, was wir, Amerika, tun, legitim ist, weil wir gut sind, und das, was unsere Gegner tun, illegitim,
weil sie böse sind. Dieses manichäische Weltbild ist es, was einer Erklärung bedarf. Und ein Teil
derselben ist, wie ich meine, die Entstehung einer Etablierten/Außenseiter-Beziehung gigantischen
Ausmaßes mit einer stark zugunsten der USA ausschlagenden Machtfülle.
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Essays
35 Dies mag ja, zumindest in einigen Ländern, immer weniger für zutreffend gehalten werden. Nico Wilterdink stellte
die Hypothese auf, dass die seit 1980 in westlichen Gesellschaften zu beobachtende Zunahme ökonomischer
Ungleichheiten der Stärkung der internationalen Interdependenzen von Unternehmens- und Finanzkapital und
einer damit zusammenhängenden Schwächung der Interdependenzen innerhalb dieser Gesellschaften, geschuldet
ist; s. Wilterdink (2000) und auch Mennell (2014a, 2014b).
36 Das war eine der Hauptbotschaften der neuesten Arbeit Chalmers Johnsons, der Trilogie ›blowback‹, die in den
Jahren, die auf 9/11 und den Einmarsch in den Irak folgten, erschienen ist. Aber die drei Bände haben vielfach
feindliche Reaktionen bei den Politikern ausgelöst. Weithin wurde Johnson nachgesagt, er habe sich ›den AmerikaHassern angeschlossen‹. Tatsächlich handelte es sich aber eher um den Appell einer gewissen Zurückhaltung in
Fällen emotional bestimmter, kurzfristiger kämpferischer Einlassungen.
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Schlussfolgerung
Relativ wenige Menschen haben vorausgesehen, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion die
USA eher schwächen als stärken würde, dass an die Stelle einer bipolaren sich tendenziell eine
multipolare, nicht aber unipolare Welt etablieren würde. Godfried van Benthem van den Berg
vertrat bereits 1992 die zu der Zeit recht beunruhigende Meinung, dass die sich während des
Kalten Krieges ›wechselseitig angedrohte Zerstörung‹ der Großmächte beide zur Zurückhaltung
gezwungen habe, weil die Krisengefahr, von der sie prinzipiell gleich betroffen waren, sich zu
einem Nuklearkrieg hätte ausweiten können (besonders nach der Kuba-Krise, die gerade noch
abgewendet werden konnte). Der Autor erörterte die Frage, ob das unbeabsichtigte Ergebnis
des nuklearen Stillstands- und Beschränkungsabkommens zum funktionalen Äquivalent einer
einzigen Weltregierung tauge – was bedeutete, dass eine hochstabile Machtbalance für viele Staaten einen starken Anreiz darstellte sich einer der beiden Supermächte anzuschließen – jedoch
setzten die unipolare, und später multipolar gewordene Welt solchen Spekulationen ein Ende.
Ein Jahrzehnt später stellte der Politikwissenschaftler Joseph Nye (2003) fest, dass die USA
es nicht mehr ›im Alleingang schaffen können‹. Ein anderes Mitglied dieser kleinen Gruppe
visionärer Konzeptualisten war Norbert Elias. Schon 1970 entfaltete er eine klare theoretische
Perspektive der Gründe und Umstände, unter denen Machtverhältnisse weniger ungleich werden könnten und der Verlauf sozialer Prozesse weniger von den Plänen und Absichten der
mächtigsten Spieler gesteuert werde, sondern viel entscheidender von den unbeabsichtigten
Ergebnissen der verwobenen Pläne beteiligter Spieler. Zudem wies er auf die wahrscheinlichen
ideologischen Konsequenzen hin, den dies auf das beunruhigende Empfinden der Völker, von
undurchschaubaren sozialen Kräften in Bann geschlagen zu sein, ausüben könnten (Elias 2006,
Kap. 3 ›Spielmodelle‹). Später, in Humana Conditio (2002a), einem grundlegenden Exkurs über
Weltpolitik, untersuchte Elias die Möglichkeit für die eine oder andere Seite den Kalten Krieg
für sich zu entscheiden. Dies hielt er für nicht wahrscheinlich; darin irrte er sich allerdings; denn
die UdSSR brach zusammen, und die USA gingen als die übergeordnete ›Supermacht‹ hervor
– wie es jedenfalls zunächst aussah. Ganz richtig erkannte Elias aber, dass die Herrschaft der
dominierenden Supermacht in dem Moment untergraben werde, wo es ihr gelinge sich gegenüber
der anderen durchzusetzen und sich an die Spitze zu setzen, und zwar genau weil die Angst vor
der ehemaligen Gegenmacht und die entsprechende Angst auf Seiten der Protektionsstaaten
damit abnehme. In vielen Teilen der Welt haben viele Menschen tatsächlich den nicht unbegründeten Eindruck Schutz vor den Gefährdungen zu benötigen, die von den USA ausgehen. In
dieser Hinsicht könnte der entstehende Weltstaat an das Protektionsgeschäftssystem der frühen
militärisch-agrarischen Staaten gemahnen.
Ein langer Weg ist zurückzulegen, um die der amerikanischen Außenpolitik zugrunde liegende
konstante Suche nach den bösen Feinden, die eine existentielle Bedrohung für sie bedeuteten,
zu erklären. Wie Gore Vidal beobachtete, ist immer ›irgendein schrecklicher fremder Feind zur
Hand, um uns in die Nacht des Hasses auf unsere Güte und rosige Plumpheit zu katapultieren‹
(2004: 6). Seit 2001 hat die unendlich biegsame Bedeutung des Wortes ›Terrorismus‹ diesem Zweck
hervorragend gedient, obwohl dessen ungenauer Kompass Amerika fast dazu gebracht hat sich
im syrischen Bürgerkrieg mit Ablegern von Al Quaida zu arrangieren.37 Nachdem die USA sich
aber endlich aus den Untiefen des Mittleren Ostens befreit hatten, gab es in Foggy Bottom einen
beinahe hörbaren Seufzer der Erleichterung, als ihnen nämlich klar wurde, dass sie zum viel
einfacheren und vertrauteren Geschäft der Dämonisierung Russlands zurückkehren konnten.
37 Die USA wurden aus dieser verzwickten Lage durch das in weiten Kreisen bewunderte diplomatische Geschick
Sergei Lavrovs, Präsident Putins Außenminister, befreit; dies hat jedoch bei den Amerikanern keine wahrnehmbare
Dankbarkeit ausgelöst.
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Ich habe argumentiert, dass ein Weltstaat – die endliche innere Befriedung der ganzen Welt
– große Vorteile mit sich bringen könnte. Aber wie eine Zusammenführung von selbständigen
Nationen unter dem Banner der Vereinten Nationen nicht wahrscheinlich erscheint, so auch
nicht der einhellige Zusammenschluss von fast 200 Staaten unter der Flagge des American Empire. Ist schließlich vorstellbar, dass in Amerika die Einsicht reift, dass eine einseitige, von den
USA ausgeübte Weltherrschaft unhaltbar geworden ist – aus etwa den gleichen Gründen, die
Antiimperialisten, wie Mark Twain und Carl Schurz, schon Anfang des 20. Jahrhunderts geltend
gemacht haben? Die erinnern an den Wahlspruch des Amerikanischen Bürgerkriegs ›no taxation
without representation‹. Damit formulierte man in Zeiten des ersten amerikanischen Empire
die Einsicht, dass die Völker ihrer Kolonien – die Philippinen, Hawaii und Kuba – nicht länger
beherrschbar waren ohne ihnen eine Repräsentanz zuzugestehen. Entweder musste man ihnen
die Unabhängigkeit geben oder sie zu Staatsbürgern mit Wahlrecht machen.38 Der Herrschaftsbereich der USA ist heute viel umfassender. Sollte sich die amerikanische Regierung unter
diesen Umständen nicht schrittweise für den klügeren Weg entscheiden und sich die Strukturen
der Vereinten Nationen zu eigen machen, statt allen Völkern der Welt ein Mitspracherecht in
amerikanischen Regierungsangelegenheiten einzuräumen? Das erscheint unwahrscheinlich.
Aber im Lichte der Geschichte ist voraussehbar, dass sich langfristig – wenn nicht eine globale
Katastrophe das Ökosystem der Welt zum Zusammenbruch bringt, oder ein vernichtender
Atomkrieg die Menschheit auf ein stark reduziertes soziales Organisationsniveau zurückwirft
– neue Integrationsformen herausbilden werden, die geeignet sind mit den Problemen, die die
spezifischen Formen der globalen Interdependenzen aufwerfen, vernünftig umzugehen.
Dieser Essay hat an den Ereignissen des 2014 ausgelösten Ukrainekonflikts angesetzt, hätte
seinen Ausgangspunkt aber auch an vielen anderen Eskapaden der amerikanischen Außenpolitik
nehmen können. Es war nicht meine Absicht Präsident Putin oder Russland weißer als weiß zu
waschen. Auch erscheint es nicht ganz zulässig mit dem Finger auf die USA allein zu zeigen,
denn es hat (in unterschiedlichem Maße) eine Kakophonie hysterischer Verurteilungen Russlands auch seitens zahlreicher europäischer Nationen gegeben: Während ich an diesem Beitrag
schreibe, versucht der britische stellvertretende Premierminister gerade die von der FIFA für
2018 in Russland angesetzte Weltmeisterschaft zu verhindern.39
Ich habe dargestellt, dass Amerikas Machtposition in der Welt – wenngleich weniger unangefochten als vormals, oder gerade deswegen – die Nation besonders empfänglich gemacht hat
für Hochmut und kollektive Selbsttäuschung – für das, was die alten Griechen hybris nannten.
Ihre Außenpolitik mündet dadurch immer wieder in kollektive Katastrophen. Man könnte das,
was ich als die ›großräumigste globale Etablierten/Außenseiter-Beziehung‹ beschrieben habe,
auch als eine umfassende globale ›Zivilisationsoffensive‹ des Westens betrachten – genauer, als
den Stolz des westlichen Selbstverständnisses das Ergebnis eines langwierigen europäischen
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38 Das ist heute eine sehr praktische Frage. Stiglitz (2006: 120-2, 211) führt an, wie beispielsweise in der Konferenz der
Welt-Handelsbeziehungen in Uruguay die USA – aus eng interpretierten kommerziellen Gründen im Rahmen von
Handelsregulatorien – auf ihren intellektuellen Eigentumsrechten bestanden hätten, wodurch verhindert worden
war, dass arme Länder preiswertere no-name-Produke selbst herstellen konnten und wodurch wahrscheinlich
Hunderttausende Menschen zum Tode (insbesondere durch AIDS) verurteilt worden waren. Im Gegensatz zu all
diesen Unzulänglichkeiten des amerikanischen politischen Systems und der Ungleichheiten in der amerikanischen
Gesellschaft spielen Vorstellungen von ›Fairness‹ trotz allem immer noch eine gewisse Rolle in der Politikgestaltung,
womöglich aus Furcht vor den Konsequenzen bei den nächsten Wahlen, wenn man auf diese völlig verzichtete.
39 Andererseits stellte Vizepräsident Biden am 2. Oktober 2014 in einer Grußbotschaft an der Harvard Universität
fest, es sei ›wahr, dass sie (die europäischen Länder) dies nicht tun wollten (Russland Sanktionen auferlegen).
Amerikas politische Führung und der Präsident der Vereinigten Staaten mussten darauf bestehen, dass Europa
sich wehrte, auch wenn dies Europa oft in eine peinliche Lage brachte und zudem mit ökonomischen Härten und
Kosten verbunden war‹.
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Zivilisierungsprozesses auf den ganzen Erdball auszuweiten. Wenn dem so sein sollte, bestünde
ein Problem in der persistierenden Dualität seiner normativen Codes.
Vielen Menschen könnte all dies zu kompliziert sein. Sie könnten sagen, dass die amerikanische
Außenpolitik einfacher gestaltet werden sollte, etwa nach dem Muster der altmodischen Realpolitik. Zielt sie aber bloß darauf ab das Territorium ihres Weltreichs und die Herrschaft ihrer
Kapitalismusformen mit allen erforderlichen Mitteln, Ideologien und ihrem ›Patriotismus‹, der
die harten Realitäten verschleiern helfen soll, auszuweiten? Ich kann das nicht recht glauben.
Vielmehr scheint mir, als hätte die von Norbert Elias entwickelte Theorie der Etablierten/Außenseiter-Beziehungen – Kern seiner umfassenderen Theorie von Machtverhältnissen und ihren
Konsequenzen – für diese Problemlagen etwas anzubieten. Etwas, das über Realpolitik hinausgeht.
Die Formation von Wir-Bildern, verbunden mit entsprechenden Wir-Gefühlen, mündet in ein
kollektives Selbststereotyp kritik-immuner Tugendhaftigkeit und Selbstgerechtigkeit auf Seiten
der mächtigeren Seite der Konfliktparteien. Das geht einher mit der Formierung zugespitzter,
auf Vorstellungen ›minderwertiger Minoritäten‹ basierender Sie-Bilder für die Gegenpartei(en).
Zugleich führt dies aber zu einer Nichtbeachtung korrespondierender Negativbilder im Innern
der USA (und ihrer Verbündeten) selbst, die den schwächeren Außenseitergruppen angeheftet
werden. Diese Vernachlässigung wird insbesondere dann gefährlich, wenn die Außenseiter allmählich an Macht gewinnen. Diese Etablierten/Außenseiter-Prozesse haben einen langen Weg
zurückzulegen, um die manichäische Weltsicht der Amerikaner, die sie auf die Welt jenseits
ihrer eigenen Küsten pflegen, zu erklären: ihre Cowboy- und-Indianer-Mentalität, ihre gut-undböse-Naivität, und ihre ›Oh-Mist!‹-Unschuldsattitüde, wenn sie mit den Folgen ihrer Aktivitäten
konfrontiert werden.40 Wendeten die Macher von Außenpolitik die Etablierten/AußenseiterPerspektive auf die globale Politik an, so könnte das dazu beitragen ihre Politik realistischer zu
gestalten, weniger störanfällig infolge nicht voraus bedachter Folgen.
Und doch mildert meine Argumentationslinie ironischerweise die Schuldzuweisung gegenüber
Amerika ab, weil die aufgezeigten Prozesse alle möglichen Machtbalancen zwischen gesellschaftlichen Gruppen betreffen, wie an den imperialen Mächten der Vergangenheit, besonders am
Beispiel Groß Britanniens in den Tagen seiner imperialen Glanzzeit gut gezeigt werden kann.
Denn, wie Christopher Clark (2012), der die paranoide Deutschland-Phobie im britischen Außenministerium in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts analysiert hat, feststellte, setzte ›die
britische Außenpolitik – ebenso wie die amerikanische im 20. Jahrhundert – in aller Regel auf
Bedrohungs- und Invasionsszenarien als ihre handlungsleitenden Maximen‹.*
(Übersetzung aus dem Englischen von Erika Richter)
40 Ich bin Bruce Mazlish dankbar meine Aufmerksamkeit auf diese ›Aw shucks!‹-Reaktionen, wie er sie nannte, gelenkt
zu haben.
* Ich danke Harold Behr, David Blake, Godfried van Benthem van den Bergh, Ruben Flores, Don Kalb, Andrew Linklater, Bruce Mazlish, Patrick Murphy, Malcolm Pines, Vic Schermer, Svein Tjelta und Karel von Wolferen für ihre
hilfreichen Kommentare während der Entstehung dieses Beitrags.
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Abstract
America’s power position in the world – although less unchallenged than it once was, or perhaps
because of that – has made it especially susceptible to hypocrisy and collective self-delusion, to
what the Greeks called hubris; this continues to lead its foreign policy into unanticipated disasters.
The syndrome is discussed with special reference to the Ukraine crisis of 2014, although the morass
of American policy in the Middle East would yield even more dramatic examples. Norbert Elias’s
theory of established–outsider relationships is deployed in understanding how the USA relates to
the rest of the world, together with Elias’s idea of the duality of normative codes in nation states.
The formation of we-images and associated we-feelings, based on a highly selective ‹minority
of the best’, feeds into a collective self-stereotype of unquestioned virtue and self-righteousness
on the part of the more powerful party to a conflict. The formation of exaggerated they-images
of other players, based on a ‹minority of the worst’, is a complementary part of the process. But
the process also leads to a neglect of the corresponding negative they-images of the USA (and
its allies) that are formed on the side of the weaker outsider groups – and this neglect becomes
especially dangerous as the outsiders gradually become relatively more powerful.
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Gerard Delanty
Nachdenken über die Bedeutung von Solidarität für das
heutige Europa
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Essays
Meine beiden Begriffe – Solidarität und Europa – scheinen heute ein unglückliches Paar abzugeben, nicht zuletzt im Lichte dessen, was jetzt Brexit genannt wird. Und tatsächlich lässt
schon ein nur oberflächlicher Blick auf die politische Landkarte des heutigen Europa die
Entkoppelung der Solidarität von allem, was mit der europäischen Idee verbunden war und ist,
deutlich erkennen. Er enthüllt einen tief gespaltenen Kontinent. Die alte Teilung zwischen Ost
und West wurde um die neue zwischen Nord und Süd ergänzt. Aber die eigentlichen Teilungen
verlaufen nur allzu oft nicht zwischen den Nationen, sondern innerhalb derselben. Kulturelle
und ideologische Konflikte entstehen hauptsächlich in den nationalen Zusammenhängen. Die
europäische Frage ist daher unvermeidlich eng mit anderen Konflikten verknüpft. Nur selten
treffen wir auf eine gemeinsame nationale Position, die andere Bereichen ausschließt. Vielleicht
ist das ein Grund nicht völlig zu verzweifeln. Die Unterstützung für die europäische Integration
war stets in erster Linie instrumentell und von nationalen Interessen angetrieben. Immer gab es
aber auch eine normative Dimension der europäischen Integration, die nicht ohne Verbindung
mit der Bedeutung von Solidarität geblieben war und nicht auf nationale Interessen reduziert
werden konnte. Die Vereinbarkeit der nationalen Interessen mit dieser weiteren Bedeutung
von Solidarität wurde noch selten auf die Probe gestellt. Auch ist es unvermeidbar, dass es einen
Konflikt mit den nationalen Interessen gibt, sobald, wie es derzeit der Fall ist, ein bestimmter
Integrationsgrad erreicht ist, was ein erneutes Nachdenken notwendig werden lässt (and a new
reckoning will ensue). Auf diese Weise bildeten sich auch die Nationalstaaten. Hier aber findet
zuerst und vor allem ein Zusammenstoß innerhalb der Nationen statt und nicht einer zwischen
Britannien und Europa, den ich bloß für das Symptom einer tiefer liegenden Misere halte. Die
Situation wird verkompliziert durch das Einsetzen einer tiefen ökonomischen Krise in Europa,
und einen Euro, der viele der schwächeren und kleineren Länder im deutschen Kapitalismus
gefangen hält, was tatsächlich den Sinn von Solidarität in Frage stellt. Aber genau diese Situation
der moralischen und sozialen Krise lässt die Frage nach der Solidarität und ihrer Beziehung zur
europäischen Idee umso relevanter werden. Jedoch gibt es viele Vorstellungen von Europa, und
die Idee der Solidarität fügt sich nicht nahtlos in die anderen Ideen von Europa, die mit denen von
Freiheit und Gleichheit verbunden sind. Ich möchte im Folgenden die tiefen, wenngleich nicht
unversöhnlichen Widersprüche zwischen diesen politischen Traditionen entfalten und diskutieren.
Es gibt zwei deutlich unterscheidbare theoretische Positionen zum Konzept der Solidarität.
Beide werde ich hier kritisch hinterfragen. Die erste vertritt die Ansicht, Solidarität sei an kulturelle und territoriale Gegebenheiten gebunden. Demzufolge sei Solidarität zuvörderst in einer
gemeinsamen Identität verankert und verliere außerhalb einer national definierten politischen
Gemeinschaft ihren Sinn. Die zweite Position vertritt dagegen die Auffassung, Solidarität sei
ein universalistischer moralischer Wesenszug des Menschen und daher potentiell von globaler
Dimension. Demzufolge kenne die menschliche Solidarität keine Grenzen.
Für die erste Position spricht eine Menge, während die zweite die Menschen mit einer kosmopolitischen Neigung anspricht, der ich selbst zuneige. Zusammengefasst, hat die eine also
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die Bedeutung einer sozial-beschränkten, gebundenen Solidarität und die andere die einer
allgemein-menschlichen Solidarität, die nicht beschränkt ist.
Ich bin allerdings der Meinung, dass keine dieser Positionen hinreichend ist, sondern dass ein
anderes Konzept von Solidarität ersonnen werden muss, das seinen Grund weder in einem territorialen Ort noch in einer universellen Moralität hat, sondern Elemente beider in sich vereint.
Ich fange mit der Frage an, warum wir Formen von Solidarität brauchen und worum es bei einer
solchen Fragestellung heute geht. Im zweiten Teil versuche ich eine Definition von Solidarität,
die das Dilemma der Alternative geschlossen versus offen vermeidet. Im dritten Teil stelle ich
ein paar sozio-historische Beispiele von Solidarität vor, und schließlich versuche ich die Frage
zu beantworten, ob es eine europäische Solidarität überhaupt gibt.
Was steht auf dem Spiel?
Wie im Falle von Konzepten der Sozial- und Humanwissenschaften ist das Konzept der Solidarität
ein umstrittenes. Aber statt daraus zu schließen, dass es zu unklar und folglich unbrauchbar sei,
benötigen wir es meines Erachtens, weil wir ohne dasselbe keine Begrifflichkeit hätten unser
bewusstes oder willentliches Engagement für eine gemeinsame Welt zum Ausdruck zu bringen.
Und ohne dieses gäbe es kein soziales Leben. Und in diesem Sinne betrifft es die normative
Dimension von sozialer Bindung oder Gesellschaft, das heißt von Gesellschaft im Sinne einer
geteilten sozialen Welt. Das Konzept ist zudem verbunden mit anderen Konzepten, die die soziale Textur der Gesellschaften bestimmen, wie z.B. das von Gabe und Hingabe und Vertrauen.
Wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass es sich bei der Solidarität nicht unbedingt
um eine nur positive Bedingung handelt; sie kann auch negative Formen annehmen: eine einschießende und eine, die kraft ihrer integrativen Funktion die Möglichkeit des Ausschließens
hat. So missbrauchten die Nazis Solidarität, um Gehorsam und Loyalität in einer Blut– und
Boden-Ideologie zu verankern.
Seit der Französischen Revolution war die Bedeutung von Solidarität – in der Tradition der
Brüderlichkeit – an die zusätzlichen Ideen von Freiheit und Gleichheit geknüpft, wobei sie im
allgemeinen diesen gegenüber einen geringeren Stellenwert hatte. Diese französische Idee der
solidarité beeinflusste alle anderen Sinngebungen, einschließlich der deutschen, von Solidarität.
Sie ergänzte die letzteren, ebenfalls normativen Konzepte und legte den Schwerpunkt auf die
sozialen Bindungen, die eine politische Gemeinschaft ermöglichen. Eine grundlegende Idee ist
dabei, eine Gesellschaft oder politische Gemeinschaft beruhe auf der Voraussetzung, dass ihre
Mitglieder sich für sie einsetzten und dass sie um ihrer Zukunft willen nicht allein auf dem Streben nach Freiheit – allgemein im negativen Sinne als Freiheit von Tyrannei verstanden – oder
Gleichheit beruhen könne. Die Bürger müssten sich außerdem füreinander einsetzen. Solidarität
bezieht sich also auf die Art und Weise, wie soziale Beziehungen beschrieben werden sollten.
Das menschliche Handeln kann soziale Chancen verhindern, darin besteht die Gefahr der
Freiheit. Soziale Gerechtigkeit, wie das Streben nach Gleichheit, erfordert eine vorausgehende
Verpflichtung gegenüber den sozialen Beziehungen, die die Mitgliedschaft definiert und den
Horizont des politischen Gemeinwesens absteckt.
Die politische Geschichte der modernen Gesellschaften folgte, grob gesagt, zwei Traditionen: eine, die mehr Wert auf die Freiheit legte und eine andere, die die Gleichheit favorisierte.
Letztere propagierte eine soziale Gerechtigkeit und fand ihren Ausdruck im Sozialismus und
ihren verschiedenen Varianten, während erstere sich im Liberalismus manifestierte und auf dem
Glauben an Freiheit als übergeordnetem Politikziel gegründet war. Die Politik der Solidarität als
solche füllten diese und andere Traditionen mit sozialem Inhalt. Zweifellos war sie mehr mit der
zweiten als mit der ersten Tradition verbunden. Diese Zuschreibungen sind jedoch zu ungenau,
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wie es die Beispiele von sozialem Liberalismus und christlicher Demokratie zeigen. Außerdem
fungierte Solidarität als eine normative Grundlage für Sozialpolitik, während sie zugleich für
noch zu erreichende Ziele stand.
Das Problem der Solidarität stellt sich zuerst, wenn sich eine politische Gemeinschaft im
Bewusstsein einer zu errichtenden gemeinsamen sozialen Welt konstituiert. In diesem Sinne
ist sie ein Produkt der Moderne, die begann, der Mächtigkeit des menschlichen Handelns einen
höheren Stellenwert zuzuerkennen. Die modernen Gesellschaften leben, anders als ihre Vorgängerinnen, von der Überzeugung, dass die politischen Gemeinwesen mehr Kunstprodukte
als Naturtatsachen seien und dass die Menschen ihre Welten im Lichte ihrer Zukunftsvisionen
einzurichten vermöchten. Daraus entstand das Problem, wie zu entscheiden sei, wer zum politischen Gemeinwesen gehört. Das heißt nicht, dass Solidarität in vormodernen Gesellschaften
nicht existent gewesen wäre, sondern lediglich, dass solche Gesellschaften zu ihrem Funktionieren
auf Solidarität nicht angewiesen waren.
Diese Frage wird gegenwärtig im Kontext einer Situation, in der die Nationalstaaten nicht länger
selbständige geo-politische und kulturelle Einheiten sind, umso relevanter. Ich will nicht leugnen,
dass sie die wesentlichen Einheiten sind, in denen Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit usw. ihren
Ort haben; dennoch werden sie mehr und mehr von globalisierenden Kräften betroffen, und im
europäischen Kontext sind sie eng miteinander verbunden. In dieser turbulenter gewordenen
Welt halten die mit 1789 eingeführten dominanten politischen Traditionen – des Liberalismus
und des Sozialismus – die richtigen Antworten nicht mehr bereit. Und dies einfach deshalb, weil
sich die Fragestellung verändert hat. Es hat eine Akzentverschiebung von Freiheit und Gleichheit
zu Solidarität stattgefunden. Das heißt, die Frage lautet nunmehr, wer es denn sei, der in den
Genuss von Freiheit und Gleichheit kommt. Der moderne Nationalstaat übernahm den naiven
Universalismus der Französischen Revolution, der alle Bürger zu Gleichen erklärte. Der moderne
konstitutionelle Nationalstaat – einer der Nachfolger von 1789 – trat also den langen Prozess der
Ausdehnung von Wahlrecht und übergreifender sozialer Bürgerschaft an. Selbstverständlich blieb
dieser ausgesprochen exklusiv, aber seine Voraussetzungen waren weitgehend universalistisch,
und seine Erfolge waren beträchtlich. Die liberalen und republikanischen Nationalismen, die
diese Bestrebungen stärkten, sind nicht verschwunden, werden aber von neuen Problemen und
einer veränderten Situation herausgefordert, eine, in der der Staat selbst infrage gestellt wird.
Ebenso steht die ihm zugrunde liegende Bedeutung des nationalen politischen Gemeinwesens auf
dem Prüfstand, mit dem Ergebnis, dass gegenwärtig heftig darum gestritten wird, wer überhaupt
Mitglied einer politischen Gemeinschaft sei. Aber die, die ausgeschlossen sind, lassen sich nicht
mehr so leicht zum Schweigen bringen wie in früheren Jahrhunderten.
Wir müssen also die Bedeutung von Solidarität klären, um die Frage beantworten zu können,
wer zum politischen Gemeinwesen gehört. Das führt zu der übergreifenderen Frage, wie Gesellschaft im Kontext einer Situation möglich ist, in der der Staat eine verbindliche normative
Ordnung nicht mehr verordnen kann. Einfach ausgedrückt: Die draußen vor der Tür wollen
hinein. Meiner Meinung nach ist dies nicht primär eine Frage der Freiheit, und auch nicht wirklich
eine der Gleichheit. Selbstverständlich werden hier Fragen nach der Freiheit und Gleichheit
aufkommen, aber dies wird nur der Fall sein, wenn zuvor geklärt wurde, wer die Mitglieder des
politischen Gemeinwesens sind. Alles in allem erachte ich die Frage nach der Solidarität als vorrangig gegenüber der nach der Freiheit und Gleichheit. Damit erhebe ich einen starken Anspruch,
denn schließlich bedeutet dies eine Umkehrung des Vermächtnisses von 1789, das den Vorrang
der Freiheit, und später der Gleichheit, zum Grundbekenntnis der Moderne erhob.
Aber wir sollten nicht vergessen, dass der Ruf nach Solidarität erst vernehmlich wird, wenn sie
vermisst wird. Erst in Krisenzeiten wird Solidarität zum Problem. In solchen Zeiten historischen
Umbruchs, wenn die alten und für selbstverständlich gehaltenen Annahmen nicht länger gültig
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sind und die moralische Textur der Gesellschaft plötzlich zu zerbröseln beginnt, werden Fragen
laut, was die Gesellschaft denn noch zusammenhalten könnte.
Das führt insbesondere zu der Frage, ob Solidarität etwas ist, das erst hergestellt werden muss
– wenn sie ganz fehlt oder nur unzureichend präsent ist –, oder ob sie paradoxerweise selbst das
Mittel zur Behebung ihrer Abwesenheit ist.
Solidarität – ein Definitionsversuch
Wie ich ausgeführt habe, gibt es in den neueren Debatten über Solidarität die Tendenz diese
entweder als auf den Nationalstaat beschränkt oder als eine essentiell moralische menschliche
Qualität, und daher als unbeschränkt, aufzufassen.
Das Problem mit der ersten Position besteht darin, dass Solidarität, während sie tatsächlich in
einem engen Zusammenhang mit dem Entstehen des nationalen Gemeinwesens steht, dennoch
weder unbedingt durch diesen beschränkt noch als Zustand/Kondition notwendigerweise begrenzt
ist. Ich möchte also allen Ernstes behaupten, dass Verbindung Begrenzung nicht voraussetzt.
Man kann starke Bindungen haben, ohne dass diese territorial gebunden sein müssen (wie z.B.
in Diaspora-Situationen). Die Beziehung ist eine zufällige, wie wenn z.B. der moderne Staat
selbst um den Preis der Freiheit soziale Beziehungen förderte (vgl. Preußen unter Bismarck, wo
es eine Art Tauschhandel zwischen einer Solidarität als Sicherheit und einer Freiheit im Sinne
von Demokratie gab). Wenn Territorialität der Schlüsselfaktor ist, würde dieser das Argument
selbst untergraben, da es gewaltige territoriale Größenunterschiede zwischen den Staaten gibt.
Wenn sehr große Staaten, wie Australien oder Brasilien, Solidaritätsbeziehungen auf der Basis
ihrer Staatlichkeit erzeugen können, ist nicht einzusehen, warum dies noch größeren Einheiten
nicht auch sollte gelingen können. Inzwischen hat sich ebenso das Argument durchgesetzt, dass
das moderne nationale Gemeinwesen unabhängig von seiner Größe ein nur imaginiertes sei.
Dann wird die Fähigkeit des nationalen Gemeinwesens, die Mittel zu seiner Selbstimagination
zu erzeugen, zum entscheidenden Faktor. Darin werden einige erfolgreicher sein als andere.
Ich halte dies für einen entscheidenden Punkt, der uns auch etwas über Solidarität mitzuteilen
hat: dass sie nämlich Phantasie erfordert. Wie viele, wenn nicht alle politischen Erzeugnisse, hat
Solidarität eine imaginative Dimension und verlangt nach Symbolisierungen, um in Realität
umgesetzt werden zu können. Solidarität als soziale Solidarität ist allerdings auf einen politischen
Ordnungsrahmen, in dem sie sich entfalten kann, angewiesen.
