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Inhalt Zu diesem Heft 3 Heft 73/2016 SLR Literaturbericht Ulfrid Kleinert Sozialarbeit und Seelsorge im Kontext von Strafvollzug und »Resozialisierung« 5 Rezensionsaufsätze Firat Yildirim Von der vermittelten Nichtidentität und neuen Wegen aus der Systemkrise: Darrow Schecters Reformanstoß der kritischen Theorie im 21. Jahrhundert. 41 Michael Winkler Alltagsverstand, politische Bildung und Soziale Arbeit 47 György Széll Gesellschaftstheorie heute 52 Timm Kunstreich Erziehung als »respektables Kampfmittel«, »die Macht der herrschenden Klasse zu sichern«. Eine ermutigende Re-Lektüre von Siegfried Bernfelds Schriften zu Psychoanalyse und Pädagogik 61 Holger Ziegler Professionalität 67 Sammelbesprechung Albert Scherr Menschenrechte, nationalstaatliche Demokratie und funktionale Differenzierung– Wahlverwandtschaften oder Gegensätze? 73 Forschungsbericht Manfred Liebel Globale Kindheiten und das Versprechen der Kinderrechte 79 Essays Stephen Mennell Die us-amerikanische Heuchelei – Ein Erklärungsversuch 103 1 SLR 73.indb 1 29.11.2016 15:48:36 Heft 73/2016 SLR Inhalt Gerard Delanty Nachdenken über die Bedeutung von Solidarität für das heutige Europa 123 Christoph Sänger Den Marxismus lebendig erhalten. Pädagogische Impulse zweier Vordenkerinnen des demokratischen Sozialismus: Anna Siemsen und Alice Rühle-Gerstel 134 Reinhart Wolff Moderner Kinderschutz in der Unsicherheitsgesellschaft – ganzheitliche Hilfe oder autoritäres Risikomanagement – Entwicklungstrends und aktuelle Herausforderungen 150 Einzelbesprechungen Peter Hammerschmidt/Ute Kötter/Juliane Sagebiel Die Europäische Union und die Soziale Arbeit (Franz Hamburger) 162 Amanda Klekowski von Koppenfels Migrants or Expatriates? Americans in Europe Lars Meier Migrant Professionals in the City: Local Encounters, Identities, and Inequalities (Dani Kranz) 165 Stefan Gillich/Rolf Keicher Suppe, Beratung, Politik – Anforderungen an eine moderne Wohnungsnotfallhilfe (Georg Bastian) 167 Holger Brandes/Markus Andrä/Wenke Röseler/Petra Schneider-Anrich Macht das Geschlecht einen Unterschied? Ergebnisse der Tandemstudie zu professionellem Erziehungsverhalten von Frauen und Männern. (Anna-Maria Kreienbaum) 168 Sarah Helm Ohne Haar und ohne Namen. Im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück. (Dagmar Lieske) 170 Hilmar Schäfer Die Instabilität der Praxis: Reproduktion und Transformation des Sozialen in der Praxistheorie (Lars Alberth) 173 Wolfdietrich-Schmied Kowarzik Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk (Micha Brumlik) 175 Autorinnen/Autoren 178 2 SLR 73.indb 2 29.11.2016 15:48:36 SLR Heft Literaturbericht Vor dem Hintergrund der heute fast vergessenen Geschichte der Debatten von vor 40 Jahren über »Abolitionisten«, die – sozialwissenschaftlich orientiert – die Gefängnismauern einreißen wollten und über die Bestrafung von Straftätern, deren Sinn, Funktion und Folgen nachgedacht haben, beschreibt Ulfrid Kleinert anhand einer Vielzahl von Veröffentlichungen zum einen – mit Bezug auf offizielle Ideologien und Ideen – in einer weitgreifenden und grundlegenden Weise die Situation von Gefängnisinsassen und Analysen der Institution »Gefängnis«, zum anderen professionelle Praxen von Sozialarbeit und Seelsorge im Kontext von Strafvollzug und »Resozialisierung«. Gerade jene Literatur, die von »Eingeweihten« unterschiedlicher Provenienz geschrieben wurde, verdeutlicht das Versagen des Kriminaljustizsystems im Bereich des Strafvollzugs über weite Strecken. Rezensionsaufsätze Die klassische Kritische Theorie verstand sich als Wissenschaft in praktischer Absicht, d.h. als Beitrag zu einer emanzipatorischen Gesellschaftsveränderung. Gesellschaftsanalyse war damit gesetzt als Aufgabe, in/an den widersprüchlich verfassten Bedingungen der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaftsformation Elemente einer besseren Gesellschaft zu entziffern. Firat Yilderim rekonstruiert wesentliche Elemente einer neuen Studie zur Bedeutung der Kritischen Theorie im 21. Jahrhundert und zeigt, wie – jenseits des Versagens der neueren Kritischen Theorie – Möglichkeiten einer wirklich kritischen Analyse heute im Spätkapitalismus insbesondere angesichts der neoliberalen Konterrevolution möglich sind und welcher Leitmotive sie sich dabei bedienen kann. Die eher kategorial verfassten Überlegungen zuvor werden im Beitrag von Michael Winkler wesentlich »nach unten hin, zu den Erfahrungen der Menschen«, wie einst von Negt/Kluge formuliert, verlängert, wenn er neuere Beiträge zur Vermittlung zwischen Alltagsverstand, politischer Bildung und Sozialer Arbeit vorstellt. Im Anschluss an das Werk des italienischen Marxis- ten Antonio Gramsci erfolgt hier unter anderem eine kritische Diskussion über die Beziehungen zwischen Kultur und Sozialer Arbeit, in die Fragen der Konstitution von Alltagsbewusstsein und deren Überwindung eingelassen sind. Heft 73/2016 Rezensionsaufsätze Literaturbericht Zu diesem Mit Fragen zum gegenwärtigen (Zu)stand von Gesellschaftstheorie und politischer Theorie ist der Text von György Széll befasst. Er resümiert in kritischer Art – vor allem bezogen auf Fragen der Auswahl und deren Kriterien – Erträge eines voluminösen Internationalen Handbuchs, das in 42 Kapiteln ein breites Spektrum heutiger Themen und Debatten ausbreitet, sich allerdings doch in vielem als Englisch zentriert erweist. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob und welchen Einfluss diese Theoretisierung auf neue soziale und politische Bewegungen – in Europa oder in der Welt – nehmen kann bzw. genommen hat. Der grundlegenden Frage nach dem Verhältnis von Theorie/Analyse und Politik/Praxis widmet sich auch Timm Kunstreich in seiner Vorstellung des fünften Bandes der Bernfeld-Ausgabe. Enthalten sind hier wesentliche Werke Bernfelds, die sich dem Verhältnis von Marxismus und Psychoanalyse am Gegenstand der Untersuchungen zu pädagogischer Praxis wie Theorie widmen. Im Zentrum steht dabei »Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung« mit der Frage nach dem Verhältnis von Erziehung und Gesellschaft, spezifischer den Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderung in emanzipatorischer Absicht. Es fragt sich, ob Rettendes für diese Perspektive auch aus einer Konzeption – oder vielen – von »Professionalität«, respektive »Professionalität und Pädagogik« erwachsen kann. Holger Ziegler rekonstruiert ihm wesentliche Aspekte unterschiedlichster Debatten und Beiträge aus einem großformatigen Band, zu Ehren von Bernd Dewe publiziert. Deutlich wird dabei, dass auch angesichts bzw. in Anerkennung der Fortschritte in Professionstheorie und Professionspolitik nach wie vor Herausforderungen existieren. Sammelbesprechung Angesichts der gegenwärtigen Zeitläufte stellt sich mit einer gewissen Dringlichkeit die Frage 3 SLR 73.indb 3 29.11.2016 15:48:36 Heft 73/2016 SLR nach dem Zusammenhang von Menschenrechten und nationalstaatlich organisierter Demokratie. Albert Scherr stellt dabei eine grundsätzliche Interpretation des modernen Verständnisses von Menschenrechten heraus, die auf das Selbstverständnis moderner, demokratisch verfasster Gesellschaften zu beziehen sei. Neue Veröffentlichungen machen jedoch deutlich, dass es – wie dies bereits bei Marx aufzufinden ist – durchaus eine grundsätzliche Kritik an der Vorstellung eines positiven Passungsverhältnisses zwischen den Menschenrechten und den Strukturen moderner Gesellschaften gibt. Forschungsbericht Auch der Text von Manfred Liebel ist in einer grundlegenden wie grundständigen Weise mit Rechtsfragen und deren Verwirklichungspotenzial bzw. Verwirklichungsversprechen befasst, wenn er Zusammenhänge zwischen globalen Kindheiten und dem Versprechen von Kinderrechten thematisiert. Konstatieren lässt sich zumindest, dass sich mit Bezug auf die Analyse globaler Kindheiten neue Resultate finden, dass der Blick auf Kindheiten und Kinderrechte in verschiedenen Teilen der Welt offener und differenzierter werden muss und die konkreten Lebensverhältnisse der Kinder stärker zu beachten sind. Daran ließe sich ein kritisches und auf soziale Transformationen gerichtetes Potenzial einer emanzipatorischen Kinderrechtsforschung aufweisen. Essays Die US-amerikanische Machtposition in der Welt hat dieses Land und seine Regierenden in einer besonderen Weise empfänglich für Heuchelei und kollektive Selbsttäuschungen gemacht, was die Griechen »Hybris« genannt haben. Dies führt – nicht nur – in der auswärtigen Politik zu Desastern. Stephen Mennell analysiert mit besonderem Bezug auf die Ukraine Krise von 2014 ein Beispiel. Mithilfe der Etablierte-Außenseiter-Analyse von Norbert Elias sucht er zu verstehen, warum sich die USA zum »Rest der Welt« verhalten, wie sie sich verhalten. Es geht mithin um Verständnis wie Zu diesem Heft Erklärung der Grundlagen und Folgen des USamerikanischen Imperialismus im Kontext eines manichäischen Weltbildes für »die Anderen«. Dem anderen gegenwärtigen Politikproblem in unserer Welt, der Frage nach der Bedeutung von Solidarität für das heutige Europa, geht der Text von Gerard Delanty nach. In einer fundierten Analyse, die darauf aufruht, die Frage nach der Solidarität als vorrangig gegenüber der nach Freiheit und Gleichheit zu setzen, entschlüsselt er divergente Möglichkeiten der Konzipierung von Solidarität im Rahmen u.a. der Frage nach den Voraussetzungen und Folgen unterschiedlicher Vergesellschaftungsmuster für nationalstaatlich organisierte Mitgliedschaften. Wie alles anders, besser, in der Welt werden könnte, diskutiert der Text von Christoph Sänger am Beispiel des Werkes zweier pädagogischer Sozialistinnen, Anna Siemsen und Alice Rühle-Gerstel. Es geht um die Perspektive eines demokratischen Sozialismus, aufruhend auf demokratischer Bildungsarbeit – dementsprechend um einen weiteren Beitrag zum Thema »neue Menschen« und »alte Strukturen«. Emanzipation aus einer weiteren Problemstellung, einem Konzept von Kinderschutz, das Gegenwart, Kindheitsforschung und demokratischen Ansprüchen folgt bzw. genügt, wird in den Überlegungen von Reinhart Wolff thematisch. Zugleich wird ein Panorama von Vorstellungen zur Professionalität sichtbar, in Vorstellungen von funktional differenzierten modernen Gesellschaften eingelassen, ohne dass damit zugleich etwas über ihre Lösungskompetenzen ausgesagt wäre. Denn im Fall moderner Kinderschutzarbeit gilt es, sich der verschärfenden gesellschaftlichen Widersprüche, die zu neuen fachlichen Herausforderungen geführt haben, bislang aber in der Kinderschutz Diskussion zu wenig im Blick gewesen sind, bewusst zu werden. Die Redaktion empfiehlt: Um den Lesegenuss zu sichern, sollten alle AbonnentInnen je 2 (gerne auch mehr) weitere AbonnentInnen werben! 4 SLR 73.indb 4 29.11.2016 15:48:36 SLR Ulfrid Kleinert Sozialarbeit und Seelsorge im Kontext von Strafvollzug und »Resozialisierung« Heft 73/2016 Rezensionsaufsätze Literaturbericht Literaturbericht A In die Sammelrezension einbezogene Literatur1 I. (auto)biografisch (Erfahrungsberichte) 1. Bernd Maelicke: Das Knastdilemma – Wegsperren oder resozialisieren? Eine Streitschrift, München: C. Bertelsmann 2015, 256 S. 19;99 € 2. Thomas Galli: Die Schwere der Schuld – ein Gefängnisdirektor erzählt, Berlin: Das neue Berlin 2016, 191 S. 12,99 € 3. Hubertus Becker: Ritual Knast – Die Niederlage des Gefängnisses, Leipzig: Forum Verlag 2008, 200 S. 13,80 € 4. Werner Schumann: Gefängniszeit eines Leipzigers, Dreieich-Buchschlag: Dr. Werner Schumann 1991, 129 S., 10,00 € II. Sozialwissenschaftlich 5. Heinz Cornel / Gabriele Kawamura-Reindl / Bernd Maelicke / Bernd Rüdeger Sonnen (Hg): Resozialisierung Handbuch 3. Auflage, Baden-Baden: Nomos-Verlag 2009, 623 S. 59 € 6. Gabriele Kawamura-Reindl / Sabine Schneider: Lehrbuch Soziale Arbeit mit Straffälligen, Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2015, 386 S., 29,95 € 7. Werner Päckert: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser – zum Versuch der Implikation professioneller Sozialarbeit in das System des Strafvollzugs In: J.M. Häußling / R. Reindl (Hg) Sozialpädagogik und Strafrechtspflege – Gedenkschrift für Max Busch, Centaurus-Verlag 1995 S.539-565, 50,11 € 8. Christoph Flügge / Bernd Maelicke / Harald Preusker (Hg): Das Gefängnis als lernende Organisation, Baden-Baden: Nomos-Verlag 2001, 375 S., 46 € 9. Harald Preusker / Bernd Maelicke / Christoph Flügge (Hg): Das Gefängnis als RisikoUnternehmen, Baden-Baden: Nomos-Verlag 2010, 297 S., 49 € III. juristisch 10. Klaus Laubenthal: Strafvollzug 7., neu bearbeitete Auflage, Berlin und Heidelberg: SpringerLehrbuch 2015, 793 S., 37,37 € 11. Laubenthal / Nestler / Neubacher / Vettel, München: C.H. Beck 2015, 1459 S., 119 € 12. Johannes Feest (Hg): Strafvollzugsgesetze – ein Kommentar, 7. Auflage Neuwied Winter 2016/2017, 1174 S., 129 € 13. Heinz Cornel / Frieder Dünkel / Ineke Pruin / Bernd-Rüdeger Sonnen / Jonas Weber: Diskussionsentwurf für ein Landesresozialisierungsgesetz – Nichtfreiheitsentziehende Maßnahmen und Hilfeleistungen für Straffällige, Mönchengladbach: Forum-Verlag Godesberg 2015, 156 S., 17 € 1 Im Folgenden werden nur die Publikationen genannt, die im Einzelnen besprochen werden; auf andere Literatur zum Thema wird in den Anmerkungen Bezug genommen. Ausführlicher berücksichtigte und als besonders wichtig erscheinende Publikationen sind im Folgenden fett gedruckt. Die arabischen Ziffern vor den Literaturangaben werden im Folgenden als Kürzel für die Publikation verwendet. 5 SLR 73.indb 5 29.11.2016 15:48:36 Heft 73/2016 SLR IV. theologisch 14. Rainer Dabrowski: verknackt – vergittert – vergessen, ein Gefängnispfarrer erzählt, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2015, 223 S. 17,99 € 15. Ulrich Tietze (Hg): Nur die Bösen? Seelsorge im Strafvollzug, Hannover: Lutherisches Verlagshaus: Hannover 2011, 231 S. 12,90 € 16. Ursula Unterberger: Religion – die letzte Freiheit, Religionsausübung im Strafvollzug, Marburg: Tectum-Verlag 2013, 123 S. 24,90 € 17. Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge: »Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen« – Leitlinien für die Evangelische Gefängnisseelsorge in Deutschland, Hannover: EKD 2009, 55 S. 18. Alexander Funsch: Seelsorge im Strafvollzug – Eine dogmatisch-empirische Untersuchung zu den rechtlichen Grundlagen und der praktischen Tätigkeit der Gefängnisseelsorge, BadenBaden: Nomos-Verlag 2015, 618 S., 159 € 21. Martin Hagenmaier: Mythen, Konstruktionen, Lebensentwürfe – Perspektiven evangelischer Seelsorge in Zwangseinrichtungen, München: Akademische Verlagsgemeinschaft 2009, 422 S., 74,90 € 22. Martin Hagenmaier: Straftäter und ihre Opfer – Restorative Justice im Gefängnis, Sierksdorf: Text-Bild-Ton Verlag 2016, 260 S., 12,90 € B Vorstellung der Literatur im Überblick I (auto)biografisch (Erfahrungsberichte) 1 Wege aus dem Knast-Dilemma – zu Bernd Maelickes Streitschrift Wenn, wie es in den meisten Bundesländern fast Jahr für Jahr geschieht, Gefängnisse des Landes für Tausende Besucher öffnen, gibt es nicht wenige, die davon sprechen, wie gut heute Gefangene untergebracht sind. Und in der Tat: vergleicht man die Freiheitsentziehung heute mit der in den Zuchthäusern der Vergangenheit, so geht es jetzt vielerorts menschlicher dort zu. Strafgefangene haben das Recht auf menschenwürdige Behandlung. Entzogen wird ihnen »nur« ihre Freiheit, freilich mit allem, was damit an Fremdbestimmung verbunden ist. Sieht man von den wenigen lebenslang Sicherheitsverwahrten ab, geschieht dies auch »nur« für eine begrenzte Zeit. Dass nicht nur sie, sondern auch ihre Familien und Freunde mitbestraft werden und dass im geschlossenen Vollzug höchstens ein kleiner Teil von ihnen lernt, »ein Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten« zu führen (so die gesetzliche Bestimmung der Aufgabe des Strafvollzugs), wird dabei oft übersehen. Bernd Maelicke hat ein anschaulich, spannend und fachkundig geschriebenes Buch veröffentlicht, das er »eine Streitschrift« nennt und unter den Titel »Das Knast-Dilemma« stellt. Maelicke bringt den Konflikt auf den Punkt: »Wegsperren oder resozialisieren?«, lautet seine Frage an Gesellschaft und Staat. Sie kommt von einem, der es wissen muss. Sein Leben lang hat sich Maelicke mit den Menschen beschäftigt, die Gesetze übertreten haben. Und anders als alle Krimis auch damit, was mit ihnen geschieht, wenn das Urteil gesprochen ist. Nachdem er persönlich, wie er selbst darstellt, mit Glück vor einer kriminellen Karriere bewahrt wurde (S. 17-24), schildert er, »wie man ein Verbrecher wird« (S. 24-31). Schritt für Schritt beschreibt Maelicke dabei den Lebensweg des Straftäters Simon S., der nach realen Vorbildern als exemplarische Fiktion von Maelicke gestaltet ist. Dessen Entwicklung vor, während und nach dem Gefängnis wird im ersten Teil des Buches nachgezeichnet (S. 31-128). Der Leser, die Leserin empfindet mit, was Simon während der Gerichtsverhandlung, beim Ankommen in der Strafanstalt, auf der Station mit anderen Gefangenen, beim Besuch seiner Freundin und schließlich vor und nach seiner 6 SLR 73.indb 6 29.11.2016 15:48:36 SLR Entlassung fühlt und denkt. Wer an den Tagen der Offenen Tür in deutschen Gefängnissen nicht nur Gebäude und Räume sehen will, sondern auch wissen möchte, wie es dort zugeht: hier kann man lebendig den Alltag der Weggesperrten miterleben - mit seinen vielen Problemen, und auch mit seinen eng begrenzten Möglichkeiten. Maelicke schreibt nicht nur als warmherziger zugewandter Mensch, sondern auch als Experte. Zusammen mit seiner Frau hat er schon früh das Dilemma erkannt, das darin besteht, in der Unfreiheit ein sozial verantwortliches Leben in Freiheit lernen zu sollen bzw. zu vermitteln. Er hat seit Studentenzeiten nach »etwas Besserem als Strafvollzug« gesucht (S. 129-152). Mit einer Entlassungsvorbereitungsgruppe im Südbadischen begann es. Eine Doktorarbeit über »Entlassungsvorbereitung und Resozialisierung« des jungen, an sozialer Arbeit interessierten Juristen folgte. Dann die wissenschaftliche Unterstützung der »Alternativprofessoren«, die schon vor knapp 50 Jahren bei der Entstehung des (zunächst nur) westdeutschen Bundesstrafvollzugsgesetzes mehr wollten als Wegsperren. Schließlich kommt für ihn nach seiner Mitwirkung an verschiedenen empirischen Untersuchungen die praktische Bewährungsprobe (S. 153-169): die damalige neue, zunächst allein von der SPD geführte Regierung Schleswig-Holsteins berief den geschätzten Fachmann für 15 Jahre (1990-2005) als Leiter der Abteilung »Strafvollzug, Soziale Dienste der Justiz, Freie Straffälligenhilfe, Gnadenwesen« ins Justizministerium. Sie ließ ihn ein Netz von Projektgruppen, gemischt aus Fach- und Führungskräften, aufbauen. Das bescherte dem nördlichsten Bundesland einen wirkungsvolleren Justizvollzug als andernorts. Hier wurde der offene Vollzug ausgebaut, der keine Gefängnismauern kennt (Berlin hat inzwischen SchleswigHolstein in dieser Hinsicht längst überholt). Anstelle von Ersatzfreiheitsstrafen gab es gemeinnützige Arbeit. Der Täter-Opfer-Ausgleich wurde besonders gefördert. Und eine integrierte Organisations- und Personalentwicklung mit besonderer Verantwortung für die Anstaltsleiter sorgte für ein besseres Klima, das der Kooperation mit Straffälligen zugute kam. Aber auch »Resozialisierer« müssen die berechtigten Sicherheitsinteressen der Gesellschaft anerkennen, weiß Maelicke (S. 170). Die Wenigen, die als dauerhaft gefährlich einzustufen sind – sie sind das Thema der Medien und der Öffentlichkeit, die große Mehrheit der Straffälligen interessiert sie kaum! –, müssen tatsächlich sicher weggeschlossen werden. Als einem von diesen aus dem als sicher geltenden Lübecker Gefängnis für vier Tage die Flucht gelingt und er die Flucht durch ein Verbrechen zu decken versucht, steht ungerechterweise die erfolgreiche Reform für all die anderen auf dem Spiel (S. 170-177). Maelicke kann den Erfolg der schleswigholsteinische Resozialisierungspolitik dennoch mit Fakten bilanzieren (S. 177 f.): das Land hat heute nach Maelicke nur 40 Inhaftierte auf 100 000 Einwohner und liegt damit 50 Prozent unter dem Bundesdurchschnitt. Die gut vernetzte Freie Straffälligenhilfe wurde konsequent ausgebaut. Die Gesamtausgaben für den Justizvollzug haben bundesweit mit Abstand die geringste Quote, so dass die Sozialen Dienste der Justiz außerhalb des Gefängnisses besser gefördert werden können. Maelicke zeigt: um das zu erreichen, bedarf es einer transparenten und langfristigen Reformstrategie und ihrer Wertschätzung durch Politik und Medien. Dann besteht auch die Möglichkeit, sich den »Brennpunkten im Alltag der Resozialisierung« erfolgreich zu stellen (S. 179-214). Diese besondere Aufmerksamkeit und Veränderung erfordernden problematischen Brennpunkte bestehen für Maelicke u.a. darin, dass Mithäftlinge oft die härtesten Strafvollstrecker sind (Stichwort Subkultur), dass unkontrollierte Drogenverfügbarkeit den Erfolg von Therapien gefährdet, dass Sexualität in menschenunwürdiger Weise gelebt wird und dass die Kosten des Strafvollzugs steigen, aber nicht die positiven Wirkungen. Perspektivisch fragt er (S. 215-233) danach, wer ins Gefängnis gehört und wer nicht (für ihn sind »maximal 30 Prozent gefährliche Straftäter«), ob nicht alle Gefangenen Sozialtherapie brauchen, »bei denen schwere Verhaltensstörungen in ihrer Biographie begründet sind und immer wieder zu erneuter Straffälligkeit führen«, und ob Fehlbelegungen durch Ersatzfreiheitsstrafer und durch therapie- Heft 73/2016 Literaturbericht 7 SLR 73.indb 7 29.11.2016 15:48:36 Heft 73/2016 SLR bedürftige Drogenabhängige nicht zu vermeiden seien. Er demonstriert am Fall Ulli Hoeness die Sanktionsarmut des deutschen Strafrechts (hätte es für ihn nicht angemessenere Strafen als Einsperren gegeben?) und fordert schließlich Resozialisierungsgesetze in allen Bundesländern. Wie es auch anders geht, zeigen Maelicke (S. 233-242) die Modellprojekte RESI in Köln, Insel Bastoy in Norwegen und restorative justice. Maelickes Sachbuch ist erstens Motivation und Programm für eine rationale Kriminalpolitik und zweitens eine biografisch angelegte, erfahrungssatte Lektüre für alle, die genauer wissen wollen, was Freiheitsstrafe bedeutet und welche Alternativen möglich sind. Es erweist sich als sehr gut geeignet für eine sachgemäße breite öffentliche Diskussion über Ziel und Mittel staatlicher Sanktionen gegenüber denen, die gegen demokratisch legitimierte Gesetze verstoßen. Es verdient deshalb, in Fach- und Politikkreisen beachtet und in seinen Intentionen umgesetzt zu werden. 2 Vom Wahnsinn der Freiheitsstrafe – Gefängnisdirektor Gallis Erzählungen Was Maelicke mit seiner fachlichen Biographie untermauert, zeigt Thomas Galli an neun Einzelstudien von Straftätern, denen er als Psychologe und Anstaltsleiter im Gefängnis begegnet ist: dass es notwendig ist, eine kleine Zahl von Straftätern zugleich sicher und menschenwürdig unterzubringen, aber die meisten von ihnen entweder bei Ausbau des Präventionsbereichs gar nicht erst in die Situation kommen müssen, inhaftiert zu werden oder durch andere Sanktions- und Therapiemaßnahmen inkludiert werden können (175-178). Nach dreizehn Jahren in bayrischen Vollzugsanstalten (Amberg und Straubing) und gut zwei Jahren in Sachsen (Zeithain und Torgau) sieht Galli sich in der »Pflicht, die Allgemeinheit nicht in falscher Sicherheit zu wiegen« (191), sondern darauf hinzuweisen, »dass unsere Kategorien von Schuld und Vergebung nicht geeignet sind, die soziale Wirklichkeit wiederzugeben, und noch weniger, sie zu gestalten« (188). »Das Konstrukt von Schuld und Vergeltung (könne) vielleicht eine Eindämmung, keineswegs aber ein Durchbrechen des Teufelskreises« des Bösen bewirken. »Und in vielen anderen Fällen wurde die Spirale der Gewalt durch Schuld und Vergeltung, durch Strafe und Gefängnis erst eröffnet.« (24) Galli stellt fest, dass es im Gefängnis auf beiden Seiten der geschlossenen Türen und Gitter »sympathische und unsympathische Menschen gibt, gute und schlechte Charaktere, mitfühlende Menschen und reine Egozentriker« (178) und dass die mediale Aufmerksamkeit auf spektakuläre auf Personen bezogene Skandale im Gefängnis nur ablenkt davon, dass der eigentliche Skandal das System Gefängnis selbst ist2: »Das Gefängnis als Institution wird, wenn auch von den meisten unbewusst, nicht geschätzt für die Übernahme von Verantwortung im Sinne einer Lösung von gesellschaftlichen Problemen und Konflikten. Das Gefängnis ist ein (in die Irre führendes U.K.) Symbol dafür, von Menschen ausgehende Gefahren im Griff zu haben und sich dabei nicht von blinden Gefühlen der Angst und Wut, sondern der Vernunft, gegossen in die Form des Rechts, leiten zu lassen« (133). Tatsächlich gilt: »Unser gesellschaftlicher Umgang mit straffälligen Menschen ist eben nicht sehr rational, sondern angst- und wutgesteuert« (179). Schon einleitend formuliert Galli deshalb seine »Überzeugung, dass das Gefängnis eine überholte gesellschaftliche Institution ist. In ihr manifestiert sich eine ungerechte, unvernünftige und oft unmenschliche Verteilung der Schuld.« Es könne aber nur mit »erheblichen Kraftanstrengungen in etwas Sinnvolleres aufgelöst werden«, weil es »ein Symbol für Sicherheit«, »für Rechtsstaatlichkeit«, ein »ehernes Symbol für die Unterscheidung zwischen Gut und Böse« sei und die Guten draußen auch noch alles dafür zu tun vermeinen, »die Bösen auch wieder zu Guten zu machen«. (8) 2 Bezeichnender Weise hat die Bildzeitung in ihrer Berichterstattung über Gallis Publikation den Anschein erweckt, als ginge es Galli nicht um die Kritik des Systems Gefängnis, sondern um eine Kritik an sächsischen Justizvollzugsanstalten. »Bild« geht es um Skandalisierung, nicht um Aufklärung und Problemlösungen. 