Andererseits und im Gegensatz dazu geht die universalistische Position davon aus, dass
insbesondere die Solidarität ein Wesenszug aller Menschen, und daher prinzipiell nicht durch
ein nationales Gemeinwesen oder Ähnliches beschränkt sei. Demzufolge wird oft behauptet,
dass ein globales Gemeinwesen auf dieser fundamentalen moralischen Tatsache möglich sein
müsse. Diese Position geht also von einem Universalismus aus, der einen Partikularismus voraussetzt – mit anderen Worten: es handelt sich also um einen schwachen Universalismus oder
eine Art Schnittmengen-Konsens. Es wird hier also zwischen starken und schwachen Formen
unterschieden, wobei die globalen schwache Formen sind. Diese Sichtweise bringt verschiedene
Probleme mit sich. Eines davon besteht darin, dass das partikularistische dann doch irgendwie für
das eigentliche Solidaritätsmodell gehalten wird und dass globale, das heißt über das nationale
Gemeinwesen hinausreichende Solidaritätsformen, bestenfalls zweitrangig sein können.
Zwar möchte ich diese Position nicht gerade umstürzen, aber gute Gründe dafür anführen, dass
beide Positionen sowohl in starken als auch schwachen Formen vorkommen können. Indessen
mehren sich die Anzeichen dafür, dass die nationalen Solidaritätsformen im Rückgang begriffen
sind und dies zu einer Zeit, wo andere Formen stärker werden, diese aber nicht ersetzen. Die
universalistische Position ist also, kurz gesagt, nur vertretbar, wenn sie als schwache Moralität
gefasst wird.
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Es gibt noch ein zweites und eher philosophisches Problem. Ich folge hierin Richard Rortys
Position, die er in einem wichtigen Essay (in ders.: Contingency, Irony and Solidarity , 1989)
vorträgt. Darin bezweifelt er, dass Solidarität ein essentieller moralischer Wesenszug, sondern
viel mehr historisch kontingenten Umständen zuzuschreiben sei. Diese kantische Idee war einst
nützlich darin vormoderne Vorstellungen zu überwinden. Heute müssen wir aber über den
universalistischen Glauben, der auf der Voraussetzung basiert, das Selbst sei der Referenzpunkt
der universalistischen Vernunftgründe, hinausgehen. Und während Rorty nicht der Auffassung
widerspricht, wir könnten versuchen die Grenzen des politischen Gemeinwesens zu erweitern,
um die Ausgeschlossenen mit aufzunehmen – ungefähr das globale Argument –, versucht er die
philosophischen Voraussetzungen einer Position auszuhebeln, die Solidarität für ausschließlich
universalistisch bestimmt hält. Er drängt uns dazu die Quelle der Solidarität weniger in der »Fähigkeit mehr und traditionelle Differenzen (des Stammes, der Religion, Rasse, Sitten u.a.) sehen
zu können, sondern vergleichbare Leidens- und Demütigungserfahrungen wahrzunehmen – die
Fähigkeit also uns sehr verschiedene Menschen als zu ›uns‹ gehörig« zu betrachten. (Rorty, 1989:
192). Ich möchte nicht mehr oder anderes aus Rortys Argument machen als zunächst festhalten,
dass es ihm darauf ankommt Solidarität als potentiell offen und nicht auf hoch partikularistische und daher geschlossene Kontexte beschränkt zu sehen. Dies wird möglich, wenn sie nicht
so sehr als eine moralische Bedingung betrachtet wird, sondern als eine, die aus kontingenten
Umständen hervorgeht, so wenn zum Beispiel Menschen in Zeiten historischer Umbrüche sich
schwierigen Situationen und Erfahrungen von Leid und Demütigung ausgesetzt sehen. Wie sie
dann reagierten, könne allerdings nie vorausgesagt werden. Rorty versichert jedoch, dass das
Ausmaß dieses Leidens sehr wahrscheinlich ein bestimmender Faktor sein werde, jene Leidenden als zu ›uns‹ gehörig wahrzunehmen, dass dies aber wohl nicht im Namen einer universellen
Humanität geschehen werde.
Aus diesen Gründen ist Solidarität nicht notwendigerweise eine lokal oder partikular beschränkte Angelegenheit noch ein nur schwacher moralischer Appell an die allgemeine Menschlichkeit.
Daher das kulturalistische und moralische Argument zurückweisend, halte ich es für angemessener, Solidarität politisch zu fassen. Diese Position ist von Habermas vertreten worden, für den
Solidarität ebenfalls nicht auf legale Verpflichtungen reduzierbar war. Denn es gibt Solidarität
bereits vor dem Gesetz, und sie unterscheidet sich außerdem von der Moralität: »Das Konzept
kann und sollte in ausgesprochen politischem Sinne gebraucht werden« (Habermas, 2015: 20).
Habermas sieht etwas Wesentliches, wenn er feststellt, dass Solidarität auf ein Netzwerk sozialer
Beziehungen bezogen ist und das Potential hat sogar über Gesetz und Moralität hinauszugehen.
So sei es zum Beispiel mehr eine Frage der Solidarität als des Rechts, wie viel Ungleichheit ein
reiches Land zu akzeptieren bereit sei (S. 23). Zwischen Moral und ethischen Ansprüchen unterscheidend – letztere in den Kontext von Hegels Theorie der Sittlichkeit fallend – »beziehen sich
ethische Erwartungen und Appelle an Solidarität auf das Interesse einer verlässlichen gemeinsamen Lebensform, die das eigene Wohlergehen einschließt« (S. 21). Solidarität ist ein politischer
Anspruch – der von den Marginalisierten oder ihren Anwälten vorgebracht werden kann und
den der Gesetzgeber jeweils in soziale Rechte transformieren kann (S. 25). Der Unterschied
zu Hegels Sittlichkeit besteht darin, dass Solidarität sich nicht so sehr auf eine bestehende oder
vor-politische Gemeinschaft bezieht, sondern auf eine erst künftige, auf eine erst noch zu schaffende. Habermas (2001: 8) bestand darauf Solidarität als einen Prozess kognitiven Lernens zu
begreifen, wobei die Idee einer ›Solidarität unter Fremden‹ zuerst im nationalstaatlichen Kontext
entstand, aber nicht auf ihn zu beschränken ist, da dieser schlicht eine historische Zufälligkeit
sei. Das Konzept der Solidarität bleibt ein wichtiges Anliegen des Habermasschen Schaffens,
insofern es Denkanstöße für alternative Modelle sozialen Lebens bereithält (Habermas, 1986).
Die Moderne vermittelt der Solidarität eine bestimmte Stoßrichtung, die für die modernen
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Gesellschaften entscheidend ist, um ihrer sozialen Integrationsaufgabe nachkommen zu können. Solidarisches Handeln wird notwendig, weil andere Integrationsformen die integrativen
Funktionen nicht leisten können. Die Moderne enthält ein Versprechen: dass Gleichheit und
Freiheit möglich werden. Dieses Versprechen lässt sich jedoch nicht leicht einlösen. Habermas'
Argumentation erinnert an die politische Philosophie Hannah Arendts, die vom Versprechen
einer gemeinsamen Welt sprach (Arendt, 2005). Auch für sie war die bürgerliche Solidarität eine
Bedingung der Möglichkeit der politischen.
Die Theorie der Solidarität war eines der wichtigsten Vermächtnisse Emile Durkheims und
das Herzstück seiner soziologischen Theorie. In Division of Labour in Society (1893) legte er
dar, wie die in der Vergangenheit vorherrschenden Solidaritätsformen, die er ›mechanische‹
nannte, weil sie auf der ›mechanischen‹ Reproduktion der sozialen Beziehungen basierten und
überwiegend auf persönlicher Bekanntschaft beruhten, allmählich an Bedeutung verloren. In
modernen Gesellschaften sind im Gegensatz dazu andere Solidaritätsformen gefragt, die, als
Resultat der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, mehr durch indirekte als durch direkte soziale Beziehungsformen gekennzeichnet sind. Die der Moderne angemessenen Solidaritätsformen werden
demzufolge nicht mehr als mechanische, sondern als organische klassifiziert – eine etwas verwirrende Bezeichnung, die aber auf die Vielheit der indirekten Verbindungen, die für die modernen
sozialen Verhältnisse spezifisch sind, verweisen soll. Durkheims Theorie legt eine noch immer
valide Rechenschaft von einer Solidarität ab, die nicht nur für den entwickelten Nationalstaat,
sondern für jede Art politischen Gemeinwesens jenseits der Nation brauchbar bleibt. Durkheim
dachte auch bereits über eine europäische Gesellschaft als Gegensatz zur Nationalstaatlichkeit
nach. Seine Division of Labour beschließt er mit der etwas rätselhaften Erklärung:
»Unter den europäischen Völkern gibt es durch eine spontane Bewegung das Bestreben eine
europäische Gesellschaft zu formen, die schon eine Idee von sich hat, und die Anfänge einer
Organisation. Sollte auch die Bildung einer einzigen menschlichen Gesellschaft für immer
unmöglich bleiben – was historisch noch nicht erwiesen ist –, so bringt uns doch die Formung
immer größerer Gesellschaften dieser Zielrichtung wenigstens ein Stück weit näher« (S. 405-6).
Es gibt noch einen weiteren guten Grund an Durkheim zu erinnern, insofern er behauptete,
die Gegenwart sei durch eine nur unvollkommene Realisierung der organischen Solidarität
charakterisiert. Die alten Solidaritätsformen existierten weiter, könnten die Erfordernisse der
Moderne aber nicht länger erfüllen, und die neuen Formen seien nur unvollkommen entfaltet. Das
Ergebnis war ein Zustand gesellschaftlicher Anomie, der durch die neu entstehende Solidarität,
deren Zeichen er in bestimmten Entwicklungen der modernen Gesellschaft entdeckte, gelindert
werden sollte. Sein Rechenschaftsbericht blieb jedoch limitiert durch seine Beschäftigung mit
einer Art affirmativem Solidaritätskonzept in Zeiten einer schweren nationalen Krise infolge des
Französisch-Preußischen Krieges, der nachfolgenden Dreyfus-Affaire und der Pariser Kommune.
Und doch bleibt sein Verständnis von Solidarität als einer bürgerlichen Moralität (ein Begriff, den
er auch später noch in so ziemlich der gleichen Bedeutung gebrauchte), die mit den indirekten
Arten der modernen Sozialbeziehungen entsteht, in denen die Textur der Gesellschaft durch
Krisen geschwächt wird, bis in unsere Zeit hoch bedeutsam. Dennoch meine ich, dass eine aktuelle Theorie nicht einfach Durkheim darin folgen kann, die organische Solidarität sei letztlich in
den institutionellen Strukturen der modernen Gesellschaft, die auf die Kooperation der sozialen
Gruppen angewiesen ist, verankert. Der radikale Impetus seines Konzepts wird gezähmt durch
eine Interpretation, die Solidarität auf das Maß zurückstutzt, das ihr durch die Versöhnung von
Freiheit und Gleichheit zugestanden wird.
Zusammenfassend kann gesagt werden: Solidarität ist ein politisches und normatives Konzept;
es hat eine besondere Relevanz für moderne Gesellschaften und entsteht vor allem in Zeiten der
Krise; es ist nicht notwendig auf nationale Gemeinwesen beschränkt; aber es handelt sich dabei
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auch nicht um eine universelle Moralität. Es kann positive und negative Formen annehmen, ist
kein Nullsummen-Zustand, hat aber verschiedene Ebenen und Ausformungen.
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Essays
Historische und soziologische Perspektiven
Ich halte es für hilfreich einen Unterschied zu machen zwischen dem, was uns gemeinsam ist –
unsere Identität also – und dem Teilen. Solidarität in komplexen Gesellschaften, die dabei sind
sich zu transnationalen Kontexten zu entwickeln, ist nicht notwendigerweise auf gemeinsame
Welten angewiesen. Und doch ist ein gemeinsames Gefühl der Zugehörigkeit sogar in Kontexten
mit sehr großen Unterschieden möglich. Tatsächlich tendiert die Bedeutung von Erfahrungen,
die mit dem Leben im Gemeinwesen verbunden sind, dazu in komplexen Gesellschaften zu
verschwinden. Das soll aber nicht heißen, dass eine gemeinsame Welt nicht möglich sei. Diese
wird sich wahrscheinlich eher aus den kommunikativen Verbindungen zwischen den Menschen
konstituieren als aus den geteilten kulturellen Werten und Identitäten oder der geteilten sozialen Welt. Das Zunehmen vermittelter Beziehungen, welches ein Zeichen unserer Zeit ist, lässt
gleichermaßen die Tatsache wie die Möglichkeiten des Teilens anwachsen. Nicht länger auf persönlichen Beziehungen beruhend, eröffnen sich für die sozialen Beziehungen in der Moderne
neue Möglichkeiten. Ich habe oben festgestellt, dass das politische Gemeinwesen der Moderne
die phantasievolle Gestaltung der sozialen Beziehungen beinhaltet. Mag uns auch mit Anderen
nicht viel verbinden, so wird Teilen dennoch möglich und wird angesichts der Umstrukturierung
der sozialen Beziehungen durch die Mediatisierung tatsächlich vermehrt umgesetzt. Wir können daher unsere Erfahrungen teilen, auch wenn sie nicht gleich sind. In diesem Sinne zu teilen
erfordert Kommunikation, durch die die Erfahrungen interpretiert werden; und dies setzt sich
im Zuge der Moderne durch.
Solidarität vermag also durch die Öffnung vorher geschlossener Welten Fuß zu fassen – wobei
sich das ›Wir‹ zum Einschluss der ›Anderen‹ weitet –, oder auch durch offenere soziale Kontexte,
die nicht so sehr aus den etablierten Lebensformen als aus globalen Bewegungen hervorgehen.
Während die Moderne eine Veränderung der sozialen Beziehungen mit sich brachte, die die
Bedeutung von Solidarität gestärkt hat, hat sie zugleich die sozialen Bande geschwächt. Diese
doppelte Bewegung untermauert – um mit Polanyi zu sprechen – das, was ich für den nachhaltigsten Aspekt von Solidarität als einer sozio-historischen Kondition halte, namentlich ihre
subversive Qualität. Solidarität hat in modernen Gesellschaften häufig das politische Potential
den status quo in Frage zu stellen. Denn nicht diesem, und auch nicht einem vorausgehenden
politischen Gemeinwesen, wird zugestimmt, sondern dem Versprechen einer neuen politischen
Gemeinschaft, und dies oft gerade von denen, die ausgeschlossen sind. Solidarität bedeutet also
nicht notwendig, dass die Bessergestellten den Bedürftigen und Notleidenden helfen, wie es zum
Beispiel bei der Caritas der Fall ist, sondern ist Produkt einer politischen Infragestellung der
bestehenden normativen Ordnung der davon Ausgeschlossenen.
Dieser politische Nutzen ist vielleicht der eindrucksvollste Gebrauchswert von Solidarität. So
wurde das Konzept mit den anti-Globalisierungs- und den kosmopolitischen Gegenbewegungen
in Verbindung gebracht (Delanty, 2009; Kurasawa, 2004; Pensky, 2007; Schwartz, 2007). Einige
Solidaritätstheoretiker unterscheiden zwischen ihren normativ-politischen und ihren mehr institutionellen Formen (Karagiannis, 2007). Die ersteren tendieren dazu Solidarität als Erweiterung
der moralischen und politischen Horizonte der Gesellschaft durch neue Verständnisse sozialer
Einbindung zu sehen. Für Gould (2007) verändert Solidarität die sozialen Gruppen, ist, mehr
als in Durkheims Modell, eine verstärkende Bedingung, da sie aus konflikthaften Umständen
hervorgeht. Und während dies auch einen gegenteiligen Effekt haben kann, schafft es häufig neue
Sympathien und stößt, aus emotionaler Umorientierung oder sozialer Empathie, ungewohnte
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Denkweisen an. Soziale Kritik ist ein essentielles Resultat von Solidaritätspolitik. In diesem Sinne
unterscheidet sich Solidaritätspolitik also beispielsweise von einem Humanitarismus, der die
bestehenden Selbstverständlichkeiten über die Bürgerschaft /Bürgerzugehörigkeit nicht in Frage
stellt (s. auch Bartky, 2002). Wie Alexander (2006) bemerkte, beinhaltet die soziale Solidarität
tatsächlich solche Dispositionen und bildet so eine der Grundlagen der Gesellschaft. Solche
Fragen konstituieren einen essentiellen Gegenstand der Soziologie.
Es scheint demnach, dass man die Solidarität auf zweierlei Weise fassen kann. Sie kann in
Beziehung gesetzt werden zu den Bedürfnissen der modernen Gesellschaften nach Integration – das betrifft die soziale Solidarität –, oder sie kann in Beziehung gesetzt werden zur Kritik
und Veränderung bestehender Diskurse um soziale Zugehörigkeit. Durkheims Theorie zählt
zur ersten Kategorie, und Elemente im Verständnis der letzteren können wir in den aktuellen
kosmopolitischen Strömungen erkennen. Und während das Konzept auch auf vormoderne
Gesellschaften angewendet werden kann, ist es, wie ich gezeigt habe, wesentlich ein Produkt der
modernen Gesellschaften, da erst in diesen die Notwendigkeiten von Legitimation und Integration aufkommen, die nur mit kommunikativen Mitteln gelöst werden können – im Gegensatz
zum Beispiel zu den autoritären der Tradition.
Aus einer historisch-soziologischen Perspektive sind, als Reaktion auf Krisenereignisse, Verschiebungen in der terminologischen Genealogie erkennbar. Stichwortartig angeführt, hat dies
angefangen mit der Französischen Revolution, die als Geburtsstunde des modernen Konzeptverständnisses betrachtet werden kann, über die großen Programme der Nationalstaatsbildung,
die Komplikationen und Krisen des 20. Jahrhunderts bis hin zur intensivierten Periode der
Globalisierung und den gegenhegemonialen Bewegungen unserer Zeit. In diesen Perioden, wie
immer man sie klassifizieren mag, rücken die kritischen und affirmativen Dimensionen in den
Blick, die, wie ich gezeigt habe, nicht auf Vorstellungen einer universalistischen moralischen
menschlichen Natur allein gegründet werden können.
Für beide Positionen lassen sich sowohl starke als auch schwache Ausprägungen finden. Die
konkrete Form, die Solidarität jeweils annimmt, hängt auch davon ab, wie sie mit anderen politischen Konzepten, insbesondere denen der Freiheit und Gleichheit, interagiert. Stjerno (2009), der
eine sehr detaillierte Konzeptgeschichte verfasst hat, konnte zeigen, welche Verbindungen es mit
der christlichen, insbesondere katholischen Soziallehre und der Arbeiterbewegung eingegangen
ist und so zu einer einflussreichen Kraft der modernen Sozialdemokratie sowie der christlichen
Demokratie geworden ist. Dieser großartigen Darstellung habe ich nicht viel hinzuzufügen,
möchte sie jedoch um einen wichtigen Aspekt ergänzen.
Das Solidaritätskonzept ist so schwer zu bestimmen, weil seine konkrete empirische Existenz
stets das Resultat von Interpretationen gesellschaftlich Handelnder ist. Dies gilt selbstverständlich
nicht für das Konzept von Solidarität allein, sondern für alle großen Ideen der Moderne. Insofern hat es keine zeitlose oder übergeschichtliche Bedeutung, die in den sozialen Institutionen,
Bewegungen oder in der menschlichen Natur verankert wäre. Empirische Erscheinungsweisen
sind stets das Resultat von Interpretationen, die sich die sozialen Akteure von ihrer Welt machen
und davon, wie sie ihre Projekte sehen. Darüber hinaus und zusätzlich zu dieser interpretativen
Funktion wird auch die Art, in der sich ein bestimmtes Konzept – in diesem Fall das der Solidarität – mit anderen verbindet, zu einem entscheidenden Faktor. Diese Auffassung stimmt mit
der historischen Rekonstruktion Stjernos überein, die meines Erachtens auch gezeigt hat, dass
und wie Solidarität mit anderen Ideen, wie denen von Freiheit und Gleichheit, verwoben ist.
Die Dimension der Schnittmengenbildung wird zu einer Hauptaufgabe von Interpretationen,
Selektionen und resultierenden Neukombinationen.
Politische Realitäten werden also durch Prozesse der Interpretation, Selektion und Kombination
konstruiert, und daraus ergeben sich schließlich neue Variationen/ Varianten.
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Gibt es eine europäische Solidarität?
Wenn wir den Terminus der Solidarität gebrauchen, berufen wir uns auf einen Begriff, der der
historischen europäischen Erfahrung entstammt. Per definitionem ist er in diesem Sinne also
mehr oder weniger europäisch. Zweifelsohne wird eine Menge Arbeit zu tun sein, um diesen
Begriff in andere Bedeutungsregister, wie z.B. andere Zivilisationsgeschichten, transferieren
zu können. An dieser Frage interessiert mich abschließend, ob und in welchem Maße dieses
europäische politische Erbe der Solidarität gegenwärtig ein prominenter Diskursgegenstand ist.
Sie wird nicht ganz leicht zu beantworten sein. Denn Solidarität ist keine der besonders deutlich
herausgearbeiteten Ideen der Moderne, im Unterschied zum Beispiel zu denen der Freiheit und
Gleichheit, die meiner Auffassung nach die Hauptantriebskräfte bei der Gestaltung der europäischen Moderne waren. Man hat gesagt, der Republikanismus sei das Kernstück der europäischen politischen Überlieferung – ich halte dies für eine hochproblematische Behauptung. Die
Demokratie im weiteren Sinne entwickelte sich zwar erst relativ spät, kann aber nicht eigentlich
als eine europäische Erfindung verbucht werden. Es kann indes kaum bezweifelt werden, dass
die Freiheit und Gleichheit in der modernen europäischen Phantasie einen großen Raum eingenommen haben. Wo ist dann aber die Solidarität zu verorten?
Als ein bestimmendes Merkmal der europäischen politischen Überlieferung bleibt die Solidarität von etwas eingeschränkter Bedeutung, wenn wir sie im Zusammenhang mit dem Kampf um
soziale Gerechtigkeit und Gleichheit betrachten. Ich habe darauf hingewiesen, dass Solidarität
selbst nicht auf soziale Gerechtigkeit reduziert werden kann, die ihrerseits im allgemeineren Kontext des Egalitarismus verortet werden muss. In einem weiteren Sinne ist eine Solidaritätspolitik
aber sehr wohl Bestandteil des Kampfes um soziale Gerechtigkeit. Der Widerstand gegen ein auf
Marktwirtschaft basierendes Gesellschaftsmodell ist sicherlich ein starkes Handlungsmotiv in
der europäischen Geschichte, das sich in Form antikapitalistischer Bewegungen sozialistischer,
sozialliberaler und sozialdemokratischer Provenienz manifestiert hat. Gleichermaßen hat dies
die in der unmittelbaren Nachkriegsperiode in Westeuropa virulenten Bestrebungen, ein soziales
Kapitalismusmodells zu kreieren, gestärkt. Letztlich macht diese Zähmung des Kapitalismus
durch die politische Einforderung einer sozialen Gerechtigkeit den entscheidenden Unterschied
Europas zum Rest der Welt aus. In diesem Sinne machten die Ansprüche auf soziale Gerechtigkeit und Solidarität an das politische System des modernen Europa auf mindestens zweierlei
Weisen geltend. Die eine gestaltete eine Sozialpolitik, die oft mit Solidarität gleichgesetzt wird.
Die andere war allgemeiner auf die normativen Komponenten des Gesellschaftsverständnisses
gerichtet. Beide Strömungen finden sich in den Kerndokumenten der EU wieder; so ist Solidarität zum Beispiel im Vertrag von Rom von 1957 wie in der Charter der Grundrechte von 2000
erwähnt. Letztere stellt sie in einen Zusammenhang mit Sozialpolitik, und in ersterer geht es
um ein allgemeineres und schwer zu fassendes normatives Konzept von Gesellschaft, zugleich
als Ziel wie als Voraussetzung.
Trotz dieser Einlassungen von Solidarität in die rechtliche Konstitution von Politik kann das
Konzept, dem bisherigen Argumentationsgang zufolge, nicht auf rechtliche Setzungen oder auf
Gleichheit reduziert werden. Vielmehr handelt es sich um eine politische und normative politische
Strömung, die vor allem in Krisenzeiten nachgefragt wird. Solidarität ist nicht auf die Leitlinien
des Nationalstaats oder aus dem gleichen Grunde auf die europäische Politik beschränkt. Vielmehr gibt es viele Anzeichen dafür, dass die Stoßrichtung von Solidarität sich heute eher gegen
Europa wendet. Die gegenhegemonialen politischen Bewegungen, die mit Antikapitalismus
und Migration verbundenen sind, sind gegenwärtig die tragenden Säulen der Solidaritätsidee.
Dies vergegenwärtigt uns auch, dass Europa nie bloß Europa ist, nie allein der Schmied seines
Glückes sein kann, weil es immer auch von dem mitbestimmt wird, was im ›Rest‹ der Welt vor sich
geht. Europa hat in einem gewissen Ausmaß seine Modernität um den doppelten Konflikt von
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Freiheit und Gleichheit geformt. Aber die Dimension, die von der Solidaritätsidee repräsentiert
wird, fügte sich nicht nahtlos in diese politischen Traditionen und die damit verbundenen Gesellschaftskonzepte ein. Gegenwärtig scheint der Zusammenhalt verlorenzugehen: Die europäische
Gesellschaftsidee wird von innen wie von außen auf eine Zerreißprobe gestellt.
Schlussfolgerung
Aus all diesen Gründen bin ich mit der derzeit üblichen Aufspaltung einer sozialen Solidarität
als Teil der nationalen Identität des modernen Nationalstaats – und einer offeneren, globalen
menschlichen Solidarität, nicht einverstanden. Ich habe ausgeführt, dass Solidarität, wie andere
derartige Ideen auch, immer in spezifischen Kontexten politisch definiert ist und dass diese Kontexte nicht notwendigerweise territorial begrenzt sind. Solidarität ist ein Begriff, der für neue
Interpretationen offen bleibt. Einer der stärksten Einflüsse, in denen die Idee der Solidarität
heute aufscheint, manifestiert sich in den globalen Bewegungen und in der Figur des Flüchtlings.
Einer der Gründe, warum dies viele Menschen beunruhigt, ist, dass dadurch einige der dominierenden Grundüberzeugungen der europäischen Moderne in Frage gestellt werden, insbesondere
die, dass dieses Europa die Idee der Freiheit verwirklicht habe. Die Verteidigung Europas findet
heute eher im Namen des Schutzes der Freiheit denn in dem der Solidarität statt, die, wo man
sich auf sie beruft, mehr gegen als für Europa eingesetzt wird. Deshalb gilt es vielleicht jetzt die
Idee der Solidarität fester im europäischen politischen Erbe zu verankern.
(Übersetzung aus dem Englischen von Erika Richter)
Literatur
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Stjerno, S., 2009: Solidarity in Europe: History of an Idea,
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Abstract
The concept of solidarity is often seen either as a bounded social or as a universalistic moral trait
of human beings and is potentially therefore of global scope. The argument of the article is that
both are wrong and that it is possible to arrive at another account of solidarity that sees it resting
neither on a bounded space nor on a universal morality, but incorporates elements of both. The
question solidarity is prior to the question of liberty and equality. Solidarity is always politically
defined in specific contexts and that these contexts are not necessarily territorially limited. It
is a term whose meaning is always open to new interpretations. One of the strongest currents
today in which the idea of solidarity appears is in global movements and the figure of the refugee.
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Christoph Sänger
Den Marxismus lebendig erhalten. Pädagogische Impulse zweier Vordenkerinnen des demokratischen Sozialismus: Anna Siemsen und Alice Rühle-Gerstel
Vielen mag es wie ein Witz erscheinen, im Jahre 2016 ausgerechnet an die Überlegungen zweier
sozialistischer Pädagoginnen zu erinnern, wo doch seit dem Untergang der Staatssozialismen
Osteuropas und dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989/1991 der Kapitalismus endgültig
das letzte Wort der Geschichte haben sollte und sozialistische Widerworte für überflüssig erklärt
und belächelt wurden. Sozialistische Pädagogikkonzepte wollte man zack zack zu den Akten
legen, sie durften allenfalls Artenschutz beanspruchen. Gut fügte sich, dass große Theoriesysteme
schon längst als überholt galten.
Einer von diesen Vielen ist Heinz Sünker sicher nicht. Er gehört zu der kleinen Schar marxistisch inspirierter Denker, die unbeirrbar – nicht zu verwechseln mit unbelehrbar – die Perspektive eines demokratischen Sozialismus vertritt (statt vieler Titel: Sünker, 2003, 2006). Auch an
solchen Intellektuellen liegt es, dass der Marxismus keine Anstalten macht, wie gewünscht von
der Bildfläche zu verschwinden. Den Referenzrahmen für Sünkers Schriften bilden die »ältere«
Kritische Theorie, insbesondere in Adornos Version, und der subjekttheoretisch orientierte
westliche Marxismus nach 1960. Zudem nimmt er in pädagogischen Studien neben seinem Lieblingsautor Heinz-Joachim Heydorn immer wieder Bezug auf Klassiker des Sozialismus, so auch
auf Anna Siemsen (1882-1951), eine fast in Vergessenheit geratene sozialistische Pädagogin und
Volksbildnerin aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gehört sich solche Gelehrsamkeit für
einen 68er? Damals in den Hochzeiten der Bewegung sicher nicht, viele folgten William Blakes
Motto »Die Tiger des Zorns sind weiser als die Rosse der Belehrung«. Seit den 1970er Jahren
wird den Rossen der Belehrung allerdings mehr Raum gegeben und Weisheit attestiert.
In diesem Sinne soll es hier – kein Witz – um die Lehrgebäude zweier Vordenkerinnen des
demokratischen Sozialismus gehen. Wichtige Aspekte des Werkes von Anna Siemsen werden
vorgestellt und verglichen mit Leitgedanken von Alice Rühle-Gerstel (1894-1943), einer Zeitgenossin von Siemsen, die ebenfalls den Titel einer Schlüsselfigur unorthodoxer marxistischer
Pädagogik der 1920er bis 1940er Jahre für sich beanspruchen darf, im kollektiven Gedächtnis
der wissenschaftlichen Pädagogik ähnlich wie Siemsen jedoch kaum eine Rolle spielt. Natürlich
darf im Anschluss der Bezug zu aktuellen Aussichten einer sozialistisch orientierten Pädagogik
nicht fehlen.
1
Anna Siemsen. Leben, Werk, Pädagogik
Anna Siemsen gestaltete ihr Leben, so brachte es ihr Bruder August 1951 in der kurz nach
ihrem Tod verfassten und bis heute als wichtige Fundstelle dienenden Biografie auf den Punkt,
als »unermüdlichen Kampf, um die Herzen und Köpfe der Menschen für den Sozialismus, d. h.
für die Wohnbar- und Menschlichmachung der Erde zu gewinnen« (Siemsen, 1951: 125). Dieser
Einsatz führte zur Zusammenarbeit mit einer Vielzahl an Mitstreitern und Gesinnungsgenossen, in unterschiedlichen beruflichen Stellungen und Organisationen und brachte einen steten
Wechsel der Lebens- und Arbeitsorte mit sich. Man kann das auf eine »innere Unruhe« und ein
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»Getriebensein« im Ringen um die sozialistische Sache zurückführen (Hansen-Schaberg, 1999:
113). Die Vielfalt brachte zahlreiche Kontakte zu renommierten Linksintellektuellen ihrer Zeit
mit sich, mit denen Siemsen zeitlebens regelmäßig korrespondierte. Somit dokumentiert ihre
Biographie (vgl. Sänger, 2016: 7-16) die Anstrengungen und Brüche der sozialistischen Bewegung
in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Geboren wurde Anna Siemsen 1882 im westfälischen Hamm in einem Pfarrershaushalt, wuchs
also in einem bildungsbürgerlichen Kontext auf. Die fünf Geschwister der Familie entwickelten
sich zu sehr eigenständigen Köpfen mit beachtlichen Lebenswerken. Vielleicht in bewusster Abwendung von ihrem Vater traten alle Siemsen-Kinder aus der Kirche aus und wandten sich – ihren
Gerechtigkeitssinn betonend – dem Sozialismus zu, stark beeinflusst durch die Lektüre der Klassiker und die Diskussionen darüber im heimischen Kreis. August Siemsen hebt in seiner Biografie
die Leseleidenschaft seiner Schwester hervor: »Mehr vielleicht als in der Schule haben wir durch
Lesen gelernt. Wir waren richtige Leseratten und erlebten intensiv mit, was wir lasen, besonders
Anna.« (Siemsen, 1951: 17) Anna begrüßte an der Schule, dass sie der begabten Schülerin genug
Zeit ließ, ihrer Leseleidenschaft nachzukommen, erinnerte sich andererseits an die autoritären
Unterrichtsmethoden und den Militarismus im Schulalltag, die sie bis in ihre Träume verfolgten,
wie sie in ihrer Autobiografie notierte (Siemsen, 1940: 16). Die späteren Bemühungen, an der
Erziehung der neuen Menschen für die werdende Gesellschaft mitzuwirken und beispielsweise
Heranwachsende durch geeignete Literatur zu friedliebenden, internationalen Einstellungen und
humanen Denkweisen zu führen, haben hier eine starke Wurzel. Zu einem Erweckungserlebnis
geriet – Siemsen war inzwischen Lehrerin und in Germanistik promoviert – der Erste Weltkrieg
1914-1918: Aus der gefühlsmäßigen wurde nun die geschulte, wissende Sozialistin (Siemsen, 1951:
33). Das Studium wichtiger sozialistischer Texte ermöglichte Siemsen eine grundsätzliche Kritik
der Hohenzollernmonarchie und der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Die
1920er Jahre führten zu einer Ausweitung der beruflichen Tätigkeiten, Siemsen wirkte als Schulrätin, Leiterin des Berufsschulwesens in Groß-Berlin, Bildungsreformerin in Düsseldorf, Berlin
und Thüringen. Eine besondere Auszeichnung bedeutete die Professur für Pädagogik in Jena,
Siemsen war damit eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Bildungslandschaft und in der
Erziehungswissenschaft, geriet aber auch in eine Außenseiterrolle. Als Frau und als Sozialistin
mangelte es an Reputation. In der pädagogischen Szenerie der Weimarer Republik, die von
geisteswissenschaftlichen Ansätzen dominiert wurde, konnte die nüchterne Analytikerin kaum
Fuß fassen. Sie saß zwischen allen Stühlen, gehörte sowohl zur Reformpädagogik, zur Sozialdemokratie, zur Frauenbewegung, war aber nirgends richtig zuhause und eckte überall an, wie die
Erziehungswissenschaftlerin Hansen-Schaberg resümiert: »[...] der SPD zu links, der Frauenbewegung zu sozialistisch und antifeministisch, der Erziehungswissenschaft zu popularistisch und
feuilletonistisch und allen zu unbequem.« (Hansen-Schaberg, 1999: 113)
Durch einen Rechtsruck bei den Wahlen zum thüringischen Landtag (1923) verlor Siemsen
schnell den Posten im dortigen Bildungsministerium, auch der Tätigkeit an der Uni Jena vermochte sie aus gesundheitlichen Gründen nur bedingt nachgehen. Die beruflichen Einschränkungen
hatten indes ihr Gutes: Neben weitverzweigten ehrenamtlichen Tätigkeiten (Liga für Menschenrechte, Bund entschiedener Schulreformer, Verband sozialistischer Lehrerinnen und Lehrer u.a.)
konnte Siemsen ihre Publikationstätigkeit ausdehnen. Das Ausmaß ist durch jüngere Studien ans
Licht gehoben worden. Verzeichnet die Personalbibliografie des Archivs der Arbeiterjugendbewegung in Oer-Erkenschwick, die in den 1980er-Jahren entstand, ca. 40 Bücher/Broschüren und
etwa 500 Aufsätze aus Siemsens Feder, so kommt Bauer in einer jüngeren Studie auf über 800 Titel
(Bauer, 2012). Pädagogik, Politik und Literatur waren Siemsens bevorzugte Themen. Mit ihren
Veröffentlichungen hatte Siemsen es nicht leicht: Die ab 1920 entstandenen literaturbezogenen
Studien, die politischen Einmischungen und pädagogischen Aufsätze standen im Kontrast zur
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allgemeinen Stimmungslage und zum pädagogischen Mainstream der Weimarer Republik, wo
entweder noch Autoritätsgläubigkeit und gewaltverherrlichende Tendenzen dominierten oder
schon zur Revision von Versailles und zum neuen Krieg geblasen wurde. Zählbaren Erfolg hatte
Siemsen nicht, ihre auf Völkerverständigung, Emanzipation und Frieden abzielenden Bücher
erreichten nur geringe Auflagenhöhen.
Im Mai 1933 landeten einige von Siemsens Büchern auf den Scheiterhaufen der Bücherverbrennung, zusammen mit zahlreichen Werken von ihr favorisierter Schriftsteller, deren bildenden
Gehalt sie in ihren Schriften unermüdlich herausgearbeitet hatte. Traurig an den Bücherverbrennungen war, wie schnell, nämlich kaum vier Monate nach dem Untergang der Weimarer Republik,
in öffentlichen Spektakeln der freie und humane Geist ohne große Proteste heruntergemacht
werden konnte. Das alles musste nicht einmal von oben angeordnet werden. Die Erstellung
Schwarzer Listen, die Säuberung von Universitäts- und Institutsbibliotheken und die Überfälle
auf Buchhandlungen und Leihbüchereien gingen auf das Konto von Studentenverbänden.
Hatten die Studenten den Verstand verloren, teilten sie den weit verbreiteten Schwächeanfall
gegenüber dem neuen Regime, wollten sie sich in vorauseilendem Gehorsam als besonders
tüchtige Volksgenossen erweisen, oder hatten sie das Falsche gelesen? Für Anna Siemsen war
die bedrohliche Entwicklung schon frühzeitig absehbar gewesen. In einem Aufsatz aus dem Jahre
1931 setzte sie sich mit der aufkommenden NS-Ideologie auseinander, und bemerkte zugleich
belustigt und alarmiert, dass wohl auch die Begeisterung für Karl-May-Bücher zum Glauben
an die »wunderbaren Offenbarungen des nordischen Gedankens« beigetragen habe; in der UB
Erlangen zählte Karl Mays Old Shatterhand während des Sommersemesters 1930 zu den meist
gelesenen Büchern (Siemsen, 1931).
Siemsen war den Nazis, auch aufgrund solcher hellsichtigen Warnungen, bereits früh ein Dorn
im Auge und musste 1933 ins Schweizer Exil flüchten. Hier verstärkte sie ihre Bildungsarbeit und
Rezensionstätigkeit für schweizerische sozialistische Zeitschriften. 1937 erschien ihr berühmtes
Spanisches Bilderbuch, ein Bericht über einen Aufenthalt im spanischen Bürgerkrieg an der Seite
namhafter Intellektueller (Siemsen, 1937). An den Debatten um den Neuaufbau eines demokratischen Deutschlands beteiligte sich Siemsen seit den frühen 1940er-Jahren und entwickelte
vielfältige Überlegungen für die Reorganisation des Bildungswesens und der Lehrerbildung. Ab
1945 standen noch einmal die pädagogisch-politischen und literarischen Neigungen im Fokus
ihres Interesses. Das Angebot der (Wieder)Anstellung in Jena lehnte sie mit dem Hinweis auf
die dortigen politischen Verhältnisse ab. Im sozialdemokratischen Hamburg schien eine sinnvolle Beschäftigung möglich, aber nach einem zermürbenden Bürokratiekrieg verweigerte man
ihr eine anständige Anstellung und Besoldung, während in der NS-Zeit angepasste Pädagogen
längst wieder in leitenden Positionen wirkten. Immerhin erhielt Siemsen einen Lehrauftrag für
Pädagogik und Literatur und war federführend an der Durchführung von Lehrerbildungskursen
beteiligt. Hinzu kam ein großes Engagement in der sozialistischen Europa-Bewegung. Auch eine
Reihe weiterführender Studien zur Literatur (Goethe, Schulbücher, Literatur im Unterricht
usw.) entstand, das Basiswerk »Die gesellschaftlichen Grundlagen der Erziehung«, eine Art
Quintessenz des pädagogischen Denkens Siemsens, das bereits 1934/1935 verfasst worden war,
konnte veröffentlicht werden (Siemsen, 1948a). Den auch in dieser Lebensphase breit gefächerten
Aktivitäten setzte Siemsens Tod im Januar 1951 ein Ende.
Überblickt man das Gesamtwerk von Anna Siemsen, so zeigt sich einerseits eine Kontinuität
in Theorie und Praxis. Siemsen ist nach dem Schlüsselerlebnis Erster Weltkrieg dem Sozialismus
treu geblieben und hat sich auf vielfältige Weise für sozialistische Bildung und Politik eingesetzt.
Andererseits ist ihr Werk keinesfalls aus einem Guss. In Abhängigkeit von den Kontexten –
immerhin vier Phasen deutscher Gesellschaftsgeschichte: Kaiserreich, Weimarer Republik,
Nazizeit, Deutschland nach 1945 – wandeln sich Beschäftigungsfelder, politisch-pädagogische
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Perspektiven und Akzentsetzungen. Der sozialistische Schwung und Fortschrittsoptimismus geht
mit den Jahren flöten, schuld sind der Zweite Weltkrieg und die für die sozialistische Bewegung
deprimierende Erfahrung der 1930er- und 40er-Jahre, dass die Massen an linker Politik wenig
interessiert sind. In den Anfangsjahren der Weimarer Republik hatte Siemsen noch die Euphorie
der Reformpädagogik geteilt und in zahlreichen Aufsätzen die Erziehung des neuen Menschen
für die – wie es im Jargon ihrer Gesinnungsgenossen hieß – »werdende Gesellschaft« anvisiert.
Die Organisationen der Arbeiterbewegung bildeten für sie musterhafte Gemeinschaften, in
denen die Arbeiter »das Klassenbewusstsein als Vorläufer und Vorbedingung eines neuen und
zum ersten Male erdumfassenden Gemeinschaftsgefühls« vorfänden (Siemsen, 1926: 219). Die
Gewerkschaften galten als »Keimzellen einer neuen Gesellschaft«, der »beginnende Sozialismus des Bewusstseins« schien sich in der Gesellschaft breit zu machen (ebd.: 219 f.). Mitte der
Dreißiger Jahre schwärmte Siemsen für die Erziehungspraxis im republikanischen Spanien und
verklärte den hier erzeugten Gemeinschaftsgeist: »So erzogene Kinder werden niemals vergessen,
was ihnen die Zeit der Republik an Wärme und Reichtum gab. Sie werden weder Knechte noch
Untertanen werden« (Siemsen, 1937: 129). Gute zehn Jahre später klang Siemsen ernüchterter
und räumte ein, dass sich viele Sozialisten den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus
zu rasch und einfach vorgestellt hätten: »Aber wir haben erleben müssen, dass die subjektive
Bereitschaft der Menschen dazu fehlt.« (Siemsen, Gesellschaftswandel: 2) Die Idee vom Sozialismus als unwiderstehlicher Massenbewegung war ausgeträumt, Skepsis gegenüber von oben
gesteuerten Reformprogrammen machte sich breit. Dass es bei der Erziehung und Bildung von
kritischem Bewusstsein vor allem auf den Einzelnen bzw. Lehrer ankomme, kann man als eine
Bilanz ihres Denkens ansehen. Siemsen setzte auf Basisarbeit mit den Subjekten vor Ort. Erziehung
– im Kleinen – sollte das »wichtigste Geschäft einer Gesellschaft« bleiben (Siemsen, 1948a: 156).
Aber wenn auch die dickschädlige sozialistische Fortschrittsgewissheit, die lange Zeit die
Marschrichtung von Siemsens Argumentation bestimmt hat, zum Lebensende hin kleinlauter wird,
so bleibt Siemsen bis in ihre letzten Aufsätze hinein der marxistischen Denkweise verpflichtet.
Mit ihren Reflexionen auf sich wandelnde Bedingungen für sozialistische Veränderungen nimmt
sie den historischen Materialismus ernster als manch andere Vertreter, die sich im Besitz der
Wahrheit sonnen und Weiterentwicklungen für überflüssig halten.
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Essays
2 Alice Rühle-Gerstel. Leben, Werk, pädagogischer Ansatz
Schon die Ausgangskonstellation ist ähnlich: Alice Gerstel wurde 1894 in einem gehobenen
bürgerlichen Kontext geboren, von dem sie sich wie Siemsen im Laufe des Ersten Weltkrieges
distanzierte (Skizze bei Mackenthun, 2002; Mikota, 2007; Friedrich, 2013). Die vermögende Fabrikantenfamilie Gerstel aus Prag sorgte für eine konservative Erziehung der ältesten von drei
Töchtern, aber bereits als junge Erwachsene suchte sich Alice durch Kontakte zu literarischen
Zirkeln ihrer Heimatstadt – und zu Schriftstellern wie z.B. Franz Werfel – vom Elternhaus zu
emanzipieren. Der Einsatz als freiwillige Krankenschwester in Kriegslazaretten 1914/15 politisierte die junge Erwachsene, die ab 1917 für die sozialistische Bewegung entflammt war. Der
Sozialismus sollte neben der Individualpsychologie Alfred Adlers ihr zukünftiges Denken und
Handeln entscheidend prägen. Nach dem Abitur folgte das Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft in Prag und München, ergänzt durch intensive psychologische Lektüre und
erste psychotherapeutische Erfahrungen, abgeschlossen 1921 mit der Promotion über Friedrich
Schlegel. Im selben Jahr heiratete Alice den 20 Jahre älteren Politiker und Soziologen Otto Rühle
(1874-1943), der ein weiterer Leitstern in ihrem Leben wurde.
Während der 1920er Jahre arbeitete Rühle-Gerstel an einer Synthese von Marxismus und Individualpsychologie, deren Grundkonzeption sie in einem ihrer berühmtesten Bücher »Der Weg
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zum Wir« (Rühle-Gerstel, 1927/1980) darlegte. Hier wird versucht, ökonomische und persönliche
Phänomene dialektisch aufeinander zu beziehen, z.B. den Mehrwert als Zentralpunkt des Kapitalismus und das Machtstreben als Angelpunkt der neurotischen Seelenstruktur ins Verhältnis
zu setzen (ebd.: 150 ff.). Daneben gab Rühle-Gerstel die »Blätter für sozialistische Erziehung«
heraus, fortgesetzt als Zeitschrift »Das proletarische Kind. Monatsblätter für proletarische
Erziehung«, in dem von ihr zusammen mit Otto Rühle in Dresden gegründeten Verlag »Am
anderen Ufer«. Lehraufträge führten Alice Rühle-Gerstel an die Arbeiteruniversität Dresden
Hellerau, zahlreiche Vortragsreisen nach Berlin und Wien. Trotz der genannten Tätigkeiten und
umfangreicher Bildungsarbeit im Volkshochschulbereich blieb noch Zeit für intensivere Studien
zur Pädagogik, zu psychologischen Themen, insbesondere Alfred Adler, und zur Frauenfrage,
letztere zusammengefasst im Werk »Das Frauenproblem der Gegenwart: eine psychologische
Bilanz«. Mit dem Erscheinen dieses Werkes im Jahre 1932 durfte sich Rühle-Gerstel zu den
führenden marxistisch orientierten Individualpsychologen ihrer Zeit zählen.
Im selben Jahr emigrierte Rühle-Gerstel mit ihrem Mann nach Prag, wo sie als Journalistin
für das Prager Tageblatt und als Übersetzerin tätig war. Vier Jahre später, 1936, folgte sie ihrem
Ehemann Otto Rühle ins mexikanische Exil. Die Erfahrungen der Prager Jahre verarbeitete
sie in dem posthum (1984) erschienenen Roman »Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit«, einem Frauenroman, der sich durch seine antiautoritäre und antistalinistische Haltung
auszeichnet. Wegen ihrer unorthodoxen Haltung, auch im Trotzki-Prozess, waren die Rühles in
kommunistischen Kreisen isoliert. Diese Kreise bewirkten wohl auch die Entlassung von Alice
Rühle-Gerstel und Otto Rühle aus dem Staatsdienst – sie hatten bis 1939 für das mexikanische
Erziehungsministerium gearbeitet –, so dass sich beide mit Gelegenheitsarbeiten (Übersetzungen,
Zeichnungen, Sprachunterricht u.ä.) herumschlagen mussten. 1943 starb Otto Rühle an einem
Herzinfarkt, woraufhin sich Alice sofort das Leben nahm. Den Selbstmord hatte sie Freunden
angekündigt, in einem ihrer im Exil verfassten Gedichte (»Selbstmord eines Emigranten«, vgl.
Mackenthun, 202: 219) auch offen angesprochen. Während Anna Siemsen zeit ihres Lebens –
trotz der realistischen Wende seit den 1940er Jahren – von einem unbeugsamen Lebenswillen
und unverwüstlichen pädagogischen Optimismus geprägt war, hatten Alice Rühle-Gerstel die
deprimierenden Erfahrungen im Exil (Heimatlosigkeit, finanzielle Schwierigkeiten, beruflicher
Abstieg) und der Siegeszug des Faschismus in Europa (Verlust politischer Perspektiven und von
Freunden und Weggefährten) am Ende allen Lebensmut genommen.
In den 1920er Jahren war bei Rühle-Gerstel von dieser resignativen Stimmung noch nichts zu
spüren. Ganz im Ton ihres Milieus setzte sie auf die Möglichkeit der Befreiung der Menschheit
durch die »Neue Einheit«, in der »Klassenkampf und Mut (…) aus ihren besonderen Sphären – hie
soziale Klassenangelegenheit außen, hie seelische Individuenangelegenheit innen – befreit und in
der Aktivität des wirklichen Lebens ineinander übergegangen sind« (Rühle-Gerstel, 1927/1980:
221). Angestrebt wurde eine »Synthese des Menschen«, verstanden als »notwendige und darum
auch mögliche Ideologie der Zeit, die den Sprung tun muss vom Reich der Notwendigkeit in
das Reich der Freiheit« (ebd.: 222). Hinter solchenVerschmelzungsoptionen stand die Idee, die
Hauptansätze und Grundanliegen von Marxismus und Individualpsychologie verbinden zu können. Beide, so Rühle-Gerstels Leitannahme, lehrten, dass »›Menschen‹ und ›Verhältnisse‹ (…)
nicht zu trennen und in eine zeitliche Reihenfolge einzuspannen (sind). Alle Verhältnisse werden
von Menschen gemacht, getragen und geändert. Alle Menschen leben in und durch die Verhältnisse« (ebd.: 195). Deshalb sei offensichtlich, »dass Menschen und Verhältnisse gleichzeitig und
zusammen verändert werden müssen« (ebd.: 196). Der Mensch sollte von neurotischen Zwängen
(seine Hilflosigkeitsgefühle durch ein fiktives Größenich zu kompensieren), die Gesellschaft vom
Diktat des Kapitalismus (der Privatbesitz und Klassentrennung zementiert) befreit werden. Als
Ziel schwebte Rühle-Gerstel eine »höhere Gemeinschaft« vor, in der zwischenmenschliche Be-
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ziehungen neue Qualität bekommen: »In ihr verhalten sich alle Menschen wie gleich zu gleich«
(ebd.). Die dafür zu bevorzugende Organisationsform mitmenschlichen Daseins war laut RühleGerstel der Sozialismus, durch den die für das klassengespaltene Gesellschaftssystem typischen
Trennungen Oben-Unten, Stark-Schwach, Männlich-Weiblich u.a.m. überwunden würden.
Viele Vertreter der Individualpsychologie und des Marxismus teilten Rühle-Gerstels Synthesekonzept nicht. Auf Tagungen sozialistischer Individualpsychologen wurde die Rangfolge bzw.
Über-, Unter- bzw. Zuordnung beider Bezugskonzepte heftig diskutiert (Mackenthun, 2002:
220-224). Alfred Adler, der Begründer individualpsychologischer Theorien, leitete Minderwertigkeitsgefühle und Neurotisierung aus falscher Erziehung und falschen Familienverhältnissen ab,
ohne diese einer speziellen Klasse zuzurechnen oder eindeutig aus den Produktionsverhältnissen
abzuleiten. Die marxistischerseits geforderte Bevorzugung einer Klasse – des Proletariats – als
Träger der Umgestaltung und die Hoffnung auf automatische Heilung durch Veränderung der
sozioökonomischen Bedingungen wurde skeptisch betrachtet. Marxisten lehnten im Gegenzug
eine Gleichberechtigung ihrer Lehre mit der Individualpsychologie u.a. mit dem Argument ab,
die Konzentration auf das Seelenleben behindere die Einsicht in die gesellschaftsstrukturell
bedingten Deformationen und Unterschiede. Rühle-Gerstel hat sich mit den Einwänden beider
Richtungen beschäftigt, ihnen eine Überbetonung der Gegensätze vorgeworfen und immer
wieder auf die o.g. Wechselwirkung von »Menschen« und »Verhältnissen« verwiesen. In dieser
Sichtweise würde sich der Gegensatz von Innenschau und Außenbetrachtung und von individueller und gesamtgesellschaftlicher Veränderung erübrigen. Was aber konnte marxistischen
Individualpsychologen bzw. individualpsychologisch ausgerichteten Marxisten Hoffnung geben,
dass Menschen, die, so zumindest Rühle-Gerstel, zusehends in ›falschen Verhältnissen‹ lebten
und ›kranke Seelenzustände‹ entwickelten – »im gegenwärtigen Zeitpunkt ist die Menschheit
durchneurotisiert … Die Neurose wird der normale Seelenzustand« (Rühle-Gerstel, 1927/1980:
124 f.) –, eine Veränderung in Richtung »höhere Gemeinschaft« schaffen? Rühle-Gerstel setzt
auf das »Bewusstsein«, ihr Trumpf, den sie im Kapitel »Heilen und Bilden« (ebd.: 119-137)
ausspielt. Das Bewusstsein, das der Ichmensch im gesellschaftlichen Überlebenskampf dazu
diene, den Konkurrenten zu durchschauen, könne er nutzen zur Selbstschau und Offenlegung
all seiner Fehler, Finten, Widersprüche, Hemmungen und Überkompensationen, unter denen er
leidet (ebd.: 133 f.), damit einen mühsamen, aber fruchtbaren Aufklärungsprozess ingang setzen,
der nicht weniger als eine neue Zeit einläute. Der »zur Befreiung von sich selbst« bereite und
mutige »Durchschnittsmensch« könne allmählich erste Früchte ernten: »Der Mangel stirbt ab,
die Unsicherheit wird kleiner, die Isolation verschwindet, es wächst das Vertrauen und damit das
Selbstvertrauen, die Minderwertigkeitsgefühle sterben ab, das alte Bewertungslineal wird zum
Gerümpel geworfen. … In der höheren Einheit der Brüderlichkeit dürfen die Verschiedenheiten
der Brüder harmonisch zu leben beginnen. Es sind nicht mehr Verschiedenheiten des ›Mehr‹
oder ›Weniger‹, sondern des ›So‹ und ›Anders‹. Ich und Ich verschmelzen im Wir, in dem sie
nicht untergehen.« (ebd.: 135 f.) Garniert wird dieses pathosgeladene Zukunftsbild mit dem
bekannten Marx-Klassiker: »›Die freie Entwicklung eines jeden wird die Bedingung der freien
Entwicklung aller sein‹«. (ebd.)
Ihr Versuch, Marxismus und Individualpsychologie zu verschmelzen, hat Alice Rühle-Gerstel
schon zu Lebzeiten wenig Beifall gebracht, aus heutiger Sicht erscheint das Vorhaben gescheitert
(vgl. Mackenthun, 2002: 234-237). Der auf Versöhnung, Ermutigung und Heilung ausgerichteten
Individualpsychologie waren und sind klassenkämpferische Parolen und Radikalforderungen
wie die nach der »Diktatur des Proletariats« verdächtig, ein neurotisches Machtstreben zu bedienen (ebd.: 235). Dieser Einsicht hat sich Rühle-Gerstel nicht verschlossen, sie mag ein Motiv
gewesen sein, Parteidoktrinen konsequent die rote Karte zu zeigen. Möglicherweise liegt der
große marxistische Individualpsychologe Manès Sperber nicht falsch, wenn er im Vorwort zur
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Neuausgabe von Rühle-Gerstels »Der Weg zum Wir« 1980 bezweifelt, »ob Alice Rühle es heute
auch noch für gewiss halten würde, dass der Marxismus – und nur er – die umfassendste und
tiefste Einsicht in die Geschichte und in die Gesetze gesellschaftlicher Entwicklung bietet. Dass
sie auch heute noch zur Adlerischen Lehre stünde, daran zweifle ich nicht ...« (Geleitwort in ebd.)
In dem im mexikanischen Exil verfassten, etwa 1938 abgeschlossenen Roman »Der Umbruch
oder Hanna und die Freiheit« wird die Abkehr vom Parteikommunismus reflektiert. Alice
Rühle-Gerstel beschreibt darin das Schicksal und die Verwicklung der Lebensgeschichten von
Emigranten und Kommunisten in Prag in den Jahren 1934 bis 1936, vor allem im Zeitungsmilieu, und lässt ihre Heldin Anna (die der echten Alice ziemlich gleicht) am Ende auf Distanz zur
kommunistischen Partei gehen (Rühle-Gerstel, 1984), was man auch als Abrechnung mit eigenen
Illusionen deuten kann. Das Erscheinen des Romans in den 1980er Jahren fällt zusammen mit
der Wiederentdeckung Rühle-Gerstels durch die damalige Frauenbewegung, die die Schilderung
der Exilsituation aus Frauensicht als Pionierleistung wertschätzte und auch an Rühle-Gerstels
Studien zum »Frauenproblem der Gegenwart – Eine psychologische Bilanz « aus dem Jahre
1932 anknüpfte.
Im Prager Exil hatte Rühle-Gerstel für das Prager Tagblatt eine Kinderbeilage entwickelt und
betreut, in welcher Kinder mit eigenen Beiträgen vertreten sind (Krause, 2014). Das war ein ganz
anderer literaturpädagogischer Ansatz, als ihn die Kommunistische Partei vertrat, die Kinder
und Jugendliche im Sinne der Parteiinteressen zu instrumentalisieren suchte und insofern an
eigenständigen Beiträgen nicht interessiert war. Damit setzte sich ein Konflikt fort, der in die
1920er Jahre zurück reicht: Schon da hatten Alice Rühle-Gerstel und Otto Rühle mit ihren Vorstellungen zur Bücherei des proletarischen Kindes bei der KPD angeeckt, weil sie zwar wie viele
linksorientierte Theoretiker in der Bewusstseinsbildung des Proletariats als Klasse ein Hauptziel
von Literatur sahen, aber jene Grundsätze kommunistischer Kinder- und Jugendarbeit ablehnten,
die die Kinder und Jugendlichen zu Befehlsempfängern von Parteidirektiven und Parteiinstanzen
degradierten (Mikota, 2007: 5-12). Eine in diesem Sinne verzweckte Literaturpädagogik hätte
ja den Untertanengeist und die Autoritätshörigkeit verlängert, die man als Übel bürgerlicher
Lebensweise und Literatur gerade bekämpfen wollte.
3
Siemsen und Rühle-Gerstel im Vergleich. Kritische Anmerkungen
zu Gemeinsamkeiten, Unterschieden und Ergänzungen der pädagogischen und literaturpädagogischen Ideen
Es ist ein offenes Geheimnis, das von links gerne diskret beschwiegen wird: Wie Anna Siemsen und Alice Rühle-Gerstel waren nicht wenige sozialistische Zeitgenossen zeitweilig einer
linksgerichteten Gemeinschaftssehnsucht verhaftet, die in herrschaftsfreier und zwangloser
Gemeinschaft das Gegenmodell zur bestehenden Gesellschaft begriff, ohne die Gefahren des
Gemeinschaftspathos hinreichend zu reflektieren. Damit bewegte man sich ganz im Sog der
Zeit, in der Gemeinschaft als Universallösung für die als kalt empfundene moderne Gesellschaft
angesehen wurde. E. Weiß hat auf dieses Problem bei Siemsen hingewiesen und sich gewundert,
dass Siemsen nicht auf die damals von Tönnies angebotene Differenzierung von Gesellschaft
und Gemeinschaft zurückgegriffen hat (Weiß, 2001: 17-20). Tatsächlich drohen ihr bei der feierlichen Gemeinschaftsbeschwörung die unverzichtbaren Vorzüge gesellschaftlicher Modernisierung aus dem Blick zu geraten, was schade ist, weil Siemsen die Entwicklungstendenzen der
modernen Gesellschaft hin zu Differenzierung und Vielheit begrüßt und als Voraussetzung von
Gemeinschaft wertgeschätzt hat (Siemsen, 1948a). Deutlicher hätte sie betonen können und
das sollte heute akzeptiert werden, dass die Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft
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wie rationaler Diskurs, Meinungskonkurrenz, Distanz usw. in der angestrebten Gemeinschaft
unverzichtbar bleiben. Diese Forderung geht auch an die Adresse von Rühle-Gerstel, deren
Vorstellungen von der »höheren Gemeinschaft« auf die Bildung »neuer Menschen« und den
Wegfall der wie sie meint »klassenhaft gegebenen Gegensatzpaare: Individuum-Kollektivum,
Materie-Seele, Außen-Innen, Evolution-Revolution« spekulieren (Rühle-Gerstel, 1927/1980: 137:
221 u.a.), eine Entwicklung, die sich nicht von selbst einstellen wird (abgesehen davon, inwieweit
sie wünschenswert ist). Hinter Rühle-Gerstels Vision stecken wie bei Siemsen hochgeschraubte
Erwartungen an die Geschichtsentwicklung in Richtung klassenlose Gesellschaft bzw. Herrschaft
des Proletariats, die sich noch zu Lebzeiten der beiden Vordenkerinnen als fragwürdig erwiesen
haben. Das Credo der sozialistischen Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass der
Kapitalismus dem unmittelbar bevorstehenden Untergang geweiht ist und die Arbeiterklasse in
Führung gehen wird, hat sich bis heute nicht erfüllt. Der Kapitalismus ist zählebiger als erwartet
und die Arbeiterklasse nicht das erhoffte revolutionäre Fabelwesen gewesen. Neue Strategien
einer kapitalismuskritischen Pädagogik, deren Anliegen sich ja nicht erledigt haben, sind nötig.
Stellt sich die Aufgabe, sorgfältig mit dem Angebot der beiden Vordenkerinnen umzugehen
und sie nicht leichtfertig für eigene Zwecke einzuspannen. Ein Beispiel: Siemsen hat Erziehung
für die werdende Gesellschaft anvisiert und deshalb die Ausbildung kritischen Bewusstseins
eingeklagt, das die Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse vorantreiben
kann. Jugendliche dürften nie zur bloßen Kopie der Erwachsenenwelt geformt werden in dem
Irrglauben, diese sei vollkommen. Daraus erklärt sich der von Siemsen immer wieder geforderte
Verzicht auf »unbedingte Autorität«, um der »nachdrängenden Jugend« Zukunft zu eröffnen
(Siemsen, 1948a: 104). Allein deshalb ist Siemsen aber nicht als antiautoritäre Pädagogin einzuordnen, wie es mancher kritische Pädagoge gerne hätte. Ihr »Bekenntnis zur Freiheit des
Bewusstseins« hat sie eingeschränkt; es gelte »in dem Sinne, daß das jederzeit gesellschaftlich
bestimmte Bewusstsein nicht durch Zwang und Gewalt aus seiner natürlichen Bahn gelenkt
werden darf« (ebd.). Unter der natürlichen Bahn verstand Siemsen eine fortschreitende Gesamtrichtung gesellschaftlicher Entwicklung bzw. »zukunftsgerichtete revolutionäre Richtung« mit
der »endgültige(n) Zielsetzung« zunehmender Universalität, Rechtsgleichheit, Zusammenarbeit
der gesellschaftlichen Gruppen usw. (ebd.). Gegenläufige Tendenzen, konservative, reaktionäre
oder romantische, die eine Rückwärtsentwicklung der Gesellschaft anstreben, hat Siemsen abgelehnt und offensiv bekämpft. Hier stößt das Bekenntnis zur Freiheit des Bewusstseins auf seine
Grenzen. Viel Erziehungsarbeit sei nötig, die bequeme konservative Haltung zu überwinden.