8 SLR 73.indb 8 29.11.2016 15:48:36 SLR Wie recht Galli hat, zeigt der Umgang mit seinem Buch: auf seine Fallstudien wird so gut wie gar nicht eingegangen – auch in der seriösen Presse nicht, die seine zitierten Grundeinschätzungen aufnimmt. Seine Beobachtungen werden als seine private Meinung abgetan, eine Lesung in der Leipziger JVA während der Buchmesse 2016 wird ihm mit dieser Begründung vom Sächsischen Justizministerium untersagt. Um dieses Urteil zu widerlegen, seien hier beispielhaft einige Einzelheiten aus den Fallstudien vorgestellt. Die Fallstudien sind, wie Galli bemerkt (187), nicht repräsentativ, weil sie sich mit »schweren Fällen« beschäftigen, spiegeln aber verschiedene Dimensionen wieder, in denen erkennbar wird, dass wir, wenn wir von Vernunft geleitet sind, etwas anderes als Gefängnisse brauchen. In den Fallstudien wird auch deutlich, wie Galli sich selbst seinen Gesprächspartnern und seinen Beobachtungen aussetzt, dabei professionell reflektierende Distanz und emotionale Nähe in guter Balance hält. Am Einzelfall demonstriert er strukturelle Probleme des Gefängniskonzepts. Die 1. Studie erzählt von der Unmöglichkeit einer vernünftigen Vollzugsplanung für einen zu 37 Jahren Haft wegen Mittäterschaft bei Polizistenmorden und Vergewaltigung verurteilten Menschen (Galli nennt ihn Thaler). Die Planung erfolgt nicht so, dass »zwei vernünftige Parteien ... in sinnvoller Weise ihre gemeinsame Zukunft gestalten« (13). Wenn mangelnde Impulskontrolle einvernehmlich von allen Seiten als tatverursachend angesehen wird, könnte eine einjährige freiwillige therapeutische Maßnahme die »Impulskontrolle mit guter Aussicht auf Erfolg deutlich verbessern,« meint Galli. Diese müsse, um wirkungsvoll zu sein, »in seinen (scil. des Straftäters) normalen Alltag eingebunden« sein. Der Staat habe also »seinen Vergeltungsanspruch soweit zu reduzieren, dass einer möglichen Resozialisierung Vorrang gegenüber einer absoluten Sicherheit gegeben wird« (13 f.). Hier sieht Galli das erste Dilemma. Das zweite Dilemma sind die diametral gegensätzlichen Ziele von Anstalt und Gefangenem: »der Gefangene möchte so schnell wie möglich entlassen werden, die Anstalt möchte kein Sicherheitsrisiko in Kauf nehmen und muss dokumentieren, was sie dem Gefangenen alles an Therapie- und Behandlungsmaßnahmen angeboten hat« (14); sie gibt, zumeist sinnlos, dafür viel Geld aus, das anderswo fehlt. In einer Reihe von Gesprächen macht Thaler nun seinem Gefängnisdirektor Galli deutlich, dass der Staat ihn als Geisel nimmt, »wie ich dies mit anderen getan habe« (17). Für Thaler ist »das ganze TherapieTheater reine Augenwischerei und höchstens eine Beschäftigungstherapie« (19). Galli berichtet, wie Thalers Lebenslauf »in den so wichtigen ersten Jahren wie der der allermeisten Straftäter von Vernachlässigung, Gewalt und Missachtung seiner natürlichen Bedürfnisse geprägt« war. Als seine Mutter, die ihn früh weggeben hat, » gezeichnet von jahrelangem Alkoholmissbrauch in einem Pflegeheim« lebt und zu ihm Kontakt aufnimmt, freut er sich »wie ein kleines Kind« und überweist ihr monatlich 50 Euro von seinem in der Haft erarbeitetem Geld. (27 f.). Ein Jahr nach ihrem Tod erhängt er sich mit einer Bettdecke an den Fenstergittern seiner Zelle. Er hatte zuvor vergeblich Ausgänge beantragt; sie wurden ihm aufgrund von drei sich widersprechenden Gutachten abgelehnt. »Dass kaum ein Gutachter einem Gefangenen bescheinigt, dass von ihm keine Gefahr ausgeht, liegt auf der Hand.« (24 f.). Eine genauere Darstellung der anderen Fallstudien würde den Rahmen dieser Rezension sprengen. Darum hier nur der Hinweis, worum es bei diesen Fällen geht. Fall 2 zeigt, wie die Macht der Subkultur des Gefängnisses am Beispiel der Russenmaffia die Resozialisierung eines jungen Russlanddeutschen verhindert. Fall 3 demonstriert den Verlust der schwierigen Balance zwischen Nähe und Distanz gegenüber einem wegen Betrugs Inhaftierten durch eine junge idealistisch gesinnte unerfahrene Sozialarbeiterin. Fall 4 verdeutlicht, wie der unvermeidliche Drogenhandel in der JVA allgegenwärtig ist und die Interaktionen bestimmt. Fall 5 erzählt von einem möglicherweise unschuldigen, wegen der Ermordung seiner Schwester allein aufgrund eines denkbaren Motivs Verurteilten; er ist inhaftiert, weil er kein sicheres Alibi vorweisen kann. 6. berichtet vom Verlauf der Geiselnahme eines ehrenamtlichen Pfarrers durch einen Gefange- Heft 73/2016 Literaturbericht 9 SLR 73.indb 9 29.11.2016 15:48:36 Heft 73/2016 SLR nen, den Galli als »eine tickende Zeitbombe« charakterisiert. Dem Inhaftierten ging es darum, seine Macht allen gezeigt zu haben. Als dies erfüllt ist, kann er den Pfarrer frei lassen. 7. stellt den im Knast nicht seltenen Typ eines sich pausenlos beschwerenden »Vollzugsteilnehmers« vor. 8. führt dem interessierten Lesepublikum einen Muttermörder vor Augen, der im Gefängnis »Nestwärme, Geborgenheit, Struktur, Halt, Sinn« findet und deshalb nicht mehr raus will (156). Schließlich diagnostiziert Galli im 9. Fall einen Psychiater, der selber geheilt werden muss, aber nach wie vor im Justizvollzug beschäftigt werden soll. An allen diesen Fällen zeigt Galli exemplarisch anhand seiner Aufzeichnungen die institutionstypische Verhaltenslogik und den dem Institutionsziel widersprechenden Un-Sinn des Gefängnisses sowie die Notwendigkeit eines anderen Sanktions- und Hilfeinstrumentariums auf. 3 Kluge Kritik aus der Sicht eines langjährigen Gefangenen – Hubertus Becker analysiert das »Ritual Knast« und diagnostiziert »die Niederlage des Gefängnisses« Er ist heute 65 Jahre alt, weit gereist, kennt sich mit Drogenhandel und Geldwäsche durch eigene Beteiligung aus, schreibt viel und saß insgesamt fast 20 Jahre in (süd-)deutschen Gefängnissen. Ihm ist die beste mir bekannte reflektierte »Bestandsaufnahme« zum heutigen Knast gelungen, weil er es versteht, seine Erfahrungen gut zu systematisieren, mit Expertenaussagen zu verknüpfen und anschaulich pointiert zu schildern – und unter einen passenden Buchtitel zu stellen. Dass er dabei nicht frei von Arroganz3 und Fehleinschätzungen ist, ändert am Gesamturteil nichts. Wer den Knast von innen kennen lernen will, sollte lesen, was Hubertus Becker zwischen einem kurzen Kapitel über Soziale Konflikte und unseren Umgang damit am Anfang und einem längeren Kapitel über Fiktionen, Funktionen, Alternativen und Perspektiven am Schluss meist ins Schwarze treffend zu skizzieren weiß. Nach einer Beschreibung des Inhaftierungsprozesses mit seiner obligatorischen Zugangskontrolle und von Konzept und Wirkung der Gefängnisarchitektur stellt Becker die beteiligten Personengruppen so vor, dass die Betroffenen in Beckers Beobachtungen sich verfremdet zum Teil gut wieder erkennen werden und von Beckers Wahrnehmungen lernen können. Das gilt für die Anstaltsleitung genauso wie für die Verwaltungs- und Fachdienste. Und für den Vollzugsdienst, der für Becker ungerechterweise immer noch pauschal unter dem Stichwort »Wärter« firmiert. Und es gilt auch für die Gefangenengruppen, die Becker systematisierend in »Verweigerer«, »Konformisten«, »Pragmatiker« und »Rebellen« einteilt. Wegen der spezifischen Gefangenenperspektive sind auch die folgenden Kapitel sehr lesenswert. In ihnen geht es um das unterschiedliche Vollzugsrecht der verschiedenen Bundesländer, um Disziplin und Strafen in der JVA, um Arbeit (sie ist in Beckers 2008 erschienenem Buch noch »Zwangsarbeit«, was heute auch de jure nicht mehr in allen Bundesländern zutrifft), um Konsum der Inhaftierten, um Bedeutung persönlicher Bindungen (und in deren Kontext auch der Sexualität), um das »Wissen« der »Wissenschaften«, um Gesundheit und medizinische Versorgung, schließlich um Knastsprache und offizielle Kulturveranstaltungen. Aufmerksam lesen wird der Fachmann auch, was Becker zu den Widerstandsformen der Gefangenen schreibt; sie sind für ihn nur wirksam, wenn sie solidarisch-kollektiv erfolgen können. Die Seiten 124-129 zur Subkultur geben einen informativen Einblick, sind aber – ungewöhnlich für Beckers sonst differenzierte Sicht – sehr unkritisch. Vielleicht will Becker aber auch nur provozieren, wenn er die Subkultur »das Gesunde, das Lebendige im Knast« nennt und als Begründung hinzufügt, dass sie »der Kunst wie auch der Gesetzeswidrigkeit Raum zur Entfaltung« und den Gefangenen »einen Rest von Individualität bewahren« lässt? Anscheinend ist er nie in der Situation eines 3 S. 200 dankt er einer Reihe von angesehenen Kriminologen für »Anregungen und Lektorat«! 10 SLR 73.indb 10 29.11.2016 15:48:36 SLR Opfers dieser eigene harte Hierarchien ausbildenden Subkultur des Gefängnisses gewesen (Maelicke bezeichnet in seinem »Knast-Dilemma« Mithäftlinge nicht ohne Grund als »oft die härtesten Strafvollstrecker«). Anders als für Becker ist für den Rezensenten die Subkultur auch ein deutliches Anzeichen der »Niederlage des Gefängnisses«, die Becker ansonsten so klar aufzuzeigen vermag; zwischen einzelnen Inhaftierten gibt es zwar durchaus gelegentlich – und meist symbiotisch - »Leben in sozialer Verantwortung«; aber unkontrolliert agierende Gruppierungen von Gefangenen sind fast immer ein Machtfaktor, der mehr oder weniger rigide gegen andere ausgespielt - oder aber zum Schutz gegen andere gebraucht - wird. In seinen Schlusskapiteln benennt Becker dann zutreffend und in Übereinstimmung mit vielen externen Strafvollzugs-Experten: 1. Auswirkungen und Funktionen des Gefängnisses, die seiner erklärten Aufgabe widersprechen, 2. wichtige Anstöße für Alternativen und Perspektiven. Auswahlweise seien daraus hier einige Sätze zitiert; sie können die Stärke, aber auch die Grenzen von Beckers »Bestandsaufnahme« verdeutlichen. Zu 1.: »Die zeitliche Überschaubarkeit unserer Projekte und Lebensphasen ... gestattet uns zielgerichtetes Handeln. ... Im Gefängnis ist der Mensch dieses Existenzprinzips beraubt. Die Illusion, Herr über seine Zeit zu sein, kann dort nicht aufrecht erhalten werden... Die Zeit schwebt als permanente Drohung über dem Leben im Gefängnis, und sie macht vielen Angst. ›Die Zeit schlich durch diese Wüste der Ereignislosigkeit, als wäre sie gelähmt‹« (155 f.). »Eine nicht zu unterschätzende Belastung stellt die Verunsicherung im Hinblick auf das Entlassungsdatum dar. Kaum ein Gefangener kennt den exakten Tag seiner Freilassung« (158). »Das Gefängnis versucht, den Menschen zum Wegschauen und zur Feigheit zu erziehen ... hin zum isolierten Individuum, das am einfachsten zu verwalten, auszubeuten und zu beherrschen ist... Je länger eine Inhaftierung dauert, um so gründlicher werden die früheren Bindungen zu den Mitmenschen draußen zerstört... ›Du musst hier ein Leben aufbauen, getrennt von der Außenwelt‹.« (158) Es gibt eine »Tendenz zur Lebensuntüchtigkeit durch die Komplettversorgung«(160)... »Das Einsperren ... ist eine so nachhaltige Störung der individuellen Lebensführung, dass das Vertrauen des Bestraften in das Wohlmeinen des Strafenden verloren geht. Die üblichen Reflexe – Trotz, Verachtung, Hass – verhindern, dass ein Lernprozess überhaupt in Gang kommt ... Tatsächlich handelt es sich um die Fiktion, dass der Entzug der Freiheit, das Zufügen von Schmerz, den Menschen zu sozialem Lernen und zu normenkonformem Verhalten führe« (165). Mit Arno Plack und Michel Foucault kritisiert Becker die herrschenden Straftheorien als »Fiktionen« (170-173). Vielmehr erfülle das Gefängnis die Funktion, »das Bedürfnis nach Vergeltung für Normabweichungen und die Schadenfreude gegenüber dem überführten Rechtsbrecher« des Volkes zu erfüllen (174). Zu 2.: Becker plädiert für »Entkriminalisierung« und für »Prävention und Konfliktmanagement« (180f). Er benennt »Strategien zur Haftvermeidung«. In Hinsicht auf den Strafprozess favorisiert er ein Drei-Phasen-Modell des norwegischen Kriminologen Nils Christie für die »Aufarbeitung zwischenmenschlicher Auseinandersetzungen«: es müsse – erste Phase – »zunächst geklärt werden, ob das Gesetz tatsächlich gebrochen wurde und ob der Beschuldigte tatsächlich der Täter war. In einer zweiten Phase sollte die Tat aus der Perspektive des Geschädigten betrachtet werden ... Dabei sollen Täter und Opfer miteinander in Dialog treten, die soziale Umwelt (Nachbarn, Kollegen, Freunde) sollten ebenfalls ihre Erwartungen und ihre Phantasien einbringen. ... Erst wenn sich keine andere Lösung abzeichnet, sollte auf staatliche Möglichkeiten, unter Umständen auch unter Anwendung von Zwang, zurückgegriffen werden. Im Anschluss – 3. Phase – wäre zu überlegen, was für den Täter getan werden kann, ob es zum Beispiel notwendig erscheint, ihm Therapien oder sonstige Hilfen anzubieten« (182-184). Becker weiß, dass Christies Modell »persönlich Geschädigte« voraussetzt und sich »auf intakte soziale Umfelder« stützt. Deshalb ergänzt er es mit erprobten Diversionsverfahren (Wiedergutmachung, Täter-Opfer-Ausgleich, Schlichtungsverfahren (184 f.)).Und er hält es für nötig, in begründeten Fällen »aggressive Psy- Heft 73/2016 Literaturbericht 11 SLR 73.indb 11 29.11.2016 15:48:36 Heft 73/2016 SLR chopathen ein Leben lang sicher in Quarantäne zu verwahren«, wobei auch in diesem Fall das Prinzip von Schuld und Sühne nicht nur verzichtbar, sondern unangebracht ist (vgl. 186 f.), weil es in allen Fällen um den Schutz und die Förderung eines »Lebens in sozialer Verantwortung« geht.4 Dass für die Verwirklichung solcher Alternativen perspektivisch »ein Rest von Hoffnung« durch »den Wandel von innen: die solidarische Organisierung der Gefangenen« und durch einen europäischen Zusammenschluss »zu einer großen Gefangenengewerkschaft« ... »in Zusammenarbeit mit Menschenrechtsorganisationen, Kriminologen, Gefangeneninitiativen und politischen Gruppierungen« bleibt (192 f.), erscheint dem Rezensenten anders als Becker, jedenfalls was die Gewichtung der Akteure mit der Vorrangstellung der Gefangenen angeht, als utopisch. Immerhin: Becker ist eine Bestandsaufnahme gelungen, die zur Aufklärung beiträgt. Dass sich in den acht Jahren seit deren Erscheinen manches zum Positiven geändert hat – Vollzugsteams können jetzt unter Supervision kontinuierlich auf einer Station arbeiten (gegen 57 f.), das Recht auf Einzelzellen wird zumeist realisiert (gegen 79), Arbeit ist kein Zwang mehr (gegen 98 f.), Tendenzen zur Privatisierung des Gefängnisses haben sich nicht durchgesetzt (gegen 190) und die Wissenschaftler schweigen nicht mehr, wie die hier vorliegende Sammelrezension zeigt (gegen 169) – lässt sich als ein Zeichen Realität gewordener Hoffnung verstehen.5 4 Werner Schumanns Gefängniszeit eines Leipzigers – das Gefangene noch heute ansprechende Tagebuch eines Unschuldigen Über ein halbes Jahr, vom 30. Juli 1936 bis zum 21. Februar 1937, war der Leipziger Kaufmann Werner Schumann im Leipziger Polizeigefängnis (ein Tag), im Leipziger Untersuchungsgefängnis (zehn Tage) und im Bautzener Strafgefängnis (28 Wochen) inhaftiert - wie sich in 3. Instanz 1943 herausstellte zu unrecht. Er hat während der Haft täglich seine Beobachtungen und Erfahrungen protokolliert und seine Protokolle 1991 im 3. Band seiner Biografie im Eigenverlag veröffentlicht. Seine Schilderungen beziehen sich zwar auf die Situation in drei sächsischen Gefängnissen vor 80 Jahren, sind aber als unmittelbare Aufzeichnungen und Reflektionen zur Gefängniskultur aus der subjektiven Sicht eines humanistisch gesinnten Inhaftierten bis heute von großem Erkenntniswert. Weil Schumann seine Gespräche, Gefühle und Wahrnehmungen im Leipziger Polizei- und Untersuchungsgefängnis, beim ersten Sonntag in Haft, in der Abgangszelle, beim Gefangenentransport, als Fadenzieher, Hilfsarbeiter und Kalfaktor, im Gefängniskrankenhaus, zu Weihnachten und bei Suiziden unverzüglich und authentisch aus seiner prinzipiell menschenfreundlichen Perspektive notiert hat, können sich noch heute viele Inhaftierte mit ihm und seinen Erfahrungen identifizieren.6 In allen Gefangenen, denen er begegnet, versucht Schumann den liebebedürftigen Menschen und nicht den Verbrecher wahrzunehmen, so dass viele sich ihm anvertrauen – und ungewöhnlicherweise wie selbstverständlich ihm auch von den Taten berichten, deretwegen sie inhaftiert sind. In Schumanns Perspektive gibt es nur wenige, die zum Schutz der Gesellschaft und vor sich selbst inhaftiert werden müssen. Sein Fazit: »Ein Staat ist gut, wenn seine Gefängnisse leer sind; und ein Staat ist schlecht, wenn seine Gefängnisse überfüllt sind.« 4 Zu Nils Christies Drei-Phasen-Modell für den Strafprozess ist zu vergleichen, was die Autoren Doye, Kleinert, Rabus, Sonntag und Weth in ihrem »Plädoyer für ein Maßnahmerecht« in: U.Kleinert Strafvollzug – Analysen und Akternativen, München/Mainz 1972 S.68ff (insbesondere S. 85-91) bereits vor 44 Jahren geschrieben haben. 5 Zu den Teilen des Buches, in denen der Gefangene Becker Personengruppen, Gremien und Verfahren im Gefängnis beschreibt, ist das jetzt im Sommer 2016 in Berlin und Hamburg im Assoziation A – Verlag publizierte, 679 Seiten umfassende und von einem Redaktionskollektiv herausgegebene, von Gefangenen als Orientierung für Gefangene geschriebene informative Werk »Wege durch den Knast, Alltag – Krankheit – Rechtsstreit« zu vergleichen, das nicht nur aus der Perspektive einer Person subjektiv beschreibt, was im Knast läuft und gilt (vgl. meine Renzension des Buches in: Der Riegel – Dresdner Gefangenenzeitung Nr. 3/2016: 35 f.). 6 Das zeigen z.B. Gespräche in der Redaktion der Dresdner Gefangenenzeitung »Der Riegel« im Frühjahr 2016. 12 SLR 73.indb 12 29.11.2016 15:48:36 II. sozialwissenschaftlich 5 Resozialisierung – ein unentbehrliches Handbuch SLR Heft 73/2016 Literaturbericht Sind die Monographien 1.-4. aus der Perspektive unmittelbar Betroffener und Beteiligter geschrieben, so handelt es sich bei den Publikationen 5.-9. um Fachbücher, die sich gemeinsamer praxisbezogener sozialwissenschaftlicher Arbeit verdanken. Nach wie vor das wichtigste Werk zum Thema ist dem Rezensenten das 2009 in 3. Auflage im Nomos-Verlag erschienene Handbuch »Resozialisierung«. Es wird von den Kriminologen Heinz Cornel, Gabriele Kawamura-Reindl, Bernd Maelicke und Bernd Rüdeger Sonnen herausgegeben und von 21 Autoren so gestaltet, dass die Beiträge bestens den Stand der Forschung wiedergeben und eine hervorragende Orientierung für die Praxis bieten. Die Autoren sind als Pädagogen, Psychologen, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen interdisziplinär ausgewiesen, auch wenn unter ihnen die juristische Fachrichtung dominiert. Die 70 – 170 Seiten starken 5 Hauptteile A - E der Artikelsammlung gliedern sich nach dem Grundlagenteil A in zwei Teile zu den beiden Klientelgruppen »jugendliche und heranwachsene Straftäter« (B) und »erwachsene Straftäter« (C) jeweils mit den Unterabschnitten »I. Ambulante Dienste und Maßnahmen« und »II. Stationäre Maßnahmen« und zwei Teile zu »Besonderen Zielgruppen und Problemlagen« (D) und »Vertiefungsgebiete« (E). Jeder der unter diesen Sammel-Überschriften stehenden 34 Einzelbeiträge (sie umfassen minimal 12 und maximal 32 Seiten) stellt eine äußerst komprimierte kleine Monografie zu ihrem Thema dar und ist mit einem guten Literaturverzeichnis versehen. Beispielhaft gilt das in A besonders für Cornels Beitrag »Zum Begriff der Resozialisierung«, in B I. für Trenczeks Vorstellung von Jugend- und »Jugendgerichtshilfe«, in B II für Sonnens Darstellung von »Jugendarrest« und –strafe; für C I. seien Grosser/Maelickes Artikel zur »Bewährungshilfe« und Kawamura-Reindls zu »freie und kommunale Hilfen für Straffällige« genannt. In C II. beeindruckt den Vf. besonders Cornels Artikel zum »Strafvollzug«. Zugleich umfassend und weiterführend sind die Beiträge in D zu »straffällige Frauen«, zu »Drogenabhängige« (Stöver), »psychisch kranke Straftäter« (Hahn), »Gewalt- und Sexualstraftäter« (Köhler), zu »Straftäter nicht-deutscher Nationalität« (Köhler), zu »Verschuldung« (Zimmermann) und »Arbeitslosigkeit« (Stöcken). Als Vertiefungsgebiete behandelt das Handbuch in E u.a. den »Täter-Opfer-Ausgleich« (Winter), »Hilfen für Angehörige Inhaftierter«, Fragen von »Zeugnisverweigerungsrecht« und »Datenschutz« (Riekenbrauk) sowie »Gnadenrecht und Gnadenpraxis« (Gebhardt). Das Handbuch beschließen in E ein anschaulich-anregender Beitrag zu »Resozialisierung und Medien« (Löhr) und Maelickes Resüme zu »Perspektiven einer ‚Integrierten Resozialisierung‘«. Das zwölfseitige Stichwortverzeichnis erschließt dem Leser ein schnelles Entdecken der Schätze, die dieses Buch birgt. Die Beiträge qualifizieren Praxis und Politik und bieten für beide reichhaltig Perspektiven für das, was nötig und sinnvoll zu tun ist. Der einzige kleine Nachteil: das Buch spiegelt den Stand der Entwicklung von 2008 wieder und nennt die bis dahin erschienene Fachliteratur. Da ist es eine große Freude, vom Verlag zu hören, dass im April 2017 eine aktualisierte 4. Auflage erscheinen soll. 6 Standards professioneller Sozialarbeit – das Lehrbuch von Kawamura-Reindl und Schneider Mit Gabriele Kawamura-Reindls und Sabine Schneiders »Lehrbuch Soziale Arbeit mit Straffälligen« liegt seit 2015 endlich ein für Lehre und Praxis gleichermaßen geeignetes und übersichtlich geschriebenes Werk vor, das Standards professioneller Arbeit, die in diesem problematischen und wenig erforschten, aber wachsenden Arbeitsbereich zu gelten haben, präzise vorstellt und entfaltet. Das Buch selbst reflektiert und überwindet die Fragwürdigkeit seines Titels: in 13 SLR 73.indb 13 29.11.2016 15:48:36 Heft 73/2016 SLR ihm geht es nämlich auch um Überwindung der Stigmatisierung des betroffenen Klientels als »Straffällige« (gemeint sind rechtskräftig verurteilte Menschen, bei denen zwischen Straftat und Person unterschieden werden muss), sein Spektrum wird erweitert um (nur) beschuldigte und um (später) haftentlassene Personen, und in den Blick kommen auch ihre Angehörigen und die Opfer ihrer Straftaten. Im 1. der 14 Kapitel (S. 16-42) werden »Allgemeine Grundlagen« verhandelt, nämlich Erscheinungsformen von Kriminalität (Hell- und Dunkelfeld, Medien, Erklärungsansätze) und der strafrechtliche Umgang mit ihr - also Schritte des Strafverfahrens, Bereiche der Sanktionen, Selektionsprozesse und der Unterschied zwischen »freier« und staatlicher Straffälligenhilfe. Übersichtliche Schaubilder veranschaulichen - hier wie auch später – wirksam die klaren Aussagen des Textes. Beispielsweise gibt es einen mit eindrücklichen »Fall«-Zahlen unterlegten »Sanktionstrichter« für das Jahr 2012 und eine Übersichtstafel über zentrale Institutionen und ihre Hilfeangebote im Bereich der Straffälligenhilfe. Kapitel 2 macht »Kriminalprävention« zum Thema (S. 43-66). Dazu werden eingangs knapp die absoluten und die relativen Straftheorien vorgestellt; das Dilemma des Strafrechts und -vollzugs durch Verbindung dieser Straftheorien in der heute (noch?) maßgebenden Vereinigungstheorie (einerseits Vergeltung, andererseits Prävention) wird aufgezeigt. Kriminalprävention geht von der Annahme und Identifikation kriminalitätsfördernder und –minimierender Faktoren aus und benennt entsprechend Risiko- und Schutzfaktoren (S. 48). Sie unterscheidet methodisch zwischen Aufklärung und Intervention, zwischen primärer bis tertiärer und zwischen person- und strukturbezogener Prävention. Die Autorinnen differenzieren die Wirksamkeit von Präventions-Maßnahmen, die täter-, opfer- und situationsbedingte Risiken minimieren wollen oder die pragmatisch-strukturell orts- und situationsspezifisch sind oder das Entdeckungsrisiko erhöhen oder die positiv-spezialpräventiv Erziehung und Resozialisierung betreffen. Sie diskutieren vernetzte Programme, Ressourcenaktivierung und verhaltenstherapeutische Konzepte. Für Straffälligenhilfe konstatieren sie eine doppelte Zielperspektive, die für alle soziale Arbeit kennzeichnend ist: die Stärkung der Problemlösungs- und Handlungskompetenz Betroffener und die Förderung geeigneter sozialer Strukturen. In Kapitel 3 und 4 (S. 67-113) geht es dann auf der dargestellten Grundlage um die Sicherung der Professionalität in dem ambivalenten Arbeitsfeld Justizvollzug. Dabei folgen die Autorinnen der Maxime: »Ob und wie diese (durch Straf- und Strafvollzugs-Gesetze festgelegten U.K.) Vorgaben mit einem spezifischen Professionalitätsverständnis Sozialer Arbeit in Einklang zu bringen sind, welche Vorgehensweisen als fachlich angemessen gelten, inwiefern über den gesetzlichen Rahmen hinaus Aufträge und Aufgaben Sozialer Arbeit mit straffällig gewordenen Menschen wahrzunehmen sind, kann nur aus dem Fach (aus der Disziplin) heraus, also mit Bezug auf allgemeine Fachdiskurse Sozialer Arbeit bestimmt werden« (S. 67). Dabei gibt es für Sozialarbeit mit dem seit 50 Jahren zusehends in den Mittelpunkt der (deutschen) Gesetzgebung und Rechtsprechung gerückten »Resozialisierungsgedanken« einen »Wegbereiter«, dem zu folgen sich lohnt (S. 67-70). Für die eigenständige Professionalität wird erinnert an den »doppelten Auftrag« Sozialer Arbeit, an die drei Merkmale »Vermittlung von Wissen« zum Fallverstehen, die doppelte Bezugnahme auf Gesellschaft und Individuum und auf die Reflexivität im Umgang mit Paradoxien. Für die Straffälligenhilfe sind den Autorinnen insbesondere wichtig: eine menschliche Grundhaltung (»Trete dem Unrecht stets so entgegen, dass du zugleich der Menschlichkeit Rechnung trägst« Augustin, zitiert S. 75); die Subjektebene mit Fallverstehen statt defizitorientierter Diagnostik; ein konkreter Beitrag zu Erziehung und Resozialisierung; die Reflexion ambivalenter Anforderungen und Kontexte; endlich die Strukturebene mit dem Ziel, defizitäre Lebenslagen anzugehen, Kriminalisierung statt Kriminalität zu thematisieren und Stigmatisierung und Ausgrenzung entgegenzuwirken (S. 77-88). Sie fordern 1. »ein sinnerschließendes, subjektorientiertes Vorgehen (zur ›Rekonstruktion des Eigensinns von Lebensentwürfen‹), 2. eine Analyse der häufig vorfind- 14 SLR 73.indb 14 29.11.2016 15:48:36 SLR baren Tantalus-Situationen sowie 3. Versuche der Veränderung von sozialen Orten«. Methodisch unterscheiden sie »direkt interventionsbezogene (auf Einzelfälle, Gruppen oder Sozialraum bezogene) Methoden von indirekt interventionsbezogenen (Supervision und Selbstevaluation) und struktur- bzw. organisationsbezogenen Methoden (Sozialmanagement, Jugendhilfeplanung)« (S. 91). In Text und Tafel präsentieren sie die Vielfalt der Methoden. Ausführlicher stellen sie Formen und Phasen der Beratung, die für Zwangskontexte besonders wichtige »motivierende Gesprächsführung«, die Krisenintervention (Beispiel Inhaftierungsschock und Suizidgefahr), das Freiwilligenmanagement und Formen und Kriterien der Öffentlichkeitsarbeit vor (S. 95-113). Nach all diesen prinzipiellen Klärungen macht das Lehrbuch in Kapitel 5-12 (S. 114-302) die einzelnen Arbeitsfeldern zum Thema. Es klärt jeweils deren rechtliche Grundlagen, fachliche Grundorientierungen und spezielle Aufgaben der Sozialarbeit. Als Felder werden behandelt: Jugendhilfe im Strafverfahren und Jugendgerichtshilfe, neue ambulante Maßnahmen nach dem Jugendgerichtsgesetz (u.a. Trainingskurse), Ambulante Soziale Dienste der Justiz (Gerichtshilfe, Bewährungshilfe, Führungsaufsicht), Täter-Opfer-Ausgleich, Jugendstrafvollzug und Jugendarrest, Strafvollzug, Maßregeln der Besserung und Sicherung, schließlich der Übergang zwischen Strafvollzug und (Wieder-)Eingliederung (Übergangsmanagement). In den beiden Schlusskapiteln 13 und 14 sind dann S. 303-352 die Arbeit mit Angehörigen Inhaftierter sowie Ergänzungsthemen – Vermittlung gemeinnütziger Arbeit, Elektronische Überwachung, Risikoorientierung nach Schweizer Maßstäben – dran. Es gelte nun, für Soziale Arbeit sich das immer breiter werdende fachliche Neuland zu erschließen und dabei die miteinander verbundenen wichtigen Elemente einer komplexen Fachlichkeit (Methodenlehre, Gesellschaftstheorie und Professionalisierung der eigenen Person) zu erschließen. Dieses Lehrbuch ist dazu eine unentbehrliche Hilfe. Mit seinen vielen Querverweisen, mit Übungsaufgaben am Ende jedes Kapitels und ausführlichen Literaturangaben – das Verzeichnis enthält alle genutzte Literatur und füllt allein 33 engbedruckte Seiten – ist es zu einem gut lesbaren Fach- und Arbeitsbuch geworden, an dem ab sofort alle Soziale Arbeit in den genannten Feldern sich messen lassen muss.7 7 Heft 73/2016 Literaturbericht Vermächtnis eines Praktikers – Werner Päckerts Versuch, professionelle Sozialarbeit in das System Strafvollzug zu implantieren Kawamura-Reindls und Schneiders Lehrbuch entfaltet systematisch, was 20 Jahre vor ihnen nach langjähriger Praxis im Strafvollzug der hessische Sozialarbeiter Werner Päckert in der Gedächtnisschrift für den Wegbereiter der Pädagogik im Justizvollzug, Max Busch, als sein Vermächtnis für kommende Generationen aufgeschrieben hat. Daran sei mit Zusammenfassungen und Zitaten an dieser Stelle erinnert. Dabei versucht der Rezensent, Päckerts Aussagen unter vier Aspekten zu systematisieren: a) Strafrecht und Strafvollzugsrecht Mit Gustav Radbruch meint Päckert, dass nur die rationalen Strafrechtslehren – Erziehung und Sicherung – sozialethisch erträglich erscheinen (546). Für unentbehrlich hält er den Strafvollzug zur sicheren Verwahrung für eine Reihe sozial gefährlicher Gewohnheitstäter, die aber nur einen kleinen Teil des Insassenpotentials ausmachen (557). Dass tatsächlich die Zahl der Inhaftierten ein Vielfaches davon ist, liegt vermutlich daran, dass der Vollzug eine psychohygienische Funktion für Teile der Gesellschaft erfüllt, Gefangene werden in ihrer Gesamtheit als Sündenböcke gebraucht (556). Die Strafvollzugszielbestimmung hat anders als das Strafrecht ausschließlich den Täter in seinen sozialen Bezügen im Auge (547). Das führt zu 7 Vgl. auch das Lehrbuch Kriminologie und Soziale Arbeit s. u. Anm. 62 und 66. 