Siemsen zufolge hat der Mensch »die natürliche Neigung, sich als das Ziel und Zentrum aller
Dinge anzusehen«, entsprechend »gehört ein nicht geringes Maß von Bewusstseinsklarheit und
Selbstüberwindung dazu, sich und damit auch die eigene Gesellschaft nur als Durchgangspunkt
zu sehen und zu werten« (ebd.: 101). Durch laisser-faire wird das nicht zu erreichen sein, hier
bedarf es zumindest einer Erziehungsautorität, die Bewusstseinsbildung und Selbstüberwindung
anleitet. Aber auch gezielte Aufklärung wird nicht immer Erfolg haben, wie Siemsen in Bezug
auf den Nationalsozialismus und Antisemitismus, auch als Sozialismus des dummen Kerls charakterisiert, ausführt (ebd.: 159). Wenn keine Hoffnung auf Einsicht besteht, dann helfen ggf. nur
strengere Gesetze, dann ist Schluss mit dem – pädagogischen – Schmusekurs. Alltagstaugliche
pädagogische Konzepte lassen sich aus der übergreifenden Geschichtsperspektive Siemsens
(zunehmende Universalität, Rechtsgleichheit usw.) nicht eins zu eins ableiten. Wenn Siemsen
die Autoritätsfixierung und Untertanengesinnung ihrer Zeit kritisiert und das, was die Kritische
Theorie unter »autoritärem Charakter« versteht, als Problem gesellschaftlicher und erzieherischer Fehlentwicklungen benannt (ebd.: 146, 150-155), dann ist sie gegen die Übermacht falscher
Autoritäten in Gesellschaft und Erziehung, aber unbedingt für »helfende Autorität« im Sinne
heutiger Kritischer Pädagogik (Bernhard, 2011: 328-337).
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Für Siemsen war, das wird aus dem skizzierten Beispiel deutlich, das Bewusstsein – ähnlich wie
bei Rühle-Gerstel – Dreh- und Angelpunkt für menschlichen Fortschritt. Durch »Erweiterung der
Bewusstseinssphäre« sollte »allmählich der Raum unserer trieb- und gefühlsmäßig bestimmten
Reaktionen eingeschränkt« werden »gegenüber dem erkenntnisbegründeten und planvollen
Handeln« (Siemsen, 1948a: 158). Im Fokus stand der bewusst handelnde Mensch, der fähig ist, die
ihn vor-prägenden Triebe und gesellschaftlichen Verhältnisse, seine Innen- und Außenwelt »zu
überschauen, zu ordnen und schließlich zu lenken und zu beherrschen« (ebd.: 105). Unklar bleibt
bei diesen Überlegungen, was Siemsen genau unter einer entsprechenden Bewusstseinsarbeit
versteht, und wie man sich die Wechselwirkung zwischen Bewusstsein einerseits und Gefühlen,
Affekten und Trieben andererseits vorzustellen hat. Nur soviel steht fest: Im Land der Gefühle
hält Siemsen eine strenge Aufsicht für notwendig, Gefühle und Triebe werden dem Bewusstsein
strikt untergeordnet. Eine solche Aufklärung und planmäßige Beherrschung und Ordnung favorisierende Sicht von Mensch und Gesellschaft wirft eine Reihe an Rückfragen auf (vgl. Sänger, 2016: 205-216), die hier nicht einzeln erörtert werden können, einige kurze Anmerkungen
müssen reichen. Siemsens Standpunkt ist verständlich als Gegenposition zu den im frühen 20.
Jahrhundert aufkommenden irrationalen vernunftkritischen Bewegungen und als Antwort auf
den als chaotisch und irrational empfundenen Kapitalismus. An der Vision einer aufgeklärteren
Gesellschaft hält sie insofern aus guten Gründen festhält. Aber sie müsste klären, wie genau das
Bewusstsein sozusagen ›Herr im eigenen Hause‹ werden, die Gefühle und Triebe bremsen soll,
ohne dass diese – unkontrolliert, in eine falsche Richtung usw. – zurückschlagen. Es müsste präzise
analysiert werden, wie – sozial bedingte – »schwere Einsamkeits-, Angst- und Hasskomplexe«,
die Siemsen ins Zentrum ihrer Überlegungen über die Unterwerfungsbereitschaft der Massen
und den Rückfall in den Faschismus rückt (Siemsen, 1948a: 5 f.), entstehen und handlungsleitend
werden. Diese Lücken bei Siemsen könnten mit Rühle-Gerstel aufgefüllt werden: Diese hat die
Innenwelt des Menschen, das Zusammenspiel von Trieb, Gefühl, persönlicher Reifung und gesellschaftlicher Formung in ihren Studien zur Neurosenlehre und allgemeinen Seelenlehre in den
Blick genommen (Rühle-Gerstel, 1927/1980: 79-119). Menschliches Machtstreben wird beispielsweise als Umgang mit Minderwertigkeitskomplexen seziert, in Verbindung mit ökonomischen
Prozessen gebracht und die damit verbundenen negativen Auswirkungen für das Verhältnis von
Ich und Gemeinschaft aufgezeigt: »Der Zerfall der Gemeinschaft verstärkt so sehr die individuelle
Unsicherheit, dass sie in der Seele nur noch als verschärftes Minderwertigkeitsgefühl mit dem
einzigen Kompensationsausweg des Machtstrebens erscheint. Das heutige Machtstreben aber
treibt die Gemeinschaft immer weiter in den Zerfall.« (ebd.: 156) Inwieweit aus solchen Studien
Schlussfolgerungen für den Erziehungsalltag gezogen werden können, wäre eine vertiefende
Studie wert, aber folgendes vorläufiges Resümee scheint erlaubt: Während Anna Siemsen mit
ihren Reflexionen auf »Die gesellschaftlichen Grundlagen der Erziehung« (Siemsen, 1948a)
Verdienste bei der Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Pädagogik zur Sozialwissenschaft
gutzuschreiben sind, hat Alice Rühle-Gerstel die Entfaltung einer (individual)psychologischen
Erziehungswissenschaft vorangetrieben. Beide Ansätze waren von der Überzeugung geprägt, dass
sich Individuum und Gesellschaft, Seele und Soziales nicht getrennt betrachten lassen, haben
sich ihrem Gegenstand indes von verschiedenen Seiten genähert.
Ganz einig waren sich die Wissenschaftlerinnen in der Wertschätzung von Literatur als Erziehungs- und Bildungsmittel. Schon die biographischen Parallelen sind aufschlussreich. Die
Leseleidenschaft, die die Kinderzeit Anna Siemsens laut August Siemsen bestimmte und die
sich bis ins hohe Alter durchzieht, charakterisiert auch Alice Rühle-Gerstel. Ein Leben ohne
Bücher konnte sie sich nicht vorstellen, schon mit zwölf hatte sie, wie sie in einem Artikel im
Prager Tagblatt 1933 schreibt, »den Grundstein zu meiner Bibliothek gelegt: Ibsens ›Gespenster‹
in Reclam-Ausgabe. Bald danach kam (…) der ›Cyrano de Begerac‹ dazu und dann der ›Zara-
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thustra‹. Aus der Kinderkommode rückten Grimms und Andersens Märchen ein, die Sagen des
klassischen Altertums und Onkel Toms Hütte. (…) Später war die Bibliothek gewachsen, hatte
das romantische Alter durchgemacht, das religiöse, das nihilistische, das philosophische« (zit. nach
Mikota, 2007: 1). In der Weimarer Republik haben Siemsen und Rühle-Gerstel in zahlreichen
Publikationen das Leseverhalten des (jungen) Arbeiterlesers zu beeinflussen versucht. Damit
mischten sie sich in den Kampf um die Köpfe ein, der seit dem Kaiserreich zwischen den großen
sozialmoralischen Milieus der damaligen Zeit mit ihren konkurrierenden Weltanschauungen,
zwischen dem sozialdemokratischen, bürgerlich-protestantisch-liberalen und dem katholischen
Lager, entflammt war. Die »Leserlenkung« (Langewiesche, 2000) zählte zu den wichtigsten Waffen. Gerade in der Arbeiterbewegung waren die – durch die größere Zugänglichkeit der Masse
zu Literatur zunehmenden – Möglichkeiten, Literatur für die Durchsetzung eigener Interessen
einzusetzen, schnell erkannt und offensiv genutzt worden, die sich im 19. Jahrhundert entfaltende
Arbeiterbildung sah im Buch den »wichtigsten Führer zum Sozialismus«. Ob revolutionär oder
revisionistisch ausgerichtet, den Bildungsmodellen nach sollte der Arbeiter durch das Buch die
Welt besser durchschauen lernen und zur Umgestaltung im sozialistischen Sinne motiviert und
befähigt werden. Siemsen hat in diesem Zusammenhang eine eigene Literaturtheorie entwickelt,
in der sie Kunst als »große Erzieherin« adelt (Siemsen, 1948b: 34), und für Arbeiter u.a. einen Einführungsband in die europäische Literatur verfasst, um diesen den Zugang zu den großen Werken
zu ermöglichen (Siemsen, 1948c). Dabei hoffte sie, dass es beim Leser vom Erlebnis zur Erkenntnis
komme. Kunst bzw. Dichtung galt als »gestaltete(r) Ausdruck eines Erlebnisses oder Lebensgefühls« (Siemsen, 1948b: 9), als »gefühltes Werk, das wiederum Gefühl erregen will« (ebd.: 8)
Als »große Erzieherin« eigne sich Kunst, weil sie an Tiefenschichten des Menschen anknüpft.
Aber es durfte nie um bloße Gefühlserregung gehen. Siemsen schätzte gerade solche Kunstwerke
bzw. Dichtung hoch ein, die »unmittelbare Willensentschlüsse herbeizuführen oder allgemeine
Zielrichtung vorzubereiten« geeignet sind, die »zur richtigen öffentlichen Haltung, zur Politik«
führen will (ebd.). Ihre Hoffnung richtete sich darauf, durch Kunst »menschliches Bewußtsein
zu wecken und menschliche Leidenschaften zu reinigen« (ebd.: 61). Auf den Bücherempfehlungslisten, die Siemsen in ihren Aufsätzen zur Arbeiterbildung oder für den Schulunterricht
entwickelte, befanden sich deshalb Bücher, die den Leser ein realistisches Bild der Wirklichkeit
erfahren lassen, z.B. sozialkritische Romane von Sinclair, London, Zola oder Rolland. Das hieß
auch, gegen die zeitgenössische Tendenz zur Idylle in Kinder-, Jugend- und Erwachsenenliteratur zu Felde zu ziehen. Bei der Auswahl der Werke für ihr Einführungswerke in Literatur hat
sich Siemsen, wie sie an einer Stelle schreibt, auf jene konzentriert, die den »wirkliche(n) Tag
mit seinen Nöten, Aufgaben und großen Zielen« behandeln, was als Abgrenzung gegenüber
allzu lebensfremder Dichtung, die »im Himmel« bzw. bloß »von Ewigkeitswerten« lebt, und
gegenüber Unterhaltungsliteratur, die »im blauen Dunst lebt«, gemeint war (Siemsen, 1948c:
166). Dem Schriftsteller müsse es also gelingen »›der Menschheit große Gegenstände‹, Freiheit,
Wahrhaftigkeit und Recht und de(n) Kampf menschlicher Leidenschaften« im Rahmen der von
ihm dargestellten Wirklichkeit zu erfassen (ebd.: 143).
Mit diesen Vorzugsoptionen ist Siemsen nahe bei dem Konzept für eine »Bücherei des
proletarischen Kindes«, die Alice Rühle-Gerstel zusammen mit Otto Rühle entworfen hat. In
zahlreichen Aufsätzen der Zeitschrift »Das proletarische Kind« wurde die vorhandene Literatur
auf ihre Verwendbarkeit geprüft (Rühle-Gerstel/Rühle, 1925/1926), wobei sich als Kriterien für
›gute‹ Literatur u.a. herausschälen: die Bücher sollen den Heranwachsenden Identifikationsmöglichkeiten bieten, allerdings statt falscher Helden des Krieges die neuen der Wissenschaft
und des Alltags, sie sollen zur Wirklichkeit hinführen und Kindheit nicht schönreden, sie sollen
die Arbeiterkinder die eigene Klassenlage erkennen lassen, sie sollen Vorurteile abbauen helfen (Mikota, 2007). Das Ehepaar Rühle hoffte, so zum Bruch mit hierarchischen Strukturen
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und autoritären Verhältnissen beitragen zu können. Seine Vorschläge für geeignete Literatur
wurden daher auch nicht als Vorschrift verstanden, sondern als Angebot, mithilfe dessen sich
das Kind informieren und selbstständig entscheiden kann (ebd.: 10). Ein fataler Fehler aus Sicht
von Parteikommunisten wie Edwin Hoernle, der Positionen wie die Anna Siemsens und die der
Rühles als »kleinbürgerlich-sozialistische Reformpädagogik« abtat, weil sie von Idealismus und
Utopismus verseucht seien, wenn beispielsweise ein »vollkommenes neues Zeitalter« angestrebt
werde durch »›Weckung der schöpferischen Kräfte des Kindes‹« – für Hoernle Grund genug, sich
über die »lächerliche Beschränktheit« und das »Geschwätz« solcher »reformistische(r) Klugscheißer« aufzuregen (Hoernle, 1969: 16, 150 f.). Das Ziel der Kommunisten, einen »Nachwuchs
von revolutionären Kämpfern und Baumeistern des Sozialismus« zu erziehen, sei konkret in den
gegebenen gesellschaftlichen Konflikten zu erreichen, und nicht in Bezug auf eine ›werdende
Gesellschaft‹: »Man kann nicht zur Aktivität erziehen außer durch Aktivität« (ebd.: 130 f.). Die
Kinder sollten also direkt an den »Tagesaufgaben« ihrer Klasse beteiligt werden und sich in
den proletarischen Kampf einmischen, wofür eine bloße »historisch-theoretische Aufklärung«
nicht ausreiche (ebd.: 131). Diese im aggressiven Ton unerbittlicher Selbstgerechtigkeit vorgetragenen Angriffe mündeten in den Vorwurf, die Beschuldigten – also Reformpädagogen der
Marke Siemsen oder Rühle-Gerstel und Rühle bis hin zu Löwenstein, Kanitz und Max Adler
– hätten Anleihen beim Marxismus gemacht, ohne diesen konsequent anzuwenden, hätten mit
»Halbheiten« ein »unehrliches Spiel« getrieben, um letztlich als »treffliche Bundesgenossen« der
Bourgeoisie zu fungieren (ebd.: 150-164). Nicht zu klären ist, ob Anna Siemsen und die Rühles
sich mit solchen agententheoretischen Vorwürfen beschäftigt haben – konkrete Äußerungen
fehlen, aber Alice Rühle-Gerstels Abrechnung mit dem Stalinismus oder Anna Siemsens Zurückweisung des Stellenangebots in Jena nach 1945 sind auch eine Antwort.
Eine heutige sozialistische (Literatur)Pädagogik wird das Gebot der Realitätsnähe übernehmen
sollen, ohne einer Instanz (Partei) das Monopol auf Wirklichkeitserkennung und auf Einsicht in
den Ablauf der weiteren Geschichte zu überlassen.
4 Schluss: Lebendiger Marxismus und lebensnahe Pädagogik
Damit zur Frage, wie sich eine sozialistisch orientierte Pädagogik, in der Bundesrepublik seit den
seligen Bildungsreformzeiten der 1960/70er Jahre als Kritische Erziehungswissenschaft/Pädagogik bekannt, heutzutage ausrichten könnte. Vor allem gilt es die Fallen zu vermeiden, in die ihre
Vertreter beim ersten Auftritt – im Rahmen der verpatzten Bildungsreform – getappt sind. Das
mahnt der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth in einem Aufsatz zur Situation der Kritischen
Erziehungswissenschaft an der Jahrtausendwende an, in welchem er den kritischen Pädagogen
die Leviten liest und verschiedene Plagen dieser Pädagogikrichtung aufs Korn nimmt (Tenorth,
1999). Zu den bemängelten Denkmustern zählt auch die Bildungstheorie des bei kritischen Pädagogen bis heute beliebten sozialistischen Vorzeigetheoretikers Heinz-Joachim Heydorn, die, so
Tenorth, »eschatologische« Züge trage und Bildung als »Erlösung« vom üblen Erziehungsgeschäft
missverstehe (Tenorth, 1999: 150-156). Kurz gesagt: Der hochgestochene Bildungsbegriff ist für
alle, die sich in den Niederungen erzieherischer Kleinarbeit befinden, ein schickes Programm
ohne Alltagsrelevanz, also untauglich. Heinz Sünker als eingefleischtem Heydorn-Anhänger wird
diese Kritik Bauchschmerzen bereiten, aber immerhin befindet sich Tenorths Aufsatz in einem
von ihm mit herausgegebenen Sammelband (er hat dessen Verbreitung also nicht gerade verhindert). Man braucht die harsche Kritik Tenorths an Heydorn nicht vollends zu teilen, sollte aber
die Gefahren, die mit der Heydornschen Polarisierung von Erziehung und Bildung verbunden
sind, ernst nehmen, was Heydorn wohlgesonnene Erziehungswissenschaftler auch beherzigen.
Z.B. analysiert Heinz Sünkers Geistesverwandter Michael Winkler die Schwächen, die sich aus
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der antithetischen Gegenüberstellung von Erziehung und Bildung bei Heydorn ergeben, und
moniert eine Unterschätzung der Möglichkeiten von Erziehung. Heydorn bleibe, wie Winkler zusammenfasst, »die Einsicht in die innere Rationalität von Erziehung, in ihre Möglichkeitsstruktur
verwehrt« (Winkler, 2008: 111). (Den Aufsatz über Heydorn hat Winkler übrigens in einer Festgabe
für Heinz Sünker zum 60ten veröffentlicht.) Die Perspektive auf die Möglichkeitsstruktur von
Erziehung tut für den Bildungstheoretiker aber bitter not, vielleicht darf man in Anlehnung an
Horkheimers Diktum »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus
schweigen« auf das Verhältnis von Erziehung und Bildung übertragen sagen: Wer von Erziehung
nicht reden will, sollte von Bildung schweigen. Anders ausgedrückt: Wer in Bildung die Erlösung
vom üblen Erziehungsgeschäft sieht, wird den Potentialen von Erziehung nicht gerecht, auf die
Bildung angewiesen ist. Von manchen Vertretern Kritischer Pädagogik ist die Verklammerung
erziehungstheoretischer und bildungstheoretischer Fragestellungen inzwischen als Desiderat erkannt worden. A. Bernhard kommt in seiner jüngst publizierten Studie über Heydorn – derzufolge
Heydorn Erziehung in einem milderen Licht gesehen hat als Tenorth behauptet (was hier nicht
näher verfolgt werden kann) – zu dem Schluss, dass bildungsphilosophische Diskussionen bislang
fahrlässigerweise die »Mündigkeitspotenziale« ignoriert hätten, die sich erzieherischen Prozessen
verdanken: »Die Fähigkeit, permanent die eigene Mündigkeit voranzutreiben gegen die restriktiven Vorgänge gesellschaftlicher Sozialisation, resultiert eben nicht nur aus Bildungsprozessen,
sondern bleibt an jene Grundstimmung geknüpft, die in Erziehungsprozessen aufgebaut wird.«
(Bernhard, 2015: 260) Das bedeutet: »Hoffnung auf Bildung kann es nur insoweit geben, wie es
Hoffnung auf Erziehung gibt.« (ebd.: 261) Diese Sichtweise ist ganz im Sinne Anna Siemsens,
die Erziehung als Grundlage der Entwicklung zur humanen Persönlichkeit verstanden hat. Dann
müssen in Erziehungsprozessen bewirkte Anpassung und Eingliederung in die Gesellschaft nicht
nur nicht länger verteufelt, sondern können als unverzichtbare Basisarbeit wertgeschätzt werden.
Als »humaner Zwang« (Bernhard, 2011: 151 ff.) betrachtet, kann man Erziehung in ihrer Rolle
als Vermittlerin – »Mediatorin« (ebd.: 157) – von gesellschaftlichen Reproduktionsanforderungen
und kindlichen Entwicklungsbedürfnissen gutheißen. Über diese Vermittlungsarbeit lässt sich
in Siemsens »Gesellschaftlichen Grundlagen der Erziehung« einiges nachlesen. Wenn Bernhard
die Bestrebungen, »den Zwang aus der Subjektwerdung wegzuzaubern«, als »pädagogische
Illusion« entlarvt (ebd.: 155), dann könnte Anna Siemsens Einschätzung hierfür Pate stehen,
dass »bei jeder direkten Erziehung eine gewollte Formung von außen her ein(tritt), damit ein
Zwang und eine Vergewaltigung dessen, was wir als Individualität zu bezeichnen gewohnt sind.«
(Siemsen, 1926: 10) Die Legitimation für den Zwang liegt in der Erziehungsbedürftigkeit des
Menschen und der Förderung seiner Gesellschaftstüchtigkeit. Die Gesellschaft kann nur von
gesellschaftstüchtigen Menschen gestaltet werden wie auch nur gesellschaftstüchtige Menschen
zur Entwicklung von Autonomie in den konkreten sozialen Verhältnissen und Räumen fähig
sind. Zwang muss allerdings an den Maßstab der Subjektwerdung und Persönlichkeitsbildung
gebunden sein und darf nie Selbstzweck werden oder ausschließliches Erziehungsmittel. Von
manchen antiautoritären Wunschträumen und Schlachtrufen der emanzipatorischen Pädagogik
der 1970er Jahre wird sich Kritische Pädagogik in Anschluss an Siemsen bzw. Rühle-Gerstel
daher emanzipieren müssen, etwa von der ,antiautoritären‹ Forderung nach möglichst wenig
Triebunterdrückung und Ritualisierung.
Mit Anna Siemsen oder Alice Rühle-Gerstel wäre das nicht passiert – eine an beiden orientierte
Pädagogik wäre gar nicht in den Genuss bzw. die Verlegenheit gekommen, sich in die Komfortzone Bildung zurückzuziehen, von der aus sich leicht jede gesellschaftliche und erzieherische
Wirklichkeit als defizitär abschreiben lässt. Ihr Credo lautet, das Handgemenge mit dem erzieherischen Alltag zu suchen, ohne die Zielperspektive humanen Fortschritts durch Überwindung
der kapitalistischen Gesellschaft aus den Augen zu verlieren. Was das heute heißen kann, sei an
einem Beispiel angedeutet.
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Siemsen hat in ihren Schriften das Ideal lustbetonten Lernens und anstrengungsloser Bildung
konsequent zurückgewiesen. Bildung bedeute Selbstüberwindung, die nicht mühelos erworben
werden könne. Bewusstsein in Auseinandersetzung mit z.B. anspruchsvoller Dichtung zu entwickeln, sei eine anstrengende Tätigkeit, was Freude bereiten könne, aber nicht zu verwechseln
sei mit bloßem Vergnügen, wie es den Menschen von den Massenmedien aufgedrängt werde.
Siemsens Kritik richtete sich hiermit gegen die moderne Massengesellschaft als einer »immer
sensationsgierigeren Welt« (Siemsen, 1943: 241) mit einer auf Vergnügen und Ablenkung fixierten
Lebensweise. Ihr Lieblingsfeind war die amerikanische Illustriertenunkultur, die die Konsumenten passiv werden lasse bis hin zur »Gehirnerweichung« (Siemsen, 1948c: 45). Die wahllose Vermischung von Information, Kulturgütern, Werbung und die Überflutung der Massen unterlaufe die
Konzentrationsfähigkeit des Einzelnen: »Solche unglückseligen Geschöpfe, die vor lauter Gefühl
gefühllos geworden sind und jedes ›Erlebnis‹ nur noch als Nervenreiz genießen, sind in unserer
heutigen, von ›Kulturgut‹ jeder Art erdrückten Gesellschaft gar nicht selten« (ebd.: 18). Als Gegenmittel wurden Innehalten und Stärkung der Aufmerksamkeit, auch durch den Bruch mit dem
allgemeinen Betrieb, empfohlen, literaturpädagogisch sollten z.B. gegen den »Wahnsinnsrausch«
und die »macht- und erfolgverblendete Welt« der 1930/40er Jahre die Kraft der »stillen Bücher«
aus dem 19. Jahrhundert oder Dichtungen aus »den kleinen Staaten« jenseits der Machtzentren
helfen (Siemsen, 1943: 127, 214). Als besondere Gabe der Dichterin Katharine Mansfield hob
Siemsen hervor, in den Zeiten der Not, des Kampfes und der »lärmenden Heere« das »Zarte«,
»Reine«, »Stille« zu bewahren (ebd.: 314). Für viele Menschen komme es darauf an, »wieder
(zu) lernen, auf leise Stimmen und selbst auf das Verstummen zu hören, das jedem ganz tiefen
Gefühl zu eigen ist« (Siemsen, 1948b: 45). Siemsen hat diese Forderungen in den 1940er Jahren
aufgestellt, als Reaktion auf die von ihr beobachteten »Vergiftungen« durch den nationalsozialistischen Agitationskitsch und den o.g. amerikanischen Reklamekitsch (ebd.: 44-46). Sie erweist
sich damit als hellsichtige Analytikerin der Gefahren der modernen Erlebnis-Gesellschaft. Ihre
Beobachtung, dass die Begegnung mit Kulturgütern zum bloßen »Erlebnis« und auf den »Genuss«
von »Nervenreizen« reduziert werde, was zu Gefühlsverlusten, Abstumpfung, Oberflächlichkeit
und Verblendung führe, wird in den heutigen Debatten um Aufmerksamkeitsdefizite oder die
Sensationsgesellschaft weiter ausgeführt. Ch. Türcke hat der Gegenwartsgesellschaft eine »Aufmerksamkeitsdefizitkultur« bescheinigt (Türcke, 2012) mit einem durch Computer und Handy
bedingten Ausmaß an Aufmerksamkeitsverlusten, das für Siemsen noch unvorstellbar war. Das
bereits von ihr festgestellte Ausgeliefertsein an eine Serie von Reizen hat sich heute dramatisch
zugespitzt, wie Türcke feststellt: »Eine technisch perfektionierte audiovisuelle Maschinerie läuft
rund um die Uhr, wiederholt unablässig die Ausstrahlung ihrer aufmerksamkeitsheischenden
Impulse« (ebd.: 72). Dadurch gelinge es einer wachsenden Zahl von Kindern nicht mehr, »Reize
und Impulse so ineinanderzuschieben, dass sie sich zu inneren beharrlichen Gestalten verbinden,
statt bloß Unruhe stiftend durch das Nervensystem zu vagabundieren.« (ebd.: 69) Denken im
Sinne der Entfaltung einer inneren Vorstellungswelt werde somit zusehends schwerer, eine durch
die Konkurrenz der neuen Medien verstärkte Entwicklung: »Nur wer mehr Aufsehen erregt als
andere, hat in der Flut aufmerksamkeitsheischender Impulse, die mit der Hochtechnologie uns
umgibt, eine Chance, wahrgenommen zu werden.« (ebd.: 71) Bei der Suche nach Antworten auf
die drohende Vorherrschaft des »Aufmerksamkeitsregimes« trifft man bei Türcke auf einige von
Siemsen her Bekannte, er schätzt Märchen als »unersetzliche Wegbahner kindlichen Lernens«
(ebd.: 89), fordert Ritualisierung, das Einführen von Wiederholungsabläufen und die Etablierung
von Besinnungsstunden (ebd.: 79 ff.). Wenn Türcke Märchen als »Widerstandskräfte gegen den
High-Tech-Alltag« wiederbeleben will (ebd.: 93), um der Reizüberflutung zu wehren, wenn er
auf die deeskalierende und beruhigende Wirkung von Märchen verweist, die bei den Kindern
ein »Grundgespür« für soziale Zusammenhänge und geschichtliche Entwicklung kultivierten
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(ebd.: 89 f.), dann argumentiert er im Sinne einer Tradition kritischer Bildungstheorie, zu der
auch beispielsweise Siemsen gehört. Siemsen hat in den 1940er Jahren die Bedeutung von Märchen als ernsthaften, verständlichen, ehrlichen und ordnungsstiftenden Erzählungen betont, von
unschätzbarem Wert in einer »Übergangszeit«, die »zwiespältig und unsicher schwankend« sei
(Siemsen, 1943: 25-27). Märchen gelten Türcke bzw. Siemsen als eine eigentümliche Mischung
aus Kindlichkeit und Ernsthaftigkeit, die Kindern helfen kann, starke Personen zu werden.
Das drohte in Hochzeiten emanzipatorischer Pädagogik in Vergessenheit zu geraten. Türckes
Rehabilitierung von Märchen und anderen »naturwüchsig-kindlichen Ausdrucksformen«
(Türcke, 2012: 92) – genannt werden Reime, Lieder, Verse, Spiele u. a. – verdankt sich auch der
Selbstkritik einer Generation von Lehrern und wissenschaftlichen Pädagogen, die ab den 1960er
Jahren »Volksgut« aus den Schulen und Universitäten verbannte, zumal es oft mit der Last des
Auswendiglernenmüssens verbunden war und vermeintlich kritisches Denken verhinderte (ebd.:
91 f.). Als Kronzeuge eines – gegen die mögliche »Häme der Coolen und allzu Aufgeklärten« –
zu erneuernden Respekts vor dem Volksgut Märchen nennt Türcke den kritischen Theoretiker
Adorno (ebd.). Siemsen mit ihrer Wertschätzung der Volksdichtung hätte auch gepasst. Beide
vereint die Sensibilität und Vorsicht gegenüber alles plattmachenden Aufklärungsprogrammen.
Solche Versuche, von Siemsen über Adorno bis Türcke, einen Fuß in die Kommunikations- und
Lernverhältnisse heutiger Heranwachsender und Erwachsener zu bekommen, mögen von besonders radikal daherkommenden Marxisten als bieder, harmlos und betulich abgetan werden, sie
mögen von selbsternannten Arbeiterkinderführern als hausmeisterhaft und Reihenhauspädagogik
belächelt werden, sie dürften von Fortschrittsjüngern kaum als letzter Schrei emanzipatorischer
Pädagogik verstanden werden, sind aber ein unverzichtbarer Ansatz für lebendigen Marxismus
und lebensnahe Pädagogik, die mehr als Anhäufung von totem Buchwissen und schönklingenden
Forderungen sein wollen. Auch sind gewisse konservative Töne nicht zu vermeiden. Auf das Einfordern von Anstrengungsbereitschaft und das Festhalten an guter – klassischer – Literatur stößt
man übrigens nicht nur bei Siemsen oder Adorno, sondern auch bei Heydorn, nicht zu Unrecht
von prominenter Seite als »konservativer Revolutionär« (Blankertz) bezeichnet. Heydorn hat
trotz der oben angesprochenen Problemstellen einer kritischen Pädagogik viel zu sagen. Eines
seiner Schreckensbilder war der »Anbruch des postliterarischen Zeitalters, der brave new world
des paralysierten Bewußtseins« (ebd.: 23). Bewusstseinsbildung ist für Heydorn nicht mit links zu
haben: »Humanistische Bildung ist Freisetzung des Menschen in seine Wirklichkeit. Diese Freisetzung wird nicht an der Straßenecke verschenkt; sie will mühselig erarbeitet sein.« (Heydorn,
1995, Bd. 4: 17) Mit der Erinnerung an die Tradition des Humanismus sollten weder bürgerliche
Kulturfrömmigkeit reaktiviert noch ein altbackener Wertehimmel restituiert, sondern die Impulse
der ursprünglich bürgerlichen Aufklärung ernst genommen und fortgeführt werden. Ganz im
Sinne von Anna Siemsen, die die sozialistische Bewegung als Spross der Aufklärung und Erbin
des Bürgertums verstand: »Der Kampf des Proletariats hat nur deswegen eine geschichtliche
Bedeutung, weil in ihm allgemein menschliche Forderungen zum Bewusstsein gelangt sind, genau wie in einer früheren geschichtlichen Lage die Forderungen des aufsteigenden Bürgertums
solche Menschheitsforderungen waren« (Siemsen, 1948a: 161).
Zeit, zum Schluss zu kommen, mit Heydorn und Adorno sind ja zwei Gewährsmänner von
Heinz Sünker ins Spiel gebracht. Auf sie wird von ihm immer wieder zurückgegriffen, um die
Irrationalität des Kapitalismus zu analysieren und Ansätze für die Hervorbringung von Bildungsfähigkeit aller zu entwickeln: »Denn nur gebildete Bürger und Bürgerinnen – im Sinne
von Citoyens – können und werden öffentliche, d.h. politische Angelegenheiten als ihre eigenen
erkennen und anerkennen.« (Sünker, 2006: 91) Solche Bildung anzuleiten bedeutet ein hartes
Stück Arbeit für Lehrer, wie Sünker unter Berufung auf Heydorn betont (Sünker, 2003: 132 f.).