15 SLR 73.indb 15 29.11.2016 15:48:36 Heft 73/2016 SLR b) Widersprüche Päckert stellt fest, dass die Grundprinzipien der Sozialpädagogik denen des Freiheitsstrafvollzugs widersprechen. Die Widersprüche zwischen Freiheitsstrafe und Sozialpädagogik ergeben sich aus entgegenwirkenden Zielen (546). Diesen Widerspruch hält er für anachronistisch. »Dass in einem behandlungsorientierten Vollzug Freiheitsstrafen zu verbüßen sind, deren Länge nach tat- und schuldbezogenen Aspekten bestimmt wurde, ist anachronistisch« (550). Vielen (Gefangenen in der JVA) fehlt der aus ihrer aktuellen Lebenssituation entstehende Leidensdruck (555). Deshalb kann ihnen mit Freiheitsentzug nicht nachhaltig geholfen werden. Denn »alle Bemühungen, die Lebensverhältnisse im Vollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen in Freiheit anzugleichen, scheitern letztendlich am fehlenden Selbstbestimmungsrecht des einzelnen.« (548). Auch gilt, dass zur Zeit finanzielle Ressourcen von Maßnahmen zur äußeren Sicherung der Anstalten verbraucht werden und für Behandlungsmaßnahmen nicht mehr zur Verfügung stehen (550 f.). Wegen der Dominanz der Sicherungsaufgaben wird der Justizvollzug vom Misstrauen bestimmt. Aber »ohneVertrauen geht es nicht« (551). c) Aufgaben der Sozialarbeit(erInnen) Bei der Strafvollzugsgesetzgebung8 wurde durch die bruchlose Übernahme traditioneller Aufgaben die Chance der Innovation verpasst. Die mit dem Strafvollzugsgesetz einhergehende zunehmende Bürokratisierung und Formalisierung von Handlungsabläufen im Vollzug bewirkte eine zunehmende Belastung der Sozialarbeiter mit sozialadministrativen Aufgaben. Das führte zu einer Technokratisierung der Sozialarbeit. Sozialarbeiter wurden zusehends fremdbestimmt (544 f.).Erst durch Neuerungen in der Organisation der Vollzugsanstalten (Wohngruppenvollzug. Enthierarchisierung durch Neuordnung von Verantwortungsbereichen) konnten die Sozialarbeiter neue Aufgabenfelder besetzen (545). Die Gefangenen haben oft zu einzelnen Beamten des Aufsichtsdienstes ein wesentlich offeneres und vertrauensvolleres Verhältnis als zu denen, die statt (mit) Schlüsseln und Kontrolle mit Vertrauen und Kommunikation arbeiten wollen: die Sozialarbeiter (552 cf. Ortner). Faktisch bedeutet die Übernahme entscheidungsrelevanter Aufgaben im Justizvollzug immer auch eine Verbesserung der Durchsetzungsmöglichkeiten berufs- und fachbezogener Strategien (553). Für soziale Arbeit gilt auch, was generell für Erziehung gilt: sie »... ist stets unter nicht idealen Rahmenbedingungen zu realisieren« (557). Allerdings ist wichtig, »... dass der Sozialarbeiter ständig bereit und in der Lage sein muss, Konflikte offenzulegen und auszutragen« (558). Denn »wenn der Gefangene im Umgang mit dem Sozialarbeiter die möglichen Konsequenzen seiner Mitteilungen und Handlungsweisen kennt und ihm die Entscheidungsfreiheit bleibt, sich mehr oder weniger intensiv in einen Prozess des kommunikativen Austauschs einzulassen, so kann sich auf dieser Basis durchaus eine vertrauensvolle Beziehung entwickeln« (558 f.). Gegenseitige Achtung, Beständigkeit und Zuverlässigkeit sind für die soziale Arbeit die wichtigsten Tugenden (559). Das Vollzugsziel (lernen zu leben »in sozialer Verantwortung ohne Straftaten«) muss Richtschnur und Leitlinie sein ... – als weitestgehende Zielvorgabe (555). Trotz dieser Zielvorgabe gilt nach wie vor: Sozialpädagogik und tatbezogene Freiheitsstrafe passen nicht zusammen (554). Sozialarbeit ist auf Öffnung nach draußen und auf Vertrauen angewiesen (554). Über die konkrete Arbeit mit Klienten hinaus »... muss auch die Sozialarbeit ... die Aufgabe einer moralischen Instanz wahrnehmen« (559). Auch deshalb ist es ihre Aufgabe, »darauf hinzuwirken, dass es in naher oder ferner Zukunft möglich sein wird, auf den Strafvollzug ganz zu verzichten (560). Zu den im Folgenden (Abschnitt d)) anstehenden Aufgaben insgesamt leiten die Thesen über, die Päckert unter der Überschrift »was jetzt für die Sozialarbeit zu tun ist« S. 560-564 aufstellt und die als konkrete Aufgaben bis heute nicht erledigt sind: 1. Reform des Strafvollzugs (Renten- und Krankenversicherung, Arbeitsentgeld, aktive Sühneleistung für Wie8 Päckert meint die Strafvollzugsgesetzgebung der Bundesrepublik (in Westdeutschland) von 1976, sein Urteil gilt aber leider genauso für die Strafvollzugsgesetzgebung der Bundesländer nach 2006. 16 SLR 73.indb 16 29.11.2016 15:48:36 SLR dergutmachung) 2. Behandlungsaspekt neu definieren (systemische statt medizinische Bedingtheit abweichenden Verhaltens) 3. Zielorientierung strafrechtlicher Sanktionen von dem ursprünglichen Tat-Schuldausgleichsdenken verabschieden, stattdessen an der Behandlungsbedürftigkeit und – fähigkeit des Delinquenten und am unbedingt notwendigen Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern orientiert sein, die Möglichkeiten einer behandlungsorientierten Strafaussetzung zur Bewährung ausweiten. 4. materielle und psychische Opferhilfe 5. permanente Dialogbereitschaft aller Beteiligten 6. Eigenverantwortliches Handeln der Gefangenen fördern, der sinnvolle Einsatz und Ausbau von Mitwirkungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten 7. Zusammenwirken der Fachdienste 8. Einrichtung des Wohngruppenvollzugs, Ausbau des offenen Vollzugs, Verlagerung von Verantwortungsbereichen 9. eingeschränktes Zeugnisverweigerungsrecht 10. Tätigkeit auch auf das soziale Umfeld des Inhaftierten außerhalb der Anstalt beziehen, durchgehende und ganzheitliche Behandlungsarbeit, Arbeitseinsätze an Sonn- und Feiertagen und in den Abendstunden 11. Zusammenarbeit mit Anlauf- und Beratungsstellen der freien und behördlichen Straffälligenhilfe 12. Ehrenamtliche Kräfte verstärkt werben und in den Vollzugsablauf einbeziehen, Vollzug durch Einbindung gesellschaftlicher Institutionen und Kräfte der Außenwelt öffnen 13. Arbeitsbedingungen und Wirkungsmöglichkeiten verbessern, Supervision institutionalisieren, Fort- und Weiterbildung, disziplinärer und interdisziplinärer und internationaler Informationsaustausch 14. Zusammenwirken der sozialen Dienste in der Justiz und Einbeziehung der Jugendgerichtshilfe, Dienst- und Fachaufsicht für durchgängige Betreuungsarbeit. d) Aufgaben insgesamt Notwendig sind Bemühungen um eine verstärkte Einbindung der Öffentlichkeit (549). Für die Umsetzung von Behandlungsmaßnahmen und die dabei notwendige Öffnung des Vollzugs sind nötig: qualifiziertes Behandlungspersonal, Mitwirkungsbereitschaft des einzelnen Straftäters, realitätsbezogene (also nicht realitätsferne) Kriminalitätsfurcht der Bevölkerung, verantwortungsbewusste Medien, eine unverzichtbare Bereitschaft zum Risiko (550). Heft 73/2016 Literaturbericht 8 und 9 Vom Gefängnis als »lernender Organisation« und als »Risiko-Unternehmen« zum (fast) sicheren Ort für gefährliche Straftäter? Auf dem Weg zur Beschreibung des »Knast-Dilemmas« und zum Aufzeigen von eher Erfolg versprechenden Alternativen zur Resozialisierung straffällig gewordener Menschen hat Bernd Maelicke zusammen mit Weggefährten eine Entwicklung vollzogen, die sich an zwei Büchern widerspiegelt. Gemeinsam mit dem europaweit vernetzten Berliner Justizvollzugsgestalter Christoph Flügge und dem ehemaligen baden-württembergischen JVA-Leiter und nach der Wende für Sachsens Gefängnisse zuständigen Ministerialdirigenten Harald Preusker als Herausgeber entstanden zwei Werke, deren Titel schon ihre innovativen Impulse erkennen lässt: »Das Gefängnis als lernende Organisation« (2001) und »Das Gefängnis als Risiko-Unternehmen« (2010). Theoretische Konzepte der Organisations- und Personalentwicklung, zu Führungs-, Projekt- und Vollzugsmanagement und zur neuen Steuerung werden 2001 von 22 erfahrenen Vollzugs-, Rechts-, Psychologie-, Betriebswirtschafts-, Verwaltungs- und Sozialarbeitsexperten auf ihre Umsetzung für eine lernende Gefängnisorganisation hin geprüft und angewandt. Der Fortsetzungsband 2010 hat dann einen weitgehend neuen Autorenkreis. Beim Verstehen, Kalkulieren und Managen des Risikos geht es den Autoren nicht um ökonomische Fragen, sondern um Probleme von Diagnose und Prognose, von Behandlung und Erziehung, von erfolgreicher Entlasssungsvorbereitung, Übergangsmanagement und Nachbetreuung, auch um Kontrolle und 17 SLR 73.indb 17 29.11.2016 15:48:36 Heft 73/2016 SLR Relevanz der Wissenschaften. Entsprechend wichtig sind nun neben Juristen Soziologen, Psychologen, Erziehungswissenschaftler. Auch die zunehmend europäische Perspektive fällt auf. Beide Bücher enthalten nach wie vor bedenkenswerte Artikel zu Grundsatz- und Einzelfragen, sind aber vor allem historisch bedeutsam für eine Strafvollzugswissenschaft, die sich neuen Entwicklungen kritisch stellt – und am Ende, wie jetzt an Maelickes »Knastdilemma« zu erkennen ist, das Gefängnis in seiner heutigen Form grundsätzlich infrage stellt, so dass es höchstens für einen kleinen Teil der heutigen Insassen, der eine bleibende Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, zur sicheren Verwahrung unter humanen Lebensbedingungen erforderlich ist.9 III. juristisch 10 und 12 Juristische Perspektiven – Laubenthals Lehrbuch zum Strafvollzug und die Kommentare zu den Strafvollzugsgesetzen von Laubenthal und Feest Drei vielhundertseitige Nachschlagewerke sind hier zunächst und vor allem zu nennen, die nicht nur für angehende und praktizierende Juristen, sondern für alle mit Strafvollzug und Resozialisierung befasste Berufs- und Personengruppen geeignet sind. Sie gehören in jede Bibliothek von Sozialstäben im Bereich der Justiz. Der Würzburger Strafvollzugsrechtswissenschaftler Klaus Laubenthal hat im vorigen Jahr sein Lehrbuch »Strafvollzug« (10) in der 7. Auflage auf den neuesten, neben dem alten Bundesstrafvollzugsgesetz die ihm damals vorliegenden Strafvollzugsgesetze von elf Bundesländern berücksichtigenden Stand gebracht. Er hat dabei systematisch für Lernende, Lehrende und Praktizierende in bewährter Manier alles Wissenswerte in knapper Form zusammengetragen und in gut lesbare Form gebracht. Nach einer kurzen, den freiheitsentziehenden Strafvollzug problematisierenden Einleitung stellt er »Grundlagen des Strafvollzugs« vor und meint damit Gesetzesgrundlagen, Bundesländerzuständigkeit und Typen der Vollzugsanstalten und ihrer Population. Es folgt eine gut orientierende Skizze der historischen Entwicklung der Freiheitsstrafe seit der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts über die angloamerikanischen Reformansätze des 19. Jahrhunderts, über Kaiserzeit, Weimar und Nationalsozialismus bis zum bundesdeutschen Strafvollzug (zwei Seiten gehen auch auf die DDR-Vorschriften ein). In den weiteren Kapiteln werden im Einzelnen abgehandelt: Vollzugsaufgaben und Gestaltungsprinzipien, personelle Rahmenbedingungen (darunter S.190197 der Sozialstab), schließlich der Vollzugsablauf als Interaktionsprozess in seiner formalen und inhaltlichen Bestimmtheit. Der letzte Teil des Lehrbuchs widmet sich den speziellen Formen des Frauenvollzugs, anderen besonderen Vollzugsformen (Jugendstrafvollzug, Maßregelvollzug und Haftarten von Untersuchungs- über Abschiebungs- bis zur Auslieferungshaft), den Fragen von Sicherheit und Ordnung, dem Vollzugsverfahrensrecht und dem Datenschutz.10 Die Darstellung ist von Laubenthals rechtspolitischer Liberalität geprägt. Das gilt auch für Laubenthals gemeinsam mit Nina Nestler, Frank Neubacher und Torsten Verrel unter Mitwirkung von Mario Bachmann und Johannes Koranyi verfassten Band »Strafvollzugsgesetze«. Er ist als 12., vollständig neu bearbeitete Auflage des bisher von Heinz Müller-Dietz und 9 Nach Fertigstellung des Manuskripts erschien in 2. durchgesehener Auflage das von Bernd Wischka, Willi Pecher und Hilda van den Boogaart herausgegebene Fachbuch Behandlung von Straftätern – Sozialtherapie, Maßregelelvollzug, Sicherungsverwahrung; Centaurus-Verlag, Freiburg (2013) mit wichtigen Einzelbeiträgen, auf dir hier nicht mehr eingegangen werden kann. 10 In Laubenthals Gliederung sind die »besonderen Vollzugsformen« von den »Besonderheiten des Frauenvollzugs« getrennt durch die Kapitel zur Sicherheit und Ordnung und zum Vollzugsverfahrensrecht, das Kapitel über den Datenschutz beschließt das Lehrbuch. 18 SLR 73.indb 18 29.11.2016 15:48:36 SLR Rolf-Peter Callies geschriebenen Bd. 19 der sog. »Beckschen Kurz-Kommentare« auf 1459 Seiten erschienen (11). Das Kunststück, ein Gesetz zu kommentieren, das seit 2006 in – bis 2014 – 11 Bundesländern (die inzwischen verabschiedeten Gesetze von Bremen, Nordrhein-Westfalen und Thüringen hat der 2015 erschienene »Kommentar« noch nicht berücksichtigt) in unterschiedlichen Fassungen verabschiedet wurde und dabei auch das in den übrigen Ländern noch gültige alte Strafvollzugsgesetz der Bundesrepublik von 1976 und die aktuelle Rechtsprechung zu berücksichtigen, gelingt formal gut für den vergleichenden juristischen Blick, ist aber weniger überzeugend (vor allem nicht sehr übersichtlich) für den an der Gesetzgebung seines eigenen Bundeslandes und deren Möglichkeiten und Grenzen interessierten Praktiker. Dabei sind die Autoren schon einen Kompromiss eingegangen: sie dokumentieren jeweils zu den einschlägigen inhaltlichen Abschnitten nacheinander alle elf ihnen 2014 vorliegenden Gesetzestexte und kommentieren dann vergleichend die einzelnen Gesetzesbestimmungen. Das ergibt eine Mischung von Kommentar, rechtsvergleichenden Studien und zum Teil auch systematischem Handbuch. Auf die mancherorts sehr lehrreiche kritische, wiewohl die Beschränkung des Strafvollzugsrechts auf freiheitsentziehende Maßnahmen nicht zur Diskussion stellende, Kommentierung im Einzelnen wird später zurückzukommen sein. Hier seien die systematischen Kapitel genannt, die den Kommentar so gut es geht ordnen. Sie folgen dem fortlaufenden Gesetzestext: A enthält einleitende Bemerkungen (Geschichte des Strafvollzugs, Gesetzgebung durch Bund und Länder, Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, internationale Vorgaben, statistische Entwicklungen und »Privatisierungstendenzen«, unter deren Überschrift auch »Ersatzfreiheitsstrafen« verhandelt werden). B behandelt »Vollzugsgrundsätze« mit »Ziel und Aufgaben« und »Gestaltung« des Vollzugs, »Stellung des Gefangenen«, »Einschränkungen von Grundrechten« und einem kurzen vergleichenden Blick auf die Regelungen der früheren DDR. C geht mit Aufnahmeverfahren, Behandlungsuntersuchung und Vollzugsplan die Schritte des Strafantritts durch. In D geht es um »Unterbringung und Verlegung«. E kommentiert die Bestimmungen für »Kontakte zur Außenwelt«, F für »Arbeit, Bildung«, G für »Freizeit«, H für »Gesundheit und Soziales, Kleidung, Verpflegung«, I für »Religion«, J für »Sozialtherapie«, K speziell für weibliche Inhaftierte, L dann, wieder für alle Inhaftierten, für »Entlassungsvorbereitung, Entlassung«, M für »Sicherheit und Ordnung«, N zur »Anstaltsorganisation«, zu der neben äußerem und innerem Aufbau der Justizvollzugsanstalten und ihrer »Aufsicht« auch Vollstreckungsplan, Anstaltsbeiräte und Kriminologische Forschung gezählt werden. Den Kommentar beschließen die Kapitel O »Datenschutz«, P »Rechtsbehelfe« und Q »Besondere Vollzugsformen«, unter die Psychiatrisches Krankenhaus, Strafarrest und Zivilhaft gefasst werden. Laubenthals mit Nestler, Neubauer und Verrel geschriebener Gesetzeskommentar ist – wie sein Lehrbuch – als solides juristisches Standardwerk anzusehen. Außer Anfragen an Übersichtlichkeit und Praktikabilität ist zu bedauern, dass – durch das Erscheinungsdatum bedingt – die Ländergesetzgebung nicht vollständig berücksichtigt werden konnte. Das wird anders sein, wenn im Winter 2016/2017 (so die Verlagsankündigung) der Kommentar zu den Strafvollzugsgesetzen erscheint, der von Johannes Feest gemeinsam mit Wolfgang Lesting und Michael Lindemann in 7. Auflage herausgegeben wird (12). Es ist zu erwarten, dass Feests Kommentar wie dessen Auflagen in der Vergangenheit sich dadurch auszeichnet, dass er verlässlich aktuelle Gesetzgebung und Rechtsprechung kommentiert und insofern wie bisher ein mindestens gleichwertiges Komplement zu dem jetzt von Laubenthal u.a. herausgegebenen Beckschen Kommentar darstellt. Darüber hinaus stellt er Gesetzgebung und Rechtsprechung auch kritisch in den Zusammenhang sozialwissenschaftlicher Fachdiskussion. Dazu bedient Feest sich zahlreicher praxiserfahrener und theoretisch ausgewiesener Autoren. In der im Entwurf vorliegenden 7. Auflage sind das außer den Mitherausgebern u.a. Elke Bahl, Daniela Böning, Sven-Uwe Burkhardt, Thomas Galli, Jochen Goerdeler, Christine Graebsch, Corinna Grühn, Erich Joester, Heft 73/2016 Literaturbericht 19 SLR 73.indb 19 29.11.2016 15:48:36 Heft 73/2016 SLR Florian Knauer, Helmut Pollähne, Gerhard Rehn, Joachim Walter, Elke Wegener, Oliver Weßels und für die Telekommunikation Florian Knauer. Feests neuer Kommentar berücksichtigt die nun vorliegenden Strafvollzugsgesetze aller Bundesländer, also auch von Bremen, NRW und Thüringen. Anders als Laubenthal dokumentiert er sie vollständig in ihrem Gesamtzusammenhang im Anhang. Der »Kommentar« selbst ist eher systematisch-handbuchartig aufgebaut und nimmt jeweils zum Thema, ausgehend vom »Musterentwurf«, der der Gesetzgebung der Mehrheit der Bundesländer zugrundeliegt, und vergleichend mit europäischen Regelungen, auf den Wortlaut der einzelnen Gesetzesfassungen Bezug. Dadurch wird eine bessere Übersichtlichkeit erreicht. Zu erwarten ist, dass wie in den früheren Auflagen ein gut geordnetes Register die Schätze des Kommentars erschließt. Inhaltlich weist er insofern in die Zukunft, als er über die Freiheitsstrafe hinaus auch andere mögliche staatliche Sanktionsformen für Rechtsbrecher thematisiert. Schon die dem Rezensenten ebenso wie ausgewählte Teile des Kommentars vor Veröffentlichung zur Verfügung gestellte Gliederung in insgesamt VII Teile deutet daraufhin. Teil I enthält die knappe Einleitung der Herausgeber. Der auf den Vollzug der Freiheitsstrafe und des Strafarrestes bezogene II. Teil ist mit seinen zwanzig Abschnitten wie zu erwarten der weitaus umfangreichste Teil; er entspricht in seinem Aufbau weitgehend den Kapiteln des Laubenthal-Kommentars; auffällig ist allerdings, dass in Abschnitt zehn die »Gelder der Gefangenen« bei Feest eigens thematisiert werden. In den Teilen III-VI geht es um »Datenschutz«, »Gerichtlichen Rechtsschutz« (Vf. Margret Spaniol), »Sozialrecht/Sozialversicherungsrecht« (Vf. Corinna Grühn) und »Besondere Vollzugsformen« (Sicherungsverwahrung/Therapieunterbringung, forensische Maßnahmen, Sozialtherapie). Besonders gespannt darf man auf Teil VII sein, in dem über die Erfordernisse eines Kommentars hinaus »Besondere Personengruppen« genauer vorgestellt werden, die von strafrechtlichen staatlichen Sanktionen betroffen sind: Ausländer, Drogenabhängige (Vf. Heino Stöver). Frauen, Lebenslängliche, Menschen mit Behinderung (Vf. Oliver Tolmein) und Psychisch Kranke. Aufgrund des bisherigen Charakters des Feestschen Kommentars, des VII. Teils und einzelner Gliederungsstichworte ist eine nicht nur juristische, sondern auch sozialwissenschaftliche Problemsicht als spezifischer Charakter des handbuchartigen Kommentars zu erwarten. Um das zu verdeutlichen, seien im Folgenden drei Sätze aus den in der Einleitung genannten Maximen der Herausgeber zitiert und im Übrigen wie für Laubenthals Kommentar auf die inhaltlichen Ausführungen unten in Teil C S. 126 ff. dieser Rezension zu einzelnen Themen verwiesen. Unter »Kommentar« verstehen Feest, Lesting und Lindemann »Auslegung des Gesetzes, aber auch Diskussion der nach der Auslegung verbleibenden Handlungsspielräume und ihrer Ausfüllung, schließlich auch Kritik des Gesetzes...«. Juristische Auslegung ist für sie mit Radbruch »nicht Nachdenken eines Vorgedachten, sondern Zuendedenken eines Gedachten«. Das heißt für sie auch: »Gerade bei Begriffen und Sachverhalten, welche Gegenstand erfahrungswissenschaftlicher Analysen und Forschungen sind, ist der Stand der betreffenden Wissenschaften sorgfältig zu ermitteln und bei der Auslegung heranzuziehen.« 13 Politisch der nächste Schritt: Landesresozialisierungsgesetze – ein Diskussionsentwurf Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht hat konsitent das Ziel der sozialen (Re-) Integration bzw. »Resozialisierung« direkt aus der Würde des Menschen, aus dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und dem Sozialstaatsprinzip abgeleitet, ihm insofern Verfassungsrang zugesprochen und unter diese Zielvorstellung auch die freiheitsentziehenden Maßnahmen des Staates gestellt.11 Sie hat damit die seit 2006 für den Strafvollzug zuständigen 11 Belege dazu z.B. in 5 S. 33-35. 20 SLR 73.indb 20 29.11.2016 15:48:37 SLR Bundesländer dazu angehalten, in ihren neuen Landesjustizvollzugsgesetzen die Umsetzung dieses Ziels zu fixieren. Wenn sich aber herausstellt, dass dieses Ziel für viele Straftäter besser durch weniger in Grundrechte des Einzelnen eingreifende Maßnahmen und auf wirksamere Weise als durch Freiheitsentzug erreicht werden kann, so ist auch rechtlich geboten, diese Chancen wahrzunehmen. Hier knüpft der Diskussionsentwurf für ein Landesresozialisierungsgesetz – Nichtfreiheitsentziehende Maßnahmen und Hilfeleistungen für Straffällige der Autorengruppe Heinz Cornel, Frieder Dünkel, Ineke Pruin, Bernd-Rüdiger Sonnen und Jonas Weber an (13); in der Autorengruppe hatte zunächst auch Bernd Maelicke mitgearbeitet.12 Da ein umfassendes, den Strafvollzug einbeziehendes Resozialisierungsgesetz nach Verabschiedung der Länderstrafvollzugsgesetze nicht mehr möglich ist, geht es den Autoren um eine engere Fassung, die neben die bestehenden Landesgesetze zu Strafvollzug, Jugendstrafvollzug, Untersuchungshaftvollzug usw. gestellt werden kann. Zu ergänzen ist hier: ... und gestellt werden muss, wenn man die vielen nichtfreiheitsentziehenden und nachgewiesenermaßen oft wirksameren Möglichkeiten der Resozialisierung für die große Zahl der dafür geeigneten Straftäter nutzen will. Ein Gesetz ist dafür nötig, weil auch Maßnahmen wie ein in seiner Kompetenz erweitertes und verbessertes System von Bewährungs- und Gerichtshilfe, des Täter-Opfer-Ausgleichs, forensischer Ambulanzen und der Sozialarbeit von Freien Trägern der Straffälligenhilfe Eingriffe in Grundrechte impliziert und zu seiner Stabilisierung und Vernetzung gesetzlicher Unterstützung bedarf. Der vorliegende Diskussionsentwurf will – als ganzer – eine Orientierung für Ländergesetze sein, kann aber auch mit seinen einzelnen Ideen als »Steinbruch« von Landespolitikern für ein Landesresozialisierungsgesetz genutzt werden (41). Dem zur Diskussion gestellten Entwurf eines möglichen Gesetzestextes (5-31) folgt eine ausführliche Begründung (33-122). Der Ergänzung dienen Vorschläge für nötige oder günstige bundesrechtliche Reformen (125-132) und ein die zugrundeliegende Literatur nennendes Verzeichnis (133-153). In des Gesetzestextes Erstem Abschnitt (§§ 1-4) mit Anwendungsbereich, Ziel und Hilfearten werden auch die im Text verwendeten Begriffe (§ 3) so präzise wie in Kürze möglich bestimmt. Nach »Klient«, »Fachkräfte der Sozialen Arbeit«, »Hilfen« und »Maßnahmen« wird der Resozialisierungsbegriff - in am Ende freilich unbeholfener Weise - definiert: »Als Resozialisierung wird der Prozess zwischen der Gesellschaft und Straffälligen bezeichnet, der deren Wiedereingliederung und insbesondere zukünftige Straffreiheit befördert. Resozialisierung ist Teil des lebenslangen Sozialisationsprozesses, immer eingerahmt von der allgemeinen Lebenslage der Straffälligen und kann und darf nicht gegen deren Willen und ohne ihr Mitwirken erzwungen werden.« Zu den Gestaltungsgrundsätzen im Zweiten Abschnitt (§§ 5-14) gehören »Wiedergutmachung«, »Vorrang pädagogischer Hilfen vor Kontrolle«, das Prinzip der »durchgehenden sozialen Hilfe« (Vermeidung eines Fachkräftewechsels) und die Mitwirkung der Gesellschaft. § 12 steht unter der Überschrift »Rechte und Mitwirkungspflichten der Klienten«, benennt jedoch leider keine Rechte, dafür aber auch keine Pflichten. Stattdessen spricht § 12 fachlich korrekt von einer freiwilligen Mitwirkung der Klienten am Wiedereingliederungsprozess, zu dem sie »motiviert« werden sollen. Der Dritte (§§ 15-30) und Vierte Abschnitt (§§ 31-35) skizziert 16 verschiedene Hilfearten zur Resozialisierung und zu ihrer Durchführung - von der Koordinierung und Planung bis zur Beendigung, Dokumentation und Evaluation. Besondere Beachtung verdienen im Fünften Abschnitt zum Thema »Organisation und Ausstattung« das neu zu schaffende »Landesamt Ambulante Resozialisierung«, die gemeinwesenbezogenen regionalen »Soziale(n) Integrationszentren« mit Beiräten und deren Zusammenschluss in einer landesweiten Konferenz »Resozialisierung«. Im letzten Abschnitt werden u.a. »Resozialisierungsfonds« beim Justizministerium angesiedelt, die geeigneten Klienten »einen Neuanfang in wirtschaftlich geordnete Verhältnisse« und Beiträge zur Wiedergutmachung ermöglichen sollen. Heft 73/2016 Literaturbericht 12 Maelicke ist inzwischen an der Vorbereitung des Hamburger Resozialisierungsgesetzes beteiligt. 21 SLR 73.indb 21 29.11.2016 15:48:37 Heft 73/2016 SLR Insgesamt finden sich in dem Diskussionsentwurf eine klare Struktur, viele Anregungen, aber auch manche ergänzungs- und verbesserungsfähige Formulierung. Eine gute Startgrundlage für ein notwendiges Gesetzgebungsverfahren ist der Entwurf in jedem Fall. IV. theologisch 14 bis 22 Seelsorge im Strafvollzug – Schriften zum Verstehen einer Sonderrolle In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts hatte der Rezensent Gefängnisseelsorger als engagierte, mitdenkende und beharrliche Vertreter der (west-) bundesdeutschen Strafvollzugsreform, die im neuen Strafvollzugsgesetz wenigstens zum Teil zum Ausdruck kam (z.B. Resozialisierung als Vollzugsziel, Vorrang des offenen Vollzugs vor dem geschlossenen), kennen und schätzen gelernt13 und später als Mitglied bzw. Vorsitzender der Beiräte der Justizvollzugsanstalten von Hamburg-Fuhlsbüttel und Dresden dieses ihr Engagement bestätigt gefunden. Deshalb hat er erwartungsvoll das in Gütersloh 2015 erschienene Buch des nach 23jähriger Berufstätigkeit in der Berlin-Tegeler JVA pensionierten »Landespfarrers für Seelsorge in Justizvollzugsanstalten für den Bereich Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz« Rainer Dabrowski zur Hand genommen. Der Titel »verknackt – vergittert – vergessen – ein Gefängnispfarrer erzählt« (14) erscheint zwar etwas reißerisch, aber erinnert an den kurz zuvor erschienenen, durchaus informativen Bestseller »Knast« von Joe Bausch, in dem »ein Gefängnisarzt erzählt« – aus der nordrheinwestfälischen JVA Werl, ebenfalls nach jahrzehntelanger Praxis. Um es kurz zu machen: der Rezensent hat das Buch bis zum Ende gelesen, erst mit wachsendem Unbehagen, dann voller Ärger, weil hier ein Autor und ein Verlag (Gütersloher Verlagshaus in der Verlaggruppe Random House GmbH) in ästhetisch ansprechender Form mit einer Serie nicht reflektierter Anekdoten und oberflächlicher Beschreibungen Leser / Käufer zu gewinnen versucht und dabei einen Berufsstand und jede systematische zielorientierte Arbeit im Gefängnis diskreditiert. Man fragt sich, wofür einer seinen Beruf ausgeübt hat, der in seinem Berufsresüme – um nur eins von vielen möglichen Beispielen zu nennen! - in einem Kapitel über das Privileg von »Sondersprechstunden im Pfarramt« die Halbwahrheit zum Besten gibt: »Die relativ kurze Zeit der Inhaftierung reicht weder für eine allumfassende Resozialisierung noch für Eheseminare oder Fragen der Kindererziehung aus« (S.43). Dass es sehr wohl in anderen JVAs von Sozialarbeitern und wo nötig auch von Seelsorgern gut durchdachte und evaluierte Eheseminare gibt (z.B. in NRW) und in Stationen für inhaftierte Väter vor und nach mehrstündigen Treffen mit deren Kindern innerhalb und außerhalb der JVA Fragen der Kindererziehung besprochen werden, ohne dass damit freilich dem Anspruch einer »allumfassenden Resozialisierung« genügt werden kann, scheint Dabrowski nicht bekannt zu sein. Mehr über die alltägliche Arbeit der »Seelsorge im Strafvollzug« (so der Untertitel) erfährt man da aus Niedersachsen in dem von Ulrich Tietze mit dem Titel »Nur die Bösen?« herausgegebenen Buch (15). In ihm werden von niedersächsischen Gefängnispfarrern und einer -pfarrerin Biografien von jugendlichen und erwachsenen Strafgefangenen skizziert (S. 9 ff., 31 ff., 94 ff., 137 ff.), Unterschiede zu weiblichen Gefangenen besprochen (93 ff.), Kontakte mit Bediensteten (106 ff., 149 ff.) und Angehörigen (145 ff.) charakterisiert sowie Arbeitsfelder im Einzelnen vorgestellt – an erster und wichtigster Stelle Einzelgespräche, dann Gottesdienste (43 ff., 155 ff.), 13 Vgl. Ulfrid Kleinert Seelsorger oder Bewacher? Pfarrer als Opfer der Gegenreform im Strafvollzug – Der Fall Dieter F. nach dem Mannheimer Gefängnisskandal, Reinbek 1977 (rowohlt aktuell Nr. 4116 ). Siehe auch die Beiträge der Gefängnispfarrer Martin Steller (»Seelsorge im Gefängnis«), Dieter Hölzner/Otto Seesemann/Helmut Weller (»Probleme pfarramtlicher Tätigkeit«) und Dieter Frettlöh (»Gemeinde«) In: Ulfrid Kleinert (Hg) Strafvollzug – Analysen und Alternativen, München / Mainz 1972 S. 94-112,118-124, 128-136, 139-154. 22 SLR 73.indb 22 29.11.2016 15:48:37 SLR Gruppen (151 ff., 187 ff.), Außenkontakte und Öffentlichkeitsarbeit (159 ff.). An einer Untersuchung zu Gottesbildern von Gefangenen anhand von 10 multiple-joice-Fragen beteiligen sich 45 Inhaftierte aus den Seelsorgegruppen ihrer beiden – methodisch allerdings etwas dilettantisch forschenden – Seelsorger (61 ff.). Einen guten Einblick gewährt der Herausgeber in Verfahren, selbst geschriebene Texte, Aufführungspraxis und Wirkung der Theatergruppe der Seelsorge an der JVA Hannover; vor allem die in positiver Weise anstößige Weitererzählung und Reflektion der biblischen Geschichte »Noah – die zweite« (203 ff.) ist bemerkenswert. Dass ein gemeinsam mit Sozialarbeitern vorbereitetes Projekt »Familientreffen« (von Inhaftierten und ihren Angehörigen) aus Sicherheitsgründen abgesagt wurde (151 ff.), befremdet. Als 1999 der stellvertretende Anstaltsleiter und der stellvertretende Küchenleiter von einem Inhaftierten ermordet werden, ist Seelsorge auf unterschiedliche Weise von Politikern, Bediensteten und Inhaftierten herausgefordert (171 ff.). Das Buch bleibt – unter Vernachlässigung systematischer Analyse – durchgängig nah an der Praxis und zeigt den Seelsorger, die Seelsorgerin als »den freiesten Mann« (und die freieste Frau) im Knast (106), aber genau deshalb auch als Außenseiter (134). Die Religionswissenschaftlerin Ursula Unterberger hat ihre Diplomarbeit an der Wiener Universität 2008 zur »Religionsausübung im Strafvollzug« Österreichs geschrieben, sie 2012 aktualisiert und 2013 unter dem Titel »Religion – die letzte Freiheit« im Marburger TectumVerlag veröffentlicht (16). Nach einer Einführung in das Gefängnissystem Österreichs stellt sie die gesetzlichen Grundlagen von Religionsfreiheit und die auf ihnen beruhenden Möglichkeiten der Gefangenenseelsorge in unserem Nachbarland vor. Dazu nutzt sie die statistischen Daten des Wiener Justizministeriums, stellt die religionsausübungsrelevanten Raumkonzepte für Gebetsräume, Küche und Bibliothek vor und befragt ausgewählte Seelsorger und InsassInnen (insgesamt 19 der Justizanstalt Wien-Josefstadt). Da die Untersuchung keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben kann, ergibt sie lediglich einen ersten Blick auf die Zulassung und relevanten Veranstaltungsformate anderer Religionen (Islam, Judentum, Buddhismus) und der christlichen Konfessionen (Katholizismus, Protestantismus, Orthodoxie) sowie mögliche Fragestellungen für eine vertiefte Bearbeitung des Themas. Bei dieser vertieften Bearbeitung sollte auch das von einem Wiener Wachdienstbeamten entlehnte interessante Titel-Diktum von der Religion als letzter Freiheit in der Justizanstalt einer genaueren Überprüfung und Bestimmung unterzogen werden. Mit einem Vorwort des damaligen Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Prof. Dr. Wolfgang Huber, hat die »Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge« 2009 »Leitlinien für die Evangelische Gefängnisseelsorge in Deutschland« (17) herausgegeben, an denen sich seither »die Pfarrerinnen und Pfarrer und andere Mitarbeitende in der Gefängnisseelsorge«, aber auch »Verantwortliche in Kirche, Justizvollzug und Straffälligenhilfe« orientieren sollen und können. Den Titel der Leitlinien bildet ein Wort des Jesus von Nazareth, wie es der Evangelist Matthäus Kapitel 25, Vers 36 im sog. Gleichnis vom Weltgericht überliefert hat: »Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr habt mich besucht.« Die gut 50 Seiten füllenden Leitlinien enthalten, behutsam und abgewogen formuliert, präzise Aussagen, überprüfbare Praxiskriterien, klare Handlungs- und Politikperspektiven. Sie sind nicht hierarchisch von oben »vorgeschrieben«, sondern im Prozess einer Arbeitsgruppe aus Praktikern vor Ort, beraten von Fachleuten, »von unten« entstanden und verbinden Erfahrungen alltäglicher Berufspraxis mit theologisch und sozialwissenschaftlich reflektierten Perspektiven. Sie gliedern sich in fünf Kapitel, beginnend erstens mit einer knappen Skizze »Fremde Welt Gefängnis« (Untertitel: »Mit wem und wo arbeitet die Gefängnisseelsorge?«). In den 6 Abschnitten dieser Skizze werden nicht nur statistisch, sondern mit praxisrelevanten Hinweisen versehen, vorgestellt: die Gefangenen (Zahlen, Deliktarten, Haftart und -zeit, Alter und Geschlecht, kulturelle und religiöse Herkunft, Maßregelvollzug und Sicherungsverwahrung), ihre Angehörigen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Heft 73/2016 Literaturbericht 23 SLR 73.indb 23 29.11.2016 15:48:37 Heft 73/2016 SLR des Strafvollzugs, externe Mitarbeiter/innen, die Institution Gefängnis (mit ihren Hierarchien, ihren widersprüchlichen offiziellen und inoffiziellen Zielen, der tendentiellen Vernachlässigung von Offenem Vollzug und Strafaussetzung zur Bewährung sowie mit ihrer Wahrnehmung in den Medien), schließlich die aus ethischen Gründen kritisierte Abschiebehaft, für deren unglückliche Opfer die Gefangenenseelsorger/innen dennoch da sein wollen, obwohl es Abschiebehaft nach deren begründetem Urteil gar nicht geben dürfte. Im zweiten Kapitel »Gerechtigkeit – Auftrag und Vision« (Untertitel: »Welche Grundsätze und konkrete Utopien leiten die Gefängnisseelsorge?«) werden ausführlich »Theologische Grundlagen« erläutert: die »Opferorientierung« der Bibel, die »Vision von Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung«, die »Zuwendung zu den Schuldiggewordenen und Gescheiterten«, die »Ernüchterung« in der Wahrnehmung des inhaftierten Menschen und seiner trotzdem unaufgebbaren »Würde«. Diesen theologischen Grundsätzen korrespondieren »rechtsstaatliche und menschenrechtliche Grundsätze«, wie sie insbesondere in den Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarats von 2006 formuliert sind. Auf dem Hintergrund dieser Grundsätze wird der historische Beitrag der Gefängnisseelsorge zu einem menschenwürdigen Umgang mit Straftäter/innen benannt und für die Zukunft nach »Alternativen zum Freiheitsentzug« gesucht sowie »die weitgehende Vermeidung von strafrechtlichen Sanktionen zugunsten von Wiedergutmachung, Konfliktregelung und Täter-Opfer-Ausgleich« anvisiert. Im dritten Kapitel geht es um »Räume der Seelsorge« (»Auf welcher Grundlage und wie arbeitet Gefängnisseelsorge für und mit Menschen im Gefängnis?«). Weil Gefangenenseelsorge »im Spannungsfeld von Staat und Kirche« und an einer ihrer Schnittstellen steht, bedarf es klarer, die Interessen beider Seiten berücksichtigender Vereinbarungen und rechtlicher Grundlagen. Zu diesen gehören auch die Regelung der Dienst- und Rechtsaufsicht, von Seelsorgegeheimnis, Schweigepflicht und Zeugnisverweigerungsrecht.14 Die Gefängnisseelsorge arbeitet – trotz ihrer punktuellen institutionellen Einbindung - auf der Basis von Unabhängigkeit und Freiwilligkeit. Als »Formen« ihrer Arbeit werden u.a. genannt: Gottesdienst, Gespräche, ggfls langfristige Begleitung Gefangener, Gruppenseelsorge, Zusammenarbeit mit Bediensteten und mit Angehörigen, Öffentlichkeitsarbeit einschl. Kontakten zu Gemeinden und Bildungseinrichtungen. Das vierte Kapitel benennt »Qualitätsstandards und Ressourcen« (»Was braucht Gefängnisseelsorge?«). Die über ein Theologiestudium hinausgehenden nötigen Kompetenzen werden in einer qualifizierenden Weiterbildung für Seelsorge in Justizvollzugsanstalten vermittelt; diese wird gemeinsam mit der EKD am Seelsorgeinstitut der Kirchlichen Hochschule Bethel-Bielefeld durchgeführt. Hinzu kommen kontinuierliche berufsbegleitende Supervisionen, Konferenzen, interdiszipinäre Tagungen und Arbeitsgemeinschaften. Die im Einzelnen genannten Kompetenzbereiche sind pastoralpsychologischer, theologisch-geistlicher, ethischer, personaler und kommunikativer, arbeitsfeldbezogener sowie interreligiöser und interkultureller Art. Im fünften und letzten Kapitel formulieren die Leitlinien »Herausforderungen an die Praxis« (»Welche Veränderungen nimmt die Gefängnisseelsorge in den Blick?«). Hier werden klar und deutlich »Probleme und Defizite der gegenwärtigen Justiz- und Strafvollzugspraxis« benannt. Dazu zählen im Einzelnen: negativ Behinderung eines Prozesses umfassender Wahrheitsfindung, weitere Verminderung der unterentwickelten Alltagskompetenz der straffällig gewordenen Menschen, verstärktes Vergeltungsdenken, unverhältnismäßige Gewichtung der Sicherheitsprobleme; positiv Ausbau der Mediation und besondere Aufmerksamkeit für die Arbeit der restorative-justice-Zentren, Verbesserung der Opferhilfe, verstärkte Förderung des bürgerschaftlichen Engagements, weitergehende Haftvermeidung bei Ersatzfreiheitsstrafen, Drogenabhängigen und Kranken, Ausbau ambulanter Maßnahmen und des offenen Vollzuges, Alternativen zur Sicherungsverwahrung. Zu den Herausforderungen an die Kirche heißt es: »Kirchengemeinden sollten einen Empfangsraum 14 Vgl. das V. Kapitel »Möglichkeiten einer Neuorientierung sozialer Arbeit im Strafvollzug«, in dem es u.a. um Konfliktfähigkeit geht, in: U. Kleinert Seelsórger oder Bewacher? Reinbek 1977 S. 135-142. 24 SLR 73.indb 24 29.11.2016 15:48:37 SLR bieten sowohl für Opfer von Straftaten als auch für Strafentlassene und Angehörige Inhaftierter«. Gemeindearbeit vor Ort, Gefängnisseelsorge und Diakonie seien besser zu vernetzen. Neben der Gefängnisseelsorge müsse es eine Opferseelsorge geben. Fazit: für einen auf gesellschaftlichen Frieden ohne Ausgrenzungen zielenden Justizvollzug können diese Leitlinien eine sehr gute Orientierung sein. Es erscheint wünschenswert, dass sie für alle in der evangelischen Gefängnisseelsorge Tätigen tatsächlich handlungsleitend sind und – ggfls mit spezifischen Modifikationen – auch für die »Seelsorge« anderer Konfessionen und Religionen gültig würden. Zu begrüßen ist, wenn auch Sozialarbeiter/innen und alle anderen im Justizvollzug tätigen Berufsstände ihre Leitlinien ähnlich klar formulieren. Dann werden sich vermutlich Konvergenzen für die gemeinsam voranzutreibende Weiterentwicklung eines humanen Justizvollzugs ergeben. Alexander Funsch nennt seine 2015 im Nomos-Verlag erschienene Tübinger Doktorarbeit zur »Seelsorge im Strafvollzug« (18) im Untertitel »Eine dogmatisch-empirische Untersuchung15 zu den rechtlichen Grundlagen und der praktischen Tätigkeit der Gefängnisseelsorge«. Tatsächlich ist das über 600 Seiten umfassende Opus weit mehr als das geworden. Stellt es doch nach dem der Einleitung dienenden kurzen 1. Kapitel bereits im 150seitigen 2. Kapitel knapp und präzise auch die historische »Entwicklung der Gefängnisseelsorge im Gefüge des Strafvollzugsrechts« in ihren verschiedenen Etappen (bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, dann bis Weimar, danach in der Weimarer Republik, im Dritten Reich, in der Nachkriegszeit, ab 1977, schließlich heute) anhand ausgewählter, im Anhang nachlesbarer Quellen dar. Wo er dabei auf regional Spezifisches Bezug nimmt, ist Württemberg und Baden der für einen Tübinger Promovenden naheliegende engere Bezugsraum. Schon hier zeigt sich, was das Buch insgesamt auszeichnet: Funsch versteht es, zeit-, sozial-, kultur- und institutionsgeschichtliche Zusammenhänge differenziert aufzuzeigen, dabei gut verständlich und für den Leser nachprüfbar zu schreiben und seine Interpretationen einem weitergehenden Diskurs zugänglich zu machen. So entsteht ein auch didaktisch gut aufgebautes Werk, in dem am Beispiel der Gefängnisseelsorge die Entwicklung des Vollzugs der Freiheitsstrafe, ihrer Formen, Probleme und Alternativen bis in die Gegenwart nachvollzogen werden kann. Zugleich legt Funsch eine methodisch reflektierte Studie zu Rahmenbedingungen, Konzeption und alltäglicher Praxis eines außerordentlichen Berufsstand im Justizvollzug vor, die man sich im Interesse einer Professionalisierung aller Arbeit im Justizvollzug ähnlich qualifiziert und praxisnah auch für andere Fachdienste wie Sozialarbeiter_innen, Psycholog_innen und Vollzugsdienst wünscht. Dass es Funsch um mehr geht als nur »rechtliche Grundlagen und praktische Tätigkeit« der Gefängnisseelsorge, zeigt auch das 3. Kapitel, in dem »Der Zweck der Strafe und das Ziel des Strafvollzugs« thematisiert werden. Er unterscheidet hier zunächst einerseits zwischen »strafrechtlichem Strafzweckverständnis« mit den absoluten und den relativen Strafzwecktheorien sowie den Vereinigungstheorien und andererseits dem Strafzweckverständnis der Kirchen, das er – unterschieden nach »göttlichen« und »weltlichen« Strafen – aus Altem und Neuem Testament, von bedeutenden Theologen der Kirchengeschichte (u.a. Augustin, Anselm von Canterbury, Thomas von Aquin, Martin Luther, Philipp Melanchthon, Johannes Calvin, Karl Rahner, Paul Althaus, Emil Brunner, Friedrich Schleiermacher, Karl Barth) und kirchlichen Verlautbarungen bis in die Gegenwart hinein ableitet. Beide Strafverständniskomplexe bilden den Hintergrund zum Verstehen der von Gefängnisseelsorgern favorisierten Strafverständnisse; diese sind durch eine von Funsch durchgeführte empirische Untersuchung erhoben. Die Untersuchung selbst Heft 73/2016 Literaturbericht 15 Was eine »dogmatisch-empirische Untersuchung« ist, weiß der Rezensent auch nach der Lektüre des Buches nicht. »Dogmatisch« bezieht sich vermutlich auf systematische und juristische Begriffe und Definitionen und meint die rechtlichen Grundlagen, mit »empirisch« dürfte die konkrete Befragung der Gefängnisseelsorger gemeint sein, aber was ist »dogmatisch-empirisch«? 25 SLR 73.indb 25 29.11.2016 15:48:37 Heft 73/2016 SLR wurde methodisch sorgfältig vorbereitet, durchgeführt und ausgewertet; Funsch dokumentiert sie im Anhang und stellt ihre Ergebnisse im Text in vielen Schaubildern übersichtlich dar. Die sorgfältig geplante und vorgestellte Untersuchung hat allerdings ein Manko, das nicht in die Verantwortung des Untersuchers fällt. Denn an ihr haben sich nur 139 der insgesamt rund 600 deutschen evangelischen und katholischen Seelsorger beteiligt. Grund dafür war anscheinend ein dem Rezensenten nicht berechtigt erscheinendes Misstrauen der aus Theologen bestehenden untersuchten Gruppe gegenüber einem Forschungsvorhaben aus dem juristisch-kriminologischen Fach.16 Bedauerliches Resultat dieses Misstrauens ist, dass »eine Verallgemeinerung der Untersuchungsergebnisse nur begrenzt möglich ist« und sie nur »als Richtungs- oder Tendenzwerte zu würdigen« sind (S. 273 f.). Entsprechend ist das Ergebnis einzuschätzen, nach dem unter den Strafzwecken für die Gefängnisseelsorger »künftige Straflosigkeit / Resozialisierung des Täters«, »Schutz der Allgemeinheit vor dem Täter« und »Vertrauen der Gesellschaft in die Rechtsordnung stärken / Verteidigung der Rechtsordnung« in dieser Reihenfolge deutlich vorrangig sind gegenüber »Abschreckung des Täters vor weiteren Taten« und »Abschreckung anderer potentieller Täter« sowie – als Schlusslicht – »Vergeltung für das begangene Unrecht« (S. 293 ff.). Vom Strafzweck der Strafrechtsprechung zu unterscheiden ist das im Strafvollzugsgesetz bestimmte Ziel des Strafvollzugs. Es wird von Funsch ebenfalls aus den drei Perspektiven des Strafvollzugsrechts, der Kirchen und der Gefängnisseelsorger dargestellt. Auf Funschs differenzierende Frage an die Gefängnisseelsorger nach ihrem eigenen Strafvollzugsziel und dem der Strafvollzugspraxis fällt auf, dass für sie selbst die Resozialisierung des Straftäters an erster Stelle und die Vergeltung für begangenes Unrecht an letzter Stelle steht, wohingegen sich diese Priorität für die Vollzugspraxis insgesamt umkehrt (S.316ff), obwohl keine der im Strafvollzug tätigen Berufsgruppen als ganze von den Seelsorgern für diese Umkehrung als verantwortlich angesehen wird. Da auf Details der Funschschen Arbeit später zurückzukommen sein wird (siehe unter C), sei hier nur noch darauf hingewiesen, dass Funsch – vor dem kurzen zusammenfassenden 5. Schluss-Kapitel – im 4. Kapitel, sowohl die Fachliteratur als auch die Befragung auswertend, über die theologischen Grundlagen der Gefängnisseelsorge sowie ihre Konzepte und Ziele informiert. Ihre Tätigkeitsfelder werden in quantitativer und qualitativer Hinsicht vorgestellt, Konflikt- und Problempotential werden diskutiert und die Einschätzung der Gefängnisseelsorger zum Stellenwert ihrer Arbeit im Rahmen des Strafvollzugs wird wiedergegeben und erörtert. Das Buch können alle mit großem Gewinn lesen, die haupt-, neben- und ehrenamtlich in der Gefangenenseelsorge tätig sind, die mit ihr zu tun haben und sich über sie informieren möchten. Funsch gibt als theologisch gebildeter Jurist ausführlicher als die knappen »Leitlinien« wie diese eine gute Übersicht und Orientierung über »Seelsorge im Gefängnis«. Wer genauer und profunder sowohl eine Theorie der Seelsorge und ihre Konkretisierung in einzelnen Problembereichen der »Seelsorge in Zwangseinrichtungen« kennen lernen als auch in die Analyse von Einzelgesprächen in Justiz- und Maßregelvollzug einsteigen will, dem sei Martin Hagenmaiers 2008 in Bonn vorgelegte und 2009 in München unter dem Titel »Mythen, Konstruktionen, Lebensentwürfe« (19) publizierte Doktorarbeit empfohlen. Hagenmaier hat Jahrzehnte als Pastor in norddeutschen Kirchengemeinden, in Psychiatrie und Gefängnis (zuletzt bis 2015 in der JVA Kiel) praktisch gearbeitet, bevor er nun als Frucht seiner Berufspraxis dieses 420seitige Werk vorlegt. Es wird in seinen 11 auch einzeln für sich zu lesenden und auf IV Kapitel verteilten Abschnitten durch seine Bevorzugung systemisch-konstruktivistischen Denkens zusammen gehalten. Hagenmaier spricht im 11. und letzten Abschnitt, der zugleich das IV. Kapitel seines Buches 16 Funsch wurde nicht einmal gestattet, auf den Konferenzen der Seelsorger in 5-10 Minuten sein Untersuchungsvorhaben vor und zur Diskussion zu stellen. Womöglich wäre ein gemeinsam von juristischen, theologischen und sozialwissenschaftlichen Fachleuten durchgeführtes Forschungsvorhaben nicht auf solches Misstrauen gestoßen; tatsächlich erweist sich Funschs Arbeit als solide interdisziplinär angelegt. 26 SLR 73.indb 26 29.11.2016 15:48:37 SLR bildet, »vom Anfang der Seelsorge« in »individuellen Konstruktionen und Entwürfen«. »Seelsorge als Mitarbeit an einer Neu-Positionierung ... nimmt an individuellen, gruppenähnlichen und gesellschaftlichen Kontruktionen teil und ist ein Teil derselben. Sie konstruiert ihren Ort in der Welt in jedem Einzelnen oder im gemeinsamen Gespräch und kann das von ihrer Position als religiöses Teilsystem aus bewerkstelligen... Wenn Seelsorge mit der `Umkehr`, der Sinnesänderung und ihrer selbst bestimmten Position bei den Verlierern arbeitet – die Sieger bedürfen definitionsgemäß keiner Seelsorger, sondern der Vergewisserung ihrer Siege – tendiert sie stets dazu, Systeme in ihrer ungehemmten Fortkonstruktion ... zu stören.« (S. 391 und 393). Hagenmaier ortet dieses sein Seelsorgeverständnis theologisch in der »Offenheit im Werden Gottes, der nicht ohne den Kampf und die Aufnahme von Zerstörerischem und Schaffendem in sich und damit im Prozess der Menschwerdung gedacht werden kann.« (394) So verstandene Seelsorge stellt »das Gegenüber in den Mittelpunkt der Begegnung« und ist »gleichzeitig prophetisch«. (396) In den Fundamentalismen jedweder Provinienz wird »nicht geredet, sondern deklamiert. Der einzelne Mensch soll (in den von Hagenmaier kritisierten Fundamentalismen U.K.) nicht die ihm eigene subjektive Konstruktion der Welt entwickeln. Vielmehr soll er Subjektivität als `Unordnung` empfinden lernen...«. Dagegen »geht es im Reden in der Seelsorge mit einzelnen um `Individualisierung` und im Reden im prophetischen öffentlichen Raum um die Lebendigkeit der Vielfalt der Wirklichkeiten unter der gegenseitigen Anerkennung als Mitmenschen und deren stetige Weitergestaltung.« (399). Die äußere Gestalt der Seelsorge ist folgerichtig durch Kooperation und Multiperspektivität gekennzeichnet. Hagenmaier bestimmt den Ort der »Seelsorge in Zwangseinrichtungen« abschließend S.406 so: »Seelsorge findet ihren Platz da, wo konkrete Individuen ihren jeweiligen Platz in der Welt konstruieren und verhandeln. Ihre methodische Neigung zu denen, deren Platz in der Welt bestritten wird, entspringt aus dem Umgang Jesu mit denen, die die anderen für Sünder hielten, aus den Grundlegungen der Urgeschichte zur gesellschaftlichen `Konstitution` des abweichenden Verhaltens, aus den Gnadenzusagen der Propheten auch an die schuldig Leidenden und aus der Rechtfertigungsvorstellung der Annahme aller Menschen, die sich nicht selbst rechtfertigen müssen, obwohl sie es immer zu müssen meinen und auch tun.« Das auf diese Weise mit Hagemaiers Worten beschriebene Seelsorgeverständnis verbindet seine Darstellung zu unterschiedlichen Themen in den einzelnen Kapiteln und Abschnitten, die ansonsten auch gut für sich gelesen werden können. In den drei Abschnitten des I. Kapitels »Vom Mythos Therapie zum Mythos Beziehungsgerechtigkeit« skizziert Hagenmaier aus seiner Sicht »1. Die Seelsorgebewegung« (S. 23-70), 2. »Kontrolle und Kontrollverlust« am Beispiel des Gottesdienstes im Gefängnis und seiner Verarbeitungsmuster im Hinblick auf Motivationen (S. 71-85) und 3. die Implikationen des Vorhabens »Identität als Dauerkonstruktionsaufgabe« (S.86107). In den 6 Abschnitten des II. Kapitels »Perspektiven der Seelsorge mit Strafgefangenen« (in Hagenmaiers fortlaufender numerischer Zählung sind es die Abschnitte 4-10) geht es im 4. Abschnitt (»Seelsorge im Gefängnis« S. 111-162) um Entwürfe zur Gefängnisseelsorge auf dem Hintergrund von Gefängnispopulation und -institution, im 5. Abschnitt um eine »Wirkungsgeschichtliche Perspektive« (S. 163-179) der biblischen Überlieferung, 6. um die »Perspektive Männlichkeit« als hegemoniale Männlichkeit in Hinsicht auf Kriminalität und Seelsorge (S.180-216), 7. um »Die besondere Situation der Ausländischen Gefangenen« (S. 217-251), 8. um »Fälle aus der Seelsorge mit Verurteilten« (S. 252-282), und 9. um »Sexualstraftäter und ihre Inszenierung« (S. 283-315). Das III. Kapitel (»Seelsorge und das Ende der Migrationskette«) umfasst allein den 10. Abschnitt, in dem »Seelsorge in der Abschiebungshaft« zum Thema wird (S. 319-388). Besonders die Abschnitte 7 und 10 machen deutlich, wie Hangemaiers Seelsorgeansatz zu leidenschaftlichem Engagement führt; zeigt er doch, wie Ausländer in der Haft doppelt benachteiligt sind und dass Abschiebehaft nicht nur nichts im Kontext von Justizvollzug zu suchen hat, sondern es sie gar nicht geben dürfte, aber der Seelsorger dennoch dort eine Aufgabe hat. Heft 73/2016 Literaturbericht 27 SLR 73.indb 27 29.11.2016 15:48:37 Heft 73/2016 SLR 2016 hat Hagenmaier in seinem Sierksdorfer Text-Bild-Ton-Verlag sein systematisches Hauptwerk veröffentlicht. In ihm stellt er unter dem etwas missverständlichen Titel »Straftäter und ihre Opfer« Geschichte und Konzept von »Restorative Justice im Gefängnis« (so der Untertitel) mit vielen anregenden Reflektionen und Impulsen vor (22). Er sieht in der »heilenden Gerechtigkeit« (so die verbreitete deutsche Übersetzung von »restorative justice«, im Folgenden abgekürzt als rj) die Zukunft sowohl für einen angemessenen Umgang mit Übertretern von Strafgesetzen als auch für eine biblisch begründete »(Gefängnis)seelsorge« (S. 194 f.). Die schon in der Titulatur angedeuteten Grenzen der sehr lesenswerten Monografie seien zuerst genannt: 1. das Konzept der heilenden Gerechtigkeit sprengt den Rahmen eines Rechts, dem es um eine wie auch immer konstruierte schuldangemessene Strafe für eine begangene Straftat geht. »Gerechtigkeit« besteht im bisher maßgeblichen Strafrecht aus »Schuldfeststellung und daraus folgende(r) Strafzumessung«, während sie für rj »eine gemeinsame, allseitige Anstrengung zur Wiedergutmachung oder gar Verbesserung der Lebensumstände« ist, wie Hagenmaier selbst in einer übersichtlichen Gegenüberstellung beider Ansätze im Blick auf »Verständnis von Kriminalität und Strafe«, »Perspektiven der Betrachtung« und »Folge der Bearbeitung von Kriminalität« S. 21 zeigt.17 Entsprechend verlässt rj, konsequent angewandt, auch den Rahmen des Gefängnisses. Rj bedeutet zwar »nicht zwangsläufig das Ende der Gefängnisse« (S. 190), aber – Hagenmaier formuliert hier sehr zurückhaltend – »in weiterer Zukunft ließe sich unter Umständen die Vorstellung verwirklichen, dass nur wirklich gefährliche Straftäter hinter Schloss und Riegel gebracht werden müssen, aber nicht die Täter, die kleine Straftaten dauernd wiederholen« (S.195). 2. Weil Hagenmaier in seiner Darstellung den Rahmen des Gefängnisses nicht verlässt, liegt ein Schwerpunkt seines Buchs auf einem methodischen Vorgehen, das sich im Gefängnis realisieren lässt, nämlich dem »Opferempathietraining« (OET). Zu ihm hat er ein wissenschaftlich begleitetes Projekt in der Kieler JVA durchgeführt und ausgewertet (S. 117-143). Und dieses OET setzt er in Beziehung zum »Gefängnisalltag«, indem er den Empathiebegriff erläutert, die Teilnehmer und ihre Geschichte vorstellt, Probleme der Gruppenarbeit in der JVA und kriminologische Nebenaspekte benennt (S. 145-186). 