Den Lehrern wird eine Vorreiterrolle in pädagogischen (Befreiungs)Prozessen zugewiesen,
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durchaus verblüffend, wie Sünker selber sagt, für marxistisch argumentierende Theoretiker, als
wollte man nach all den Studien über die Macht und Zwänge der Verhältnisse und Strukturen
nun doch wieder den Einzelnen hervorkramen. Siemsen und Rühle-Gerstel würde es freuen.
Die Wertschätzung »der personalen Dimension von und in Bildungsprozessen« (ebd.: 133)
knüpft an das an, was beide vertreten. Apropos Person: Als Hochschullehrer hat Heinz Sünker
einen Homepage-Eintrag bei der Bergischen Universität Wuppertal, den langezeit ein Foto aus
seiner 68er-Zeit zierte, inzwischen musste es einem Portrait des 68jährigen weichen. Vielleicht
ein gelungenes Beispiel für »Dialektik«: der Wechsel könnte zeigen, dass Sünker sich nicht als
erbitterter Veteran der marxistischen Bewegung versteht, der starr an alten Idealen (und Jugendsünden) festhält, sondern als – gereifter, leicht ergrauter – Jünger des Sozialismus, der älter
werdend den Marxismus jung und lebendig hält. Wie er heute zur eingangs erwähnten Formel
»Die Tiger des Zorns sind weiser als die Rosse der Belehrung« von William Blake steht, kann
man sich leicht denken.
Literatur
Bauer, A., 2012: Das Leben der Sozialistin Anna Siemsen
und ihr pädagogisch-politisches Wirken, Frankfurt
Bernhard, A., 2011: Allgemeine Pädagogik, Baltmannsweiler
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2. Aufl.
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Leben und Werk einer sozialistischen Pädagogin, in:
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Heydorn, H. J., 1995: Werke. Bildungstheoretische Schriften, Bd. 4, Vaduz
Hoernle, E., 1969: Grundfragen proletarischer Erziehung,
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Langewiesche, D., 2000: »Volksbildung« und »Leserlenkung« in Deutschland von der wilhelminischen Ära
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Mikota, Jana, Die proletarische Bibliothek. Alice RühleGerstels und Otto Rühles Beitrag zu einer Lesesozi-
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Rühle-Gerstel, A., 1980: Der Weg zum Wir, Dresden 1927,
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Sänger, C., 2016: Persönlichkeit, Humanismus, Sozialismus. Eine Einführung in die Pädagogik Anna
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Siemsen, A., 1931: »Daß jeder tüchtige Mann aus Tahiti
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Manuskript (1950), Archiv der sozialen Demokratie
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1943 (Nachdruck: Frankfurt 1950)
Siemsen, A., 1948: Die gesellschaftlichen Grundlagen
der Erziehung. Reihe Menschheitserziehung, Hamburg (a)
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Siemsen, A., 1948: Literarische Streifzüge, Frankfurt,
3. Aufl. (c)
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Sünker, 2003: Sünker, Heinz, Bildung, Politik und soziale
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Tenorth, H.-E., 1999: Die zweite Chance. Oder: Über die
Geltung von Kritikansprüchen »kritischer Erziehungswissenschaft«, in: Kritische Erziehungswissenschaft
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am Neubeginn?!, hrg. v. Heinz Sünker u. HansHermann Krüger, Frankfurt: 135-161
Türcke, C., 2012: Hyperaktiv!, München
Weiß, E., 2001: Erziehung für eine »werdende Gesellschaft
als »Gemeinschaft« – Anna Siemsen und ihr Konzept
sozialistischer Gesellschaftstheorie und Pädagogik,
in: Archiv für Reformpädagogik, 6. Jg.: 3-25
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Essays
Abstract
Against the background of the forgotten history of the debates in the 1990s about ›abolitionism‹in
penal systems and the punishment of perpetrators, Ulfried Kleinert uses the publication of a
whole set of books on the penal system and experiences with the penal system in Germany as the
basis for a foundational analysis of punishment and crime. Focusing in particular on the books
and studies of those working with and in the penal system, he shows the ineffectiveness of the
›normal‹ ways of punishing perpetrators. Given this, he then argues for the value of work done
by ›practitioner-chaplains‹ in prison, exploring what possibilities are available within this system
for dealing with the spiritual and religious welfare of prison inmates as an alternative source of
reform and rehabilitation for offenders.
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Reinhart Wolff
Moderner Kinderschutz in der Unsicherheitsgesellschaft
– ganzheitliche Hilfe oder autoritäres Risikomanagement
– Entwicklungstrends und aktuelle Herausforderungen
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Überall Fachleute
Es ist ein wesentlicher Zug der Moderne, dass überall Fachleute auftreten, die ihr Wissen und
Können in sich entwickelnden Berufssystemen anbieten und deren Dienste von Bürgerinnen
und Bürgern und von Institutionen und Organisationen mehr oder weniger genutzt werden.
Einige dieser Professionellen – wie z. B. die Religions-, Wissenschafts- und Rechtsexperten –
haben sich bereits seit Hunderten von Jahren als berufliche Fachkräfte etabliert; anderen – wie
den medizinischen, technischen, pädagogischen und sozialen Fachkräften – gelang erst mit der
Entwicklung der modernen Gesellschaft die Durchsetzung einer besonderen Professionalität mit
den dazu gehörigen Berufssystemen, die nicht nur »Phänomene des Übergangs von der ständischen Gesellschaft des alten Europa zur funktional differenzierten Gesellschaft der Moderne«
darstellten (wie R. Stichweh in seinem berühmt gewordenen Beitrag 1996 betont)1, sondern auch
in funktional differenzierter Gesellschaft fortbestehen, ja sogar noch wichtiger werden, nicht
zuletzt, weil sie in wachsendem Maße intersystemisch vernetzt sind und über organisationale
Grenzen hinweg operieren.
Trotz ihrer wachsenden Bedeutung ist aber immer wieder unklar, was professionelle Experten
eigentlich auszeichnet und was ihre Aufgabe ist.2 Demgegenüber hat der amerikanische Soziologe
Andrew Abbott in organisations-, arbeits- und wissenssoziologischer Perspektive herausgestellt,
dass für professionelle Experten und ihre Berufsorganisationen in erster Linie von Bedeutung sei,
für welches Arbeitsgebiet sie Zuständigkeit und Kontrolle erlangen. In jeder Profession müsse
geklärt werden: Was macht ihre Arbeit tatsächlich aus? Wer macht was für wen bzw. mit wem,
auf welcher Wissensbasis und in welchem organisationalen Kontext?
Professionen, die immer ein soziales System darstellen und in den Arenen der inter-organisationellen und öffentlichen Auseinandersetzung um Platz und Anerkennung kämpfen, müssten
jedenfalls, um bestehen zu können, die Zuständigkeit für ihre eigene professionelle Praxis reklamieren und behaupten. Ursula Rabe-Kleberg hat diesen Anspruch auf Zuständigkeit – mit
Rückgriff auf Abbott3 – so erläutert:
»Zuständigkeit (›jurisdiction‹) wird in diesem Zusammenhang aber nicht als Zumutung von außen verstanden, sondern als ein Recht, das auf der Basis von Wissen und Fähigkeiten beansprucht
1 Stichweh, R. (1996). Professionen in einer funktional differenzierten Gesellschaft. In: A. Combe, R. Helsper (Hrsg.),
Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. (S. 49 – 69). Frankfurt a. M.
2 Für die Soziale Arbeit als Profession siehe insbesondere: Thole, W. (2005) 2. Soziale Arbeit als Profession und
Disziplin. Das sozialpädagogische Projekt in Praxis, Theorie, Forschung und Ausbildung – Versuch einer Standortbestimmung. In: W. Thole (Hrsg.), Grundriss Soziale Arbeit. (S. 15 – 60). Wiesbaden: und: Müller, B. (2005)2.
Professionalisierung. In: W. Thole (Hrsg.), Grundriss Soziale Arbeit. (S. 731 –750). Wiesbaden. Zur Frage nach dem
gesellschaftlichen Verhältnis von Organisation und Profession siehe vor allem den wichtigen Beitrag: T. Klatetzki,
V. Tacke (Hrsg.) (2005), Organisation und Profession. Wiesbaden.
3 Abbott, A. (1988). The System of Professions. An Essay on the Division of Expert Labor. Chicago and London.
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wird, das Recht nämlich, abstraktes das heißt professionelles Wissen auf bestimmte Probleme
anzuwenden. Verschiedene Professionen konkurrieren um ihren Anteil an der Zuständigkeit für
ein Problem. Sie müssen plausibel machen, daß ihr Wissen, ihr Typ von Wissen für die Lösung
des anstehenden Problems in einem bestimmten Feld das richtige ist. Voraussetzung für eine
erfolgreiche Auseinandersetzung um die Zuständigkeit für die Problemlösung in einem Feld ist
in jedem Fall die professionelle Kontrolle des eigenen Wissens, das heißt über seine Produktion
und Vermittlung und über seine Anwendung und Evaluation in der Praxis.«4
Ein solches Professionsverständnis aufgreifend, kann man herausstellen: Wenn Kinderschutzfachkräfte in ihrer professionellen Praxis als fachlich kompetente Akteure anerkannt werden
wollen, müssen sie jedenfalls drei Hauptaufgaben anpacken:
Sie müssen die Problemlagen bestimmen bzw. diagnostizieren, auf die sie professionell reagieren
wollen (Erarbeitung von Problemkonstruktionen – »diagnosis«).
Sie müssen daraus bestimmte fachliche Schlussfolgerungen ziehen, was zu tun ist (»inferences«).
Sie müssen schließlich eine dazu passende fachliche Praxis ins Werk setzen (»treatment« oder
Behandlung / Hilfe).
Sowohl im Hinblick auf die Eigenständigkeit und Sicherheit bei der Erarbeitung von Problemkonstruktionen/Diagnosen (Was ist Kindeswohlgefährdung bzw. Kindesmisshandlung und
Vernachlässigung? Welche gewichtigen Anzeichen und welche Hintergründe, Situationen und
Ursachenfaktoren lassen sich erkennen?) als auch im Hinblick auf die Eigenständigkeit und
Sicherheit bei den zu ziehenden Schlussfolgerungen/Inferenzen (Was ist fachlich zu tun?) und
bei ihrer Umsetzung in professionelle Praxis (Hilfe, Behandlung), ist die professionelle Kinderschutzarbeit – und insbesondere soweit sie von der Kinder- und Jugendhilfe verantwortet wird
– in Schwierigkeiten geraten. Es hat sich nämlich gezeigt, dass vor allem Soziale Arbeit / Sozialpädagogik ihre professionellen Aufgaben als Leitprofession im Kinderschutz nicht hinreichend
hat wahrnehmen können. Sie ist nämlich im Zuge der wachsenden medialen Aufrüstung von
Kindesmisshandlung und Kinderschutz zu einem nationalen und internationalen Top-Thema
– in der Form einer zahlreiche gesellschaftlich beunruhigende Kernthemen bündelnden Konstruktion (wie Kindheit und Familie, Geschlechter- und Generationenverhältnisse, Gewalt und
Sexualität) – erheblich unter Außendruck von Gesellschaft und Politik und nicht zuletzt von
konkurrierenden Berufssystemen geraten. Damit haben sich die Inferenzrisiken (mit Eingriffen
in die Zuständigkeit und Aufgabenbestimmung der Kinder- und Jugendhilfe) erhöht, wurden
die mit der demokratischen Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes seit 1990/91 gegebene
»Professionalisierungschance« zu wenig genutzt. Der Soziologe und Familientherapeut Bruno
Hildenbrand spricht sogar von einer »verpassten Professionalisierungschance«, von der »Ortlosigkeit« der Sozialpädagogik, einer »mangelnde(n) Präsenz im interdisziplinären Austausch.5
Seine Mitarbeiter K.F. Bohler und T. Franzheld im Sonderforschungsbereich 580 Gesellschaftliche
Entwicklungen nach dem Systemumbruch. Diskontinuität, Tradition, Strukturbildung – Teilprojekt
C3 Erforschung des Sozialen Sektors, in dem insbesondere das Vorgehen der Jugendämter bei
Kindeswohlgefährdungen in den Jahren 2001 bis 2012 untersucht wurde, markieren mit Bezug
auf die erhobenen Fallgeschichten eine »professionelle Schwäche der Sozialarbeit« und ein »Zu-
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Essays
4 Rabe-Kleberg, U. (1996). Professionalität und Geschlechterverhältnis. Oder: Was ist »semi« – an traditionellen
Frauenberufen? In: A. Combe, W. Helsper (Hrsg.), Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. (S. 276-302). Frankfurt a.M.
5 Hildenbrand, B. (2014). Das KJHG und der Kinderschutz: Eine verpasste Professionalisierungschance der Sozialpädagogik. In: B. Bütow, M. Pomey, M. Rutschmann, C. Schär & T. Studer (Hrsg.), Sozialpädagogik zwischen Staat
und Familie. (S. 175-202). Wiesbaden.
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rückdrängen der Zuständigkeit des Jugendamtes, insbesondere durch die alten Professionen«
oder »eine uneindeutige Zuständigkeit im Kinderschutz«6.
Eine solche professionelle Uneindeutigkeit in der Arena der professionellen Auseinandersetzungen und Behauptungskämpfe ist aber für die Kinderschutzarbeit besonders problematisch,
weil Not- und Krisensituationen von Kindern, Jugendlichen, Eltern und Familien in hoch differenzierten sozialen Systemen moderner Gesellschaften immer auf Problemlagen, Themen und
Fragestellungen verweisen, die an den Grenzen von sozialen Welten lokalisiert sind. Kindeswohlgefährdungen und Kinderschutzbemühungen können insofern als »Grenzobjekte« verstanden
werden, d.h. als ein »gemeinsamer Bezugspunkt« unterschiedlicher Akteure verschiedener sozialer
Welten (nämlich des familialen Mikrosystems, des näheren Umgebungs- oder Meso-Systems und
des gesellschaftlichen, politisch-ökonomischen Exo- und Makro-Systems).
»Grenzobjekte« werden in einem Prozess kommunikativer Wissensproduktion hervorgebracht
und die dabei aufgrund der unterschiedlichen strategischen, programmatischen und methodischen
Orientierungen (der besonderen Verstehensmuster, Handlungsregister und Handlungslogiken
der beteiligten Akteure) entstehenden Kontroversen müssen auf dem Wege inter-organisationaler Verständigungsprozesse geklärt werden, wobei wechselseitige Übersetzungen wesentlich
sind.7 Dass dies nicht immer gelingt, ist eine Erfahrung, die Kinderschutzfachleute gegenwärtig
allerdings alltäglich machen. Kindeswohlwohlgefährdung und Kinderschutz bleiben nämlich
als »Grenzobjekte« oft strittig, sind heftige Auseinandersetzungen, worum es eigentlich geht
und was zu tun wäre, häufig. Und dennoch müssen die unterschiedlichen Akteure mit ihren
unterschiedlichen Wissenssystemen, Handlungsinteressen, moralischen Orientierungen und
Verantwortungen einen gemeinsamen Nenner, eine kohärente system-übergreifende Problemund Aufgabenidentität, eine »common identity across sites« (Star/Griesemer, 1989) herstellen
und aufrecht erhalten, um Kindeswohlgefährdungen, Misshandlungen und Vernachlässigungen
von Kindern und Jugendlichen vorzubeugen, sie zu stoppen und erfolgreich Hilfe zu leisten.
Das ist jedoch gerade in Anbetracht sich verschärfender gesellschaftlicher Konfliktstrukturen,
regelrechter Dilemmata, d.h. nicht auflösbarer Widersprüche, nicht einfach.
2 Gesellschaftliche Konfliktstrukturen
Moderne Kinderschutzarbeit hat es allerdings nicht nur mit diesen hier angedeuteten, eine
eigenständige und selbstbewusste Fachpraxis erheblich gefährdenden, Inferenzrisiken zu tun.8
Sie ist vielmehr zugleich mit einer Reihe sich verschärfender gesellschaftlicher Widersprüche
konfrontiert, die zu neuen fachlichen Herausforderungen geführt haben, die in der Kinderschutzdiskussion aber leider zu wenig im Blick sind.
Im Wesentlichen handelt es sich um drei strukturelle paradoxale Konfliktlagen, die zu strategischen Herausforderungen in der modernen Kinderschutzarbeit geworden sind und mit denen
sie sich auseinandersetzen muss:
6 Bohler, K.F., & Franzheld ,T. (2015). Problematische Professionalität der Sozialen Arbeit im Kinderschutz. In: R.
Becker-Lenz, S. Busse, G. Ehlert & S. Müller-Hermann (Hrsg.). Bedrohte Professionalität. Einschränkungen und
aktuelle Herausforderungen für die Soziale Arbeit. (S.189-209, hier S. 209). Wiesbade. S. auch: Klatetzki, T. (2013).
Die Fallgeschichte als Grenzobjekt. In: R. Hörster et al. (Hrsg.). Grenzobjekte. Soziale Welten und ihre Übergänge.
(S. 117-135). Wiesbaden.
7 S. insbesondere: Star, S. L., Griesemer, J. (1989): Institutional Ecology, ›Translations‹, and Boundary Objects:
Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology.1907–1939. In: Social Studies in Science
19 (3), 387–420. Vgl. auch: R. Hörster, R., Köngeter, S., Müller, B. (Hrsg.) (2013): Grenzobjekte. Soziale Welten und
ihre Übergänge. Wiesbaden.
8 S. in diesem Zusammenhang insbesondere auch: Becker-Lenz, R., Busse, S., Ehlert, G., Müller-Hermann, S. (Hrsg.)
(2015). Bedrohte Professionalität. Einschränkungen und aktuelle Herausforderungen für die Soziale Arbeit. Wiesbaden.
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das Gleichheits- und Gerechtigkeitsdilemma,
das familiale Entwicklungsdilemma,
das professionelle Expansions- und Anspruchsenttäuschungsdilemma.
Diese Konfliktlagen potenzieren einander in ihren Wirkungen und konturieren zusammen als
Spannungsverhältnisse den sozio-kulturellen und politisch-ökonomischen Hintergrund moderner Kinderschutzarbeit. Man kann sie als Dilemmata allerdings nicht einfach in ein EntwederOder auflösen. Man muss vielmehr lernen, sie zu balancieren. Sie lassen sich folgendermaßen
zusammenfassen:
(1) Das Gleichheits- und Gerechtigkeitsdilemma besteht darin, dass die nach den Katastrophen
des 20. Jahrhunderts durch große sozio-kulturelle, politisch-ökonomische Transformationen
und Umbrüche errungene verfassungsmäßige und rechtliche Verankerung von Menschen-,
Gleichheits- und Freiheitsrechten und die gleichzeitige enorme Steigerung der Produktivität
mit der Folge eines erheblich gewachsenen Lebensstandards nunmehr konterkariert werden
durch gesellschaftliche Veränderungen, die in den letzten Jahrzehnten in den modernen Gesellschaften erneut zu wachsender Ungleichheit und Armut sowie zu zunehmenden Tendenzen
des sozialen Separatismus und Isolationismus geführt haben – mit der Folge einer regelrechten
sozialen Entbettung ganzer Bevölkerungsgruppen, einem »Anwachsen der Unsicherheiten«
(Robert Castel, 2009)9.
Wie Robert Castel deutlich gemacht hat, genüge es nicht, darauf hinzuweisen, dass die soziale
Unsicherheit »soziale Ausschließung« zeitigt. Man müsse vielmehr die transversale Qualität des
Phänomens in Rechnung stellen:
»Es berührt die verschiedenen Sphären des Sozialen. Wenngleich die Bereiche der Bevölkerung am Sockel der Gesellschaftspyramide am schwersten betroffen sind, geraten auch Teile des
Mittelstands in eine Situation der Verwundbarkeit, und neben Arbeitslosen sind es Hochschulabsolventen, die abqualifiziert und prekarisiert dastehen...Tatsächlich lässt sich Prekarität heute
nicht länger als ein vorübergehender Zustand denken, als schwere Zeit, durch die man hindurch
muss, bis man wieder eine feste Stelle gefunden hat. Eine steigende Zahl von Menschen gerät
dauerhaft in die Prekarität. Für sie fügen sich diskontinuierliche Beschäftigung, Jobs, Gelegenheitsarbeiten, Zeiten der Arbeitslosigkeit und der Umschulung aneinander, und all das führt
selten zu einem stabilen Arbeitsverhältnis.«10
In Armutssituationen und prekären Lebensverhältnissen zu leben, ist nun allerdings eine
wesentliche Voraussetzung für familiale Konfliktzuspitzungen, in deren Folge es häufig zu
Misshandlungen und Vernachlässigungen von Kindern kommt.11 Mit wachsender Prekarität, mit
Abstieg und Ausgrenzung wächst darum auch der Problemdruck, der auf den Kinderschutzfachkräften lastet und auf den sie reagieren müssen, ohne immer über die notwendigen Mittel und
Methoden zu verfügen, die man braucht, um gegen die wachsenden Ungleichheitsverhältnisse
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Essays
9 Castel, R. (2009). La montée des incertitudes. Travail. Protections. Statut de l’Individu. Paris: Éditions du Seuil.
10 Castel, R. (2009). Die Wiederkehr der sozialen Unsicherheit. In: R. Castel u. K. Dörre (Hrsg.), Prekarität, Abstieg,
Ausgrenzung. (S. 21-34, hier S. 30 f.). Frankfurt a. M., New York.
11 Auch wenn es keinen direkten kausalen Zusammenhang zwischen Armut und Kindesmisshandlung und Vernachlässigung gibt, ist Armut dennoch als Kontext von Kindeswohlgefährdungen von großer Bedeutung. Siehe
dazu vor allem: Pelton, L. H. (1978). Child abuse and neglect: The myth of classlessness. In: American Journal of
Orthopsychiatry, 48, 608–617. Dt.: Pelton, L. H. (1979). Kindesmisshandlung und –vernachlässigung: Der Mythos
der Schichtunabhängigkeit. In: Familiendynamik. 1979/4. Pelton, L. H. (1989). For reasons of poverty: A critical
analysis of the public child welfare system in the United States. Westport, CT: Praeger. Pelton, L. H. (1994). The
role of material factors in child abuse and neglect. In G. B. Melton, & F. D. Barry (Eds.), Protecting children from
abuse and neglect: Foundations for a new national strategy (pp. 131–181). New York, NY: Guilford Press. Pelton, L.H.
(2015). The continuing role of material factors in child maltreatment and placement. In: Child Abuse and Neglect.
41, 30-39.
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mit dem Interesse der Förderung sozialer Gerechtigkeit angehen zu können. Stattdessen wird
mit der Fokussierung auf Sicherheit in der modernen Unsicherheitsgesellschaft »ein verdecktes
Programm für die Umstellung der Gesellschaft auf Risiken« attraktiv. Damit gerät das Kinderschutzsystem jedoch in die Gefahr – wie Bettina Hünersdorf scharf heraus gestellt hat – »dass
sich innerhalb des Funktionssystem der Hilfe ein neues soziales System herausbildet, das durch
Bedrohungskommunikation gekennzeichnet ist und sich nach dem Code sicher – bedroht reproduziert.
Je mehr Kinder in Armutslagen geraten, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass von Hilfe
auf den Sicherheitscode umgeschwenkt wird, vor allem dann, wenn nicht genügend Ressourcen
zur Verfügung gestellt werden können, um im Vorfeld auf Bedarfslagen zu reagieren. Damit besteht aber die Gefahr, dass trotz gegenteiliger Rhetorik früher Hilfen zunehmend später, d.h. bei
höherer Problemkumulation, eingegriffen wird. Prävention bedeutet dann nur noch in der frühen
Kindheit einzugreifen, wobei die Möglichkeiten zunehmend reaktiv statt aktiv gestaltet werden.
Damit legt sich das Hilfesystem aber potenziell selbst lahm.«12 Eine solche reaktive Selbstblockade hängt aber auch damit zusammen, dass das moderne Kinder- und Jugendhilfesystem bei
der Wahrnehmung von Kinderschutzaufgaben mit einem strukturellen Entwicklungsdilemma
der modernen Familie konfrontiert ist, das den Fachkräften erheblich zu schaffen macht.
(2) Das familiale Entwicklungsdilemma der modernen Familie ist für die Kinder- und Jugendhilfe und vor allem für die Kinderschutzarbeit eine besondere – allerdings wenig verstandene
– Herausforderung. Sie besteht darin, dass bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts (und dies
wurde bereits im Code Napoléon, dem ersten bürgerlichen Gesetzbuch nach der frz. Revolution,
deutlich) und dann aber verstärkt in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Prozess durchgreifender Autonomisierung, Individualisierung sowie Pluralisierung des Familienlebens (mit einer
dramatischen Veränderung der Generationen- und Geschlechterverhältnisse) in Gang kam, dem
aber gleichzeitig eine wachsende Vergesellschaftung primärer Lebenszusammenhänge einherging.
Damit hat sich regelrecht eine paradoxalen Entwicklungsdynamik zwischen dem Schutz der
familialen Privatsphäre und den wachsenden Ansprüchen und Eingriffen professioneller Umgebungssysteme, nicht zuletzt des Staates, in den Familienzusammenhang ergeben. Familie wurde
auf diese Weise unabhängiger (privater) und zugleich abhängiger (öffentlicher).13 Für ein gutes
Aufwachsen von Kindern sind daher vor allem (»zuvörderst«, wie es im Grundgesetzt heißt) die
Eltern verantwortlich, aber bereits mit Beginn der Schwangerschaft, rund um die Geburt und
dann weiterhin in der Kindheit und Jugend werden in wachsendem Maße professionelle Systeme
(von der Geburtsklinik. den kinderärztlichen Praxen über die Kindertageseinrichtungen, die
Jugendämter, die Schulen, die Eltern- und Familienberatungsstellen bis hin zu den KinderschutzZentren und kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken) wichtig, die die Familie unterstützen und
begleiten, die sie aber zugleich überwachen und kontrollieren und in die sie mit Macht eingreifen.
Beide Seiten haben dabei Rechte und Pflichten. Dennoch haben sich historisch im Prozess der
Vergesellschaftung familialer Sozialisation immer wieder Asymmetrien im Verhältnis von Familie
und staatlichen und professionellen Einrichtungen ergeben, wuchs die Eingriffsmacht der Akteure
12 Hünersdorf, B. (2011). Soziale Arbeit in der (Un-)Sicherheitsgesellschaft. Eine Theorie von Sozialer Arbeit braucht
eine Sozialtheorie von Gesellschaft. In: BAG der Kinderschutz-Zentren (Hrsg.), Hilfe ...! Über Wirkungen, Risiken und
Nebenwirkungen im Kinderschutz. (S.15-36). Köln: Die Kinderschutz-Zentren. Siehe auch: Singelnstein, T., Stolle,
P. (2008)2. Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert. Wiesbaden: VS Verlag. Schirmer, W.
(2008). Bedrohungskommunikation: Eine gesellschaftstheoretische Studie zu Sicherheit und Unsicherheit. Wiesbaden: VS Verlag. Münkler, H. (2010): Strategien der Sicherheit. Welten der Sicherheit und Kulturen des Risikos.
Theoretische Perspektiven. (S.11-35) In: Münkler, H., Bohlender,M., Meurer, S. (Hrsg.). Sicherheit und Risiko: Über
den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert. Bielefeld.
13 S. auch: Bütow, B., Pomey, M., Rutschmann, M, Schär, C., Studer, T. (Hrsg.) (2014). Sozialpädagogik zwischen Staat
und Familie. Alte und neue Politiken des Eingreifens. Wiesbaden.
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von außen, wurde Familie ein Objekt gesellschaftlicher und staatlicher »Ordnung«, indem sie
einem »Vormundschaftskomplex« unterworfen wurde, wie in der berühmten Untersuchung des
französischen Sozialforschers Jaques Donzelot kritisch heraus gestellt wurde:
»Die Prozeduren, die die Transformationen der Familie bewerkstelligen, schaffen zugleich auch
die modernen Integrationsformen, die unseren Gesellschaften ihren eigentümlichen Polizeicharakter geben. Und die berühmte Krise der Familie, in die sie mit ihrer Befreiung gerät, erschiene
damit nicht so sehr als ein der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung zuwiderlaufendes
Moment denn als eine ihrer Entstehungsbedingungen.
Die Familie ist eine Instanz, die weder zerstört noch fromm bewahrt zu werden braucht, sondern deren Heterogenität gegenüber sozialen Anforderungen reduziert oder funktionalisiert
werden kann, indem man ein Flottierungsverfahren zwischen sozialen Normen und den Werten
der Familie in Gang setzt. Genauso wie sich zur gleichen Zeit ein funktionaler Kreislauf zwischen
Sozialem und Ökonomischem ausbildet.«14
Dabei wirken die Öffentlichkeit, die Berufssysteme, Politik und Staat auf die Familien ein:
»Der Staat überwacht die demografischen Entwicklungen sowie die Verbreitungen von
Krankheiten und Todesfällen, er sanktioniert eine normalistische Lebensweise und unterwirft
die physischen und psychischen Abweichungen der Überwachung und Ausgrenzung. Die Öffentlichkeit entwickelt ein Interesse an der medizinischen Reinheit und Gesundheit des Blutes oder
des Genmaterials, am Gebär- und Zeigungsverhalten der Frau und der Ehepartner wie an den
familialen Gesundheitspraktiken, die nicht nur zur Zerstörung der Familien führen, sondern auch
zu einer Belastung für das Gemeinwesen werden können. Die Kulturindustrie entwirft weltweit
verbreitete Modelle heterosexueller Intimität vom ersten Flirt bis zur Kindererziehung. Diese
Modelle schaffen nicht nur eine Bilderwelt, sondern stellen eine kollektive kulturelle Praxis dar,
die aus so verschiedenen Elementen wie Kosmetika, Kleidung, Illustrierten, Schönheitswettbewerben, Ernährungsgewohnheiten, Kommunikationsmustern und Sexualpraktiken besteht.
Die Paarbeziehung und die Familie sind also bis in die intimsten Praktiken hinein nicht privat,
sondern eine öffentlich kontrollierte, überwachte und regulierte Einrichtung.«15
Kinderschutzfachkräfte müssen dieses vielgestaltige und oft widersprüchliche Ineinander von
familialen, gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und professionellen Kontexten balancierend
im Blick haben, ohne die Lebenswelt nurmehr zu kolonialisieren und zu manipulieren. Sie müssen
sich vielmehr als intersystemische Brückenbauer bewähren, indem sie sowohl die Selbständigkeit,
die Freiheit und das Wohl der Eltern und Kinder als auch die Ansprüche und Interessen des
demokratischen Gemeinwesens im Blick haben, um Gemeinwohl und soziale Gerechtigkeit zu
fördern und zu sichern. Flexible Balance statt Spaltungen in komplexen Konfliktlagen und vor
allem Mehrseitigkeit statt Einseitigkeit in der Begegnung und im Dialog von Lebenswelt und
Institutionen sind darum Eckpfeiler guter Fachpraxis.
(3) Es hat sich schließlich ein drittes wesentliches Dilemma ergeben: das Entwicklungsdilemma
der modernen Professionssysteme selbst. Den wachsenden Erwartungen an die Professionssysteme geht nämlich eine wachsende Enttäuschung gegenüber den Leistungen der expandierenden
modernen Berufssysteme einher, zumal, worauf oben bereits hingewiesen wurde, wenn sie es
in ihrer Praxis – wie generell in der Kinder- u. Jugendhilfe und vor allem im Kinderschutz – als
transdisziplinäre professionelle Zwischensysteme strukturell mit »Grenzobjekten« und mit
strukturellen Unsicherheitsbedingungen und hoher Kontingenz zu tun haben, die sich zwar
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14 Donzelot, J. (1979). Die Ordnung der Familie. Frankfurt a.M.: 21 f.
15 Demirovic, A. (2004): Hegemonie und das Paradox von privat und öffentlich. In: http://www.republicart.net/disc/
publicum/demirovic01_de.pdf (Zugriff: 02.07.2015). S. auch: Hünersdorf, B. (2015). (Un)sichtbar kindgerecht. Privatheit und Öffentlichkeit von Familie. In: Die Kinderschutz-Zentren (Hrsg.), KINDGERECHT. Verändertes Aufwachsen
in einer modernen Gesellschaft. (S. 293-316). Köln: Die Kinderschutz-Zentren.