3. Als weniger bedeutende Grenze ist schließlich zu nennen, dass eine stringente Lektorierung fehlt, die für eine strengere Systematik der Darstellung hätte sorgen können.18 Höchste Zeit nun, auf die Stärken des Buchs hinzuweisen. Bereits S.10 markiert die Grundannahmen von rj: »An Straftaten sind nicht nur Täter beteiligt, sondern auch Opfer. Sie spielen sich nicht im luftleeren Raum, sondern in der Gesellschaft ab. Also müssen die Gesellschaft, die Opfer und die Täter an einer Lösung des Falles beteiligt sein und einen Weg zur Wiedergutmachung finden. In der Idealform wird zunächst der Schaden festgestellt und die Frage geklärt, welche Bedürfnisse die Opfer haben. Dann werden die Verantwortung und die Bedürfnisse des Täters eingeschätzt, um eine Form zu finden, in der der Täter seiner Verantwortung gerecht werden kann. Die Gesellschaft gibt beiden Seiten die Möglichkeit, im geschützten Rahmen einen Ausgleich zu finden und steht zu ihrer Verantwortung gegenüber beiden. Das kann in Form von Konferenzen oder Einzelmediationen vor sich gehen, Hilfe bei Therapien zur Bewältigung des Tatgeschehens einschließen und möglicherweise das Gefängnis überflüssig machen.« Rj verdankt sich als eine Bewegung verschiedenen Wurzeln: eine ist der Abolitionismus, der sich gegen Strafrecht und Gefängnis generell wendet,19 eine andere die verstärkte Wahrnehmung des bisher auf eine Zeugen- oder Nebenklägerrolle beschränkten Opfers, eine dritte der religiöse Impuls von »Prison 17 Vgl. auch die Tabelle 2 S. 32, in der retributive bzw. distributive Justiz einerseits und rj andererseits nach Eglash gegenübergestellt werden. 18 Sie hätte auch vermieden, dass es in der Gliederung des Buches zweimal ein 2. Kapitel gibt. 19 Hagenmaier nennt in einer Anmerkung zu S. 12 Sebastian Scheerer, Arno Plack und Hermann Bianchi; ebenso ist hier mit Hagenmaier S. 25 f. auf Christie zu verweisen. 28 SLR 73.indb 28 29.11.2016 15:48:37 SLR Fellowship« mit seinem an der biblischen Zachäus-Geschichte orientierten Programm »sycamore tree« (S.12 f.)20. Wie stark die christlichen Wurzeln von rj sind, zeigen auch Hagenmaiers Bezugnahmen auf den metanoia-(Buß-)ruf des Neuen Testaments, auf Jesus (Bergpredigt Matthäus 5, 25 f., 41 f.), Paulus (Galater 6, 1-5), Mennoniten, ÖRK, EKD im Abschnitt über die Herkunft von rj S. 48-53 und das Anhangskapitel »rj und die Bibel« S. 199-212.21 Der Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) in Deutschland und der außergerichtliche Tatausgleich (ATA) in Österreich könnten im Kontext von rj stehen, wenn sie nicht zur Zeit durch ihre Implementierung im deutschen Recht »zu einer Methode der Strafjustiz als Element der Strafzumessung« degradiert bzw. in Österreich »eindeutig eine Maßnahme der Justiz und keine gesellschaftsverändernde Vision mehr« wären (S. 60 und 63). Hilfreich sind auch Hagenmaiers Differenzierungen zum Opferbegriff (S. 73-92) – abgesehen davon, dass der Täter und das Opfer zwar im Blick auf den Rechtsverstoß, nicht aber generell bestimmt werden können (S. 175). Hagenmaier unterscheidet zwischen der aktiven Opfergabe (76 f.) und dem passiven Opferwerden (78 f.), für das es viktimologisch eine primäre, sekundäre und tertiäre (80 f.) Version gibt. Zur Bearbeitung eines im Rechtsbruch offenkundig gewordenen Problems können (und müssen) grundsätzlich alle Betroffenen einbezogen werden,22 unabhängig davon, ob sie es gemeinsam oder getrennt wollen. Als Fazit bleibt: rj kann schon im Kontext des gültigen Straf- und Strafvollzugsrechts einsetzen, erfordert aber letztlich einen Paradigmenwechsel vom vergangenheitsbezogenen Strafrecht und vom schon seines Bedingungsrahmens wegen widersprüchlichen Strafvollzugsrecht weg, hin zu einem Konzept in der Gegenwart einsetzender und zukunftsbezogener »heilender« Gerechtigkeit, an der alle von einem festgestellten Rechtsverstoß Betroffenen (»Täter«, »Opfer« und Vertreter von Gesellschaft, Staat) mitwirken. Dass es dennoch auch aus der Perspektive des rj für den kleinen Teil der »wirklich gefährlichen Straftäter« weiter geschlossene Einrichtungen geben muss, darin ist sich Hagemaier mit allen hier vorgestellten Kritikern von Strafrecht und geschlossenem Strafvollzug einig. Heft 73/2016 Literaturbericht C Vergleichende systematische Auswertung der neueren Fachliteratur unter ausgewählten Stichworten 1 Resozialisierung als Vollzugsziel Auch wenn der Begriff Resozialisierung »alles andere als klar ist« (12, A II. Nr. 3 vor § 2), vielerorts im Vergleich zur Eignung anderer Begriffe diskutiert wird, in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts meist synonym mit »sozialer (Re-)Integration« gebraucht wird und im angelsächsischen Raum in der Regel von »rehabilitation« gesprochen wird, so führt in Deutschland angesichts der Terminologie von Gesetzgebung und Rechtsprechung am Wort »Resozialisierung« kein Weg vorbei, wenn es um die Bestimmung des Ziels des Vollzugs von Maßnahmen gegenüber straffällig gewordenen Rechtsbrechern geht. »Resozialisierung« ist das 20 Der als Zollbetrüger geltende Oberzollpächter der Oasenstadt Jericho namens Zachäus war auf einen Sykomorenbaum geklettert, um den durch die Stadt ziehenden Jesus zu sehen. Dieser sprach ihn an und kehrte bei ihm ein. Im Verlaufe des Besuchs beschließt er, die Hälfte seines erworbenen Reichtums den Armen zu geben, und vierfach zurückzuerstatten, »wenn ich jemanden betrogen habe« (Lukas 19, 8). 21 Dabei überzeugen insbesondere die Hinweise auf die Dinageschichte Genesis 34 (wo ein mögliches Scheitern von rj in den Blick kommt!) und die Anweisungen zur Wiedergutmachung Leviticus 5, 21 ff., Exodus 21, 18 f., 22 ff. sowie die Geschichten von Zachäus (siehe vorherige Anmerkung), der Ehebrecherin (Johannes 8,3-11) und die Hinweise zum Schalom und auf Psalm 113, 7 f. 22 Schwierigkeiten bei Internetkriminalität werden S. 69 f. diskutiert. S. 71 resümmiert: »Genau besehen kann rj auf alle denkbaren Fälle von kleiner und großer Kriminalität angewendet werden. Es gibt im Grunde keine Grenzen dafür.« 29 SLR 73.indb 29 29.11.2016 15:48:37 Heft 73/2016 SLR programmatische Leitwort für den Paradigmenwechsel, der mit der Strafvollzugsreform der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in der alten Bundesrepublik begonnen hat. Es markiert die – theoretische – Abkehr vom Verwahrvollzug hin zu einem Vollzug, der problematischer Weise zunächst meist und manchmal bis heute als »Behandlungsvollzug« bezeichnet worden ist23: es geht um Maßnahmen, die dazu beitragen sollen, dass ein straffällig gewordener Mensch »in sozialer Verantwortung« ein Leben »ohne Straftaten« zu führen vermag. Dass dies nicht durch sozialtechnologische »Behandlung« gelingen kann (als würde eine Medizin verabreicht) – und schon aus Gründen der Menschenwürde so nicht geschehen darf -, und dass dafür nicht nur der straffällig gewordene Mensch, sondern auch sein Umfeld und staatliches und gesellschaftliches Handeln im Focus stehen müssen, ist heute weitgehend Konsens. Resozialisierung bzw. soziale (Re-)Integration kann nur gelingen in einem Zusammenwirken von straffällig gewordenen Menschen als Subjekten und den Vertretern staatlicher bzw. (zivil-)gesellschaftlicher Instanzen.24 Um das Subjektsein des straffällig Gewordenen zu wahren, sollten sozialstaatlich gebotene Resozialisierungs-Maßnahmen »Angebots-, nicht Zwangscharakter haben«; »Angeboten der Chancenverbesserung kommt Vorrang vor der Persönlichkeitsveränderung zu«.25 Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung in einer Reihe von Urteilen, beginnend mit dem berühmt gewordenen sog. Lebach-Urteil von 1973 (vgl. 1 S. 64 f.), dem Resozialisierungsziel »Verfassungsrang« zugesprochen – vom Täter her betrachtet aufgrund Artikel 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Artikel 1 GG, von der Gemeinschaft her betrachtet aufgrund des Sozialstaatsprinzips (Belege in 12, A II. Nr.3). Daran hatten sich die Bundesländer in ihrer ihnen seit 2006 zustehenden Strafvollzugsgesetzgebungskompetenz zu halten. Wo dies nicht eindeutig geschehen ist, werden »unüberwindbare Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes« angemeldet (so 11, S. 40f insbesondere im Blick auf Bayern). Auch wenn das Ziel des Justizvollzugs de jure weitgehend damit klargestellt ist,26 so ist in den freiheitsentziehenden Maßnahmen de facto noch fast überall die sichere Verwahrung maßgebend. 23 Einen weit gedehnten Behandlungsbegriff benutzt Laubenthal in 17 S. 37-44 und 66-69; das Bayrische Strafvollzugsgesetz spricht in Artikel 2 (»Aufgaben des Vollzugs«) nicht von Resozialisierung als Vollzugsziel, sondern von einem »Behandlungsauftrag«, wenn es darum geht, die Vollzugsaufgabe »die Gefangenen befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen« in einem Begriff zusammenzufassen. 24 Historisch ist noch vor dem Wort »Behandlung« von einem »Besserungsvollzug« die Rede gewesen (10, S. 63 ff.). Ausführlich wird der Begriff der »Behandlung« diskutiert und differenziert in 11, S. 41-44. Kritischer als 11 äußert sich dazu 12, B Nr. 5 f. Den Begriff Resozialisierung bezeichnet Cornel in 5, S.27 als »Kurzform oder Synonym für ein ganzes Programm«; er diskutiert Definitionsvorschläge (S. 27-30), stellt die Begriffsgeschichte vor (S. 30-34), grenzt ihn kritisch ab zu den »verwandten Begriffen« »Besserung« (S. 35), »Erziehung«, »Sozialisation«. »Behandlung«, »(Soziale) Integration« und »Rehabilitation« (S. 35-48), konstatiert betreffs seiner Wirksamkeit ausstehende Evaluation, aber dennoch bei »zahlreichen Resozialisierungsprogrammen« »nachhaltige Erfolge« (S. 48-50) und bestimmt seine Inhalte im Einzelnen (S. 50-52); gerade in diesen zuletzt genannten Teilen darf man auf die Neuauflage des Handbuchs »Resozialisierung« gespannt sein! 12, IV Nr. 22 resümiert: »Am Begriff der Resozialisierung führt ... gegenwärtig kein Weg vorbei. Es empfiehlt sich jedoch, den Begriff rational zu rekonstruieren und im Sinne einer ›sozialen Reintegration‹ ... zu gebrauchen. Das BVerfG spricht regelmäßig von ›sozialer Integration‹«. Für ein »Maßnahmerecht«, das im Zusammenwirken von straffälliggewordenen Menschen, ihren Bezugspersonen, den Opfern ihrer Tat und Organen des Staates zu realisieren ist und zu deren Spektrum auch gesellschaftpolitische und gemeinwesenbezogene Interventionen gehören sollten, hatten schon 1972 die Autoren des vom Rezensenten in München und Mainz herausgegebenen Sammelbandes »Strafvollzug – Analysen und Alternativen« plädiert. 25 12, C II Nr. 20 f. 26 11, S. 37 f. nennt die Resozialisierung der Gefangenen »alleiniges Vollzugsziel«, das »anderen Vollzugsaufgaben vor« geht und »ausnahmslos für alle Gefangenen« gilt. Für 12, C Nr. 18 gibt es zum Resozialisierungsziel »keine vernünftige, d.h. wissenschaftlich begründete Alternative«. Zu ergänzen ist mit Hagenmaier in 22 S. 105, dass das Verfassungsgericht Wert auf die Aufnahmebereitschaft der Gesellschaft legt und damit erklärt, »dass die beste Behandlung im Strafvollzug noch keine Resozialisierung darstellt«. 30 SLR 73.indb 30 29.11.2016 15:48:37 SLR Sie wird in den meisten Gesetzen unter dem Leitwort »Schutz der Gesellschaft« nicht als Ziel, sondern lediglich als »Aufgabe des Vollzugs« genannt, was ihre Dominanz in der Realität des immer noch bei weitem vorherrschenden geschlossenen Vollzugs aber nicht infrage zu stellen vermag.27 Außer durch die rechtlich bedenkliche faktische Dominanz der Sicherheits- und Schutzaufgabe vor dem Resozialisierungsziel wird dies auch da an seiner Realisierung gehindert, wo strafrechtliche Prinzipien ihm widersprechen. Denn das auf die Vergangenheit bezogene Schuldprinzip bestimmt den Zeitrahmen der Strafe unabhängig davon, ob für eine erfolgreiche Resozialisierung ein anderer – meist, aber nicht nur: kürzerer – Zeitrahmen geboten ist.28 Insgesamt ist der geschlossene Vollzug der Freiheitsentziehung im Unterscheid zu offenen Vollzugsformen für die Realisierung des Resozialisierungsziels in aller Regel weniger oder gar nicht geeignet.29 12 nennt in B I Nr. 7 pointiert mit einem Feest-Zitat das (geschlossene) Gefängnis eher »eine Institution der staatlich verordneten De-Sozialisierung«. Auch deshalb ist nach der seit 2006 erfolgten Verabschiedung der Ländergesetze zum Strafvollzug, die sich auf geschlossenen und offenen Vollzug in Gefängnisinstitutionen beziehen, die Diskussion und Verabschiedung von weiter führenden Landesresozialisierungsgesetzen erforderlich.30 Das durch höchstrichterliche Rechtsprechung und Wissenschaft gewiesene Vollzugsziel der »Resozialisierung« ist der Wegbereiter für die im Bereich der Justiz immer wichtiger werdende Sozialarbeit.31 Um dieses Ziel politisch realisieren zu können, bedarf es allerdings besonnener öffentlicher Aufmerksamkeit und sachgerechter Berichterstattung über Justizvollzug durch alle Medien. Zu dieser können auch Sozialpolitik und –arbeit beitragen.32 Heft 73/2016 Literaturbericht 2 Mitwirkung und -bestimmung der straffälliggewordenen Personen bei der »Resozialisierung« Bevor unten (S. xxx-xxx) die Fragen der Bedeutung und Beteiligung von Zivilgesellschaft, Öffentlichkeit, Wissenschaft und Medien für eine Realisierung des Vollzugsziels Resozialisierung im Einzelnen erörtert werden, ist zur weiteren Klärung dieses Ziels erforderlich, die Mitwirkung und Mitbestimmung der wegen einer Straftat verurteilten Personen genauer zu betrachten. Das Strafgericht regelt im Falle einer Verurteilung des Angeklagten Art, Umfang und Rahmen der Sanktionsmaßnahme. Die Ausgestaltung der Sanktion im Einzelnen obliegt dem Vollzug. Im Fall der Freiheitsentziehung ist das Vollzugsziel »Resozialisierung« von Gesetzgeber und höchstrichterlicher Instanz vorgegeben. Dabei herrscht heute von juristischer und fachwissenschaftlicher Seite weitestgehend Übereinstimmung darin, dass dieses Ziel nicht durch einseitige medizinische oder sozialtechnologische Maßnahmen (»Behandlung«)33 erreicht werden kann, 27 Das Resozialisierungsziel muss aber nach 11, S. 38-41 unbestreitbar Priorität haben! 28 So insbesondere der Fall »Thaler« bei Galli 2, S. 9 ff. Vgl. auch 2, S. 188; 7, S. 550 und 554. 29 s.u. im Abschnitt 3 zu »Offenem Vollzug und Lockerungen«. Vgl. 11, S. 32-36 und 12, C I. Nr. 19 zur »Entlegalisierung der Gefängnisinstitution«. 30 Vgl. 13. Maelicke spricht in 5, S. 598 von »integrierter Integration«. In diese Richtung weisen auch Ansätze in einzelnen Landesstrafvollzugsgesetzen, die Bestimmungen zu einem »Übergangsmanagement« enthalten (vgl. 6, S. 282 ff.). Einzelne Ländergesetze weisen mit ihrer Anforderung, Justizvollzug müsse vom ersten Tag an und nicht erst in den letzten Wochen der Haftzeit »Entlassungsvorbereitung« sein, implizit darauf hin, dass geschlossener Vollzug, falls überhaupt nötig, baldmöglichst zugunsten offener Vollzugsformen aufzugeben ist, um ein in Freiheit zu führendes Leben in sozialer Verantwortung bestmöglich einzuüben. 31 Vgl. 6, S. 67 ff. 32 Vgl. 5, S. 576 ff.; 6, S. 23 ff.; 7, 549. 33 Zum Begriff »Behandlung« vgl. einerseits differenziert und kritisch 5, S. 41-44 und 12, vor § 2 Nr.6, andererseits, einen »offenen und weiten Behandlungsbegriff verwendend, positiv 10, Nr. 158, wo Behandlung »die Gesamtheit 31 SLR 73.indb 31 29.11.2016 15:48:37 Heft 73/2016 SLR sondern nur unter aktiver Mitwirkung des Vollzugsteilnehmers. Dieser ist nicht das Objekt von Resozialisierung, sondern im (Re-)Sozialisierungs- bzw. Integrationsprozess ein beteiligtes Subjekt. Inwieweit diese Erkenntnis de jure und de facto umgesetzt wird, zeigt sich u.a. a) im Blick auf die Beteiligung der Einzelperson an der Vollzugsplanung und b) im Blick auf die Vollzugsteilnehmer insgesamt an den Mitgestaltungs- und -bestimmungsmöglichkeiten im Vollzug. a) Was die Vollzugsplanung für den und mit dem einzelnen Vollzugsteilnehmer betrifft, so geht es hier in sozialpädagogischer Terminologie um einen Kontrakt zwischen Vollzugspersonal und -teilnehmer; denn nur wenn beide Seiten sich über Art, Inhalt und Verfahrensweise von Resozialisierungsmaßnahmen verständigen und miteinander an deren Umsetzung arbeiten, werden sie erfolgreich sein können. Entsprechend heißt es in den neuen Landesstrafvollzugsgesetzen, dass der Gefangene dafür zu motivieren sei.34 Sieht man sich die Gesetzgebung zur und die Praxis der Vollzugsplanung an, kann von einem Kontrakt bisher allerdings keine Rede sein. So ist zwischen den Kommentatoren der einschlägigen Gesetzesparagraphen schon strittig, was es heißt, dass der Vollzugsplan mit dem, den er betrifft, »erörtert« werden muss. 11, C 37 geht zwar von einer »Mitwirkungsfunktion« des Gefangenen aus, da »eine aktive Mitwirkung des Betroffenen an seiner Behandlung ... die Chancen einer Vollzugszielerreichung erhöht«, sieht aber »kein subjektives Recht auf Teilnahme« an der Vollzugsplanungskonferenz. 12, Nr. 17 zu § 8 hingegen hält »die Anhörung des Gefangenen innerhalb der Konferenz« für »ein Gebot rechtsstaatlicher Fairness« und kritisiert, dass »gegen dieses Recht des Gefangenen, seine Meinung zu äußern und an der Entscheidungsbildung, vor Festlegungen des Vollzuges, beteiligt zu werden ... immer noch häufig verstoßen wird.« Selbst in der als besonders progressiv präsentierten Praxis in der JVA Bremen gibt es keinen Kontrakt zwischen den Beteiligten; als sehr positiv wird dort hervorgehoben, dass der Gefangene, weil »in die Planung ernsthaft einbezogen«, »äußerst selten« seine Unterschrift unter die Erklärung verweigert, »dass mir der Vollzugsplan bekannt gemacht wurde und ich Gelegenheit erhielt, mich dazu zu äußern. Ich erkläre mich bereit, an meiner Behandlung mitzuwirken« (so nach 12, Nr. 17 zu § 8). Es scheint also dringend geboten, dass die »subjektorientierten Unterstützungsprozesse mit inhaftierten Menschen«, von denen 6, S.240-243 handeln, sich auch auf den Bereich der Vollzugsplanung beziehen! b) Das gilt auch für die in den Gesetzestexten mehrheitlich »Interessenvertretung der Gefangenen« oder – minderheitlich – »Gefangenenmitverantwortung« genannte Beteiligung der Gefangenen an sie insgesamt betreffenden Angelegenheiten. Der Bereich, auf den sich Interessenvertretung bzw. Mitverantwortung bezieht, wird unterschiedlich groß bestimmt, bleibt aber doch eng begrenzt. 11, N 50 nennt hier den Freizeitbereich (z.B. kulturelle und sportliche Veranstaltungen), Angelegenheiten der Aus- und Fortbildung, Fragen der Hausordnung (z.B. Reinigung der Hafträume), Gestaltung des Speiseplans, der Arbeitsbereiche und »Verbesserungsvorschläge«. 12, Nr. 13 f. zu § 99 geht da weiter und zählt z.B. Organisationskonferenzen der Anstalt »selbstverständlich« dazu. In 12 in Nr. 2-7 zu § 99 werden umfassende Mitbestimmungsmöglichkeiten, wie sie z.B. in Brasilien bestehen, diskutiert, aber als nicht übertragbar abgelehnt. Insgesamt reicht das Spektrum je nach Bundesland und JVA von Alibi-Funktionen bis zu begrenzten, ohne rechtliche Verpflichtung gewährten Mitbestimmungsmöglichkeiten. Auch betreffs Verbindlichkeit der Verpflichtung der JVA, überhaupt für eine Interessenvertretung der Gefangenen zu sorgen, bestehen de jure und de facto unterschiedliche Positionen. Die Gesetzeskommentatoren sind sich außerdem uneins in der Frage, inwieweit durch die gesetzlichen Bestimmungen zur Interesaller Maßnahmen und Tätigkeiten im interaktiven Bereich« meint. 34 In den Gesetzestexten zur Stellung der Gefangenen variieren in § 4 Aussagen, die feststellen, dass es »zur Erreichung des Vollzugsziels der Mitwirkung der Gefangenen bedarf« und dass »ihre Bereitschaft hierzu zu wecken und zu fördern ist«. 32 SLR 73.indb 32 29.11.2016 15:48:37 SLR senvertretung bzw. GMV die Gründung eines selbstständigen Vereins oder einer Gewerkschaft der Gefangenen rechtlich ausgeschlossen ist (gegen einen Ausschluss votiert 12, Nr. 17 zu § 99). c) Gibt es für a) und b) in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Vollzugspraxis großen Klärungs- und Verbesserungsbedarf, wenn der Vollzugsteilnehmer als Subjekt der Resozialisierung ernstgenommen werden soll, so besteht schon heute vielerorts die Möglichkeit realer Mitwirkung, Mitbestimmung und Verantwortungsübernahme im Rahmen von Wohngruppen, die in der Sozialtherapie die Regel, aber auch – mit freilich weniger Gestaltungsraum – im geschlossenen Vollzug möglich sind.35 Der Eindruck, es handele sich hierbei um Alibis, wie er heute noch bei Vollzugsplanung und Interessenvertretung entstehen kann, weil es dort keine klaren Mitbestimmungsrechte der Gefangenen gibt, kommt bei Verabredungen in den Wohngruppen selten auf; hier kann Verantwortung übernommen, gestaltet, erprobt und ihre Wirkung erfahren werden. Auch wenn solche »Wohngruppen« schon im geschlossenen Vollzug möglich sind, lässt sich viel eher als dort ein »Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten« einüben, wenn der Vollzug dem Angleichungsgrundsatz entsprechend (vgl. 11, B 52-54, weitergehend 12, vor § 2 Nr.) sich so weit wie möglich öffnet für »allgemeine Lebensverhältnisse«. Das ist der Fall im Offenen Vollzug und bei Lockerungen. 3 Heft 73/2016 Literaturbericht Offener Vollzug und Lockerungen Das inzwischen durch die Ländergesetze abgelöste Bundesstrafvollzugsgesetz von 1976 hatte dem »Offenen Vollzug«36 wegen seiner besseren Eignung für die Erreichung des Vollzugsziels und seiner besseren Gewährleistung der Vollzugsgestaltungsgrundsätze aus gutem Grund den Vorrang vor dem Geschlossenen Vollzug gegeben. Tatsächlich aber wurden und werden die meisten zu einer Freiheitsstrafe Verurteilten aus Sicherheitsgründen im geschlossenen Vollzug inhaftiert. Dem tragen die neuen Landesgesetze Rechnung, indem sie keine Vorrangstellung des Offenen Vollzugs mehr vorsehen. Jetzt sollen die Justizbehörden je nach ihrer Einschätzung der Eignung von Verurteilten darüber entscheiden, ob und ggfls ab wann zu einer Freiheitsstrafe Verurteilte in den Offenen Vollzug verlegt werden. Tatsächlich bestehen hier große Unterschiede zwischen den Bundesländern.37 Diese Unterschiede sind nicht von der »Eignung der Gefangenen« her zu begründen – wie sollte diese in einem Bundesland sechsfach günstiger sein als in einem anderen Bundesland? Tatsächlich hängen sie einerseits davon ab, wie viele Plätze im Offenen Vollzug das jeweilige Bundesland zur Verfügung hat (das ist eine Frage der Baumaßnahmen), andererseits davon, um wieviel höher das augenblickliche Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung38 gegenüber einer dem Sicherheitsbedürfnis nachhaltig entsprechenden wirksamen Resozialisierungsmöglichkeit eingeschätzt wird. Nach Schätzung und Erfahrung der meisten Experten39 ist je 35 Vgl. zum Konzept von Wohngruppen 6, S. 248 f. 36 6, S. 249 f. nennt, verkürzt ausgedrückt, den Offenen Vollzug »ein Gefängnis ohne Gitter«. In ihm besteht die Möglichkeit, zu geregelten Zeiten sich außerhalb des Gefängnisses vor allem zur Aufnahme und Durch- oder Weiterführung einer Arbeit oder Ausbildung aufzuhalten. 37 Der Anteil der Gefangenen im Offenen Vollzug beträgt je nach Bundesland zwischen ca. 5 % und 30 % (Berlin) der zu einer Freiheitsstrafe Verurteilten. 38 Wegschließen scheint die sicherste Form der Unterbringung zu sein, wenn es darum geht, Flucht und erneute Straftaten während der Haftzeit optimal zu verhindern. Dass dies auf Kosten der Sicherheit der Bevölkerung und der Gefahr erneuter Straftaten nach der Haft geht, wird nicht bedacht bzw. ist den Justizvollzugsbehörden nicht so wichtig, da dies jenseits ihrer unmittelbaren Zuständigkeit liegt. 39 Vgl. in der besprochenen Literatur ausdrücklich Nr. 1-7 und 12 sowie 15. und 17.-19. 33 SLR 73.indb 33 29.11.2016 15:48:37 Heft 73/2016 SLR nach Kriterien für 5 % bis höchstens für 30 % der Inhaftierten eine geschlossene Unterbringung erforderlich, tatsächlich aber befinden sich 70 % bis über 90 % dort.40 Um die Erreichung des Vollzugsziels zu fördern, gibt es auch im geschlossenen Vollzug sog. Vollzugslockerungen. Zu ihnen gehören Außenbeschäftigung, Freigang, Ausführung und Ausgang.41 Sie sollen ausdrücklich keine Vergünstigungen oder Belohnungen für erwünschtes Wohlverhalten sein bzw. sie sollen nicht als Disziplinarstrafe entzogen werden. Vielmehr sind Vollzugslockerungen selbstverständlicher Teil der Vollzugsgestaltung und sollen nicht erst zur Vorbereitung eines zeitnahen Entlassungstermins vorgesehen werden.42 Im Unterschied zum Hafturlaub und zur Freistellung aus/von der Haft werden Lockerungen auf die Haftzeit angerechnet. Für sie alle gilt: »Amtliche Statistiken und empirische Erhebungen zeigen eine geringe Flucht- und Missbrauchsquote bei Vollzugslockerungen und Hafturlaub.«43 Umso bedauerlicher ist es, dass auch sie – wie der offene Vollzug – eher zurückhaltend und eher erst in der letzten Phase der Haftzeit eingesetzt werden. 4 Beiräte, Medien, Öffentlichkeit Straftaten und Strafprozesse haben schon immer die öffentliche Meinung in hohem Maße interessiert und beschäftigt, in den letzten Jahrhunderten aber immer weniger das, was nach dem Urteilsspruch geschieht. Maxime wie »aus den Augen – aus dem Sinn« oder »wegsperren für immer« ließen sich jedoch spätestens seit den Skandalen in den Gefängnissen von Köln (»Klingelpütz«) und Hamburg (»Glocke«), als Gefangene in »Beruhigungszellen« genannten Arrestzellen Anfang der 70erJahre des vorigen Jahrhunderts zu Tode kamen, nicht mehr durchhalten. Seither wurden zuerst in westdeutschen Gefängnissen, seit der Wende 1990 dann auch in ostdeutschen Gefängnissen Beiräte eingesetzt, die zwischen Gefängnis und Gefangenen einerseits und Gesellschaft und Öffentlichkeit andererseits vermitteln und dabei transparent machen sollten, was hinter den Mauern geschieht. Es hatte sich gezeigt: Justizvollzug braucht Öffentlichkeit. Beiräte, ehrenamtliche Mitarbeiter_innen, später auch Tage der Offenen Tür für interessierte Bürger und Gefangenenzeitungen sollten dazu beitragen. Freilich zeigte sich auch schnell, dass Print- und elektronische Medien oft mehr an Sensationsberichterstattung als an sachlicher Information interessiert sind. Die Ambivalenz der nach wie vor und auch in Zukunft notwendigen Einbeziehung der Öffentlichkeit ist auch in diesen Jahren offenkundig, in denen sich die Forderungen nach einer rationalen Justizvollzugsgestaltung für die Umsetzung des Resozialisierungsziels zuspitzen. Päckert stellt zu recht fest, »dass die Möglichkeiten der Umsetzung von Behandlungsmaßnahmen und der dabei notwendigen Öffnung des Vollzuges (auch U.K.)) abhängig ist ... von der Kriminalitätsfurcht der Bevölkerung und (von U.K.) der dadurch beeinflussten Einstellung der Öffentlichkeit zu Fragen der Gefangenenbehandlung determiniert wird. Steigt das Sicherheitsbedürfnis in der Bevölkerung und entwickeln die Medien eine daran orientierte Sensibilität gegenüber Angelegenheiten des Strafvollzuges, so sinkt im Vollzug die für jede pädagogische Ausrichtung unverzichtbare Bereitschaft zum Risiko.« Der ehrenamtlich tätige Beirat hat in diesem Feld eine wichtige Aufgabe. Er ist dafür allerdings rechtlich und fachlich sehr dürftig ausgestattet. Laut Gesetz und Geschichte hat er 40 10, Nr. 346 formuliert den Grundsatz: »Es sollen mittels geschlossenen Vollzugs letztlich nur solche Gefangene den schädlichen Folgen derartiger Einrichtungen ausgesetzt bleiben, bei denen eine entsprechend sichere Unterbringung nötig ist. Dem Integrationsgrundsatz gemäß wird durch offene Vollzugsformen die Rückkehr in die Freiheit erleichtert.« Kriterien für die Unterbringung im Offenen Vollzug diskutiert 11, Nr. D 9-11. 41 Sie sind genauer dargestellt in 10 Nr. 524 ff. 42 Cf. 10, Nr. 524 und 11, Nr. E 123 ff; vgl. 12, vor § 42 Nr. 25. 43 10, Nr. 560. 34 SLR 73.indb 34 29.11.2016 15:48:37 SLR eine »Kontrollfunktion«,44 eine »Beratungs- und Vermittlungsfunktion«45 und ist »Mittler zur Öffentlichkeit«.46 Er soll für jede JVA gebildet werden, sich aus Personen des öffentlichen Lebens zusammensetzen und freien unkontrollierten Zugang zu Gefangenen und Bediensteten, zu Räumen und Veranstaltungen in der JVA haben. Aber die Verfahren seiner Berufung und seiner Arbeitsweise sind sehr unterschiedlich geregelt und nicht durchgängig sachgerecht. So ist die Kontrollfunktion dann erschwert, wenn – wie in einzelnen Bundesländern der Fall - der JVA vorgesetzte Behörden oder die Leiter der JVA über die Berufung von Beiratsmitgliedern entscheiden.47 Zu den Standards seiner Arbeitsweise sollten gehören: Protokollierung der Sitzungen, die unter Leitung des selbst gewählten Vorsitzenden stattfinden und zu denen der Leiter der JVA häufig und/oder andere in der JVA tätige Personen gelegentlich zur Information hinzugezogen werden können; regelmäßige Rechenschaftsberichte; wenn nötig, öffentliche Stellungnahmen und gelegentliche Pressekonferenzen. Um das zu realisieren, bedarf es einer ausreichenden Anzahl kompetenter Mitglieder, mindestens vierteljährlicher Sitzungen und arbeitsteiligen ehrenamtlichen Engagements in der JVA zur Erfüllung der Aufgaben zwischen den Sitzungen.48 Mit diesen Voraussetzungen ist der Beirat selbstverständlich etwas grundsätzlich anderes als ein gelegentliches »Kaffeekränzchen beim Anstaltsleiter«, als das er mancherorts noch geführt wird.49 Für die Öffentlichkeitsarbeit des Beirats und anderer Organe des Justizvollzugs sind die analytischen Überlegungen hilfreich, die Holle Eva Löhr zum Thema »Resozialisierung und Medien« vorgelegt hat. Sie zeigt, wie Kriminalität fachlich betrachtet werden kann und wie sie in den Medien erscheint, worin die öffentliche Meinung zu Strafe und Strafvollzug besteht und Heft 73/2016 Literaturbericht 44 Sie wird in 12 verstanden als »positive Kontrolle im Sinne des Miteinanderwirkens bei der Verwirklichung des Vollzugsziels«. 45 Hierzu gehört für 12, »Elemente von Verwahrvollzug abzubauen und auf einen angebotsorientierten Vollzug hinzuwirken«. Sie können »Vermittler zwischen den Fronten« sein (so 12 in einem Zitat). 46 So die Funktionsbestimmungen für die Beiräte in 12 zu § 103. Zur Aufgabe des Mittlers zur Öffentlichkeit gehört, »die Bereitschaft der Öffentlichkeit zur Auseinandersetzung mit den Problemen des Strafvollzugs zu wecken und um Verständnis für die Maßnahmen eines angebotsorientierten Vollzuges zu werben. Es muss an die Toleranz der Öffentlichkeit appelliert werden, wenn anscheinend »Sensationelles« in den Justizvollzugsanstalten geschieht, was angeblich zu einer Gefährdung der Sicherheit der Öffentlichkeit führen kann (z.B. Missbräuche von vollzugsöffnenden Maßnahmen).« In 11, N 63 wird unterschieden zwischen den Aufgaben, »an der Gestaltung des Vollzugs und der Betreuung der Gefangenen mitzuwirken«, einer »Kontrollfunktion«, die »Ausfluss des öffentlichen Interesses« ist, »das der Beirat wahrnimmt« und in dessen Rahmen er »etwaige Missstände im Vollzug aufdecken und Verbesserungsmöglichkeiten aufzeigen« soll. Nach 10 Nr.294 soll der Beirat »folgenden Aufgaben gerecht werden: Funktion zwischen Strafvollzug und Öffentlichkeit, Vermittlung eines realitätsgerechten Bildes vom Strafvollzug in der Öffentlichkeit, positive Kontrollfunktion bei der Verfolgung des Vollzugsziels in der Anstalt, beratende und vermittelnde Tätigkeiten, Mitwirkung bei der Gefangenenbetreuung, Hilfestellung bei der Wiedereingliederung Entlassener«. Zu den letzten beiden Aufgaben vgl. die kritischen Bemerkungen von 12 zu § 103 im Abschnitt »Abgrenzung zur Einzelfallhilfe«. 47 In Sachsen schlägt der Anstaltsleiter alle Beiräte – mit Ausnahme der vom Landtag zu Beiräten bestimmten Landtagsabgeordneten – dem Justizministerium zur Berufung vor. Da aktive Beiräte Arbeit machen, kann er, wenn er will, eine ihm bequeme Besetzung wählen. In Hamburg berufen Deputierte der Bürgerschaft die Beiräte; dass auch diese Regelung zu Konflikten führen kann, hat der Vf. in dem Artikel »Strukturen und Tendenzen legen uns lahm – über die Schwierigkeit heutzutage Anstaltsbeirat zu bleiben« in: Neue Praxis 1981 S. 70-77 zu zeigen versucht (vgl. auch das Magazin Der Spiegel Nr. 23 vom 2.6.1980). 48 So 12 zu § 103. 49 Vgl. 12 zu § 103. 12 schlägt a.a.O. auch einen Gesamtbeirat auf Landesebene vor, der koordinieren und bündeln kann, was vor Ort geschieht. Er könnte eine wichtige öffentliche Stimme sein. 35 SLR 73.indb 35 29.11.2016 15:48:37 Heft 73/2016 SLR wie Kriminalitätspolitik und Medien miteinander verbunden sind und im Interesse der Resozialisierung konvergieren könn(t)en.50 5 Freie, ehrenamtlich tätige MitarbeiterInnen Außer den ehrenamtlich tätigen, von einer staatlichen Instanz für eine mehrjährige Frist berufenen fachkompetenten51 Beiräten stellen die im Vollzug und in der freien Straffälligenhilfe ehrenamtlich tätigen freien Vollzugshelfer ein wichtiges Bindeglied zwischen »drinnen« und »draußen« dar; auch sie können zu einer resozialisierungsfreundlicheren Einstellung und sachkundigeren und humaneren Wahrnehmung und Begleitung des Justizvollzugs in der Öffentlichkeit beitragen. »Qualifizierte externe und ehrenamtliche Kräfte müssen verstärkt geworben und in den Vollzug einbezogen werden.«52 Nicht alle Anstaltsleiter, Sozialstabsmitarbeiter und Vollzugsbedienstete teilen diese Absicht und unterstützen sie durch fachliche Begleitung. Sie seien »von vielen Vollzugsverwaltungen nur geduldet«, weil ihnen »die persönlichen Beziehungen nicht behagen, die sich womöglich zwischen Betreuern und Gefangenen entfalten, da die meisten Ehrenamtlichen fühlende Menschen sind und (noch) nicht diese gefühlskühle soziale Distanz der Gefängnistechnokraten entwickelt haben«, so ein langjährig Inhaftierter.53 Sicher trägt auch ihre Stellung außerhalb der Hierarchie des Vollzugs dazu bei54 und der zusätzliche Arbeitsaufwand, der im geschlossenen Vollzug damit verbunden ist, dass die Ehrenamtlichen nicht über einen Schlüssel verfügen und also von Bediensteten »durchgeschlossen« werden müssen. In den meisten neuen Landesstrafvollzugsgesetzen werden sie – anders als im alten Bundesstrafvollzugsgesetz – nicht mehr ausdrücklich erwähnt, obwohl ihre Einbeziehung in das Leben im Gefängnis nach europäischem Recht zu fördern ist, da sie Teil der Zivilgesellschaft sind.55 Als ihre Hauptbetätigung innerhalb und außerhalb des Vollzugs werden Einzelkontakte zu Inhaftierten,56 Durchführung kultureller oder sportlicher Veranstaltungen,57 Gesprächs- und 50 Siehe die Ausführungen von Löhr, Beitrag 33 in 5, S. 576-604. 51 Die Fachkompetenz der Beiräte betrifft insbesondere ihre Vermittlerrolle zu Medien, gesellschaftlichen Gruppen, Wohnungs- und Arbeitsmarkt und zu sozialen Netzen. 52 7, S. 563. 53 3, S. 139. 54 Sie benötigen für ihre – in der Regel unbefristete - Zulassung nur ein polizeiliches Führungszeugnis und die einmalige Zustimmung der Justizbehörde bzw. Anstaltsleitung, müssen die im Justizvollzug geltenden Vorschriften beachten, haben für ihre Arbeit fachliche Begleitung, sind aber der Anstaltsleitung gegenüber nicht rechenschaftspflichtig und nicht in die Hierarchie der Bediensteten eingebunden. Wegen ihrer Liberorolle werden sie von manchen Bediensteten misstrauisch angesehen. Im Übrigen teilen die Ehrenamtlichen mit den Vollzugsbediensteten die Aufgabe, in ihrer Beziehung zu Gefangenen die richtige Balance zwischen Distanz und Nähe zu finden und zu wahren. 55 Nr.7 ERP nach 12, zu § 5, Nr. 23. Da wo Ehrenamtliche in den neuen Bundesländervollzugsgesetzen ausdrücklich genannt werden, geschieht dies im Zusammenhang der Gestaltung des Vollzugs (so Sachsen in § 3 Abs. 6) oder der Sozialen Hilfe (vgl. 17 S. 57 und 12 zu § 5 Nr.23 und § 9 Nr .31). 56 6, S. 107 nennt »Einzelbetreuungen, die u.a. regelmäßige Besuche und Briefkontakt, Begleitung bei Ausgängen und persönliche Hilfestellungen beinhalten (z.B. bei öffentlichem Schriftverkehr oder dem Aufbau oder der Stabilisierung sozialer Beziehungen).« Sie betreffen wie die in den folgenden drei Anmerkungen genannten Tätigkeiten zumeist Inhaftierte, für die als Reaktion auf eine Straftat andere Maßnahmen als Freiheitsentzug sinnvoll wären! 57 Dazu gehören Theater-, Film- und Musik-Auf- und Vorführungen Sie können auch für Besucher von »draußen« zugänglich sein; die Besucher müssen sich allerdings in geschlossenen Anstalten oft aus Sicherheitsgründen vorher anmelden. Das gilt auch für sportliche Turniere und Wettbewerbe oder für ein (jährliches) Sportfest mit Beteiligung von »draußen«. 36 SLR 73.indb 36 29.11.2016 15:48:37 SLR Freizeitgruppen,58 Begleitung und Unterstützung Inhaftierter bei Lockerungsmaßnahmen und Entlassungsvorbereitung,59 sowie Mitarbeit bei der Gefangenenzeitung als öffentlich zugängliche Publikation60 genannt.61 Auch wenn zwischen von den Justizbehörden zugelassenen freien »Vollzugshelfern« einerseits und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Freien Straffälligenhilfe andererseits unterschieden werden muss, so sind ihre Tätigkeitsfelder doch vielfach identisch.62 Sofern Vollzugshelfer sich in Vereinen organisiert haben, gibt es auch für sie als zusätzliche Aufgaben: Arbeit in Vereinsvorständen, Einwerbung von Förder- und Spendengeldern, Öffentlichkeitsarbeit sowie Organisierung der Einführung neuer Ehrenamtlicher in ihre Aufgaben und der Aus- und Fortbildung. Für die Gewinnung, Auswahl, Qualifizierung, Platzierung und Begleitung geeigneter Ehrenamtlicher bedarf es eines sozialarbeits-professionellen Freiwilligenmanagements, das relativ unabhängig von der Justizbehörde arbeiten kann. Zu dessen Aufgaben gehören auch Dokumentation, Erstellung von Nachweisen und Zeugnis, Etablierung einer Anerkennungskultur und Akzeptanz und Gestaltung der Beendigung der Tätigkeit.63 Unzureichende juristische Absicherung, mangelnde professionelle Einführung und Begleitung,64 unzureichende Rollenbestimmung,65 manchmal auch fehlende Verlässlichkeit auf beiden Seiten66 führen dazu, dass die Chancen wenig genutzt werden, die durch Mitwirkung Ehrenamtlicher dafür bestehen, dass der Weg von einem mehr oder weniger sicheren Verwahrvollzug zu einem Heft 73/2016 Literaturbericht 58 3, S. 138 f. nennt Theatergruppen, Chöre, Musikkapellen und Schachklubs. Es gibt Koch-, Töpfer- und andere handwerkliche Freizeitgruppen und Gruppen, in denen Personen von drinnen und draußen projektbezogen thematisch arbeiten und diskutieren. 59 Bei Ausgängen und Hafturlaub, Besuch von Tagungen und externen Veranstaltungen. 6, S. 107 nennt Begleitung bei Behördengängen und Unterstützung bei der Wohnungssuche. 60 Hier ist zu unterscheiden die Unterstützung von Zeitungen von Gefangenen für Gefangene (so meistens) oder die redaktionelle Mitarbeit bei Zeitungen, die für »drinnen« und »draußen« bestimmt sind, also zugleich der justizpolitischen Öffentlichkeitsarbeit dienen. Problematisch erscheinen Zeitungen, die Organ der Anstaltsleitung oder von hauptamtlichen Mitarbeitern zur Information der Inhaftierten und/oder der Öffentlichkeit sind. 61 Für 10, Nr.290 gehören auch »Hilfestellung für Familien« und »Aufklärung der Öffentlchkeit über Strafvollzugsprobleme« zu dem »weit gefächerten Betätigungsfeld« der Ehrenamtlichen Vollugshelfer. 62 5, S. 212 Nr. 26 nennt für die Ehrenamtlichen der freien Straffälligenhilfe zusätzlich zu bisher genannten Aufgaben das Angebot der Hilfestellung »bei gerichtlichen Verfahren, bei der Regulierung von Schulden, bei der Überwindung von Sprachbarrieren, beim Umgang mit Suchtproblemen, evtl. Vermittlung in Beratungsstellen, bei der Auseinandersetzung mit oder der Verarbeitung von Schuld«. Zur Erfüllung der meisten dieser Aufgaben ist die fachliche Zusammenarbeit mit Professionellen unbedingt erforderlich (vgl. die übernächste Anmerkung). 63 Vgl. 6, S. 107-110 zur »Arbeit mit bürgerschaftlich Engagierten«. 64 Dass im Freiwilligenmanagement qualifizierte, die Sozialarbeit im Justizvollzug im Gefolge Päckerts und KawamuraReindls praktizierende SozialarbeiterInnen Interesse daran zeigen und einen festen Anteil ihrer Arbeitszeit dieser Begleitung widmen wollen und können, bildet bisher die Ausnahme. Eine genaue Bestimmung des Verhältnisses der Kompetenzen von Professionellen und Freiwilligen steht aus; erste Ansätze dazu finden sich bei Sabine Schneider in ihrem Artikel »Theoretische Profilierungen Sozialer Arbeit mit Straffälligen« in dem vom AK HochschullehrerInnen Kriminologie/Straffälligenhilfe in der Sozialen Arbeit herausgegebenen und bei Beltz-Juventa publizierten Lehrbuch »Kriminologie und Soziale Arbeit«, Weinheim/Basel 2014 S. 27-143 (hier insbesondere S. 132 2., S. 133 3. und S. 136 f.). Das Lehrbuch des Aks ist auch insbesondere zu Fragen des Verhältnisses von Kriminologie und Sozialarbeit, zur Sozialen Arbeit in Zwangskontexten, zur Sozialanwaltskriminologie für soziale Berufe, zu Restorative Justice sowie zu Migration und Drogen zu beachten (vgl. außerdem unten Anm. 68) 65 Sie sind keine Lückenbüßer und nicht nur für Freizeitbeschäftigungen zuständig, sondern haben als soziale PartnerInnen der straffällig gewordenen Menschen und als unabhängige Vertreter der Gesellschaft eine wichtige Aufgabe, in der sie selbst für sich Kompetenzen erwerben und die Erfahrung relevanter Arbeit machen können. 66 Verabredungen mit der JVA (z.B. bei Terminen für Vollzugs- und Eingliederungsplanung) und mit Inhaftierten werden nicht immer verlässlich eingehalten bzw. nicht rechtzeitig abgesagt. Aber auch Ehrenamtliche sind – vor allem, wenn sie vorher diesbezüglich negative Erfahrungen mit JVA oder Inhaftierten gemacht haben – nicht alle durchgängig zuverlässig. 37 SLR 73.indb 37 29.11.2016 15:48:37 Heft 73/2016 SLR konsequenten Resozialisierungsvollzug mit Unterstützung der Zivilgesellschaft erfolgreich gegangen werden kann. 6 Vom dem Strafnachlass dienenden Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) zur »heilenden Gerechtigkeit« (restorative justice=rj) als Alternative zum Strafvollzug Was das alte Bundesstrafvollzugsgesetz von 1976 als Beschreibung des Vollzugsziels – also als Näherbestimmung dessen, was »Resozialisierung«, bezogen auf den Straftäter, meint – gewählt hat, haben fast alle Bundesländer in ihre seit 2006 erfolgte Gesetzgebung übernommen: der Gefangene soll »fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen«. Dazu gehört – für einige Bundesländer jetzt ausdrücklich formuliert –, dass »zur Erreichung des Vollzugsziels ... die Einsicht in die dem Opfer zugefügten Tatfolgen geweckt und geeignete Maßnahmen zum Ausgleich angestrebt werden« (so Baden-Württemberg § 2,5 als ein »Behandlungsgrundsatz«). Brandenburg, Rheinland-Pfalz und Saarland formulieren in ihren §§ 8,1 bzw. 3,1 noch schärfer: der Vollzug dort ist »auf die Auseinandersetzung (der Gefangenen) mit ihren Straftaten, deren Ursachen und deren Folgen auszurichten« und das Bewusstsein für die den Opfern zugefügten Schäden soll geweckt werden.67 Sind dies grundsätzliche Festlegungen im Rahmen der Bestimmung von Vollzugsziel und – gestaltung in einzelnen Bundesländern, so thematisiert die Mehrzahl der Bundesländer die Täter-Opfer-Beziehung in der Bestimmung des verpflichtenden Inhalts des Vollzugsplans, der für jeden Gefangenen aufzustellen ist. So muss der Vollzugsplan Angaben enthalten zum »Ausgleich von Tatfolgen« (Brandenburg § 15,1 Nr. 21, Hessen § 10,4 Nr. 9, Rheinland-Pfalz § 15,1 Nr. 20, Saarland § 9,1 Nr. 20), ausdrücklich ergänzt durch den Verweis »einschließlich Täter-Opfer-Ausgleich« (Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen in § 9,1 Nr. 20) oder anders formuliert als »Maßnahmen des Täter-Opfer-Ausgleichs« (Hamburg § 8,2 Nr. 5). Diese Bestimmungen werden in 11 S. 56 als »opferbezogene Vollzugsgestaltung« positiv kommentiert, in 12 aber unter dem Stichwort »Soziale Hilfe als Opferhilfe?« als »bedenklicher viktimologischer Paradigmenwechsel« kritisiert. Festzuhalten ist hier einerseits, dass zu einem »Leben in sozialer Verantwortung« die Empathie für Geschädigte und ein ihren Schaden möglichst ausgleichendes Verhalten gehören, dass aber eine Instrumentalisierung des Täter-OpferAusgleichs im Vollzug und dessen »Ausrichtung« auf diesen Ausgleich zu Heuchelei und falscher Gewichtung führen.68 67 Hessen beschränkt sich hier auf den zweiten Teil der Aussage und formuliert in § 5,1 Satz 4 als einen Grundsatz »vollzuglicher Maßnahmen«: »Die Einsicht der Gefangenen in das Unrecht der Tat und in die beim Opfer verursachten Tatfolgen soll vermittelt und durch geeeignete Maßnahmen zum Ausgleich der Tatfolgen vertieft werden«. 68 Sabine Schneider hat in ihrem oben in Anm. 64 genannten Artikel im Zusammenhang der Wichtigkeit der Trennung von Person und Delikt richtig vermerkt, »dass die Straftat als solche zunächst nicht im Fokus ist, als Startpunkt für Soziale Arbeit vielmehr die Frage zentral ist, auf welche Ausgangssituation die jeweilige Tat ein Bewältigungsversuch darstellt« (S. 139). Sie weist u.a. auf Anti-Aggressivitäts-Trainings hin, in denen »trainiert wird, in gewaltauslösenden Situationen andere Gefühle oder Impulse wahrzunehmen, damit auch bzw. überhaupt möglich wird, Gefühle für Empathie für die Opfer zu erzeugen« (S. 139). Im TOA müsse »für ein produktives Ergebnis der Tatvorwurf auf eine Konfliktkonstellation zwischen den beteiligten Personen begrenzt werden« (S. 139 f.). Zu beachten ist auch, dass einer validen älteren empirischen Untersuchung zufolge Viktimisierungserfahrungen fast doppelt so häufig bei straffälligen Personen vorliegen gegenüber nicht straffälligen Personen – so Gabriele Kawamura-Reindl im Lehrbuch des AK HochschullehrerInnen (siehe Anm. 64) in ihrem Artikel »Lebenslagen Straffälliger als Ausgangspunkt für professionelle Interventionen in der Sozialen Arbeit« S. 144-159, daselbst S. 150 vorgestellt und erörtert. 38 SLR 73.indb 38 29.11.2016 15:48:37 SLR Sinnvoller TOA bedarf einer machtunabhängigen Trägerschaft (sollte also nicht von Gefängnispersonal durchgeführt werden) und einer Freiwilligkeit aller Beteiligten. So ist auch Frank Winter in seinem TOA-Artikel in 5 S. 477-498 zu verstehen; bei ihm findet sich eine sorgfältige Darstellung von Geschichte, rechtlichen Grundlagen, praktischer Durchführung, Evaluation und Innovationen des TOA in Bezug auf das geltende Recht. Winter ortet zwar den TOA im Rahmen von Strafrecht und –vollzug und erwähnt, dass er »neben Strafen und Maßregeln auch dritte Spur des Strafrechts genannt« wird (S. 477), gibt ihm damit aber eine Eigenständigkeit und weitet seine aktuelle Bedeutung aus. Er stellt Modellversuche im Strafvollzug vor (S. 494), muss aber auch die Grenzen markieren, an die TOA stößt, wenn er im Rahmen von Strafrecht und Strafvollzug bleibt (S. 495). Winter hat bereits vor zwölf Jahren deutlich gemacht, in welchem Zusammenhang er TOA sieht: »als Teil der Vision von einer heilenden Gerechtigkeit«.69 Auch Kawamura-Reindl und Schneider gehen in ihrem Kapitel über TOA in 6 S. 184-205 diesen Weg: sie schildern zunächst, wie TOA seit den 1980er Jahren, zunächst durch Modellprojekte im Jugendbereich, sich zu einem erst im Jugend-, dann auch im Erwachsenenstrafrecht zusehends Bedeutung gewinnenden »Angebot an Beschuldigte und Geschädigte, die Straftat und ihre Folgen mit Hilfe eines neutralen Vermittlers eigenverantwortlich zu bearbeiten und nach Möglichkeit auszugleichen« (184 f.) auf freiwilliger Basis für alle Beteiligten entwickelt hat und jetzt im StGB (§§ 46a, 59 und 153a) sowie im JGG (§§ 10, Abs. 1 Nr.7, § 15, Abs. 1 Nr.1, § 45 Abs. 2 und § 47 Abs. 1 Nr.2) als Möglichkeit zum Strafnachlass verankert ist (S. 187). Er bedarf ihnen zufolge konkreter ansprechbarer und bereitwilliger Personen und kommt für alle Deliktarten in Frage – mit Ausnahme allenfalls von unerheblichen Bagatelldelikten (S. 188 f.). Sieht man von seiner juristischen Funktionalisierung als Strafmilderungsgrund für den Straftäter ab, so dient er gleichermaßen der Würde und Freiheit von Täter und Opfer und trägt nachhaltig zur Verarbeitung der entstandenen Probleme bei. Das Opfer erhält die Möglichkeit, u.a. »seine Emotionen, wie Wut, Trauer, Ängste und seine Verletztheit zum Ausdruck zu bringen und hierdurch die psychischen Folgen der Tat besser zu verarbeiten«;70 die Tatperson gewinnt die Möglichkeit, u.a. »Verantwortung für die Tat zu übernehmen und sich von einem Schuldgefühl zu entlasten«.71 Die Vorgehensweise des TOA wird in 7 Phasen – von Vorprüfungen und –gesprächen über Ausgleichsgespräche bis zu Vereinbarung und Abschluss – beschrieben.72 Perspektivisch weiterführend und den Kontext des Strafvollzugs überschreitend kann TOA in Gemeinschaftskonferenzen, Friedenszirkel oder Restorative Justice Conferencing zur heilenden Gerechtigkeit (rj) beitragen (6 S. 202-205, vgl. dort auch die Erläuterung zu rj S. 186). Heft 73/2016 Literaturbericht 69 Der Titel seiner in Worpswede 2004 erschienenen Monografie zum Thema lautet: »TOA als Teil der Vision einer heilenden Gerechtigkeit«. 70 S. 190. Grundlegend ist hier darauf hinzuweisen, dass das »Opfer« durch die Begegnung mit dem »Täter« aus der Opferrolle herauskommt und die Souveränität seines Lebens gewinnen kann. Das hat Eva Moses Kor, eins der Opfer der Zwillingsversuche des KZ-Arztes Mengele gewollt und gezeigt, als sie ein Treffen mit einem KZ-Arzt arrangiert hat (vgl. die Glosse S. 74 in: Evers/Kleinert Wenn keiner den ersten Stein wirft – mit Schuld und Vergebung leben, Anstöße und Analysen aus Recht, Psychologie und Theologie, Leipzig 2005; auf die Berichte über die »Gespräche im Gefängnis« über »Schuld, Strafe und Vergebung« daselbst S. 123-130 sei hier hingewiesen). 71 S. 190 vgl. 22 S. 187. Statt von »Entlastung von einem Schuldgefühl« wäre vielleicht besser von Ermöglichung eines Lebens »mit Schuld und Vergebung« zu reden (Vgl. den Beitrag »Schuld tragen und (aus) Vergebung leben« S. 61-96 in Evers/Kleinert (Hg) Wenn keiner den ersten Stein wirft ...). 72 S. 191-198. Ähnlich sind die insgesamt 9 Schritte, die Winter in 5 S. 485 für den TOA tabellarisch darstellt. 39 SLR 73.indb 39 29.11.2016 15:48:37 Heft 73/2016 SLR Konsequent umgesetzt, muss TOA die ihm eingeräumte »dritte Spur im Strafrecht« (Winter) verlassen und wie rj Teil einer Alternative zur Schuld-und-Strafenmentalität werden.73 Schlussbemerkung Eine vergleichende systematische Auswertung der neuen Fachliteratur lässt sich noch an vielen anderen Stichworten vornehmen. In den hier ausgewählten und skizzierten sechs Stichworten ging es um grundsätzliche Fragen (1. Resozialisierung, 3. Offener Vollzug, 6. TOA und heilende Gerechtigkeit) und um oft vernachlässigte Bereiche (2. der straffälliggewordene Mensch als Subjekt, 4. und 5. die Mitwirkung der Zivilgesellschaft), ohne deren positive Einbeziehung der in der Fachliteratur fast einhellig angemahnte, mit dem Bundesstrafvollzugsgesetz von 1976 eingeleitete und vom Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Recht unterstützte Paradigmenwechsel zu einem Resozialisierungsvollzug nicht gelingen kann. Abstract The penal system should not operate as it is the case presently if the aim is and should still be to allow offenders a life marked by social responsibility and no further offences. Ulfrid Kleinert shows this by a presentation and analysis of a wide range of new and older books, which are, written by parties involved or concerned, describing the daily life in prison and are naming the contradictions, in which social and pastoral work happens on-site. This contradictions are caused by a conflict of objections as law both aims at punishing for both a fictitious guilt and the social rehabilitation of offenders. Additionally there is an unenlightened need for security, which politics and administration meet shortsighted. Autobiographical reflections and specialist literature in the area of social science, law and theology pave the way to settings which are recognizing both the people affected by an offence and the offenders as subjects in a social context. The realisation of such settings calls for an attentive critical public. This public includes competent councils and volunteers, who are regarding themselves as a part of civil society. 73 Vgl. hierzu grundsätzlich die Beiträge in Heinz Sünker/Knut Berner (Hg) Vergeltung ohne Ende? – Über Strafe und ihre Alternativen im 21. Jahrhundert, Lahnstein: Verlag Neue Praxis 2012. Berner a.a.O. S. 28 konstatiert, dass sich die Achtung der Person »auch im verstärkten Bemühen um die Möglichkeit des (staatlich kontrollierten) TOAs und der nicht strafrechtlichen Wiedergutmachung« zeige. Im Übrigen seien »herkömmliche Täter-Opfer-Fixierungen zu problematisieren ... Das Opfer wird darin zum Täter, dass es den Täter mit seiner Tat identifiziert. Und der Täter macht sich zum Opfer, indem er möglichst viele außerhalb seiner selbst liegende Gründe dafür verantwortlich zu machen versucht, so gehandelt zu haben« (S. 14 f.). Menschen sei, biblisch gesehen, »nicht die Kompetenz zugesprochen, als Souverän des Strafvollzugs agieren zu können und zu dürfen.« Die Erfüllung von Revanchegelüsten sei »fast durchgehend an Gott delegiert« (S. 3); letztlich erscheine »Gott als der einzige absolut zuverlässige Garant dafür, dass Unrecht nicht ungesühnt bleibt« (S. 12). Menschliches Strafen werde theologisch »entmythologisiert« (S. 4). 40 SLR 73.indb 40 29.11.2016 15:48:37 SLR Firat Yildirim Von der vermittelten Nichtidentität und neuen Wegen aus der Systemkrise: Darrow Schecters Reformanstoß der kritischen Theorie im 21. Jahrhundert. Heft 73/2016 Rezensionsaufsätze Rezensionsaufsätze Rezensionsaufsätze Über: Darrow Schecter: Kritische Theorie im 21. Jahrhundert. Aus dem Englischen übersetzt von Diana Göbel. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2016; S. 261 ; brosch., 39,- € Vor dem Hintergrund einer besorgniserregenden globalen Entwicklung, die bereits existierende wirtschaftlichen und sozialen Krisen zunehmend verschärft, erscheint die Frage nach einem politischen Kurswechsel sowie eines tiefgreifenden Wandels institutioneller Strukturen dringlicher denn je. Denn das »Wunderrezept« des Neoliberalismus, den Kapitalismus durch wirtschaftliches Breitenwachstum ökonomisch praktikabel und sozialverträglich zu gestalten, hat sich als substanzlos entpuppt. So ist die erhoffte Rettung aus den sozio-ökonomischen Missständen in weiten Teilen der Erde nicht nur ausgeblieben, sondern vielmehr noch hat das neoliberale Paradigma etwa dazu geführt, dass es in einigen Staaten zu einer nachhaltigen und tiefgreifenderen Stratifikation der jeweiligen Gesellschaft kam. Die große Frage dürfte nun also lauten, ob mit der neoliberalen Desillusionierung sich auch die Möglichkeiten einer hoffnungsvollen Umgestaltung von kapitalistisch geprägten Gesellschaften theoretisch-ökonomisch erschöpft, oder aber sich möglicherweise auch gerade wegen der offenen Krisenhaftigkeit des Systems neue Ansätze für die erforderliche Restrukturierung von Staat, Markt und Gesellschaft auftun. Dem letzteren Potenzial zumindest geht der britische Politologe Darrow Schecter in seinem Buch Kritische Theorie im 21. Jahrhundert nach, welches bereits 2013 unter dem englischen Titel Critical Theory in the Twenty-First Century im Bloomsbury Verlag erschien und nun auch in deutscher Übersetzung – als Auftaktband der Schriftenreihe Studien zur Politischen Soziologie – im Nomos Verlag erhältlich ist. Schecters methodische Anlage in diesem Buch dürfte dem Leser mit einem kurzen Blick in die Einleitung gleich zu Beginn als reizvoll und ebenso erhellend erscheinen: Sein selbsterklärtes Ziel ist es, mit diesem Buch einen programmatischen Wiederbelebungsversuch bzw. eine Rundumerneuerung der kritischen Theorie zu leisten, die zwar auf der Denkleistung der ersten Generation der Frankfurter Schule fußt (S. 7), sich jedoch nicht ausschließlich darauf beschränken will, alte Positionen zu gegenwärtigen Fragestellungen und dringenden Problemen der Soziologie, Rechtstheorie, Philosophie, Politiktheorie, der Medien- und Geschichtswissenschaft, der Ästhetik, der Filmwissenschaft und der Psychoanalyse (S. 12)« zu reformulieren. Vielmehr wird vom Autor beabsichtigt, mit einem multidisziplinären Ansatz die Forschung gezielt anzuregen und mit der Rekonzeptualisierung der kritischen Theorie (erneut) in wissenschaftliche Wirklichkeitsbereiche vorzudringen, in denen die, wie Schecter behauptet, einstige politische Triebkraft der kritischen Theorie, »die sie vor der von der Theorie des kommunikativen Handelns markierten linguistischen Wende hatte« (S. 69), auch wieder zum Vorschein treten kann. Gleichsam ein Befreiungsversuch der kritischen Theorie; u.a aus der ästhetischen Versenkung, in der diese sich seit Habermas‘ wirkungsmächtigem Werk Schecter zufolge befindet. 