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beeinflussen, aber nicht sicher steuern lassen.16 Die Lücke zwischen diesen wachsenden (und
natürlich von Wissenschaft und Technik ständig angetriebenen und immer stärker werdenden)
Fortschrittserwartungen und der tatsächlichen Leistung ist im Kinderschutzsystem gerade in
den letzten Jahren immer größer geworden. Der Grund hierfür ist nicht zuletzt, dass zuerst hier
und da, inzwischen aber bereits weltweit, ungebremst die irrwitzige Forderung nach unbedingter Gewährleistung einer umfassenden Risikokontrolle und einer alle Kinder einschließenden
Sicherheit – in Familien und Institutionen – erhoben und propagiert wird, ohne dass die Zahl
und Qualität von Kinderschutzeinrichtungen entsprechend mitgewachsen sind. Ganz abgesehen
davon, ob solche Ansprüche überhaupt sinnvoll wären oder sogar als totalitär abzulehnen sind,
muss man zur Kenntnis nehmen, dass sie bei den heute begrenzten verfügbaren Mitteln und
Möglichkeiten (an Personal und Ressourcen) von den Kinderschutzeinrichtungen gar nicht erfüllt
werden können. Das wird von den modernen Kinderschutzpropagandisten und den tatsächlichen
Kinderschutzklientinnen und –klienten aber nicht zur Kenntnis genommen. Kein Wunder, dass die
Unzufriedenheit und Kritik gegenüber den Kinderschutzeinrichtungen wächst. Nicht zuletzt hat
allerdings auch der von Juristen und Politikern propagierte »Mythos von der Garantenpflicht«17,
die von Kinderschutzfachkräften und insbesondere von Jugendämtern zu erfüllen sei, nicht nur
zu einem Stress und Angst machenden strafrechtlichen Bedrohungsszenarium geführt sondern
auch zu wachsender Skepsis und Enttäuschung gegenüber den Kinderschutzeinrichtungen selbst.
Das deutlich ausgeprägte Negativimage von Kinderschutzeinrichtungen ist jedenfalls dadurch
noch verstärkt worden.
Alle drei Entwicklungsdilemmata (das soziale, das familiale und das professionelle) machen
dem modernen Kinderschutzsystem zu schaffen. Sie prägen als wesentliche Konfliktstrukturen
das hintergründige Bedingungsgefüge der aktuellen Entwicklungslinien und Belastungen, die
im Praxisfeld des Kinderschutzes zu beobachten sind.
3
Entwicklungslinien und Belastungen im Praxisfeld
Wenn wir aktuelle Entwicklungen und Belastungen im Praxisfeld des modernen Kinderschutzes
einschätzen wollen, sind wir inzwischen glücklicherweise nicht mehr nur auf die eigenen, notwendigerweise begrenzten Felderfahrungen angewiesen. Denn gerade seit der Wende zum 21.
Jahrhundert sind in Deutschland, wie auch in anderen europäischen Ländern und nicht zuletzt
in den USA, wichtige empirische Forschungen zum Stand und zur Entwicklung der Kinderschutzsysteme in Gang gekommen, die – wenn sie i.d.R. auch keine empirische Langzeitstudien
darstellen – doch materialreiche Analysen von Strukturen und Dynamiken im Kinderschutz
erbracht haben.
So ist einmal von I. Gissel-Palkovich und H. Schubert der Wandel des Allgemeinen Sozialen
Dienstes der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe als Kernorganisation des modernen Kinderschutzes in den Blick genommen worden.18
16 Vgl. Hirschman, A. O. (1984). Engagement und Enttäuschung. Über das Schwanken der Bürger zwischen Privatwohl
und Gemeinwohl. Frankfurt am Main.
17 Mit Recht fordert Thomas Mörsberger darum einen Richtungswechsel im Kinderschutz. Vgl. Mörsberger, T. (2015).
»Wir brauchen einen Richtungswechsel!«. Thesen und Anmerkungen zur Entwicklung des Kinderschutzes ausgehend von schwierigen und insbesondere von besonders spektakulären Kinderschutzfällen (S.39-49). In: BAG der
Kinderschutz-Zentren (Hrsg.), KINDGERECHT. Verändertes Aufwachsen in einer modernen Gesellschaft. Köln: Die
Kinderschutz-Zentren.
18 Gissel-Palkovich, I., Schubert, H. (2015). Der Allgemeine Soziale Dienst unter Reformdruck. Interaktions- und
Organisationssysteme des ASD im Wandel. Baden-Baden.
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Weiter wurde im Sonderforschungsbereich 580 der DFG mit dem Teilprojekt C3 – Jugendhilfe in Transformationsprozessen von Bruno Hildenbrand und seinen Mitarbeitern die Organisationsstruktur und das professionelle Handeln sozialer Dienste bei Kindeswohlgefährdung
feldanalytisch untersucht und gefragt, welche Handlungsstile oder Handlungsmuster und welche
Handlungslogiken im Kinderschutz eine Rolle spielen. Dabei konnte gezeigt werden, dass die
Handlungsmuster der »maximalen Reaktion (mit Reingehen, Rausholen, stationärer Unterbringung« oder der »wachsamen / vigilanten Aufmerksamkeit« bzw. einer »minimalen Reaktion aus
der Distanz: mit Abwarten oder einem Klienten ignorierenden Aktivismus« und dass die Logiken
»des Verdachts, der Anerkennung, der Ignoranz und des organisatorischen Aktivismus« eine
Rolle spielen. Kritisch wurde allerdings heraus gearbeitet, dass »eine die eigene Professionalität
zur Geltung bringende und die spezifische Lösungskompetenz sichtbar machende ‚Routine’ der
Krisenbewältigung bei einer Kindeswohlgefährdung im Jugendamt bzw. in der Bezirkssozialarbeit
nur rudimentär erkennbar ist.«19
Das Kasselaner Forschungsprojekt »Usoprax« um Werner Thole hat die Handlungsmuster im
Feld des Kinderschutzes, vor allem die Brüche und Unsicherheiten in der sozialpädagogischen
Praxis in den Blick genommen und hat seine Ergebnisse im November 2010 auf einer Tagung
»Helfen, aber wie? Professionelle Praxen in Fällen der Kindeswohlgefährdung« vorgestellt.
Die Beiträge, die auf dieser Tagung gehalten wurden, sind inzwischen 2012 als Buch mit dem
Titel »Sorgende Arrangements« veröffentlicht worden, der abschließende Forschungsbericht
allerdings noch nicht.20
Eine weitere Arbeitsgruppe mit dem Thema »Kindeswohl und Sozialintervention« an der
Universität Kassel um den Soziologen Ingo Bode hat im gleichen Jahr die Ergebnisse ihres
multidisziplinären Dialogs vorgelegt, der sich auf Kinderschutz »erstens als ein normatives,
rechtlich kodifiziertes Postulat, zweitens als Prozess der Intervention (durch organisierte bzw.
beruflich involvierte Akteure), drittens als Ensemble praxisorientierter Konzepte, welches auf
das Postulat und die Methode dieser Intervention bezogen ist«, richtete und der untersuchte,
welche Rationalitäten im diesem Feld am Werk sind.21
Empirisch gehaltvoller ist allerdings der darauf folgende Beitrag von Bode und Turba, der die
Kasselaner Ergebnisse des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (2010 bis 2013) geförderten »Skippi-Projekts« (Sozialsystem, Kindeswohlgefährdung und Prozesse professioneller
Interventionen) mit soziologischer Fokussierung auf eine Felduntersuchung der Realität des
organisierten Kinderschutzes (mit der Frage nach den »Systemzuständen« des Kinderschutzes
und deren dynamische Entwicklung) ausführlich erläutert.22 Die Ergebnisse der Wuppertaler
Arbeitsgruppe des Skippi-Projekts zum Schwerpunkt »Professioneller Zugriff auf den privaten
Kindes-Raum – Bedingungen, Dynamiken, Barrieren« um Doris Bühler-Niederberger sind noch
nicht veröffentlicht, Teilergebnisse allerdings schon.23
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19 Vgl. zusammenfassend: Hildenbrand, B. (2011). Hilfe zwischen Kontrollauftrag und Hilfebeziehung. Wirkungen,
Nebenwirkungen und Perspektiven. In: BAG der Kinderschutz-Zentren (Hrsg.), Hilfe...! Über Wirkungen, Risiken
und Nebenwirkungen im Kinderschutz. (S. 45-66, hier S. 53). Köln: Die Kinderschutz-Zentren.
20 Thole, W, Retkowski, A., Schäuble, B. (Hrsg.) (2012). Sorgende Arrangements. Kinderschutz zwischen Organisation
und Familie. Wiesbaden.
21 Daher auch der Titel des Beitrages: T. Marthaler, P. Bastian, I. Bode & M. Schrödter (Hrsg.) (2012): Rationalitäten
des Kinderschutzes. Kindeswohl und soziale Interventionen aus pluraler Perspektive. Wiesbaden.
22 Vgl. Bode, I., Turba, H. (2015). Organisierter Kinderschutz in Deutschland. Strukturdynamiken und Modernisierungsparadoxien. Wiesbaden.
23 Z. B.: Bühler-Niederberger, D., Alberth, L. & Eisentraut, S. (2014). Das Wissen vom Kind – generationale Ordnung
und professionelle Logik im Kinderschutz. In: B. Bütow et al. (Hrsg.), Sozialpädagogik zwischen Staat und Familie.
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Ich selbst habe zusammen mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von 2009 – 2011
im Forschungs- und Qualitätsentwicklungsprojekt »Aus Fehlern lernen – Qualitätsmanagement
im Kinderschutz« unter der Beteiligung von 41 kommunalen Kinderschutzsystemen mit dem
Jugendamt als ihrer Kernorganisation im Auftrag des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen eine
umfangreiche qualitative Untersuchung durchgeführt, die Programme Dialogischer Qualitätsentwicklung und Qualitativer Sozialforschung im Feld kommunalen Kinderschutzes miteinander
verband, deren Ergebnisse wir 2013 vorlegten.24 Dabei gingen wir von der Grundannahme aus,
dass es sich in der Kinderschutzarbeit um eine Praxis handelt, die strukturell von »Ungewissheitsbedingungen« und »multikomplexer Kontingenz« charakterisiert ist, an der zahlreiche Akteure
mit unterschiedlichen Interessen, Haltungen und Einstellungen, Wissensstrukturen und Kompetenzen, Handlungsmustern und Handlungslogiken sowie unterschiedlicher Ausprägung von
Kooperationsbereitschaft und Kooperationswiderstand beteiligt sind. Darum wollten wir klären:
Wie können Kinderschutzeinrichtungen in einer dergestalt risikogefährdeten Praxissituation mit
zu erwartenden Entscheidungsfehlern umgehen und wie kann eine fortwährende Reflexion von
Kontexten, Situationen und kommunikativen Prozessen im Hilfeprozess gewährleistet werden,
um Qualität weiterzuentwickeln und zu sichern, d.h. wie lassen sich latente Fehler erkennen
und vermeiden? Welche Ansätze des Qualitäts- und Fehlermanagements werden überhaupt
entwickelt, umgesetzt und angewandt?
Insbesondere hat uns interessiert:
• WassinddieRahmenbedingungenderKinderschutzarbeitvorOrtinsbesonderebeimTräger
der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe?
• WelcheKonzepteundVerständnissevonKinderschutzsowievonQualitäts-undFehlermanagement spielen in der kommunalen Kinderschutzarbeit eine Rolle?
• WiewerdendieentwickeltenKonzeptevondenBeteiligtenrealisiert,angewandtundinihrer
Relevanz eingeschätzt?
• WelcheProbleme,Schwierigkeiten,BelastungenundFehler,aberauchChancenundErfolge
werden bei der Umsetzung der kommunalen Kinderschutzaufgaben erkennbar und wie gehen
die Beteiligten mit den daraus entstehenden Herausforderungen um?
• WelcheHinweiselassensichimHinblickaufdieUmsetzungdieserKonzepteundVerfahren,
ihrer Relevanz und ihrer Anwendung in der kommunalen Kinderschutzarbeit herausstellen?
• WelcheQualitätsindikatorenergebensichdarausfürdiekommunaleKinderschutzarbeit?
• WelcheVorschlägefürdieWeiterentwicklungundQualitätssicherungderKinderschutzarbeit
in Deutschland lassen sich daraus ableiten? (Wolff u.a., 2013: 60)
Ich bündele wesentliche Entwicklungstrends und Belastungen in der Kinderschutzarbeit:
In der modernen Kinderschutzarbeit ist eine regelrechte Zwickmühle zwischen der Anspruchserhöhung und Expansion und den Prozessen wachsender Enttäuschung über ihre Leistungen
entstanden, muss sie sich eingestehen, dass sie – vor allem mit ihrem überzogenen ›Universalanspruch‹, alle »als kritisch geltende, mit Gewalt und Vernachlässigung einhergehende Sozialisationsprozesse auszuschalten« – an »Wirkungsgrenzen« stößt und immer wider strukturell überfordert ist. (Bode u. Turba, 2014: 2) Bei wachsender Anspruchserhöhung und trotz wachsender
Kosten und weiterer Personalvergrößerung ist die fachliche Qualität der Kinderschutzarbeit
nicht entsprechend mitgewachsen oder sie sinkt sogar – vor allem im öffentlichen Bereich der
Kinder- und Jugendhilfe. Das Kinderschutzsystem soll immer mehr Aufgaben bei wachsender
Armut und verschärften sozio-kulturellen Ausgrenzungen in moderner Gesellschaft übernehmen (die Frühen Hilfen stark machen, rund um die Uhr erreichbar sein, gefährdete Kinder und
24 Wolff, R., Flick, U., Ackermann, T., Biesel, K., Brandhorst, F., Heinitz, S., Patschke, M. u. Röhnsch, G. (2013). Aus
Fehlern lernen – Qualitätsmanagement im Kinderschutz. Konzepte, Bedingungen, Ergebnisse, hg. vom NZFH.
Opladen, Berlin, Toronto.
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Jugendlichen unverzüglich schützen, die Wiederholung von Gefährdungen verhüten, ambulante
Hilfemaßnahmen und Kriseninterventionen, wie z. B. Inobhutnahmen und außerfamiliale Unterbringungen in Gang setzen und tödliche Kindesmisshandlungs- und Vernachlässigungsfälle
zuverlässig ausschließen) und zugleich ein Anwachsen der Kosten vermeiden. Das kann nicht
gelingen.
Insofern sieht sich die Kinderschutzarbeit vor (über)große Herausforderungen gestellt: strategisch und programmatisch, methodisch und organisationell. Dabei ist sie in ein Fahrwasser
geradezu »paradoxer wie prekärer Modernisierungsprozesse« geraten, in denen ein »Drang zu
perfektionierter Weltbeherrschung« und »Risikokontrolle« ebenso eine Rolle spielen wie manageriale bürokratische und instrumentell technische Steuerungskonzepte (mit der Einführung
von Checklisten zur devianzklassifikatorischen Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen,
IT-gestützten Dokumentationssystemen und grün, grau und roten Verfahrensablaufschemata)
und nicht zuletzt eine normative »Aufwertung von Menschenrechtsdiskursen« (vgl. auch: Bode
u.Turba, 2014: 8) mit deutlicher Betonung von Kinderrechten und Kinderinteressen.25
Jedenfalls ist das Kinderschutzsystem – massenmedial und politisch – stark unter Außendruck
geraten, wobei sich erhöhte und nicht selten überzogene Ansprüche mit scharfen Vorwürfen
mischen. Vor allem ist die Kinderschutzarbeit der Kinder- und Jugendhilfe – vor allem des
Jugendamtes – ins Visier medialer, politischer und professioneller Entwertungskampagnen
geraten,26 denen die Kinderschutzfachkräfte aufgrund der Schwäche an programmatischer
Selbststeuerung und einer Infragestellung ihrer professionellen Deutungshoheit über ihre Praxis
wenig entgegensetzen konnten.
Was den Praxisalltag des modernen Kinderschutzes betrifft, beobachten die dort tätigen Akteure ebenso wie Außenbeobachter, dass es sich beim aktuellen Kinderschutz faktisch um eine
»Dauerbaustelle«, um »Improvisation als Normalzustand«27 handelt und dass sehr unterschiedliche sozialstrukturelle Bedingungen in den einzelnen Regionen, bei der öffentlichen Kinder- und
Jugendhilfe wie bei den Freien Trägern, und unterschiedliche organisationale Handlungsbedingungen eine Rolle spielen (mit altersheterogenen Teams mit unterschiedlichen Erfahrungen,
fachlichen Orientierungen und Kompetenzen, vielen neuen Mitarbeiter/innen und einer starken
Personalfluktuation in einzelnen Teams, jedenfalls aber mit hoher zeitlicher, fachlicher und
emotionaler Belastung, mit Press und Stress durch die Fallarbeit, was zu nicht unerheblichen
Krankheitsausfällen und zu vordergründigen Strategien des Umgangs mit Belastungen führe).
Überhaupt fällt auf: Anstatt im Kinderschutz eine Handlungslogik der Anerkennung stark
zu machen (in der gilt, einander wertzuschätzen, nachzudenken und aufmerksam und wachend
abzuwarten und unterstützend einzugreifen und zu helfen), haben sich andere Handlungslogiken
bei den Kinderschutzfachkräften breit gemacht, wie z. B. die Handlungslogik des Verdachts (mit
Ermitteln, autoritärem Eingreifen, Herausnehmen, um Kinder und sich selbst zu schützen) bzw.
die Handlungslogik der Ignoranz (mit einer minimalen Reaktion aus der Distanz / ratlosem u.
gedankenlosem Rumwerkeln, Laufenlassen, nur mit sich selbst beschäftigt zu sein, technologisch
aufzurüsten bzw. eine reflektierte professionelle Beziehung zu verweigern).28
Heft 73/2016
Essays
25 S. insbesondere die beiden in diesem Zusammenhang wichtigen Beiträge: Liebel, M. (2013). Kinder und Gerechtigkeit. Über Kinderrechte neu nachdenken. Weinheim u. Basel. Liebel, M. (2015). Kinderinteressen. Zwischen
Paternalismus und Partizipation. Weinheim u. Basel.
26 S. insbesondere die Ghostwriterschrift der Berliner Mediziner: Tsokos, M., Guddat, S. (2014). Deutschland misshandelt seine Kinder. München.
27 Bode & Turba, 2014, a.a.O.: 352.
28 Vgl.: Hildenbrand, B. (2011). Hilfe zwischen Kontrollauftrag und Hilfebeziehung. Wirkungen, Nebenwirkungen und
Perspektiven. In: BAG der Kinderschutz-Zentren (Hrsg.), Hilfe ...! Über Wirkungen, Risiken und Nebenwirkungen im
Kinderschutz. (S. 45-66)
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4 Chancen dialogischer Qualitätsentwicklung
Hierzulande wie auch in anderen Ländern steht der moderne Kinderschutz offensichtlich an
einem Kreuzweg und die Kinderschutzfachkräfte müssen sich fragen:
(1) Wie bestimmen sie ihre fachliche organisationale und persönliche Rolle und Aufgabe, Hilfe
u. Unterstützung von Kindern, Jugendlichen u. Eltern in großer Not zu leisten, die diese Hilfe in
der Regel nicht freiwillig suchen, die sie oft ablehnen und häufig als weitere Problemzuspitzung
erleben?
(2) Wie schaffen sie die dafür nötigen Unterstützungssysteme (im Team, in der Einrichtung, im
inter-organisationalen Feld) und entwickeln erfolgreiche Programm und Methoden?
(3) Wie untersuchen sie ihre Praxis, wie lernen sie weiter und entwickeln ihre Kompetenzen,
wie fördern sie ihre Zufriedenheit und Gesundheit und wie steigern sie Qualität und Erfolg in
ihrer Arbeit?
An einem Kreuzweg zu stehen, ist aber auch eine Chance. Man ist noch nicht in einer Sackgasse gelandet, sondern man hat die Wahl zu entscheiden, in welche Richtung man gehen will.
Insofern kann und muss der moderne Kinderschutz entscheiden, in welche Richtung er sich
weiterentwickeln will. Zwei Entwicklungsrichtungen stehen dabei zur Wahl:
Die Richtung der Stärkung eines ganzheitlichen demokratischen Hilfesystems, mit gut qualifizierten Fachkräften, die im Bündnis mit den Hilfeteilnehmern ein multi-disziplinäres soziales
Netzwerk bauen, das die Rechte, Pflichten und Verantwortungen aller Akteure achtet und fördert.
Die Richtung des weiterer Ausbaus eines autoritären, ent-demokratisierten, in Bildungsförderung und Risikocontainment gespaltenen, sozialen Hilfesystems, das die Fachkräfte in neomangeriale bürokratische Steuerungsverfahren einbindet und die Partizipation aller Akteure
gering achtet und verfehlt und das zu repressiven Verhaltensmanipulationen neigt.
Als dialogischer demokratischer Qualitätsentwickler kann eine Entscheidung nicht schwerfallen, in welche Richtung zu gehen chancenreich wäre, wie ich in mehreren Beiträgen deutlich
gemacht habe.29
Erfahrungen im Kontext des »neuen« Kinderschutzes, wie sie in den vergangenen Jahren im
multidisziplinären Dialog immer wieder auf den alle 2 Jahre stattfindenden Kinderschutz-Foren
vorgestellt und erörtert wurden, können dabei ebenso genutzt werden wie kritische Ansätze aus
dem Ausland.30 Und gern wiederhole ich, wie man dabei ansetzen kann:
(1) Wir können uns selbst als Akteure erkennen und aufhören, uns in passive Opferrollen
drängen zu lassen und stattdessen selbst als verantwortlich Handelnde aktiv werden.
29 S. insbesondere: Wolff, R. (2010). Von der Konfrontation zum Dialog. Kindesmisshandlung – Kinderschutz –
Qualitätsentwicklung, hg. von Georg Kohaupt. Köln: Die Kinderschutz-Zentren. Biesel, Kay / Wolff, Reinhart Wolff
(2014). Aus Kinderschutzfehlern lernen. Eine dialogisch-systemische Rekonstruktion des Falles Lea-Sophie. Bielefeld: transcript Verlag. Wolff, R. / Ackermann, T. / Biesel, K. / Brandhorst, F. / Heinitz, S./ Patschke, M. (2013).
Dialogische Qualitätsentwicklung im kommunalen Kinderschutz. Praxisleitfaden, hg. vom NZFH. (Beiträge zur
Qualitätsentwicklung im Kinderschutz 5.). Köln: NZFH. Wolff, R. /Flick, U. / Ackermann, T. / Biesel, K. / Brandhorst,
F. / Heinitz, S./ Patschke, M. / Robin, P. (2013). Kinder im Kinderschutz – Zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen im Hilfeprozess – Eine explorative Studie, hg. vom NZFH. (Beiträge zur Qualitätsentwicklung im Kinderschutz
2). Köln: NZFH. Wolff, R. (2014). Kinderschutz. In: Düring, D. /Kraus, H.U. /Peters, F. /Rätz, R. /Rosenbauer, N. /
Vollhase, M. (Hrsg.): Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. (S. 184-192). Frankfurt a. M.
30 S. insbesondere: Lonne, B., Parton, N., Thomson, J., Harries, M. (2009). Reforming Child Perotection. London, New
York: Routledge. Renoux, M.-C. (2008). Réussir la protection de l’enfance. Avec les familles en précarité. Paris:
Les Éditions de l’Atelier/Éditions Ouvrières. S. auch die Sondernummer der Zeitschrift Child Abuse and Neglect:
McLeigh, J.D. (Ed.) (2013). Beyond Formal Systems of Care: Broadening the Ressources for Child Protection. In:
Child Abuse and Neglect. Special Supplement Issue. Vol. 37 (Supplement, Dec. 2013).
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(2) Wir können Andere (vor allem Eltern, Kinder und Jugendliche, aber auch andere Fachkräfte in den Berufssystemen und in der Öffentlichkeit, Bürgerinnen und Bürger und politisch
Verantwortliche) als Akteure erkennen und als Partner/innen und Koproduzenten wertschätzen,
sie nicht auf Opfer- oder Täterrollen festlegen, sie auf Augenhöhe einbeziehen und mit ihnen
zusammen arbeiten.
(3) Wir können lernen, unsere Teams und die eigene Organisation, vor allem aber die Fälle
und die Fallprozessgestaltungen gemeinsam besser zu verstehen und kritisch zu untersuchen
und achtsam umzugestalten.
(4) Wir können aus Fehlern und Erfolgen lernen.
(5) Wir können eine Dialogische Qualitätsentwicklung im kommunalen Kinderschutzsystem
/mit einem Jugendamt und seinen Kooperationspartnern, mit den Hilfeteilnehmern und nicht
zuletzt mit Akteuren im Gemeinwesen planen, ins Werk
setzen und kritisch evaluieren, um neue Wege erfolgreicher Kinderschutzpraxis zu ermöglichen.
(6) So können wir zu »Handwerkern der Demokratie«31 werden, die tri-polar das Kindeswohl,
das Eltern- und Familienwohl und das Gemeinwohl fördern und schützen.
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Essays
Abstract
Insecurity and risk are central catchwords to characterize globalized capitalist societies where
at the same time child abuse and child protection have become medialized and scandalized top
issues that have changed child welfare world-wide. In the analysis of these trends the author can
show that social work has arrived at a cross-road where the involved professional systems must
decide where to go: towards a punitive risk containing programmatic perspective or towards
choosing a democratic dialogical orientation that is committed to support a comprehensive
service approach to further the well-being of families, children and young people.
31 Rosenfeld, J.M., Tardieu, B. (2000). Artisans of Democracy. How Ordinary People in Extreme Poverty and Social
Institutions Become Allies to Overcome Social Exclusion. Lanham, New York, London.
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Rezensionsaufsätze
Einzelbesprechungen
Einzelbesprechungen
Peter Hammerschmidt/Ute Kötter/Juliane Sagebiel (Hrsg.): Die Europäische Union und die
Soziale Arbeit (Schriftenreihe Soziale Arbeit der
Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften
der Hochschule München, Band 7). Neu-Ulm: AG
SPAK Bücher 2016. 178 S., 16,- €
jeweils historisch ausgreifend und fundiert, was
auch in kurzen Beiträgen möglich ist.
Mit Europa ist gegenwärtig kein Staat zu machen. Der erstarkende Nationalismus als Reaktion auf die sozialen und kulturellen Verwüstungen durch den Neo-Liberalismus weht nicht nur
im »Brexit« dem »vereinten« Europa ins Gesicht. Schon lange war in kritischen Analysen erwartet worden, dass die radikale Dominanz des
Ökonomischen in der Europäischen Integration und Erweiterung auf Dauer nicht gut gehen
kann. War schon in den Gründungsverträgen der
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die Bildung des Binnenmarkts das zentrale Ziel, so war
das Leitbild »Europa« in den Nachkriegszeiten
mit Vorstellungen der politischen Friedensförderung amalgamiert und wurde im Antikommunismus mit Freiheitsvorstellungen aufgeladen.
Und in der Systemkonkurrenz des gespaltenen
Europas wurden sozialpolitische Fortschritte
mit der europäischen Integration verbunden.
Fortschreitend und nicht durch eine Teildemokratisierung aufzuhalten entwickelten sich die
Staaten gegeneinander als reine Wettbewerbsstaaten in der Konkurrenz als Investitionsstandorte und als Steueroasen. Dass beispielsweise
Irland seinen wirtschaftlichen Aufstieg einem
Steuersatz von 0,005 % (im Fall von Apple)
verdankte, hat selbst die EU-Kommission unter
Jean-Claude Juncker, der früher Luxemburg zur
Steueroase ausgebaut hatte, erschreckt.
Doch die aktuellen Debatten und politischen
Verschrecktheiten täuschen darüber hinweg,
dass die Europäische Union institutionell Europa tiefgreifend verändert hat. Dies hat sich
in einem stetigen Prozess in Jahrzehnten herausgebildet und die Lebenslage der Europäer
mehr verändert als sie es selbst wahrnehmen.
Wie steht es in diesem Prozess mit der Sozialen Arbeit? Dieser Frage stellt sich der vorliegende Sammelband auf der Grundlage großer
Sachkenntnis der Autor*innen. Sie analysieren
den Prozess der Institutionalisierung Europas
Die Herausgeber*innen geben im ersten Beitrag einen guten Überblick zur Entwicklung der
Sozialpolitik in der Europäischen Union. Der
juristische und institutionelle Schwerpunkt der
Darstellung verdeutlicht die Dynamiken, die
zunächst einen durchaus ambivalenten Effekt
der Förderung und Begrenzung des Sozialen
hervorgebracht haben, in neuester Zeit aber,
insbesondere unter dem Einfluss der Kommission Barroso, das europäische Wettbewerbs- und
Vergaberecht eine radikale Marktlogik durchgesetzt hat.
Ingeborg Tömmel greift in ihrem Beitrag den
institutionellen Aspekt auf und analysiert die
EU als eine »Kreatur mit zwei Köpfen«, nämlich einer zugleich supranationalen Macht und
intergouvernementalen
Aushandlungsarena.
Gleichzeitig erweitern die Regierungschefs im
Europäischen Rat ihre Zuständigkeiten und
die Kommission profiliert ihre operative Macht.
Die EU bräuchte für ein gutes Funktionieren
eine Balance zwischen diesen »Köpfen«, doch
blockiert die aufwendige Aushandlung im Europäischen Rat Manches. Zugleich sind die Ungleichgewichte im Europäischen Rat angesichts
der besonderen Dominanz Deutschlands konfliktgenerierend. Die Analyse der politischen
Institution EU zeigt, dass weniger spezifische
Eingriffe für die Soziale Arbeit relevant sind,
sondern sich erhebliche restringierende Rückwirkungen aus der Dominanz der Wirtschaftsund Währungsunion, der Austeritätsstrategie
unter Führung Deutschlands und dem marktradikalen Wettbewerbsrecht ergeben.
Hans-Jürgen Bieling betrachtet die Europäische Union mit den Mitteln einer politökonomischen Analyse und bezeichnet sie als »postmodernes Imperium«. Dieses Imperium hat in den
unvollständigen Integrationsformen zugleich
die Desintegrationsprozesse hervorgebracht,
die heute zu einer Krise der Europäischen Integration geführt haben. Der europäische Finanzmarktkapitalismus ist krisenanfällig, funktioniert nach den Gesetzen des Marktes und kann
nur bei Unterwerfung unter dessen Bedingun-
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gen »gesteuert« werden. Zwar sind gleichzeitig
teilstaatliche Regierungsinstitutionen und im
Ansatz eine europäische Zivilgesellschaft entstanden, doch kann die Steuerungsfähigkeit des
früheren Nationalstaats nicht erreicht werden.
In der Finanzkrise Europas hat sich das Zentrum Europas besonders herauskristallisiert und
begonnen, die Peripherie demonstrativ zu beherrschen. Davon kann Griechenland ein Lied
singen. Die gegenwärtige Krisenkonstellation
enthält sowohl die Möglichkeit einer ausgeglicheneren Entwicklung als auch die eines verschärften Zentralismus mit seiner ihm eigenen
Widersprüchlichkeit und zentrifugalen Dynamiken. Der Begriff des »Imperiums« scheint nicht
nur deswegen angemessen zu sein, weil die innere Struktur der EU von regionalen Disparitäten
bestimmt wird und das Versprechen der EWGGründungsverträge, einen »Fortschritt auf dem
Wege der Angleichung« bewirken zu können,
destruiert ist, sondern auch deshalb, weil die
wirtschaftlichen Außenbeziehungen, beispielsweise zu Afrika hin, imperialen Charakter angenommen haben.
Eine Grundsatzfrage mit hochaktuellem
Bezug behandelt Ute Kötter unter dem Titel
»Hartz IV für alle EuropäerInnen?«. Es geht
um die sozialpolitischen Konsequenzen der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Insbesondere der Europäische Gerichtshof hat die schwachen sozialpolitischen Impulse in den Gründungsverträgen
aufgegriffen und erheblich ausgeweitet. Schon in
den Gründungsverträgen war die Absicht festgehalten worden, dass Wanderarbeitnehmer, die
ja für die wirtschaftliche Dynamik wichtig waren und immer wichtiger wurden, nicht benachteiligt werden dürften. Dieser Grundsatz wurde
ausgeweitet und hat die Freizügigkeit für Arbeitnehmer ausgedehnt. Zuletzt aber haben die
Nationalstaaten, dabei hat Großbritannien eine
starke Rolle gespielt und Deutschland hat seine nationale Fürsorgepolitik restriktiv definiert,
die Inanspruchnahme von Sozialleistungen bei
Arbeitssuche und anderen prekären Situationen
genau abgegrenzt. Dadurch wurde die expansive Rechtsauslegung des Europäischen Gerichtshofs gestoppt. Die detaillierte Darlegung der
rechtlichen Argumente in diesem Beitrag zeigt
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erneut, wie tief man in die europäisch-nationalstaatliche Gesetzesentwicklung einsteigen muss,
um die Bedingungen der Sozialen Arbeit einschätzen zu können.