41 SLR 73.indb 41 29.11.2016 15:48:37 Heft 73/2016 SLR Es sei jedoch angemerkt, dass Schecter die weitergehende Präsenz einer ästhetischen Herangehensweise an die kritische Theorie an keiner Stelle des Buches grundsätzlich in Frage stellt. Denn diese ist seiner Meinung nach weiterhin wichtig, um ein begrifflich-nichtbegriffliches Erkenntnismoment herausstellen zu können. Und dennoch sollte eine tendenzielle Überfokussierung der ästhetischen Theorie möglichst gemieden werden, die »auf Kosten der politischen Ökonomie und der Erkundung von Macht, Kontingenz, funktionaler Differenzierung und so weiter« (S. 13) stattfindet. Demnach besteht die Herausforderung für die Sozialforschung im 21. Jahrhundert primär darin, nach einem neuen Lösungsansatz zu suchen, die die von Schecter bereits in der Einleitung benannte Kernkompetenz der kritischen Theorie aufrechterhält, aber auch gleichzeitig den Früchten der ästhetisch-theoretischen Forschungsarbeit an den Philosophielehrstühlen in Europa und Nordamerika gerecht wird. Das Schlüsselproblem kritischer Gesellschaftstheorie In den ersten beiden Kapiteln Dialektik, Denaturalisierung und soziale Differenzierung (I): Von der Öffentlichkeit zur Entwicklung der Zivilgesellschaft und Dialektik, Denaturalisierung und gesellschaftliche Differenzierung (II): Vom kognitiven Gehalt der Ästhetik zur kritischen Theorie vermag der Autor eine hypothetische Vorarbeit zu leisten, die dem Leser zum einem versucht die Entstehungsgründe der kritischen Theorie im 20. Jahrhundert nahezubringen und zum anderen den Deutungs- und Relevanzrahmen der kritischen Theorie im 21. Jahrhundert abzustecken (S. 33). Das klar erkennbare Motiv des Autors und seine inhaltlich zentrale Behauptung im ersten Teil, nämlich das durchaus alternative Organisationsformen zu den krisenbeladenen sozioökonomischen und politischen Systemen der Gegenwart bestehen, wird bereits in dieser Hälfte des Buches sichtlich hervorgehoben und mit einer anderen gewichtigen Annahme gekoppelt, die dem Leser an verschiedenen Stellen mehrfach wiederbegegnet: Demzufolge können Menschen, die sich frei zu einer Gesellschaft zusammen geschlossen haben, auch überall dort, wo Krisen- und Konfliktpotenziale innerhalb dieser Gesellschaft besteht, beispielsweise aus missbräuchlicher Machtausübung und/oder einer Finanzkrise, sich verschiedenen Formen der instrumentellen Vernunft (individuell wie aber auch als Kollektiv) bedienen, um diese aufzulösen. Vorausgesetzt, dass aus der Staatssphäre losgelöste, autonome Handlungsmöglichkeiten, sei es eben als Einzelner oder als Gruppe, in Gesellschaften weiterhin implizit bestehen und endogene/exogene Problemursachen per se erkannt werden können (ebd.). Worin besteht nun aber das eigentliche Theorie-Praxis-Problem der zeitgenössischen Gesellschaftsformation laut Schecter? An dieser Stelle rekurriert der Autor auf die kanonische Traditionslinie der dialektischen Gesellschaftstheorien, die vom Hegelschen Idealismus über den Marxschen Materialismus bis hin zu der programmatischen kritischen Theorie Adornos reicht und deren Analyseschemata er sich bedient, um die gegenwärtigen Systemprobleme für den Leser anschaulich freizulegen. So wird Schecter zufolge bereits in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts auf eine eklatante Dichotomie zwischen den Menschen im Naturzustand und der bürgerlichen Gesellschaft hingewiesen, dessen Überwindung sich nur mittels einer politischen Ordnung verwirklichen kann, die es schafft, zwischen Bürgern, Recht und Staat de facto eine »Einheit« zu vermitteln: »Dem Begriff der politischen Freiheit und Autorität zufolge, der von Hegel und anderen Theoretikern einer weltlichen politischen Ordnung vertreten wird, gibt es eine vermittelte Einheit zwischen Bürgern, Recht und Staat. Diese Konstellation institutioneller Kräfte bindet den einzelnen Bürger in eine territorial abgegrenzte nationale Gemeinschaft ein, innerhalb derer die Bürger Rechte und Pflichten haben. Der Begriff vermittelte Einheit drückt den Gedanken aus, dass Repräsentation unmöglich wäre, wenn es gar keine Einheit zwischen Bürgern und Staat gäbe. 42 SLR 73.indb 42 29.11.2016 15:48:37 SLR Darin zeigt sich, dass Vermittlungsprozesse und die Möglichkeit vernünftiger Repräsentation für Hegel und viele andere eng verbunden ist. Bestünde hingegen Identität zwischen Bürgern und Staat, anstelle von vermittelter Einheit, so wäre eine Repräsentation überflüssig.« (S. 63) Wie sich aus diesem Absatz erkennen lässt, steht das gesellschaftliche Verwirklichungspotenzial von Einheit und Freiheit in Anlehnung an Hegel in einem Konnex mit vernünftigen Vermittlungsstrategien, die einzelne Staaten verfolgen (sollten). Hegels Philosophie des Rechts zufolge besitzt der ideale Staat deshalb zwangsläufig ein immanentes Interesse daran, in Form eines objektivierten Geistes die vermittelte non-identity, die beispielsweise von der bürgerlichen Gesellschaft verkörpert und gefördert wird, durch eine vermittelte Einheit abzulösen. Im Anschluss an Hegels Theorieerbe knüpft auch Marx an die Idee der vermittelten Einheit an und erweitert diese entscheidend um eine höher gerichtetere Form innerhalb seiner materialistischen Dialektik: Der Klassenlosigkeit und damit einer unmittelbareren, undifferenzierteren Einheit innerhalb der Gesellschaft. Jedenfalls ist sowohl Hegel als auch Marx gemein, dass ihrer Ansicht nach mit der institutionell vermittelten Uneinigkeit ernsthafte soziale Probleme einhergehen, und jener nur durch die schrittweise Abtragung der stark differenzierten gesellschaftlichen Schichten und der gleichzeitigen Schaffung einer authentischen Einheit ernsthaft begegnet werden kann. Der auf die Gemeinsamkeiten beider Denker gelegte analytische Fokus ist Schecter zunächst positiv anzurechnen, auch wenn er gewiss nicht -und das kann man dem Leser bereits vorausschicken- beider Ansichten teilt, dass die zentrale Idee der Einheitsvermittlung auch im 21. Jahrhundert potentiell zur Lösung aller gegenwärtigen Probleme beitragen könnte. Vielmehr kann man die Dysfunktion modernen Staaten nur begreifen, wenn man auch gewillt ist, den historisch-eindimensionalen Blick auf die Individuum-Gesellschaft, Subjekt-Objekt Beziehung und die Klassentheorie zu verlassen, und sich stattdessen mit ihrer durchaus komplexen Aufbaustruktur und Kommunikationsform auseinanderzusetzen. So sind moderne Staaten aus ihrem Selbstverständnis heraus zwar im wesentlichen auch Einheit vermittelnde Instanzen (exempl. Gleichheit vor dem Gesetz), doch in Wirklichkeit ist deren autonome Handlungsfähigkeit in ein autopoietisches System übergegangen, welches der paradoxen Logik einer fortwährenden funktionalen Differenzierung und Stratifikation und damit letztlich der (Re-)Produktion von Ungleichheit folgt. Am Ende einer solchen Entwicklung von Gesellschaftssystemen bleibt laut Schecter eine asymmetrische Konnexion der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen übrig, die schließlich in einer spannungsgeladenen Relation mündet. Diese künstlich geschaffene »Asymmetrie« selbst wirkt wiederum wie ein Katalysator für soziale und wirtschaftliche Krisen, wie wir sie in weiten Teilen der Erde beobachten können Die Ursachen dieser Entwicklung liegen, so Schecter, darin begründet, dass heutige Staaten mit ihrem Vermittlungsanspruch heillos überfordert und deshalb nicht mehr in der Lage sind, das Auseinanderfallen von einst interagierenden Systemen wie Recht, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft aufzuhalten: Eine lähmende institutionelle Machtzerstreuung wurde in Gang gesetzt, die sich nur noch schwer stoppen lässt. Und schon gar nicht mit einer veralteten politischen Theorie für die Gegenwart, die sich an dem mythologischen Urkonflikt zwischen Kapital und Arbeit bereits erschöpft (S. 54-57). Stattdessen plädiert Schecter in seinen Überlegungen erkennbar für die Suche nach neuen geeigneten Vermittlungs- und Kommunikationsstrategien, die die auseinanderdriftenden pluralen Systeme wieder effektiv aneinanderkoppeln und vernetzen können, ohne jedoch die Macht (erneut) in Form einer zentralen Instanz zu konzentrieren. Zusammengefasst müsste die kritische Theorie als Herzstück ihrer Forschungsarbeit sich demnach mit der Frage auseinandersetzen: »Was könnten die Möglichkeiten für die Verwirklichung eines dezentrierten, pluralen Netzwerkes von Vermittlungen anstelle einer einheitlichen vermittelnden Instanz sein (S. 67)?« Heft 73/2016 Rezensionsaufsätze 43 SLR 73.indb 43 29.11.2016 15:48:37 Heft 73/2016 SLR Kritische Theorie und vermittelte Nichtidentität, kritische Theorie und politische Theorie, aber auch neue Wege jenseits der Marx-FreudSynthese? Mit dieser gewichtigen Frage erhält der Leser auch einen Ausblick auf den Inhalt des zweiten Teils im Buch. Schecters Augenmerk konzentriert sich in dieser Hälfte jedoch nicht ausschließlich auf die oben aufgeworfene Fragestellung, sondern erweitert den Untersuchungsgegenstand durch Hinzunahme der Kulturphilosophie Simmels um eine dritte, und damit entscheidende deskriptive Dimension. Sein zentraler Gedanke dabei ist, dass im Anschluss an die von Simmel in Die Philosophie des Geldes thematisierte Metaebene sozioökonomischer Zusammenhänge (als ihr wesentliches Strukturmerkmal) in modernen Gesellschaften dynamische Prozesse in Gang gesetzt werden, die außerhalb der Subjekt-Objekt-Form liegen, und deren Erklärung sich vor allem auf diese nicht reduzieren und begrenzen lassen (S. 123 f., 245.). Das heißt, es existiert mindestens »ein drittes, von den Tauschpartnern hervorgebrachtes, aber für keinen von ihnen vorhersehbares Element (S. 124)«, welches es (neu) zu bestimmen gilt. Dieses dritte Element zielt darauf ab, sich an der Gestaltung von die Mikro- und Makrobedingungen gesellschaftlichen Zusammenlebens zu beteiligen und die Reflexion über Autonomie und Vernunft seitens der Individuen zu steuern – eben in Form von Geld (ebd.). In Anlehnung an Simmel geht vom Geld und seiner anfänglich als ein reines Tauschmittel gedachten Transaktionsfunktion zwischen Konsumenten und Produzenten in modernen Gesellschaften mittlerweile eine Transformationsbewegung des Sozialen aus, die sich zwar nur noch schwer kontrollieren lässt, die Kontrolle darüber jedoch nicht gänzlich unmöglich erscheint: Sofern man eine offene Dialektik verfolgt, die ohne die Subjekt-Objekt-Beziehung als einzigen Referenzpunkt der Gesellschaftstheorie auskommt bzw. die Mehrfachrelation gesellschaftlicher Prozesse anerkennt (S. 125). Ähnlich verhält sich auch mit der von Simmel thematisierten objektiven sozialen Norm. Diese besitzt nämlich einen eigenen, dezentralen Charakter, aus der sich keine grundlegenden Motive der Form- und Gesetzgebung ableiten lassen und die sich deshalb dem Einfluss von Natur und Mensch entziehen (S. 122). So ist es offensichtlich, dass Schecter Simmels Theorie eine gewisse Überlegenheit zu attestieren scheint, die sich aus einer innovativen soziologischen Denkweise ergibt, die die Konstellation moderner Gesellschaften besser begreifen kann, indem sie, im Gegensatz zu Hegel oder Marx, methodisch dezentriert und flexibler operiert. Sollte sich die kritische Theorie im 21. Jahrhundert jedoch, wie oben erwähnt, der Fortführung einer flexiblen Dialektik im Sinne Simmels annehmen, so würden sich möglicherweise neue Möglichkeiten eröffnen, die den dogmatisch materialistischen Ansatz der kritischen Theorie zunächst aufweichen und diesen Prozess schließlich beschleunigen können; indem man die Gesellschaftsverhältnisse eben nicht nur darauf reduziert, dass sich die »entfremdeten, ausgebeuteten, demokratischen Mehrheiten [...] und hinterlistigen, ausbeuterischen, antidemokratischen Minderheiten (S. 128.)« unversöhnlich gegenüberstehen. Dadurch könnte endlich der ernsthafte Versuch unternommen werden, nach einer geeigneteren/bedürfnisorientierteren Methodologie für die Sozialforschung im 21. Jahrhundert zu suchen (ebd.), die die deutlich komplexeren Anlagen der verschiedenen Gesellschaftsformen samt ihrer individuellen Probleme anerkennt bzw. zu Beginn ihrer Überlegungen mit einbezieht (S. 122). Schecter betont die potentielle Tragweite einer solchen Neupositionierung der kritischen Theorie durch »die Möglichkeit einer entsprechend flexiblen Dialektik, die weder vereinigende Grundlagen voraussetzt noch auf vorgeformten Synthesen beruht (S. 267).« 44 SLR 73.indb 44 29.11.2016 15:48:37 SLR Und dennoch verfällt er zu keinem Zeitpunkt seiner Ausführung der naiven Annahme, dass eine etwaige Neupositionierung der kritischen Theorie von heute auf morgen geschehen kann und wird. Durchaus fordert er aber von der Forschung die nötige Insistenz, um auf die gegenwärtig vordringlichste politische Frage nach einer passenden Lösung zu suchen, die lautet: »wie kann man sich auf diese Reformprozesse begeben, ohne zu einem zentralisierten Planen zu greifen, das mit großer Wahrscheinlichkeit bürokratisch, propagandistisch und daher ineffektiv sein wird (S. 273)?« Eine scheinbar klare Absage an diejenigen, die in dem realsozialistischen Projekt noch möglicherweise eine echte Systemalternative sehen und ihre Energie für Fehlerkorrekturen immanent maroder Modelle aufbringen wollen. Der Schlüssel zu einer erfolgreichen Rekonzeptualisierung der kritischen Theorie im 21. Jahrhundert wird daher wohl auch ein Stück weit darin liegen, inwieweit die Forschung bereit sein wird, die dogmatische Verteidigung ihrer eigenen Grundsätze und Errungenschaften aufzugeben, um nach zeitgemäßen Analyseinstrumenten zu suchen. Zum Abschluss seiner Überlegungen mutmaßt Schecter, dass beispielsweise durch die totale Entkopplung der Wirtschaft vom politischen System, auch wenn dies zunächst befremdlich klingen mag, Potentiale freigesetzt werden können, die beide Seiten von der eingangs genannten Überlastung wieder befreien können. Diese würden dann nämlich nicht mehr von einer gesamtgesellschaftlichen Erwartungshaltung getragen werden, als Garant für gegenseitige Stabilität zu fungieren. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Wirtschaft zwangsläufig dem freien Spiel der Märkte ausgesetzt werden sollte – vielmehr würde seinem Plädoyer zufolge genau der gegenteilige Effekt erzielt werden können, nämlich, dass die Wirtschaft dann nicht mehr nur blind der passiven Adaption an das fehlerhafte politische System folgt (und umgekehrt), sondern erstmals unbefangen Funktionskriterien für eine erneute Zusammenführung beider Systeme von außerhalb formuliert werden können, die ihrer inhärenten Komplexität und den Gesetzen der globalisierten Welt gerecht werden (S. 251). Was dem Autor an dieser Stelle offensichtlich vorschwebt, ist der Gedanke, beim Leser die nötige Sensibilität für alternative Modelle zu aktivieren und die Marschroute der Forschung für die Entwicklung dieser Modelle mit dem vorliegendem Buch größtenteils abzustecken. Die Liste an kreativen Vorschlägen zur Lösung der bedeutsamen Systemprobleme der Moderne ließe sich problemlos fortsetzen – und dennoch lässt sich Schecters Postulat mit folgendem Satz sicherlich gut zusammenfassen: »Statt über die möglichen Unterschiede zwischen »falschem« und »wahrem« Bewusstsein und zwischen »reaktionärem« und »reformistischen« und »revolutionärem« sozialem Handeln zu spekulieren, versucht die kritische Theorie [des 21. Jahrhunderts] unter Bezug auf den Idealismus sowie auf Baudelaire, Marx, Nietzsche, Freud, Benjamin und Adorno Kriterien zu entwickeln, um zu beurteilen, was willkürlich und veränderbar ist, im Verhältnis zu dem, was sich als historische Objektivität und Tatsache darstellt (S. 121).« Der Autor vermag in fünf Kapiteln einen durchaus kontrastreichen Überblick über die Anfänge der kritischen Theorie zu geben und darüber hinaus eine gelungene Wirkungsbestimmung zu liefern. Für die fachkundige Leserschaft dürfte er zudem an der einen oder anderen Stelle gute Impulse setzen, die das Interesse für weitere Forschungsarbeit auf diesem Gebiet wecken sollte. Es soll hier jedoch nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass Schecter sich mit seinem inhaltlich äußerst verdichteten Buch gezielt an ein Publikum richtet, welches nur mit ausreichenden thematischen Vorkenntnissen den stellenweise deutungsoffenen Inhalt bewältigen kann. Trotz allem ist es dem Autor positiv zuzuschreiben, dass er an keiner Stelle des Buches mit überschwänglichen und unbrauchbaren Thesen daherkommt, sondern beim Lesen stets den Eindruck erweckt, mit aller wissenschaftlichen Ernsthaftigkeit nach geeigneten Lösungen zu Heft 73/2016 Rezensionsaufsätze 45 SLR 73.indb 45 29.11.2016 15:48:38 Heft 73/2016 SLR suchen, die die Grundprobleme aller Systeme angehen, in denen wir uns als vergesellschaftete Subjekte bewegen. Es bleibt nur mit Spannung abzuwarten, mit welchem Impetus die Folgebände der Nomos Schriftenreihe Studien zur Politischen Soziologie Darrow Schecters Ideen nach einer Neubewertung der kritischen Theorie im 21. Jahrhundert aufgreifen und folgen werden. Abstract The »miracle recipe« of neoliberalism to make capitalism socially acceptable and economically viable through economic growth has turned out to be without substance and the expected redress of socio-economic grievances in many parts of the world has not only failed – in some states a sustained and more profound stratification of society has been set in motion by the neoliberal paradigm. In this context, Darrow Schecter’s book makes an important contribution to one of the big questions we face globally: is the claim that neoliberal disillusionment opens up a chance for the transformation of capitalist societies theoretically exhausted, or is it still possible that new approaches will emerge to bring about a necessary restructuring of the state, market and society? Schecter, a British political scientist, argues for the latter by bringing the work of the first generation of the Frankfurt School to bear on current issues whilst at the same time considering how these ideas might need to be reformulated to account for current time. The author argues for using multidisciplinary research approaches to realise a return to the political powerhouse that critical theory offered before the linguistic turn to communicative action. In doing so, Schecter not only gives the reader a smart and comprehensive introduction to the tradition of Critical Theory but also develops insights into the current relations between dialectics, mediation, functional stratifications and differentiations of societies in the 21st Century. 46 SLR 73.indb 46 29.11.2016 15:48:38 SLR Michael Winkler Alltagsverstand, politische Bildung und Soziale Arbeit Heft 73/2016 Rezensionsaufsätze Uwe, über: Hirschfeld: Beiträge zur politischen Theorie Sozialer Arbeit. Werkstatt-Texte 05. Hamburg 2015 a: Argument Verlag. Kt. 263 Seiten, 9,90€ Uwe, über: Hirschfeld: Notizen zu Alltagsverstand, politischer Bildung und Utopie. WerkstattTexte 06. Hamburg 2015 b: Argument-Verlag. Kt. 243 Seiten, 9,90€ Wer auf den Webseiten der Evangelischen Hochschule in Dresden nach Uwe Hirschfeld sucht (der dort politische Wissenschaften und auch soziologische Theorie in der Ausbildung für die Soziale Arbeit lehrt), macht eine etwas irritierende Erfahrung. Hirschfeld stellt sich nämlich mit einer seltsamen Aufnahme vor, die die Züge des Abgebildeten nur ahnen lässt. Unscharf, verfahren, in der Bewegung festgehalten, nicht festgelegt jedenfalls, in dunklem Braunton und zugleich doch beleuchtet, wirkt das Bild ein wenig mystisch und magisch, fast spirituell. Fast ein wenig mittelalterlich, jedenfalls schon vor der Aufklärung entstanden, erst recht weit vor aller Moderne. All das überrascht ein wenig, vom ästhetischen Reiz der Aufnahme mal ganz abgesehen. Sie passt nicht so recht zu dem, was und wie Uwe Hirschfeld schreibt; vielleicht setzt sie einen Kontrapunkt, aber so recht weiß man das nicht. Und dennoch wird sie ihm auf eine fast paradoxe Weise gerecht, zuerst übrigens seiner – im gute Sinne – bescheiden und zurückhaltend wirkenden Schreibweise: Hirschfeld tritt in seinen Büchern gerne hinter die Überlegungen zurück, die er vorträgt, er präsentiert sie unprätentiös, ihm fehlt wohl jegliche Eitelkeit, der man selbst bei wissenschaftlichen Autoren (oder erst bei diesen) eher häufig begegnet. I. Im Widerspruch steht die Aufnahme jedenfalls vor allem zu den beiden Büchern, die Hirschfeld im vergangenen Jahr in der Reihe der »Werkstatt-Texte« des Hamburger Argument-Verlags vorgelegt hat, den Band »Beiträge zur politischen Theorie Sozialer Arbeit« sowie diesem folgend die »Notizen zu Alltagsverstand, politischer Bildung und Utopie«. Im Widerspruch deshalb, weil diese ganz und gar nicht unklar oder undeutlich ausgefallen sind, sondern im Gegenteil sehr präzise und in einer Weise argumentieren, die als kritische Aufklärung und als Beiträge zu einer – in einem gute Sinne des Ausdrucks – politisch ambitionierten Bildungstheorie verstanden werden dürfen und müssen. Nur in einem entsprechen sie dann doch der Eigenpräsentation Hirschfelds: Hirschfeld versteht seine Überlegungen selbst als solche im Prozess einer politischen Bildung, die eine gemeinsame Praxis sein will – in diesem Fall des Autors und seiner Leserinnen und Leser. Er hält sich fern von aller Dogmatik des besser Wissenden, um das Selbstdenken und die Arbeit am eigenen Bildungsprozess zu ermöglichen – und selbst hier taugt die Formulierung nur bedingt, weil sie doch noch zu autoritativ klingt und daher dem kollektiven, solidarischen Charakter solcher Bildungsprozesse nicht gerecht wird. Beide Bände gehören jedenfalls zusammen. Der eine bereitet mit Einzelstudien vor, was der andere dann doch systematisch und umfassend entwickelt und darstellt: Die »Beiträge zur politischen Theorie Sozialer Arbeit«, entstanden aus einer Reihe von Aufsätzen und Vorträgen, sondieren das Feld, auf dem sich Hirschfeld mit seinen Überlegungen bewegt, markieren 47 SLR 73.indb 47 29.11.2016 15:48:38 Heft 73/2016 SLR Dimensionen und Perspektiven; sie greifen übrigens den einen oder anderen Autoren auf – so etwa Dankwart Danckwerts –, die inzwischen zu Unrecht vergessen sind, obwohl sie Wichtiges zur Debatte beigetragen haben. (Nebenbei: es gehört zu den Seltsamkeiten letztlich aller Sozialwissenschaft, vor allem jedoch der mit Sozialer Arbeit befassten Disziplinen, Debatten einfach aufzugeben, ohne sie wirklich zu Ende zu führen – sofern das überhaupt möglich ist; so wurde etwa die Kritische Theorie gleichsam abgelegt und vergessen, obwohl ihr Leistungspotential längst nicht ausgeschöpft war.) Grundsätzlich geht es Hirschfeld nun um das Verhältnis, das die Soziale Arbeit zur Kultur hat, weil ihm dieses als ihr eigentlich politisches Zentrum gilt. Er ignoriert damit keineswegs die Aufgabe, Bedingungen und Verhältnisse in einer Weise zu gestalten, die dann als gerecht oder als solche der Gleichheit begriffen werden kann; ebenso wenig übersieht er, dass und wie gesellschaftliche, politisch-ökonomische Strukturen der Macht und Herrschaft die Problemlagen und das Handlungsfeld der Sozialen Arbeit gleichsam figurieren. Im Gegenteil: Hirschfeld situiert die Debatte um Soziale Arbeit sehr wohl im Kontext der Veränderungen, die meist mit dem Begriff des Neoliberalismus verbunden werden: »Die de-regulierenden Umbrüche sind noch in vollem Gange und es zeichnet sich noch nicht klar erkennbar ab, welche neuen Strukturen und Organisationen entstehen (können)« (Hirschfeld, 2015a: 162). Aber er insistiert zum einen darauf, dass das Kulturelle im Widerspruch zum Ideologischen steht und dieses doch ergänzt (cf. Hirschfeld, 2015 a: 170), deshalb eben nicht vernachlässigt werden darf; im Gegenteil komme es sehr wohl auf eine sozialistische Politik des Kulturellen an, die sich in die Kämpfe einmischt – wie, um das zu ergänzen, versteckt und verborgen, verstellt und vergessen diese vollzogen werden (wobei es sicher kein Zufall ist, dass und wenn Hirschfeld gerne und regelmäßig an die cultural studies erinnert, die auf die ganz eigenartige Ausprägung von Klassenbewusstsein und –kämpfen im Medienzeitalter erinnert haben und durch die große Studie von Mike Savage u.a. eben wieder als Klassenauseinandersetzung deutlich gemacht worden sind). Zum anderen lässt sich Soziale Arbeit als politische eben nicht von den Auseinandersetzungen mit den doch immer kulturell auftretenden materiellen Erscheinungsformen trennen, die aufgeklärt und verstanden werden müssen, wenn und sofern die Subjekte sie selbst und zugleich doch auch sich verändern wollen – was sie tun müssen, wenn und sofern sie nicht den sozial erzeugten Habitus dauerhaft reproduzieren wollen. So lässt sich Soziale Arbeit für Hirschfeld nur im Kontext einer Analyse fassen, welche die beteiligten Akteure als Intellektuelle begreift, die als solche ein politisches Mandat wahrnehmen, auch um zu bewältigen, was er in schöner Mehrdeutigkeit als »Die kompetente Katastrophe des Kapitalismus« bezeichnet; so hat er zumindest den zentralen Beitrag des Bandes überschrieben. Er knüpft an Adorno wie an Heydorn an, um einen Begriff kritischer Bildung zu entfalten, der daran erinnert, dass »Bildung als die Entfaltung der Möglichkeiten der Menschheit (Gattungspotenz) im und durch das Individuum« zu fassen ist (Hirschfeld, 2015 a: 175 f.); Bildung des Menschen verweist aber auf beides, auf Reflexion und auf die gemeinsame positive Gestaltung der Lebensumstände. Man könnte auch anders formulieren: Auf soziale Arbeit als eine Praxis, die dann und darin politisch wird, weil und wenn sie nicht bloß als professionelle Tätigkeit Menschen adressiert und objektiviert, sondern eben in einem präzisen Sinne soziale Praxis, nämlich kollektive Tätigkeit an den Verhältnissen ist. Eben das aber tritt in den neuen Debatten, allzumal in jenen vorgeblich an Bildung interessierten um Kompetenz in den Hintergrund, wenn es nicht ganz verschwiegen wird – und ein wenig schärfer als Hirschfeld selbst muss man wohl sagen, dass dieses Verschweigen längst zum Geschäft sowohl des Bildungssystems wie aber sogar der Sozialen Arbeit geworden ist, die sich einer politischen Bildung doch schon verweigert. In nahezu allen »Beiträgen« klingen nun zumindest Verweise auf Antonio Gramsci an, der letzte Aufsatz gilt ausdrücklich diesem und greift den Zusammenhang zwischen seinem Leben 48 SLR 73.indb 48 29.11.2016 15:48:38 SLR und Werk auf, mit der durchaus berührenden Einsicht übrigens, dass »Armut, Krankheit und Leid als zentrale Erfahrungen« dieser eine besondere