Heft 73/2016
Einzelbesprechungen
Ein Instrument, den »Fortschritt auf dem
Wege der Angleichung« auf dem Gebiet der Sozialpolitik herbeizuführen, ist die »Offene Methode der Koordinierung, OMK«. Mit ihr befasst
sich Aysel Yollu-Tok in ihrem Beitrag. Die vorgeblich sanfte Methode, zunächst als Instrument
der Beschäftigungsstrategie entwickelt, dann auf
andere Politikbereiche, in denen die EU keine
originäre Zuständigkeit für sich reklamieren
kann, ausgedehnt, erweist sich als raffiniertes
Vorgehen zur Harmonisierung. Dabei setzt die
EU-Kommission die entscheidenden Wegmarken und steigert ihre operative Macht. Zunächst
auf dem Gebiet der »Sozialen Eingliederung«
entwickelt und in der Lissabon Strategie 2000
verankert, wurde die OMK zu einem wichtigen
sozialpolitischen Instrument auf den Gebieten
der Alterssicherung und der Gesundheit und
Langzeitpflege. Doch haben die Mitgliedsstaaten das Verfahren teilweise sehr lax gehandhabt
und alles Mögliche in ihre Berichte geschrieben.
Darin kommt einerseits ein strategischer Widerstand gegen die Einflussnahme der EU und
andererseits eine Unmöglichkeit, heterogene
Traditionen systemisch vereinfachen zu können,
zum Ausdruck. Nach der Finanzkrise 2008/2009
verlagerte sich der Schwerpunkt auf die Frage
der Armutsbekämpfung (schon in den 1970er
Jahren als Folge der europäischen Marktintegration weitsichtig von der Kommission als sozialpolitisches Problem wahrgenommen), hat diese
aber der Wirtschaftspolitik untergeordnet.
Der Einfluss der EU auf die nationale Sozialpolitik lässt sich, wie auch die anderen
Autor*innen festhalten, schwer einschätzen,
denn endogene und exogene Prozesse laufen parallel, nachdem sie auf beiden Ebenen angestoßen wurden. Die neo-liberale Modernisierung
wurde auch in Deutschland vorangetrieben,
vor allem unter dem eindrücklichen Etikett der
»Bürgerfreundlichkeit« und »Effektivität« der
Verwaltung. Die Wachstums- und Wettbewerbspolitik der EU bildet den Rahmen und vielfach
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Einzelbesprechungen
auch den Legitimationsbezug für nationale Strategien.
an, das Soziale im Ökonomischen aufzulösen.
Den Rest besorgen die »Tafeln«.
Für die nationale Tradition der Sozialpolitik
wurden und werden in Deutschland vor allem
gegenüber der Ausdehnung des ökonomisierten
Dienstleistungsdenken Abwehrstrategien entwickelt. Zu einem »echten Binnenmarkt«, den
die EU erreichen will, gehört auch die Freiheit
der Dienstleistungen – neben den Freiheiten für
Arbeitnehmer, Kapital und Waren. Die EU hat
dazu eine eindeutige Politik der Durchsetzung
eines »freien« Dienstleistungsmarktes betrieben.
Vor allem die Dienstleistungen in »allgemeinem
Interesse« und in »allgemeinem wirtschaftlichen
Interesse« wurden expansiv definiert und haben
besonders das deutsche korporatistische Modell
der Daseinsvorsorge bedroht. Die Auseinandersetzung ist auch keineswegs abgeschlossen.
Thematisch wird der Band mit einem Beitrag
von Peter Buttner über »Europäische Zwangsjacken« für die Ausbildung der Sozialen Arbeit
abgerundet. Dabei geht es zunächst um den
»Bologna-Prozess«, dessen Raffinement darin
besteht, ohne demokratische und rechtliche Legitimation eine Vereinheitlichungsdynamik in
Gang gesetzt zu haben. Die Europäische Union hat zu diesem Thema offiziell kein Mandat,
wurde aber über »Bologna« in eine vielversprechende Programmatik der wechselseitigen Anerkennung von Bildungszertifikaten befördert.
Dies wird als Teil der Beschäftigungsstrategie
verstanden. Komplementär zu »Bologna« wurde ein Europäischer Qualifikationsrahmen für
Bildungsabschlüsse erarbeitet, auf den sich auch
der Nationale Qualifikationsrahmen positiv
bezieht. Die streng hierarchische Ordnung des
Bildungs- als eines Berechtigungswesens wird
hier nicht neu erfunden, aber in eine scheinbar
besser legitimierte Ordnung gebracht. Um deren Ausgestaltung kämpfen viele Interessen und
Interessenten, für manche bringt der Rahmen
Vorteile mit sich (z.B. für die berufliche Bildung im Verhältnis zur allgemeinen Bildung),
was wiederum Abwehrkämpfe anderer Akteure
hervorruft. In Deutschland hat der Qualifikationsrahmen für die Soziale Arbeit auf dem Papier eine gewisse Einheit hergestellt, in der Praxis der Ausbildungsinstitutionen aber zu einer
bunten Vielfalt mit Unübersichtlichkeit geführt,
denn die Akkreditierungsverfahren werden auf
dem Niveau ganz allgemeiner Leitlinien durchgeführt.
Der Beitrag von Anne Hans untersucht dieses Politikfeld sehr sorgfältig und strukturiert
den Gedankengang auch anschaulich und differenziert. Die verschiedenen Etappen der Entwicklung werden nachgezeichnet und am Ende
kommt die Verfasserin zu einer Beurteilung,
die auch für die anderen Themen des Bandes
Gültigkeit hat: Sozialpolitisch lässt sich eine
»weitere Verschiebung der Daseinsvorsorge in
den marktwirtschaftlichen Sektor und damit die
Ausdehnung der Kompetenzen der EU« (S. 137)
diagnostizieren.
Der grundsätzliche Beitrag von Norbert
Wohlfahrt »Soziale Arbeit als Opfer der EUBürokratie?« liest sich im vorletzten Teil des Buches dann als Zusammenfassung der bisherigen
Analysen. Er bestätigt die analytischen Konzepte der anderen Autor*innen im Hinblick auf die
zentrale Wirkung der Europäischen Integration,
nämlich Sozialarbeit und ihre Bedingungen aus
ihren traditionalen Pfaden herauszulösen und
sie einem unmittelbaren Wettbewerbsmechanismus zu unterwerfen. Er geht außerdem auf die
neuere Entwicklung eines »Sozialunternehmertums« ein. Mit diesem Programm wird scheinbar
etwas »Soziales« zur Gestaltung sozialer Dienstleistungen beibehalten, der Form nach aber vollständig dem Profitinteresse eines Unternehmens
unterworfen. Damit zeichnet sich eine Tendenz
Damit zeigt sich auch auf diesem Gebiet die
Konsequenz einer Regierung durch »soft law«,
wie sie Norbert Wohlfahrt beschreibt. Es werden nicht mehr bestimmte Inhalte und normative Festlegungen vereinbart, sondern lediglich
die Verfahren werden festgelegt und der »output«. Im Falle der Bildung und des Studiums
der Sozialen Arbeit heißt dies, dass »Kompetenzen« definiert und geprüft werden. Dass damit
die Freiheit eines jeglichen Bildungsprozesses,
nämlich subjektiv die Aneignung eines Inhaltes betreiben zu können, aufgelöst wird, weil
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nicht mehr Wissen geprüft wird, und stattdessen
eine lückenlose Kontrolle des Individuums und
seiner Kompetenzen an die Stelle der Wissensprüfung tritt, wurde von den meisten Akteuren
übersehen. Das Individuum wird in der Konsequenz nur noch nach seiner funktionalen Marktpassung (»employability«) beurteilt. Dies passt
dann reibungslos in die europäische Marktprogrammatik.
Es scheint insgesamt so, dass mit den in diesem
Band untersuchten Entwicklungen die Europäische Integration eine gewisse »Reife« erreicht
hat, was die Möglichkeiten eines Binnenmarktes
betrifft. Auf dem Höhepunkt der europäischen
Integrationsdynamik scheint sie gekippt zu sein,
weil der jeweilige europäische Mehrwert national nicht mehr sichtbar ist. Die starken Akteure,
die mächtigen Nationalstaaten, haben in solchen
historischen Situationen die Marktausdehnung
aggressiv und imperial ausgeweitet und Kriege
vom Zaun gebrochen. Möglicherweise steht die
EU mit der Lissabon-Strategie, die EU binnen
10 Jahren zum »wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum
der Welt« zu machen, genau vor dieser Schwelle.
In Arbeitsteilung mit der NATO, unter Führung
der amerikanischen Außenpolitik, betreibt sie
mit Wirtschaftssanktionen und Freihandelsabkommen einen kalten Krieg der Dominanz, Unterwerfung und Bedrohung.
Der Titel des Buches geht über seinen Inhalt
weit hinaus. Die Beiträge konzentrieren sich
auf die Konsequenzen für die Soziale Arbeit in
Deutschland. Deshalb können die Folgen der
Europäisierung insgesamt nicht erfasst werden.
Auch wird das dargestellte Wissen im Wesentlichen aus der Sozialpolitikforschung übernommen. Eigenständige Wissensgenerierung einer
Wissenschaft der Sozialen Arbeit zum Thema
Europa liegt nur sehr weit verstreut vor und ist
häufig recht punktuell erarbeitet. Die notwendige ländervergleichende Forschung und Debatte
geht über individuelle Arbeitsschwerpunkte von
einzelnen Hochschullehrern kaum hinaus. Lediglich ein Netzwerk wie das von ECCE (www.
ecce-net.eu) hat in 30 Jahren ein gewisses Volumen an europäischem Wissen über die Soziale
Arbeit in Europa erbracht.
Da es noch kein Lehrbuch zum Thema gibt,
soll abschließend empfohlen sein, die Beiträge des Bandes auch für Lehrveranstaltungen
grundzulegen. Es handelt sich um komprimierte
Texte, mit denen man die Studierenden nicht allein lassen soll.
Heft 73/2016
SLR
Einzelbesprechungen
Franz Hamburger
Amanda von Koppenfels Klekowski: Migrants or
Expatriates? Americans in Europe. Basingstoke: Palgrave-Macmillan. 2014. S. 330, 115 US $
Lars Meier (Hrsg.): Migrant Professionals in the
City: Local Encounters, Identities, and Inequalities. Routledge Advances in Sociology Series.
Routledge: New York 2014, S.262, 90 £
Seit die Anthropologin Vered Amit (2007) in der
von ihr herausgegeben Essaysammlung auf das
Phänomen der privilegierten ›Bewegung‹ (Movement im Gegensatz zu Migration) aufmerksam machte und zwei Jahre später die Soziologinnen Michaela Benson und Karen O’Reilly
(2009) das Idiom Life-Style Migration schufen,
etablierte sich in den Sozialwissenschaften die
Forschung im Bereich der privilegierten, professionellen Migration von hochqualifizierten Menschen sowie Menschen, die innerhalb des globalen Nordens migrierten. Bis zu diesem Zeitpunkt
wurde diese Art Migration vor allem im Bereich
Management, für spezifische Berufsgruppen,
oder etwa Experten aus westlichen Ländern in
weniger entwickelte Länder (Fechter, 2007) abgedeckt. Im Rahmen der Süd-Nord-Migration
standen (hoch)qualifizierte Menschen aus dem
globalen Süden, die in den globalen Norden migrierten unter dem Idiom Brain Drain, später
Brain Circulation, im Mittelpunkt.
Die beiden Bücher Migrant Professionals
in the City, ein Essayband herausgegeben von
Lars Meier und die Monographie Migrants or
Expatriates: Americans in Europe von Amanda Klekowski von Koppenfels erweitern dieses
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Forschungsfeld um maßgebliche Bereiche. Die
2014 erschienene Monographie basiert auf der
Analyse von quantitativen und qualitativen Forschungsergebnissen europäischer und nationaler Daten und spezifischer, lokaler Daten, die
die Politikwissenschaftlerin von Koppenfels in
Brüssel, London, Paris und Berlin zusammengetragen hatte. Von Koppenfels beschreibt die Migration von US Amerikanern in der Gegenwart
und bewegt sich damit weg von historischen
Untersuchungen zu Amerikanern im Zwischenkriegseuropa, Forschung über Amerikaner in
beliebten Rentnerdestinationen oder US Expatriates in diversen, exotischen Destinationen.
Konsequenterweise hinterfragt die Autorin die
Migrationsmotive der in Europa Lebenden. Was
bringt sie dazu, eines der reichsten Ländern der
Welt zu verlassen, das für EU Europäer nach
wie vor eine beliebte Immigrationsdestination
darstellt? Die Gründe, die sie entdeckt, sind
vielschichtig, allerdings gibt es kaum US amerikanische Migranten, die mit dem festen Ziel,
den USA für immer den Rücken zu kehren, emigrierten, sondern sehr viele sind Accidental Migrants (Zufallsmigranten). Die Dauerhaftigkeit
ihrer Migration ergab sich aus ihren jeweiligen
Lebensumständen, die eine Fülle von Intersektionen im Positiven, wie im Negativen darstellen.
So fand von Koppenfels Migranten, die zwar in
die USA zurückwollten, aber auf Grund ihrer
Familienverhältnisse nicht zurückkonnten, während andere rundherum mit ihrem Leben außerhalb der USA zufrieden waren und ihr zu Hause
im Emigrationsland gefunden hatten. In beiden
(Extrem)Fällen bedeutet dieses nicht, dass sie
ihre Verbindung zu den USA abbrachen, sich
nicht bemühten, ihre US Amerikanische Kultur,
Staatsbürgerschaft und Sprache an Kinder zu
tradieren, auch wenn sie selbst teilweise keinen
Kontakt zu anderen Amerikanern suchten.
Nach dieser Rahmung analysiert von Koppenfell die sozio-ökonomischen Profile der
Emigranten, und im Anschluss daran untersucht
sie die Bereiche Identität, politischer Transnationalismus und migrantische Selbstorganisation,
bevor sie in der Schlussbetrachtung das Verhältnis der Zufallsmigranten mit den USA und die
Zukunft der US Amerikaner im Ausland unter
Einzelbesprechungen
die Lupe nimmt. Vor allem gilt ihr Augenmerk
potentiellen Zukunftsszenarien im Bezug auf
die Kinder der Emigranten, die sie hoffentlich
in einer weiteren Studie untersuchen wird. Diese Szenarienbildung ist ihr möglich, da sie sich
vorher im Detail der Selbstdefinition und den
Lebenswelten der Immigranten gewidmet hatte
und somit mit der Vorstellung aufgeräumt hatte,
dass die Emigranten per se privilegiert seien, in
einer migrantischen Blase leben oder eben nur
für kurze Zeit außerhalb der USA leben würden. Gerade die Analyse der Intersektion dieser
Faktoren macht ihr Buch so lesenswert, da sie
das Spannungsfeld von Integration, Exklusion
und das weiterbestehende Verhältnis zu den
USA klar herausstellt und eben beschreibt, wie
zufällig die Migration dieser, bisher übersehenen, Migrantengruppe in Europa ist.
Im Bereich der professionell gewollten, aber
dann doch oft dauerhaft zufällig werdenden Migration bietet der Band von Lars Meier differenzierte und nuancierte Einsichten. Ebenso wie
die US Amerikaner war die Dauerhaftigkeit der
Migration bei den meisten der Betroffenen nicht
geplant. Um der Agenda zu folgen, ist das Buch
in drei Teile aufgebrochen: Überlegungen zur
Stadt, Inklusion durch Arbeit und lokale Identitätsentwicklungen, wobei die ersten beiden Teile
jeweils drei Kapitel umfassen, der letzte Teil dagegen doppelt so viele Essays enthält.
Die schiere Diversität der Beispiele der
Beiträge ist bestechend. Diese reicht schon im
ersten Teil von Türkischen Migranten in drei
europäischen Städten über die Kinder von berufsbedingten Migranten in Melbourne zu deutschen Finanzspezialisten in London und Singapur. Der Essay über die Kinder ist einer der
herausstechenden in dem Buch – er behandelt
den noch seltenen Schwerpunkt von erwachsenen Drittkulturkindern, die darüber hinaus
mit diversen Privilegien aufgewachsen sind und
teilweise erst als Erwachsene mit harscheren
Realitäten konfrontiert wurden. Weitere Perlen bilden die beiden ersten Kapitel des zweiten
Teils, die wiederum seltene Themen aufgreifen:
Selbstorganisationen von qualifizierten Migranten in Oslo und russische Professionelle in einer
deutschen Kleinstadt – wobei die Migrantenor-
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ganisationen in Oslo von daher sehr interessant
sind, da sie Einsichten in die Gruppenbildung in
einer Migrationssituation geben, die nicht ethnisch basiert sind. Die russischen Immigranten
stellten in den ersten Interviews dar, wie gut ihr
Arbeitsleben in Deutschland im Vergleich zu
Russland sei, aber sagten nur sehr wenig über
die Stadt, in der sie lebten. Bei den Reinterviews
zwei Jahre später hatte sich diese Gewichtung
sehr geändert. Innerhalb dieses Zeitrahmen hatte ein Settlement stattgefunden, die Migranten
erwähnten nun in Interviews ihr professionelles,
ebenso wie ihr lokales Umfeld als sehr vorteilhaft. Dass sich eine Art Bindung an ihren neuen
Wohnort ergeben würde und sie nun doch vielleicht länger dort bleiben würden, hatte sich so
ergeben – ebenso wie das Niederlassen der US
Migranten in Klekowskis Buch.
Der dritte und letzte Teil des Buches umfasst eine Fülle von Kapiteln, die von Jakarta,
über London bis nach Dubai reichen, wobei
thematisch immer eine spezifische Gruppe
(Puerto Ricanische Software Ingenieure in Boston, beispielsweise) im Vordergrund steht, was
dann wiederum ein Gegengewicht zu qualifikations-homophilen Gruppen wie in Oslo darstellt,
da hier Ethnie oder nationale Herkunft als gruppenbildendes Merkmal attestiert wird.
Ein weiterer Unterschied zwischen der Essaysammlung und der Monographie besteht
auch darin, dass alle Migranten in den einzelnen Kapiteln Professionals sind, Migranten aus
Identitäts- oder Familiengründen deckt das
Buch nicht ab. Was es aber genauso zwingend
aufzeigt, dass professionelle Migration ebenso
zu Wurzeln führen kann wie Migration, die eher
im Privatbereich der Migranten liegt. In diesem
Sinne ergänzen sich die beiden Bücher, da sie
die Diversität von qualifizierter Migration und
bei der Nord-Nord Migranten aufzeigen.
Dani Kranz
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Stefan Gillich/ Rolf Keicher (Hrsg.): Suppe, Beratung, Politik – Anforderungen an eine moderne Wohnungsnotfallhilfe. Wiesbaden. Springer
Fachmedien 2016, S. 305, 19,99 €
Heft 73/2016
Einzelbesprechungen
Kann man noch etwas Neues über die Wohnungsnotfallhilfe erfahren?
Dieses Buch ist eine Mischung aus Beiträgen
über Grenzen des Handelns, dem Aufzeigen von
Entwicklungen und der Suche nach Antworten
auf aktuelle Herausforderungen.
Bereits der Titel des Buches »Suppe, Beratung, Politik« macht neugierig und lässt ein breites Spektrum der Thematik vermuten. Warum
sollte sich die Wohnungsnotfallhilfe mit diesen
Themen befassen? Schließlich ist bekannt, welche Kompetenzen in der Hilfe gebündelt sind
und wie passende Programme aussehen können.
Mir erscheint die Einführung wichtig als
Grundverständnis für die folgenden Fachbeiträge. Die einzelnen unterschiedlichen Beiträge
spiegeln die aktuelle wirtschaftliche Krisensituation und deren politische und sozialpolitische
Folgerungen für Menschen in Armut und Wohnungslosigkeit.
Sie reichen von Aspekten der Existenzsicherung und privater Wohltätigkeit über Unterstützung in Wohnungsnotlagen und strukturellen
Rahmenbedingungen sowie soziale Rechte und
die Durchsetzung dieser Rechte. Im Fokus stehen nicht Fragen nach der Verteilungsgerechtigkeit, sondern die Grundlagen und methodische
Hilfeansätze, Deutungen der sozialen Rechte
und Rechtsdurchsetzung sowie Bilder von Praxisfeldern der Wohnungslosenhilfe.
Im Vordergrund der jeweils ins Detail gehenden Darstellungen stehen die Diskussionen um
die zentralen sozialpolitischen Strategien.
Gehören am Ende Suppe, Beratung und Politik als »Gemeinschaf« zur Verwirklichung eines
sozialen Auftrags doch zusammen und in welchem Wechselspiel zueinander stehen sie?
Die Autoren sind erfahrene Praktiker der
Sozialen Arbeit, Lehrende an Hochschulen mit
Schwerpunkt Politik-, Sozial- und Erziehungs-
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wissenschaften und Funktionsträger der Wohlfahrtspflege sowie Vertreter der kommunalen
Sozialverwaltung.
Ziele dieses Fachbuches sind, zur aktuellen
Diskussion über erprobte Ansätze der sozialen
Integrationsarbeit beizutragen, ein menschenwürdiges Leben wohnungsloser Menschen zu
organisieren und berechtigte Forderungen an
Staat und Politik zu richten, um Sicherung der
individuellen Existenz durch Wohnung und Erwerbseinkommen sowie gerechte Grundlagen
des gemeinsamen Zusammenlebens zu schaffen.
Ein weiteres Ziel ist das Bewusstsein für die Situation der von Armut und Wohnungslosigkeit
betroffenen Menschen zu schärfen. Der Leser
soll für die Wohnungslosenproblematik sensibilisiert werden, nicht zuletzt soll es Beiträge zur
Beseitigung von Stereotypen leisten und die kollektiven Wahrnehmungen von Armut und Wohnungslosigkeit hinterfragen.
Aufgrund der verschiedenen Beiträge von
unterschiedlichen Autoren stehen Theorie und
Empirie eher unverbunden nebeneinander.
Dennoch wird das Anliegen den Buches eingelöst.
Das vorliegende Buch wendet sich im Besonderen wiederum an Praktikerinnen und Praktiker der Sozialen Arbeit, Studierende sowie
Lehrende der Sozialen Arbeit, der Politik- und
Erziehungswissenschaften ebenso wie an Vertreterinnen und Vertreter der Träger, an Verbände und die öffentlichen Verwaltungen, an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Hierbei
handelt es sich nicht um ein Nachschlage-, sondern ein Studienwerk besonderer Qualität.
Der interessierte Leser sollte trotz ausführlicher Beschreibungen Vorkenntnisse zum Thema
Institutionelle Wohnungsnotfallhilfe haben.
Die Herausgeber: Stefan Gillich ist stellvertretender Vorsitzender des Evangelischen
Bundesfachverbandes Existenzsicherung und
Teilhabe e.V. und Bereichsleiter für Existenzsicherung, Armutspolitik, Gemeinwesendiakonie
bei der Diakonie Hessen.
Rolf Keicher arbeitet bei der Diakonie
Deutschland – Evangelischer Bundesfachver-
Einzelbesprechungen
band als Referent für Hilfen in besonderen Lebenslagen und Wohnungspolitik, Berlin.
Georg Bastian
Holger Brandes, Markus Andrä, Wenke Röseler,
Petra Schneider-Anrich: Macht das Geschlecht
einen Unterschied? Ergebnisse der Tandemstudie zu professionellem Erziehungsverhalten von
Frauen und Männern. Opladen: Verlag Barbara
Budrich 2016, S. 197, 28,00 €
Macht das Geschlecht einen Unterschied? Die
Dresdener Forschungsgruppe um Holger Brandes möchte diese Frage für die Arbeit in Kindertagesstätten beantworten. Dazu legen sie eine
Studie vor, bei der Erzieherinnen und Erzieher
im Interaktionsverhalten mit Kindergruppen
und in Einzelsituationen in der Kita beobachtet
werden. Weil in der frühen Kindheit Prägungen
für Geschlechterrollen erfolgen, interessiert die
Forschenden, ob sich im Erziehungsverhalten
Unterschiede bei Männern und Frauen zeigen
und ob das Geschlecht der ErzieherIn tatsächlich einen Unterschied ausmacht. Ihre Ergebnisse sollen zugleich die Forderung nach mehr
Männern in den Kitas auf ihre Sinnhaftigkeit
überprüfen.
Die Studie ist breit angelegt, mixt verschiedene Methoden und versucht dennoch übersichtlich und durchführbar zu sein. Sie nutzt ein
quasi-experimentelles Setting. Das bedeutet: 41
Erzieherinnen und Erzieher werden in Einzelsituationen jeweils mit einem Kind beobachtet.
Die Aufgabe ist dabei für alle Interaktionen dieselbe. Eine Kiste mit verschiedenen Materialien
steht bereit und die Aufgabe lautet, daraus etwas
herzustellen. Anschließend erfolgt die zweite
Beobachtung in Tandemsituationen. Dabei leiten jeweils eine Erzieherin und ein Erzieher eine
größere oder kleinere Gruppe drei- bis sechsjähriger Kinder an, zusammen spielen sie das sogenannte Twisterspiel. Eine Matte liegt auf dem
Boden, deren Felder sind unterschiedlich mar-
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kiert. Auf dieser Matte müssen sich die Spieler
mit Händen und Füßen auf unterschiedlichen
Feldern aufstellen und nach bestimmten Kriterien – zum Beispiel Farben – in eine bestimmte
Richtung fortbewegen. Die Aufgabe variiert und
kann sowohl konkurrierend oder als »Choreografie« gelöst werden. Mal bewegen sich einzelne, mal ganze Gruppen über das Feld. Sie dient
u.a. der Farberkennung und der Rechts- und
Linkskoordination. Beide Untersuchungsreihen
(Einzelsituation und Tandemsituation) werden
mit allen Testpersonen durchgeführt und durch
begleitende Interviews ergänzt.
Insgesamt wird mit 41 Männern und 65 Frauen das quasi-experimentelle Setting durchlaufen. Als Kontrollgruppe zu den 41 gemischten
Tandems werden 12 Frau-Frau-Tandems beobachtet, um festzustellen, ob sich das Verhalten in
den gemischten Tandems durch die Geschlechtszugehörigkeit erklären lässt. Folgende ausgewiesene Ziele verfolgt die Studie (Auswahl):
– Unterscheiden sich männliche und weibliche
Fachkräfte hinsichtlich fachlicher Kriterien
und in ihrem konkreten Interaktionsverhalten gegenüber den Kindern?
– Lassen sich Annahmen bestätigen, dass Frauen stärker einfühlsam-bindungsorientiert
und Männer eher herausfordernd und explorationsorientiert interagieren?
– Verhalten sich die Fachkräfte unterschiedlich gegenüber Jungen und Mädchen und bestehen diesbezüglich Unterschiede zwischen
Männern und Frauen?
– Zeigen sich in Interaktionen »doing gender«
Prozesse?
– Zeigen sich Hinweise auf geschlechtsabhängige Arrangements und Arbeitsteilungen
zwischen den Fachkräften? (S. 59)
Die Studie ist in der Exploration ihrer Fragestellung und in der Einbettung in den Forschungskontext erfreulich knapp und prägnant,
unaufgeregt, ohne Zuweisung von – wenn man
so will - Schuld oder Mitschuld an stereotypem
Geschlechterverhalten, wie es sich auch schon
bei Kindern in der frühkindlichen Phase zeigt.
Ebenso prägnant werden die Ergebnisse frühe-
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rer Studien und der Stand der bisherigen Forschung dargestellt und daraus das eigene Vorgehen abgeleitet.
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Einzelbesprechungen
In der Dokumentation der Ergebnisse geht
man ähnlich sachorientiert vor, arbeitet die einzelnen Fragestellungen immer wunderbar kurz,
aber doch gehaltvoll ab. Im ersten Teil des quasi-experimentellen Settings, den Einzelszenen,
werden Befunde beschrieben, die bemerkenswert sind, und zwar in zweifacher Hinsicht: Alle
Erzieherinnen, alle Erzieher sind in der Lage mit
dem jeweiligen Kind, gemeinsam oder zumindest parallel aus den vorhandenen Materialien
etwas herzustellen. Die fachlichen Kompetenzen zeigen sich bei allen ErzieherInnen. Es wird
festgestellt, dass in der Frauen-Mädchen-Interaktionen mehr »Subjekte« hergestellt werden,
also »Figuren, die Augen haben«, wie es im Text
heißt, in Mann-Junge-Arbeitsgruppen häufiger
Objekte, also Apparate, Kisten, anderes. Männer greifen zu Unterlegscheiben und Frauen
eher zu Perlen, um das Material miteinander zu
verbinden. Hier wird vermutet, dass dies daran
liegen könnte, dass man – je nach Materialwahl,
eine Heißklebepistole und Hammer und Nägel
nutzen muss. Diese Werkzeuge werden eher von
Männern eingesetzt.
Interessanter als diese Unterschiede sind
aber die sogenannten »Schlüsselszenen«. Als
Schlüsselszenen bezeichnen die AutorInnen Sequenzen, in denen sich ›doing-gender‹ zeigt, also
das Geschlecht betonende Interaktionssequenzen (ab Seite 97). Da wird beschrieben, wie ein
Mann einem Jungen Vorschläge macht: »Man
könnte doch hier so etwas wie eine Kanone bauen.« Die Forschenden deuten die Szene so, dass
der Mann mit dem Jungen auch auf einer emotionalen Ebene, durch die Stimme hervorgerufen, interagiert, was sie an eine »Verschwörung
unter Männern« erinnert. Eine andere Szene (S.
100) ist mit »Ich liebe Rosa und Glitzer« überschrieben. Eine Erzieherin betrachtet mit einem
Mädchen die Materialien, beide überlegen, was
damit anzufangen sei. Die Erzieherin übergeht
zweimal die Vorschläge des Mädchens, die in
Richtung Objekt weisen. Den dritten Hinweis
des Mädchens »Das sieht aus wie Kuchenstreusel« greift die Erzieherin auf. Mit dem Bekennt-
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nis der Erzieherin zu ihrer Vorliebe wird die
Rosa- und Glitzerwelt betreten und etwas traditionell Mädchentypisches gebastelt. Diese Szenen werden beschrieben und bleiben so stehen.
Hätte ich sie analysiert, hätte ich ihnen mehr
Gewicht in der Auswertung beigemessen. Sind
es doch hier die Erwachsenen, die die Kinder
in die stereotypen Richtungen lenken, nicht die
Kinder, die solche Vorlieben äußern.
Das zweite Setting, das Twisterspiel in gemischten Gruppen, führt zu anderen spannenden Befunden. Es zeigt sich, dass sowohl die
Erzieherinnen als auch die Erzieher dominant
auftreten, wenn sie mehr Berufserfahrung haben oder in einer Vorgesetztenrolle handeln.
Das lässt sich bei Frauen wie bei Männern beobachten. Es gelingt ihnen in gleicher Weise, die
Spielsituation herzustellen und zu bewältigen.
Die Forscher erkennen, dass die Männer eher
zu Wettkampf ermuntern und die Frauen zu etwas neigen, das sie Choreographie nennen, also
das gemeinsame Bewältigen der Aufgabe. Es
wird gelegentlich von erkennbarer Langeweile
bei den spielenden Kindern oder auch von Abwandern berichtet und es wird in der Reflexion
des eigenen Vorgehens leider kaum darauf eingegangen, dass dieses Spiel, das für Zehnjährige
einwickelt ist, bei den angehenden Schulkindern
deutlich besser ankommt als bei den Dreijährigen - für die es eigentlich nicht geeignet und die
vermutlich überfordert sind.
Die Auswertungsergebnisse werden ab Seite
157 prägnant zusammengefasst. Sie beantworten
die im Titel gestellte Frage mit der Feststellung,
dass gut ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher sich gleichermaßen professionell verhalten
und dass dies dafür spricht, dass männliche und
weibliche Fachkräfte jedem Kindergarten gut
tun würden. Ein bedeutsamer Unterschied wird
erkannt: in dem, was sie tun, sind sie gleich professionell, wie sie dieses Tun umsetzen, darin zeigen sich Unterschiede: Wie Erzieher mit Jungen
und Erzieherinnen mit Mädchen umgehen – darin liegen die Besonderheiten. Die AutorInnen
trennen deshalb zwischen professionellem und
authentischem Handeln. Auf der professionellen Ebene agieren Erzieherinnen und Erzieher
gleichermaßen gut, aber es gibt immer wieder
Einzelbesprechungen
Situationen wie die, die in den Schlüsselszenen
dokumentiert sind, in denen den »Fachkräften im direkten Umgang mit den Kindern und
insbesondere bei starker Involviertheit in das
Geschehen – quasi unter der Hand – vielfach
geschlechtsstereotype Konnotationen« unterlaufen, »selbst wenn sie im Interview klischeehafte Geschlechtsmuster kritisch reflektieren«
(S.167). Dabei verlieren sie mitunter die professionelle Distanz zu der Situation.
Mir fehlt an dieser Stelle die Folgerung, dass
in der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern an Fällen wie diesen gearbeitet werden
sollte. Solche Szenen könnten genutzt werden,
um ein reflexives Verhalten einzuüben. Die Frage, was trage ich dazu bei, dass in meiner Berufspraxis Mädchen und Jungen möglichst viele
Rollen ausprobieren können und wenig Festlegung erfahren, könnte als Gedankenexperiment
anhand solcher »Schlüsselszenen« für Sensibilisierung sorgen.
Ansonsten empfehle ich dieses Buch uneingeschränkt. Es bereichert den wissenschaftlichen Diskurs und ist auch jungen ForscherInnen
zu empfehlen, weil Anlage und Methodik der
Studie klug angelegt wurden und als Modell für
eigene Untersuchungen in der Kindheits- wie in
der Geschlechterforschung genutzt werden können.
Anna-Maria Kreienbaum
Sarah Helm: Ohne Haar und ohne Namen. Im
Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück. Darmstadt: Theiss Verlag 2016, 802 S., € 38.
Wie wissenschaftlich sollte ein Buch sein, das
sich mit der Geschichte eines Konzentrationslagers beschäftigt? Die Frage drängt sich bei der
Lektüre von Sarah Helms umfangreicher Studie über das Konzentrationslager Ravensbrück
geradezu auf. Bereits im Prolog dieser überwiegend chronologisch aufgebauten, 41 Kapitel fas-
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senden Studie bemängelt die britische Journalistin berechtigterweise, dass dieser Ort, an dem
zumeist Frauen Opfer des nationalsozialistischen Terrors wurden, lange Zeit kaum beforscht
worden sei. Gleichzeitig schwingt mehr als nur
moderate Kritik mit an den seit den 90er Jahren
vermehrt publizierten wissenschaftlichen Untersuchungen, wenn Helm schreibt, ebendiese Untersuchungen schienen regelrecht an »Geschichte zu ersticken« (S. XIV). Ihr Ziel sei es daher
gewesen, »eine Biographie von Ravensbrück«
zu schreiben, »vom Anfang bis zum Ende«. Besonders viel Gewicht sollten die »Stimmen der
Gefangenen« bekommen (S. XVIII).
Tatsächlich hat Helm in den acht Jahren ihrer Buchrecherche zahlreiche Zeitzeuginnen
aufgesucht und interviewt, vor allem weibliche
Überlebende des Konzentrationslagers sowie
deren Angehörige; aber auch andere historische Akteure wie damalige zivile Anwohner des
Konzentrationslagers kommen zu Wort. Das im
April 1941 vor Ort eingerichtete Männerlager
vernachlässigt die Autorin leider.
In der Nähe zu den Zeitzeugenberichten und
der Materialfülle liegt die Stärke der Studie:
Stilistisch überzeugend, dicht geschrieben und
gut nachvollziehbar, skizziert Helm Ereignisse
und Entwicklungen des KZ Ravensbrück auf
Basis zahlreicher individueller und kollektiver
Erinnerungen. Eindrücklich gelungen ist ihr
das am Beispiel der im Lagerjargon »Kaninchen« genannten jungen polnischen Frauen, die
von August 1942 bis August 1943 von der SS
für medizinische Versuchsreihen missbraucht
wurden. Um Mittel gegen Wundbrand zu testen, wurden diesen Frauen vom SS-Arzt Prof.
Dr. Karl Gebhardt die Beine aufgeschnitten
und bakteriell infiziert. Die Auswirkungen der
Eingriffe werden in Kapitel 13, »Kaninchen«,
derart plastisch beschrieben, dass selbst eingefleischten Fachhistorikern die Lektüre solcher
Passagen schwerfallen dürfte: »Die Fensterläden sind wegen der Luftangriffe geschlossen. Es
gibt kein Wasser und niemanden, der ihnen hilft.
Sie können sich nicht bewegen. Fliegenschwärme umschwirren das verwesende Fleisch. Immer
wieder werden sie bewußtlos.« (S. 241)
SLR
Obwohl Helm nicht nur hier, sondern an vielen weiteren Stellen ausführlich die grausamen
Taten der SS und des weiblichen Aufseherinnenpersonals beschreibt, fällt sie doch bisweilen
hinter den Forschungsstand über die Rolle von
Frauen im Nationalsozialismus zurück. So heißt
es im ersten Kapitel, Hitler habe die Macht besessenen, »mit seinen Worten Millionen deutscher Frauen zu verführen« (S. 9). Intrinsische
Motivationen, sich der nationalsozialistischen
Bewegung anzuschließen, schließt so eine Lesart eher aus.
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Einzelbesprechungen
Im Fall von Johanna Langefeld, Helm zufolge
die »wichtigste Frau in Himmlers Lagerimperium« (S. 35), spekuliert sie über deren Motivation einer Tätigkeit als Oberaufseherin im KZ
Ravensbrück: »[…] Sie begrüßte überdies die
neue Achtung vor dem Familienleben, die Hitler
proklamierte. Und Langefeld hatte persönliche
Gründe, dem neuen Regime gegenüber dankbar
zu sein: Zum ersten Mal hatte sie einen sicheren
Arbeitsplatz. Frauen und vor allem unverheirateten Müttern waren die meisten beruflichen
Wege versperrt, ausgenommen jener, den Langefeld gewählt hatte.« (S. 9) Richtig ist das nicht:
Frauen standen im Nationalsozialismus durchaus verschiedene Karrierewege offen. Auch
wenn Langefeld im Laufe ihrer Beschäftigung
in den Konzentrationslagern Lichtenburg, Ravensbrück und Auschwitz mit dem männlichen
SS-Personal in Konflikt geriet und in einzelnen
Fällen gar Häftlinge rettete, ist Helms Behauptung, Langefeld habe bis März 1942 über das KZ
Auschwitz anscheinend »nur wenig gewusst«
(S. 204), durchaus fragwürdig.
Denn Johanna Langefeld wurde von der SS
ab März 1942 nach einem kurzen Besuch im KZ
Auschwitz dort als Oberaufseherin im Frauenlager eingesetzt und selektierte u. a. weibliche
Häftlinge für die Ermordung in den Gaskammern. Offensichtlich beruft Helm sich bei ihrer
Beschreibung von Langefeld in erster Linie auf
die Aussagen ehemaliger Häftlingsfrauen, die in
Ravensbrück für die Oberaufseherin arbeiten
mussten. An dieser Stelle wird deutlich, dass
Helms intensiver Einbezug von Erinnerungen
überlebender Frauen als wesentliche Quelle
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nicht ganz unproblematisch ist. Zudem versäumt sie es oft, Zitate entsprechend zu kennzeichnen. Meist wird daher nicht deutlich, ob
es sich bei den Schilderungen um individuelle
Wahrnehmungen ehemaliger Inhaftierter oder
um Thesen der Autorin handelt.
Besonders heikel ist dieses Vorgehen, wenn
Helm auf diese Weise gängige Klischees über
einzelne Gruppen reproduziert. So bezeichnet
sie lesbische Sexualität im KZ Ravensbrück als
»Epidemie« (S. 196), die vor allem unter den als
»Asoziale« verfolgten Frauen vorgekommen sei.
Helm gibt hier vermutlich eher die Ansichten
der ehemaligen polnischen Gefangenen Wanda
Wojtasik als eigene Überzeugung wieder – umso
wichtiger wäre bei dieser und ähnlichen Passagen ein Quellenbeleg gewesen. Ähnlich heikel
ist die Beschreibung jener Häftlinge, die von
der SS beauftragt wurden, ihre Kameradinnen
in den Unterkünften oder auf den Arbeitskommandos zu überwachen. Hierfür setzte die SS in
erster Linie deutsche Häftlinge ein. Neben politischen Schutzhäftlingen befanden sich häufig
diejenigen darunter, die als »Asoziale« und/oder
»Kriminelle« verfolgt und im KZ-System mit
einem schwarzen bzw. grünen Winkel markiert
wurden. Es handelte sich bei diesen Personen i.
d. Regel um einfach bis mehrfach, nicht selten
wegen geringer (Eigentums-)Delikte vorbestrafte Frauen (und Männer), die die Kriminalpolizei
ab November 1933 im Rahmen einer angeblich
»vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« in
die Konzentrationslager einwies. Zwar versucht
Helm, gängige Vorurteile über diese Frauen zu
dekonstruieren. So widmet sie ein ganzes Kapitel (Kapitel 6, »Else Krug«) den als »Kriminelle« und »Asoziale« verfolgten Frauen, deren
Schicksale außerhalb der Gedenkstätten bislang
weitgehend unbekannt sind und fordert so eine
entsprechende Auseinandersetzung mit möglicherweise eher unbequemen Biographien ein.
Gleichzeitig finden sich insbesondere in Kapitel
3 (»Blockovas«) klischeehafte Zuschreibungen;
die als »Kriminelle« inhaftierte und als Blockälteste eingesetzte Käthe Knoll nennt Helm »Trägerin des gefürchteten grünen Winkels« (S. 59).
An anderer Stelle heißt es – wieder ohne Quellenbeleg – »In Block 2 saßen die gefürchteten
Einzelbesprechungen
»Asozialen« mit schwarzem Winkel« (S. 102).
Passagen wie diese sind umso bedauerlicher, als
Helms Ansatz, möglichst viele Perspektiven und
häufig ignorierte Lebensgeschichten einzubeziehen, unbedingt positiv hervorzuheben ist.
Fraglich ist zudem Helms Erklärung für die
langewährende Ignoranz gegenüber solchen
randständigen Haftgruppen. Dass sie in Vergessenheit gerieten, lag weniger daran, dass »die
Rotlichtbezirke, aus denen sie kamen […] von
alliierten Bomben dem Erdboden gleichgemacht wurden« und deshalb niemand gewusst
habe, »wo sie hingingen« (S. 104). Gründe sind
vielmehr die das Kriegsende überdauernden
personellen und ideologischen Kontinuitäten innerhalb der Verfolgungsbehörden (Wohlfahrtsorganisationen und Kriminalpolizei) sowie eine
unter Überlebenden nach 1945 entstehende
Opferkonkurrenz. Gerade weil Helm mehrfach
hervorhebt, dass es kaum Selbstzeugnisse von
diesen Frauen gebe, wäre ein kritischerer Blick
auf negative Zuschreibungen gegenüber den
»Asozialen« und »Kriminellen« durch sorgfältige Kennzeichnung entsprechender Aussagen
umso wichtiger gewesen. Da sie ihre Studie aber
im Wesentlichen auf Berichte ehemaliger Häftlinge stützt, ist es nicht erstaunlich, dass hier ein
Ungleichgewicht entsteht.
Selbstredend steht die Autorin mit dieser
Problematik nicht allein dar. Einerseits stellen
die Berichte ehemals Verfolgter für jede Untersuchung der Geschehnisse in den Konzentrationslagern eine unersetzliche Quelle dar, um sich
den Ereignissen überhaupt annähern zu können.
Andererseits müssen diese Berichte jedoch stets
kritisch gelesen werden – sofern sie nicht allein
der Illustration individueller Geschichten und
Interpretationen dienen, sondern herangezogen
werden, grundsätzliche Aussagen über historische Ereignisse zu treffen.
Eben darin besteht der Unterschied zwischen
einer wissenschaftlichen Studie und einem Erinnerungsbericht, der bei Helm allerdings immer
wieder zu verschwimmen droht. Denn während
KZ-Überlebende in erster Linie ihre persönliche Geschichte erzählen, besteht die mitunter
unangenehme Aufgabe von Historikern nun
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einmal darin, persönliche Erfahrungen in einen
größeren Kontext einzuordnen und sie gegebenenfalls auch zu hinterfragen. Überzeugend
gelingt Helm dies im Hinblick auf allgemeine
politische Entwicklungen während des Nationalsozialismus, in die sie die Geschichte des KZ
Ravensbrück geschickt einbettet (wenngleich
ihr hier bisweilen ein paar sachliche Fehler unterlaufen). Die Leser erfahren sozusagen en
Passant interessante Details über die Verfolgung
sowjetischer KZ-Überlebender durch das stalinistische Regime, das Versagen des Internationalen Roten Kreuzes angesichts der Situation in
den Konzentrationslagern sowie über Heinrich
Himmlers außereheliche Beziehung, die ihn immer wieder nach Mecklenburg-Vorpommern
führte. Die flüssig und spannend geschriebene
Studie ist deshalb trotz der genannten Kritikpunkte lesenswert, besonders weil Helm auch
solche unbekannteren Themen verhandelt. Indes sollte der Band dem historisch interessierten
Leser nicht als Ersatz, sondern als zusätzliche
Lektüre zur mittlerweile in großem Umfang
vorliegenden Fachliteratur über das KZ Ravensbrück dienen.
Dagmar Lieske
Hilmar Schäfer: Die Instabilität der Praxis: Reproduktion und Transformation des Sozialen in
der Praxistheorie. Weilerswist Velbrück Wissenschaft.
Das Buch von Schäfer setzt sich mit vier zentralen praxistheoretischen Angeboten auseinander. Zentral für solche Theorien sind Versuche,
die sozialtheoretische Dualität von Struktur und
Handlung zu überwinden, indem sie körperlichem Vollzug, Affekten und Objekten einen
Vorrang gegenüber Erklärungen durch Einzelhandlungen oder Entscheidungen einräumen.
Schäfer wählt für seine Untersuchung exemplarisch die Theorien von Pierre Bourdieu, Michel
Foucault, Judith Butler und Bruno Latour aus,
SLR
um an ihnen der Frage nachzugehen, wie das
Verhältnis von Stabilität und Instabilität des Sozialen praxistheoretisch konzipiert werden kann,
wie also soziale Ordnung zustande kommt, was
ihre Reproduktion gewährleistet und wie es zu
Transformation kommt.
Heft 73/2016
Einzelbesprechungen
Für diese an der Prozesshaftigkeit sozialer
Ordnung orientierte Perspektive greift Schäfer auf das Konzept der Wiederholung zurück,
das er von Jacques Derrida und Gilles Deleuze
übernimmt. Gegenüber dem Begriff der Routine soll der Wiederholungsbegriff nicht nur die
Reproduktion des Sozialen sondern auch ihre
Transformation erfassen können. Schäfer geht
es um eine als post-empiristisch verstandene
»Pluralisierung soziologischer Optiken« (S. 58),
mit denen das als paradox verstandene Verhältnis von Stabilität und Instabilität in der Wiederholung herausgearbeitet werden soll. Schäfer
rekonstruiert dafür die zentralen theoretischen
Elemente der vier Positionen. Für den Theorievergleich wendet er zusätzlich drei soziologische
Dimensionen an: Körperlichkeit, Materialität
und die Funktion von Macht und Norm.
Das erste Kapitel stellt die Problemstellung
und Untersuchungsanlage vor, bietet einen
summarischen Überblick über das kultur-, sozial- und normentheoretische Profil der Praxistheorien und stellt Bezüge zu poststrukturalistischen Konzepten der Wiederholung her. Kapitel
zwei bis fünf rekonstruieren die vier Theoriepositionen und werden jeweils von einem Zwischenfazit beschlossen. Das sechste Kapitel ist
als eigentlicher Theorievergleich angelegt und
schließt mit einer Liste »Methodologischer Prinzipien der Praxistheorie«. Das siebte Kapitel ist
ein Fazit.
Für Schäfer besteht Bourdieus Leistung darin, explizit eine dynamische Theorie sozialer
Praxis entworfen zu haben, die dem Anspruch
nach die Dualität von Stabilität und Instabilität
überwinden können soll. Bourdieu unterliege
aber einem Bias zugunsten der körperlichen
Trägheit und Kohärenz sozialer Praktiken, die
eine Koinzidenz und Homogenität von Habitus
und sozialer Welt unterstellt. Dieser Bias erkläre
sich durch das Interesse Bourdieus an der Be-
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ständigkeit sozialer Ungleichheiten und so bleibe Bourdieu bei einer Theorie einer statischen
Reproduktion des Sozialen stehen. Im Anschluss an Bernard Lahire sieht Schäfer jedoch
Möglichkeiten, die Transformation des Sozialen
mit einem heterogener konzipierten Habitus zu
erklären: Analytisch relevant sind dann nicht die
Passung von Dispositionen und Positionen der
Akteure, sondern die Brüche zwischen ihren
Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata und den sozialen Feldern.
Schäfer weist die Einschätzung zurück, dass
nur das Spätwerk von Foucault als praxistheoretisch zu klassifizieren sei. Auch in den archäologischen und genealogischen Arbeiten lassen sich
praxistheoretische Bezüge identifizieren, nämlich in der Ordnungsbildung durch die Wiederholung von Aussagen und Körperbewegungen.
Der Fokus auf körperliche Disziplinierung könne aber nicht kaschieren, dass Foucault Widerstand als Moment der Transformation des Sozialen analytisch vernachlässige. Erst die Analyse
der wiederholbaren Praktiken der Subjektivierung in Foucaults Spätwerk könne die Transformationen des Sozialen erklären.
Bei Butler steht mit dem Konzept der Performativität auch die Instabilität der Praxis im
Zentrum, denn Geschlechtszugehörigkeit komme »durch eine stilisierte Wiederholung von Akten zustande« (Butler, zitiert n. Schäfer: 207). In
der durch Sprechakte vollzogenen Materialisierung von Körpern realisiere sich zugleich auch
die normative Ordnung der heterosexuellen
Matrix. Butler erweist sich als attraktiv für eine
poststrukturalistisch informierte Praxistheorie,
da ihr Performanzbegriff sowohl die stabilisierenden und destabilisierenden Effekte der Wiederholung erfasst. Kritisch seien dagegen die
Vorstellung einer universalen, in Sprechakten
vollzogenen Materialität und der Fokus auf eine
als einheitlich verstandene Norm.
Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) von
Bruno Latour wird hingegen als äußerst dynamische Gegenposition zu Bourdieu entworfen,
die die Stabilität des Sozialen als Sonderfall begreift, der nur durch den Einbezug von Dingen
gewährleistet werden kann. In der Regel sei von
Einzelbesprechungen
der Zirkulation von Elementen und einer Verteilung der Handlungsträgerschaft auf verschiedenste Quellen, und darunter sind Menschen
nur eine mögliche Variante, auszugehen. Schäfer hebt die radikale Relationalität von Latours
»variabler Ontologie« hervor, während er die
Vernachlässigung des Körpers und seiner stabilisierenden Funktion in der ANT kritisiert. Deren praxeologisches Potential könne nur entfaltet werden, wenn sie inkorporiertes Wissen und
Kompetenzen als Elemente der Stabilisierung
des Sozialen anerkennt.
Schäfer nutzt den Theorievergleich im sechsten Kapitel, um sein Verständnis von Wiederholung als praxistheoretisches Konzept zu entfalten, mit dem sich die Stabilität und Instabilität
von Praktiken analysieren lasse. Er unterscheidet drei praxistheoretische Dimensionen der
Wiederholung: Praktiken können als sich wiederholend im Zeitverlauf, als wiederholte Performanz körperlicher Kompetenz und als wiederholbar, d.h. zitier- und parodierbar begriffen
werden. Körper müssen dafür gleichzeitig als
ausführende Instanz und Ziel von Praktiken
berücksichtigt werden, in denen implizites Wissen stabilisierend wirkt. Da Schäfer Inkorporierung als Lernprozess versteht, bieten Körper
zugleich Potentiale für die Transformation des
Sozialen. Auch die praktische Hervorbringung
von Räumen und Artefakten (Materialiät) zeitigt sowohl stabilisierende als auch irritierende
Effekte, während Macht und Norm praxisimmanent als abhängige Variablen konzipiert werden,
die stets relational und kontextuell zu fassen
sind. Zum Schluss werden einige methodologische Prinzipien einer von Schäfer »transitiv«
genannten Methodologie vorgeschlagen, die
sich aus Schäfers Konzeption der Wiederholung
als Verschränkung von Differenz und Identität
ergeben. Betont werden graduelle Differenzen,
die Dezentrierung des Subjekts sowie die Relationalität und Zeitlichkeit von Praxis.
Das Fazit hebt das analytische Potential des
Wiederholungsbegriffs hervor, mit dem der Dualismus von Ordnung und Wandel zugunsten
der Analyse lokaler und historischer Formationen von Praktiken überwunden werden könne.
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Diese sind als Wiederkehr des Ungleichen zu
verstehen.
Insgesamt bietet das Buch von Schäfer einen
gründlich aufgearbeiteten Theorievergleich, der
die Autorinnen konsequent auf die Frage des
Konzepts der Wiederholung hin auswertet. Außerdem findet man eine ordentliche Einführung
in das jeweilige Werk. Mit dem Fokus auf die Dimensionen Körperlichkeit, Materialität, Macht
und Norm legt Schäfer einen hinreichenden,
aber schlanken Vorschlag für eine praxistheoretische Heuristik vor.
Das sehr ausführliche Buch folgt allerdings
stärker der Eigenlogik der vier Autoren als der
angesetzten Vergleichslogik. Eine schlankere
Aufarbeitung hätte hier einige Redundanzen
verhindern können. Bemerkenswert ist auch die
Absenz der Ethnomethodologie als Referenz
der ANT. Das mag an dem starken Routinebegriff der Ethnomethodologie liegen, jedoch
könnte das ein Grund für die bislang schwache
Position des Wiederholungsbegriffs in der ANT
sein.
Schließlich fällt eine Ungleichzeitigkeit zwischen dem textorientierten bzw. autorinnenzentrierten Theorievergleich und der praxistheoretischen Position von Schäfer auf. Zwar wird
die Vorstellung eines Akteurs mit Interessen
zugunsten des Vollzugs in Netzwerken verstreuter Handlungsträger zurückgewiesen, dennoch
werden die Theorien einzelner Personen verglichen. Deren Mängel werden durch anders gelagerte Interessen erklärt: Bourdieus statischer
Bias verdanke sich seinem Interesse an der Beständigkeit sozialer Ungleichheit und Butlers
einheitliches Normverständnis sei eine Folge
ihres Fokus auf das Phänomen Geschlecht. Das
hier adressierte Problem lässt sich nicht unbedingt dem Autor selbst ankreiden, der mit seiner
Qualifikationsarbeit den Konventionen des Wissenschaftsbetriebs Rechnung tragen muss. Die
Praxistheorien sind aber aufgefordert, wissenschaftliche Darstellungsformen zu entwickeln,
die ihren eigenen sozialtheoretischen Ansprüchen entsprechen.
Lars Alberth
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Wolfdietrich-Schmied Kowarzik: Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen
bis zum Spätwerk, Verlag Karl Alber, Freiburg/
München 2015, 370 S., 39,90 €
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Einzelbesprechungen
Spätestens – allerspätestens seit Descartes – laboriert das philosophische Denken an dem Problem, ob es die Welt einfach gibt und gleichsam
nachträglich vom Menschen erkannt wird oder
ob es nicht der erkennende Mensch ist, der die
Welt, seine Welt im Erkennen erst konstituiert.
Diese Debatte, die derzeit als Kontroverse um
»Realismus« oder »Konstruktivismus« ausgetragen wird, hat bereits die Philosophie des sog.
»deutschen« Idealismus geprägt, also jener Philosophie, die auf Immanuel Kants »kopernikanische Wende«, gemäß derer nur »Erscheinungen«, nicht aber »Dinge an sich« erkannt werden,
reagierte: vor allem Fichte, Hegel und Schelling.
Indes: wer wissen will, worin Schellings Denkimpuls besteht, sollte sich besser nicht mit Peter
Sloterdijks jüngst publizierten philosophischem
Edelporno »Das Schelling Projekt« begnügen,
sondern der Sache auf den Grund gehen.
Im Werk Schellings – so haben das schon früh
Interpreten wie etwa Walter Schulz gesehen –
vollendete sich diese Richtung des Denkens?
Was aber heißt das genau?
In Schellings – er lebte von 1775-1854 –
komplexes Werk führt nun, gut lesbar und verständlich eine neue Monographie Wolfdietrich
Schmied-Kowarziks – er lehrte von 1971-2007
Philosophie in Kassel und machte von dort aus
die interessierte Öffentlichkeit mit dem Werk
des in Kassel geborenen Franz Rosenzweig bekannt – ein.
Mit Schmied-Kowarziks »Existenz denken.
Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis
zum Spätwerk« liegt eine auf der Basis von Studienbriefen verfasste Gesamtdarstellung vor,
die den ganz und gar eigenständigen Charakter
dieses Werks, das sich vor allem in der Auseinandersetzung mit dem radikalen Idealismus/
Subjektivismus von Johann Gottlieb Fichte
entwickelte, schlüssig entfaltet. Schelling, der in
seiner Jugend bekanntlich gemeinsam mit Höl-
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derlin und Hegel das renommierte »Tübinger
Stift« besuchte, in dem alle drei den Beginn der
französischen Revolution feierten und der daher
noch immer als möglicher Autor des »Ältesten
Systemprogramms des Deutschen Idealismus«
infrage kommt, war vor allem darum bemüht,
die Bedeutung von Kunst und Natur für das
Denken, für das menschliche Selbstverständnis
herauszuarbeiten – ein Interesse, das ihn denn
doch in scharfen Gegensatz vor allem zu Fichte
brachte, der letztlich im menschlichen Denken
ein göttliches Absolutes sah. Schelling hingegen,
stark von Spinoza und wohl auch vom Neuplatonismus beeinflußt und beeindruckt, wollte die
Natur nicht nur als totes Objekt menschlichen
Schaffens verstehen, sondern als einen unabschließbaren Prozeß, der sich »thätig« vollzieht
– tatsächlich verwendet Schelling schon früh
– lange vor Darwin – den Begriff der »Evolution«. »Die Natur« so zitiert Schmied-Kowarzik
Schelling »ist schlechthin thätig, wenn in jedem
ihrer Produkte der Trieb einer unendlichen Entwicklung liegt.« Während Schelling in früheren
Jahren – durchaus noch von Fichte beeinflußt
– einer Gleichsetzung, ja von Identität von Subjektivität, also dem «Ich« das Wort spricht; ja, er
beinahe wie die jüdische und christliche Mystik
die allemal an den Leib gebundene Seele als
etwas »Göttliches« ansieht, wird er später eine
»Unvordenklichkeit des Seins« postulieren und
die Genese der Erkenntnis dieses Seins in bestens belegten Studien zur Geschichte von Religion und Mythologie nachvollziehen.
»Der Mensch« so Schelling im Spätwerk »findet sich im Beginn seines Daseyns gleichsam in
einen Strom geworfen, dessen Bewegung ein
von ihm unabhängige ist, der er unmittelbar
nicht widerstehen kann, und die er zunächst
bloß leidet; dennoch ist er nicht bestimmt, sich
von diesem Strom wie ein todtes Objekt bloß
fortziehen oder fortreißen zu lassen, er soll den
Sinn dieser Bewegung verstehen lernen, um ihr
selbst in diesem Sinn förderlich zu seyn, und
nicht etwa mit vergeblicher Anstrengung sich
entgegenzustemmen, ferner um genau unterscheiden zu können, was unabhängig von ihm
Einzelbesprechungen
diesem Sinn gemäß oder zuwider geschieht,
nicht um das Letzte immer direkt zu bestreiten,
sondern um das Böse wo möglich selbst zum
Guten umzulenken, und die Kraft oder Energie,
die das nicht sein Sollende entwickelt, selbst für
die wahre Bewegung zu benutzen.« Damit ist
die Frage nach Gott gestellt, jener Instanz, die
das Sein Sollen des Guten verbürgt und damit
die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit
und Wirklichkeit von Offenbarung.
Schmied-Kowarzik zieht aus diesen Überlegungen den Schluß, daß erst durch dieses »ekstatische« Eingeständnis der vor jedem Denken
stehenden Existenz ein wahres Verständnis
möglich wird.
Instruktiv sind Schmied-Kowarziks »abschließende Bemerkungen zur Wirkungsgeschichte«, in denen er vor allem das Nachklingen dieses Denkens im Werk von Heidegger
und Bloch erörtert. Bei alledem fällt freilich
auf, dass Schmied-Kowarzik der durchaus wechselhaften Geschichte Schellings als politischen
Denkers vergleichweise wenig Raum zuweist –
eine wechselhafte Geschichte als Revolutionär,
als Reaktionär oder gar als Anarchist, schließlich – zuletzt – als skeptischer, wohl aber an
den Menschen- und Bürgerrechten orientierter Konservativer. Vor allem aber fällt auf, daß
Schmied-Kowarzik zwar des jungen Jürgen Habermas 1954 verfasste Dissertation über Schelling in seinem Literaturverzeichnis aufführt, er
jedoch eine Ausseinandersetzung mit desselben
Autors wegweisendem Aufsatz »Dialektischer
Idealismus im Übergang zum Materialismus
– Geschichtsphilosophische Folgerungen aus
Schellings Idee einer Contraction Gottes« aus
dem Jahr 1963 Aufsatz unterlässt. Das ist deswegen auffällig, weil Habermas Beitrag für eine
Schellingrezeption steht, die diesen Denker der
»Unvordenklichkeit des Seins« als unmittelbare
Vorstufe zum Denken des jungen, einen Materialismus menschlicher Praxis postulierenden
Karl Marx versteht. Im Gegenzug wäre zu wünschen, dass Schmied-Kowarzik, der exzellente
Kenner des Werks von Franz Rosenzweig in
einer nächsten Auflage noch intensiver auf die
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Schellingschen Grundlagen von Rosenzweigs
Hauptwerk, dem »Stern der Erlösung« eingeht.
Aber wie dem auch sei – wer sich ebenso
gründlich wie gut nachvollziehbar in Schellings
Werk einführen lassen will, wird gegenwärtig
nichts Besseres finden als Schmied-Kowarziks
»Existenz denken.«
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Einzelbesprechungen
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Rezensionsaufsätze
AutorInnenverzeichnis
Georg Bastian, Im Storchenhain 18, 60437 Frankfurt
Dr. Dani Kranz, Thorrer Straße 32a, 50127 Bergheim
Prof. Dr. Anna-Maria Kreienbaum, Universität Wuppertal, Fakultät 2, Gaußstraße 20,42119
Wuppertal
Dr. Dagmar Lieske, Graefestr. 18, 10967 Berlin
Dr. Christoph Sänger, Am Uellenberg 10, 42119 Wuppertal
Prof. Dr. Stephen Mennell, School of Sociology, University College Dublin, Belfield, Dublin D04
F6X4 IRELAND
Prof. Dr. Albert Scherr, Pädagogische Hochschule Freiburg, Kunzenweg 21, 79117 Freiburg
Prof. Dr. Manfred Liebel, European Master in Childrens’s Rights (EMCR), FU Berlin, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin
Prof. Dr. Gyoergy Széll, University of Osnabrueck, School of Cultural & Social Sciences, 49069
Osnabrueck
Prof. Dr. Michael Winkler, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Bildung und Kultur,
Am Planetarium 4, 07737 Jena
Firat Yildrim B.A., Düppeler Straße 14., 42107 Wuppertal.
Prof. Dr. Timm Kunstreich, Spliedtring 26, 22119 Hamburg
Prof. Dr. Ulfrid Kleinert, Käthe-Kollwitzstr. 17, D 01445 Radebeul
Prof. Dr. Reinhart Wolff, Kronberger Kreis f., Dialogische QE e. V., Siegfried-Bernfeld-Institut
f. Praxisforschung, Küstriner Strasse 39, 13055 Berlin
Dr. Lars Alberth, Leibniz Universität Hannover, Institut für Soziologie, Im Moore 21 (Vorderhaus), 30167 Hannover
Prof. Dr. Holger Ziegler, Universität Bielefeld, Fakultät Erziehungswissenschaft, 33501 Bielefeld
Prof. Dr. Franz Hamburger, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, und: Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz, Am Stiftswingert 15, 55131 Mainz
Prof. Dr. Micha Brumlik, Universität Frankfurt, Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft,
Robert Mayerstr. 1, 60054 Frankfurt am Main
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