Sensibilität gegeben haben, nicht nur um soziale Verhältnisse in ihren kulturellen Bedeutungen zu begreifen, sondern vor allem auch, um gerade in den fragmentarisch gebliebenen Texten ein politisches Denken zu ermöglichen, das ermächtigend wirken konnte oder hätte wirken können; es gibt schließlich allen Anlass zu der Vermutung, dass am Ende wenigstens auch den dem Kasernenkommunismus verpflichteten Linken Gramsci und die Offenheit seines Denkens ziemlich suspekt erschienen. Heft 73/2016 Rezensionsaufsätze II. Wie auch immer: Von diesem letzten Aufsatz in den »Beiträgen« ergibt sich ein direkter Übergang zu den »Notizen zu Alltagsverstand, politischer Bildung und Utopie«. Wieder ist ein Widerspruch zu konstatieren, diesmal der zwischen der Formulierung von den »Notizen«, die man doch fast ein wenig als kokett empfinden möchte, hin zu dem dann doch systematisch durchkomponierten Buch. Hirschfeld leistet nicht nur einen bemerkenswerten Beitrag zur Debatte Gramscis, die ja doch eher marginal geführt worden ist, allzumal im Blick auf Bildung; zu erinnern ist besonders an die Bücher von Manacorda (der erstaunlicherweise auch im Literaturverzeichnis fehlt) und Armin Bernhard. Dabei liegt eine besondere Leistung des Buches von Hirschfeld darin, dass er Gramscis Einsichten nicht mehr solitär oder gar erratisch aufnimmt, sondern in einen von ihm umfassend entfalteten Erkenntnis- und Denkzusammenhang einbettet, den er durch den Fokus auf politische Bildung konstituiert. Gramsci gewinnt damit als – wenn man so will – realwissenschaftlich ausgerichteter Theoretiker ein Gewicht, das ihm in der Auseinandersetzung bislang noch nicht zugestanden wurde, weil man ihn dann doch geradezu als Aphoristiker lesen und vielleicht sogar immunisieren hat wollen. Auf diesem Weg gelingt es Hirschfeld, zumindest einen der zentralen Gedankenbögen zu rekonstruieren, die dem Werk Antonio Gramscis dann doch eine innere Einheit geben. Dieser Gedankenbogen lässt sich auf der einen Seite durch das Interesse am Alltagsverstand bestimmen, auf der anderen Seite eben durch den Pol der Utopie, die nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet ist, dass sie die Zerrissenheit des alltäglichen Denkens überwindet, ohne jedoch in falsche, scheinhafte Kohärenz aufzugehen. Zwischen diesen beiden Polen entfaltet sich eine stets zeitlich gebundene Praxis der politischen Bildung, die aber ihrerseits doch selbst offen, in gewisser Weise theoretisch unentschieden bleiben muss; es gibt keine Theorie, welche dann latent oder subtil den Subjekten normative Vorgaben machen könnte. Dem entspricht die Gliederung des Buches, die sich einer dialektischen Synthese verweigert: Den ersten Teil hat Hirschfeld mit »Begriff und Bedeutung des Alltagsverstandes bei Antonio Gramsci« überschrieben und als sorgfältige Interpretation der einschlägigen Passagen insbesondere der »Gefängnishefte« angelegt, zum Schluss in deutlicher Abgrenzung gegenüber trivialisierenden und (was inzwischen wohl keinen Unterschied mehr ausmacht) psychologischen Begriffen von Alltagsverstand. Dieser erste Teil, dient mit seinen knapp siebzig Seiten als Grundlegung. Auf ihn baut der zweite Teil auf, überschrieben mit »Politische Bildung«, der seinerseits in drei Abschnitte gegliedert ist. Verhandelt werden zunächst die »Intellektuellen in der Bildungsarbeit«, zunächst im vielfach strukturell und prozessual ausdifferenzierten Spannungsverhältnis von Individuum und Subjekt, sowie als Organisatoren des »Zusammenhangs und des Selbstverständnisses«, mit einem Ausblick übrigens auch auf das in der Debatte um Bildung meist ausgeblendete Verhältnis von Fühlen und Wissen. Ein zweiter Abschnitt ist eher didaktisch angelegt, auch wenn er mit »das mäeutische Moment in der politischen Bildung« überschrieben ist; er verhandelt Themen und Gegenstände, dann vor allem jedoch die für politische Bildung maßgebenden Problemkreise; ein Begriff, mit dem sich Hirschfeld absetzt von der Vorstellung der Anlässe. Er geht dann über zu methodischen Fragen, dann vor allem zu einer konzeptionell- 49 SLR 73.indb 49 29.11.2016 15:48:38 Heft 73/2016 SLR begrifflichen Entdeckung, die sich einigermaßen unvermeidlich aus der Grundeinsicht ergibt, den Prozess politischer Bildung als den kollektiver Praxis verstehen zu wollen: Hirschfeld fasst die Akteure mit dem Kunstwort von den »Lehrnenden«, die sich in einer gemeinsamen, parteilichen und solidarischen Erkenntnis- und Veränderungsarbeit ihrer Welt vergewissern, durchaus als einer alltäglichen Lebenswelt, die aber doch in ihrer Veränderung, eben utopisch begriffen und gestaltet wird, mithin selbst ästhetisch präsentiert und dokumentiert wird. Gegenüber dem zerrissenen Alltagsverstand bildet sich so der Zusammenhang in einem Prozess des Verstehens und Handelns aus. Hirschfeld macht dabei auf die Schwierigkeit aufmerksam, die sich zunächst schon daraus ergibt, dass der Alltagsverstand im Kern pragmatisch denkt und auf Lebensbewältigung ausgerichtet ist; es lässt sich schlecht an ihm anknüpfen, weil ihm das Moment des Utopischen fehlt, das Transzendenz ermöglichen würde. Der Alltagsverstand ist brüchig, widersprüchlich, in gewisser Weise aber doch von sich selbst überzeugt, weil er damit zu tun hat, dass sich Menschen in ihrem Leben behaupten müssen und auch wollen. Darin liegt der Grund, dass er sich dann doch einer kritischen Selbstreflexion entzieht und insofern zur passiven Vergesellschaftung beiträgt (Hirschfeld, 2015b: 29). Er ist insofern affirmativ. Aber: im Unterschied zu vielen, ideologiekritischen Ansätzen des politisch linken Denkens weist Gramsci nun darauf hin, dass die nicht hegemonial agierenden »Subalternen« zwar weder kritisch noch kohärent denken, wohl aber spontan, vor allem jedoch gebunden an eine kollektive Praxis, die mit solidarischer Vergesellschaftung einhergeht (vgl. Hirschfeld 2015b: 45). Im Grunde könnte man hier die in der Theoriedebatte der Sozialen Arbeit einigermaßen diskriminierte und so um ihren Ertrag gebrachte Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft anschließen, die aber doch insofern erweitert und überwunden wird, als sie in einem Vorgang politischer Bildung auf eine fast paradoxe Weise als Einheit in praktischer Veränderung zugänglich und erfahren wird. Hier trägt politische Bildung als Akt der Subjektivität dazu bei, einen Zustand in der conditio humana zu überwinden, den Hirschfeld mit der schönen Formulierung fasst, nach welcher der Mensch dann doch eine bizarre Konstruktion sei (Hirschfeld, 2015b: 92). Das macht auf eine Provokation aufmerksam, die bei Gramsci angelegt und von Hirschfeld aufgegriffen wird. Gramsci hat sich der anthropologischen Dimension des politischen Denkens nicht verweigert, ohne einer substanzontologischen Vorstellung vom menschlichen Sein zu verfallen. Die menschliche Existenz war historisch und gesellschaftlich bestimmt, immer als eine praktische zu fassen, dennoch nicht zu hintergehen, weil sie den Grund des emanzipatorischen Prozesses und somit auch einer politischen Bildung ausmacht. Diese anthropologische Perspektive ist deshalb so wichtig, weil eine Praxis der politischen Bildung nur in ihr und mit ihr einem Dilemma zu entgehen vermag, dem insbesondere wohl die jüngeren Sozialwissenschaften erlegen sind, welche an die Soziologie anknüpfen. Soziologisches Denken tendiert zum Positivismus, weil es in seiner Sozialisationstheorie zwar soziale Bestimmung rekonstruieren, nicht jedoch aufzeigen kann, wo die Möglichkeit einer kritischen Praxis – theoretisch wie denn auch im realen Handeln - begründet werden kann. Genau diese Möglichkeit greift Hirschfeld auf, wenn er die Methodik politischer Bildung als die einer Herstellung von Distanz fasst (Hirschfeld, 2015b: 132), die den »Lehrnenden« doch schon im Alltagsverstand möglich ist. Kritik und Selbstkritik legen sie frei. Hirschfeld ist mit seinen »Notizen zu Alltagsverstand, politischer Bildung und Utopie« ein bemerkenswertes Buch gelungen, das – nicht zuletzt aufgrund seines niedlichen, ein wenig an die Reclam-Bände erinnernden Formats – zu einem Begleiter im Alltag werden kann. Das Buch legt eine aufregende Interpretation und Rekonstruktion des Denkens von Antonio Gramsci vor, die allzumal in der Thematisierung des Begriffs Alltagsverstand einen grundlegenden Beitrag zum Verständnis seiner Theorie leistet; ohne die Offenheit Gramscis zu zerstören, wird eine doch maßgebende Linie seines Denkens sichtbar und so wohl erstmals festgehalten. Hirschfeld hat 50 SLR 73.indb 50 29.11.2016 15:48:38 SLR zugleich eine Theorie der politischen Bildung verfasst, die an die Tradition kritischer Theorie realistisch anknüpft und auf eine durchaus optimistisch stimmende Weise die Möglichkeiten einer kollektiven Praxis der – wie er sie nun nennt – »Lehrnenden« entfaltet. Er hat damit einen – wie mir scheint – wichtigen und bedeutsamen Beitrag für die Auseinandersetzung um Theorie und Praxis politischer Bildung vorgelegt, der dazu beitragen könnte, die – zumindest für den Außenstehenden - eher depressiv-realistischen Tendenzen in dieser zu überwinden. Endlich und vor allem aber hat Hirschfeld mit beiden Bänden der Debatte um Soziale Arbeit einen überzeugenden und vor allem energischen Impuls gegeben, sich nicht nur ihrer kritischen Tradition zu besinnen, sondern vor allem ihr eigenes kritisch-emanzipatorisches Potenzial wieder aufzunehmen und geltend zu machen; das geschieht in Verbindung mit der Entfaltung einer elaborierten pädagogischen Theorie der Bildung. Sie tut ja wirklich not, gegenüber all dem staatstragenden und gesellschaftlich affirmativen Realismus insbesondere in der sozialwirtschaftlich ausgerichteten Sozialen Arbeit an ihre Aufgabe politischer Aufklärung – übrigens aller Beteiligten – zu erinnern. Heft 73/2016 Rezensionsaufsätze Abstract Uwe Hirschfeld can be valued as an outstanding scholar dealing with the works of Italian Marxist Antonio Gramsci. In the year 2015 Hirschfeld published two books, based on a critical discussion of Gramsci’s theory. Both are concerned with the relation between culture and social work. One is directed to the political thinking in Social work as a profession. In the other book he discusses with a more philosophical intention Gramsci’s concept of the daily rationality and understanding, political education and utopia. While the first book is of high importance for the debates on politics and social work, the book with the »notes on daily understanding« is one of the best analyses of Gramsci’s thinking published in the last years. 51 SLR 73.indb 51 29.11.2016 15:48:38 Heft 73/2016 SLR György Széll Gesellschaftstheorie heute Über: Gerard Delanty und Stephen P. Turner (Hrsg.), Routledge International Handbook of Contemporary Social and Political Theory. London & New York: Routledge 2014, 2. Auflage. S. 510, 65,95 US$ Dieser Sammelband ist die Paperback-Ausgabe eines zuerst 2011 als gebundene Ausgabe erschienenen Buches. Der Titel ist anspruchsvoll und scheint auf den ersten Blick auch diesem Anspruch zu genügen: In drei Teilen und 42 Kapiteln wird ein breites Spektrum heutiger Themen und Debatten ausgebreitet. Dabei ist es wahrscheinlich nicht überraschend, dass in Hinblick auf die avisierte englischsprachige Leserschaft 32 der 47 Beiträger angelsächsisch sind. Dieser Bias findet sich auch in den Literaturhinweisen wieder: Es handelt sich fast ausschließlich um englischsprachige – mit Ausnahme der für Lateinamerika, bzw. bei Basaure (2), Wilkinson (2) und Harrington. Dieser Bias ist sicherlich nachvollziehbar, da der gesamte Band ja auf Englisch verfasst ist und daher auch – sofern vorhanden – die diesbezüglichen Übersetzungen zitiert werden. Die beiden Herausgeber, Gerard Delanty und Stephen P. Turner, sind bereits in der Vergangenheit durch zahlreiche Veröffentlichungen zur Thematik hervor getreten. Gerard Delanty ist Professor für Soziologie sowie soziales und politisches Denken an der Universität Sussex. Stephen P. Turner hält eine Forschungsprofessur für Philosophie an der Universität von Südflorida. Nach der ausführlichen Einleitung der beiden Herausgeber folgt Teil 1, der mit ›Lebendige Traditionen‹ betitelt ist und erfreulicherweise mit dem Marxistischen Vermächtnis von Peter Beilharz anfängt. Jedoch wird leider dieses marxistisches Vermächtnis auf die Frankfurter Schule reduziert, die wiederum mehr Hegel als Marx verpflichtet ist. Es geht weiter in einem gewissen Potpourri, wobei nicht immer klar ist, nach welchen Kriterien die Auswahl erfolgt. Es erscheint hier – wie häufig bei Sammelbänden – eher die persönliche Bekanntschaft als eine stringente, kohärente Auswahl vorzuherrschen. So setzen sich in den folgenden Kapiteln Gary Wickham mit Michel Foucault, Thomas Docherty mit den Poststrukturalisten, Yannis Stavrakanis mit Lacan und Marcel Fournier mit Pierre Bourdieu auseinander. Natalie J. Doyle gibt einen Überblick über die gesamte französische Philosophie und Mauro Basaure widmet sich Axel Honneth als Kontinuität und Bruch mit der Frankfurter Schule. Interessanterweise haben die französischsprachige Autoren – über Ernesto Laclau und Chantal Mouffe – heute einen erheblichen Einfluss auf die neuen sozialen und politischen Bewegungen, insbesondere in Spanien (Podemos) und Griechenland (Syriza), ohne dass dies von den Autoren beim Verfassen ihrer Beiträge 2010 so vorher gesehen wurde. Die folgenden Kapitel widmen sich der amerikanischen Tradition. Jeremy Shearmur behandelt die politische Philosophie vor John Rawls, Charles Blattberg den Liberalismus nach dem Kommunitarismus, Richard Bellamy den Republikanismus, Robert B. Talisse den Pragmatismus, James Bohman den methodologischen und politischen Pluralismus, Patricia Hill Collins die kritische Rassentheorie, Clare Colebrook feministische Sozial- und politische Theorie, José Maurício Domingues und Aurea Mota Lateinamerika und schließlich Patrick Baert und Joel Isaac die Intellektuellen. Der zweite Teil ist den neuen und entstehenden Rahmenbedingungen gewidmet. Dabei geht es Stewart Clegg um Macht, Legitimität und deren Rahmenbedingungen, Peter Wagner um Modernität, Karen S. Cook sowie Brian D. Cook um soziales und politisches Vertrauen, Timothy 52 SLR 73.indb 52 29.11.2016 15:48:38 SLR W. Luke um Umwelt und Risiko, Amelia Arsenault um Netzwerke, Moya Lloyd um linguistische Performativität bzw. soziale Performanz, Steven Grosby um Nationalismus, Krishnan Kumar um Imperium und Imperialismus, Fuyuki Kurasawa um Kosmopolitismus, Bryan Kaldi um Natur und Gesellschaft, Piet Strydom um kognitive und metakognitive Dimension von Sozial- und politischer Theorie, John G. Gunnell um kognitive Neurowissenschaften, Elena Ruiz-Aho um feministisches Grenzdenken und schließlich Guanjun Wu um gegenwärtiges chinesisches soziales und politisches Denken. Der letzte Teil dreht sich um neue Probleme. Saskia Sassen behandelt die Grenzen von Macht und Komplexität von Machtlosigkeit am Beispiel der Immigration, Sheila Nair Souveränität, Sicherheit und die Ausnahme am Beispiel des postkolonialen homo sacer, Georg Sørensen die Zukunft des Staates, Paul Blokker den modernen Konstitutionalismus und die Herausforderung des komplexen Pluralismus, Erik O. Eriksen reflexive Integration, Donatella della Porta und Raffaele Marchetti transnationalen Aktivismus und die globale Gerechtigkeitsbewegung, Thomas Faist die transnationale soziale Frage, Meyda Ye eno lu Gastfreundschaft, Rechte und Wanderschaft, Iain Wilkinson soziales Leiden und die neue Politik der Sentimentalität, Adam Arvidson neue Formen der Werteproduktion, Daniel Levy die Erinnerungspraxis und -theorie in Zeiten der Globalisierung und schließlich Austin Harrington die post-säkulare Gesellschaft. Offensichtlich bietet der Band ein breites Spektrum. Dieses wird eingangs wie folgt vorgestellt: Die meisten Theorien seien bisher an der Vergangenheit und disziplinär orientiert gewesen. Es bedürfe aber neuer, interdisziplinärer Theorien, um die neuen Probleme zu erkennen und ihre Ursachen zu erklären (S. 3). Eines der Hauptprobleme für die heutigen Sozial- und politischen Theorien sei der Gegensatz zwischen Sozialdemokratie und Liberalismus im Zusammenhang mit dem Wohlfahrtsstaat (S. 7). Dabei wird insbesondere einerseits auf die »französische« andererseits auf die »deutsche« Kritik eingegangen (S. 9). Zudem werden die folgenden neuen und entstehenden Rahmenbedingungen thematisiert: Pluralität, Kontingenz, Relationalismus und Transformation (S. 17). Ein Ergebnis der Transformationen durch Globalisierung sei, dass der Nationalstaat keineswegs abgeschafft wurde, aber sich verändert habe (S. 25). In der Einleitung kommen die beiden Herausgeber zu folgender Schlussfolgerung: »Liberalism and the socialist Left, as well as European Conservatism and Fascism, presented simplified but compelling images of society which were integrated into the subjectivity and self-reflective activity of the people whose activity created their politics and society. The modern welfare state struck a balance between the claims produced under these images, to justice, freedom, and stability. Contemporary social, political, and cultural theory is not so much a continuation of this project as the continuation of the reflective activity of people who experience modern society. As with past social theory, this reflection is aided and stimulated by social movements and counter movements. But for the most part it is not concerned with inventing new simplifications or claiming external authority – from God, Science, or Reason itself – for new simplifications. Instead it is focused on the problem of understanding what is, and what is not comprehensible in terms of these past images.« (S. 29) In Bezug auf das Marxsche Erbe stellt Peter Beilharz eingangs zutreffend fest, dass die Entwicklung der letzten Jahrzehnte einerseits die Marxsche Theorie voll bestätigt habe, insofern alle zu Marxisten geworden seien, andererseits gleichzeitig Marx – insbesondere an den Hochschulen – marginalisiert wurde (S. 33). Er sieht die Tragik des Marxschen Erbes darin, dass die meisten Marxisten Marx zumeist nie richtig gelesen, geschweige denn verstanden hätten. Dies betreffe zuvörderst die Hauptprotagonisten, von Engels angefangen über Kautsky, Lenin und Stalin – und ich würde hinzufügen Mao Dze Dong. Die Komplexität der Marxschen Theorie wurde dabei simplifiziert und zum Marxismus-Leninismus reduziert. (S. 40) Nun blieben die Postmarxisten übrig (S. 41). Beilharz kommt zum Schluss, dass Marx sowohl Sohn der Aufklärung als auch der Romantik gewesen sei. Beilharz meint gar, er sei ein Träumer gewesen. Insofern sieht Beilharz Heft 73/2016 Rezensionsaufsätze 53 SLR 73.indb 53 29.11.2016 15:48:38 Heft 73/2016 SLR als Marx’ Vermächtnis in Anlehnung an Ernst Bloch einen ›warmen Strom des Marxismus‹, der uns zu den Wurzeln der Modernität zurück führe (S. 43). Gary Wickhams Darstellung von Foucault scheint mir demgegenüber widersprüchlicher geraten zu sein. Er zitiert ihn in Bezug auf die Entstehung von Macht als von unten entstehend mit unzähligen Ausgangspunkten (S. 47). Hier wird der Mangel an dialektischem Denken bei Foucault deutlich: Mit einem solchen Ansatz kann man Machtkonzentration und Konflikte nicht erklären. Auch Stavrakakis’ Lacansche Theoriepräsentation führt uns m.E. nicht weiter. Die Behauptung, dass Lacan das ›Konsum-Paradox‹ entdeckt habe, ist so nicht aufrecht zu erhalten (S. 74). Bekanntlich gibt es den Hedonismus, d.h. den Zwang zum Vergnügen, seit der Antike. Bei Marcel Fourniers Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieu scheint mir die moderne Sozialtheorie demgegenüber substantieller. Bourdieu verbinde Aktions-, Gesellschafts- und soziologische Wissenstheorie und stehe daher auf einer Stufe mit Durkheim, Marx, (Max) Weber oder Parsons (S. 77). Ob diese Annahme Bestand haben wird, ist noch offen. Zumindest ist er nach verschiedenen Rankings der meist zitierte soziologische Autor der letzten Jahre (Caren, 2012; Pereira, 2013). Der Beitrag von Natalie J. Doyle in Hinblick auf die Wiedergeburt der französischen politischen Philosophie ist durchaus lesenswert, indem sie jeweils Autoren wie Cornelius Castoriadis und Claude Lefort, Pierre Manent und Marcel Gauchet in Bezug auf Demokratie, Autonomie, Historizität, den Nationalstaat und Liberalismus gegenüberstellt. Eine kritische Anmerkung muss jedoch im Kontext mit der Darstellung von Tocquevilles Analyse der USA gemacht werden: Die Annahme, dass die USA keine prädemokratische Geschichte habe (S. 95), kann so nicht stehen gelassen werden. Da es sich im Wesentlichen um eine Einwanderernation und lange Zeit zudem um eine Kolonie handelte, gab es durchaus eine prädemokratische Geschichte – größtenteils importiert. Sie kommt zum Ergebnis, dass angesichts der weltweiten Krisen insbesondere Pierre Rosanvallons Ansatz einer Weltdemokratie für die weiteren Debatten fruchtbringend sei. Überraschend zumindest für deutsche Leser ist, dass Axel Honneth ein eigener Beitrag gewidmet ist, der seine Kontinuität und seinen Bruch mit der Frankfurter Schule zum Gegenstand hat. ›Anerkennung‹ als fundamentaler sozialer Mechanismus sei sein Hauptbeitrag zur Sozialtheorie (S. 99). Das ist nun m.E. nicht besonders originell. Jeremy Shearmurs Lehren aus der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts vor Rawls konzentriert sich auf Hayek und Popper, weil er am leichtesten über diese beiden schreiben könne. (S. 111) Ein etwas seltsames Auswahlkriterium. Die Annahme beider, dass es sich nicht mehr lohne, sich mit anti-humanitären Positionen auseinander zu setzen (S. 112), ist leider heute angesichts von Fundamentalismen, aber auch damals angesichts von Faschismus und Stalinismus nicht aufrecht zu erhalten. Interessanterweise kommt der Autor zu der Überzeugung, dass die Marxsche Tradition – um ihren teleologischen Optimismus reduziert – im heutigen Kontext weiterführender sei als die Wiener Schule des kritischen Rationalismus (S. 118). Richard Bellamy zeichnet ein sehr positives Bild der Europäischen Union als erfolgreichstes Modell der Verbindung von Freiheit und Regulierung (S. 137). Dieser Beitrag wurde aber verfasst, bevor die Auswirkungen der Finanzkrise (Griechenland, Banken) sowie die derzeitige Flüchtlingskrise voll sichtbar wurden. Nichtsdestotrotz kann man zu Recht die Position vertreten, dass es ohne diese Konstruktion der EU und ihrer Rettungsschirme alles noch viel schlimmer wäre. Robert B. Talisse erörtert den Pragmatismus als politische Theorie, die nach Dewey ›Demokratie als Lebensweise‹ definiert (S. 139). Diese Lebensweise verwirkliche sich durch vernünftige, ständige, direkte Kommunikation (S. 140). Nach Richard Rorty sei die Aufgabe der politischen Philosophie, ›soziale Hoffnung‹ und ›nationalen Stolz‹ zu geben (S. 141). Das Letztere sollte angesichts durch Nationalismus angezettelten, unzähligen Kriegen gründlich hinterfragt werden. James Bohman behauptet, dass Habermas vielleicht der Erste gewesen sei, der die vollen Implikationen von methodologischem und theoretischem Pluralismus in den Sozialwissenschaften 54 SLR 73.indb 54 29.11.2016 15:48:38 SLR erkannt habe (S. 151). Und er fragt, ob es einen Ausweg aus dem epistemischen Dilemma des Pluralismus gäbe (S. 157). Die Antwort ist: kritische Sozialtheorie (S. 158). Aber welche? Patricia Hill Collins propagiert eine kritische gegenüber einer traditionellen Rassentheorie. Dabei stellt sich mir die Frage: Wenn es keine menschlichen Rassen gibt – Stand der Forschung, wie kann man dann eine kritische Rassentheorie vertreten? Sollte man dann nicht zumindest ›Rasse‹ in Anführungszeichen setzen? Auch der Feminismus kommt nicht zu kurz. Clare Colebrook vertritt den Ansatz, dass feministische Sozial- und politische Theorie interessengeleitet sei (S. 177). Leider ist die gesamte Darstellung weit unterkomplex (Morin 2008) und setzt sich nicht hinreichend mit kritischen Positionen auseinander. Der Artikel von Domingues und Mota über Lateinamerika hat den Vorteil, dass weitgehend unbekannte Autoren wie Dussel und Unger vorgestellt werden. Dussels Beitrag zur Befreiungsethik ist die Betonung der Exteriotität als notwendiges Element. Demgegenüber begründete Unger die Bewegung der kritischen Rechtswissenschaften. Dabei setzt er seine Hoffnung anstatt auf das Proletariat auf die Kleinbürger und die große Masse der zumeist unorganisierten Arbeitnehmer. Dabei übersehen Unger und die Autoren, dass genau diese Gesellschaftsschichten die Träger von Faschismus sind und waren (Franke, 1988). Stewart Clegg behauptet, dass jede soziologische Diskussion zu Macht, Legitimität und Autorität mit Max Weber beginnen müsse (S. 215). Müssten wir nicht viel weiter zurück gehen: in die griechische Antike, zu Macchiavelli, Hegel ...? Karen S. Cook und Brian D. Cook beschäftigen sich mit einem der gesellschaftlichen Grundbegriffe, i.e. soziales und politisches Vertrauen. Sie setzen mit international vergleichenden Studien wie die von Francis Fukuyama an, vernachlässigen aber vollständig die wichtigen Beiträge von Geert Hofstede und anderen zu dem Thema. Auch die Zuordnung des Begriffs ›Sozialkapital‹ zu Robert Putnam greift zu kurz (S. 237). Bereits 10 Jahre zuvor hat Pierre Bourdieu den Begriff verwendet, ganz zu schweigen von Jane Jacobs (1961), Glenn C. Loury (1977) oder James S. Coleman (1987). Weiterhin kritisch anzumerken ist, dass die Rolle des Rechts, der Religion sowie zeitlicher Entwicklungen nicht berücksichtigt ist. Zudem fehlt jegliche theoretische Fundierung. Und ob man wirklich soziales und politisches Vertrauen strikt von einander trennen kann (S. 245), ist kaum nachvollziehbar. Aber kann man von Vertrauen reden, ohne den Hass zu erwähnen? Timothy W. Luke stützt sich in seinem Beitrag zu Umwelt und Risiko insbesondere auf Beck, Foucault und Sunstein, vergisst aber vollkommen die Arbeiten des International Panel on Climate Change (IPCC, 2013-2014) sowie die systematische Diskreditierung der Wissenschaft durch die Energielobby. Proctor und Schiebinger kennzeichnen diese Politik als ›Agnotologie‹ (2008). Amelie Arsenault liefert eine gute Zusammenfassung der Arbeiten von Manuel Castells zur Netzwerkgesellschaft, an denen sie selber teilweise beteiligt war. Die Akteurs-Netzwerk-Theorie (ATN), die sich auf die Arbeiten von Bruno Latour bezieht, wird in Bezug zum Leviathan gesetzt und stellt damit die Machtfrage. Die Netzwerkanalyse geht als breiter Ansatz nach ihrer Meinung über die bisherigen Theorie und Methoden hinaus. Netzwerkkriege und Netzwerkeffekte sind Phänomene, die die ganze Gesellschaft direkt bzw. indirekt beträfen (S. 266). Die bisherige Netzwerktheorie werde schlussendlich in ihrer Entwicklung durch eine ungenügende empirische Basis sowie disziplinäre Beschränkungen behindert (S. 268). Im Beitrag zu Nationalismus und Sozialtheorie geht Steven Grosby mit der bisherigen Forschung hart ins Gericht, indem er sie als theoretisch primitiv charakterisiert (S. 280). Er fordert stattdessen ein, dass Sozial- und politische Theoretiker mehr Aufmerksamkeit dem menschlichen Verhalten schenken sollten. Um Nationalität zu konstituieren, gäbe es zwei Ursprünge. Dabei seien sowohl ›territoriale‹ als auch Blutsverwandtschaft wichtig, die aber durch die Dichotomie zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft verwischt worden wären. Der deutsche Begriff der Heimat – unübersetzbar – leistet wohl diese Funktion der territorialen Verwandtschaft. Die Paradoxien menschlicher Existenz prägten sich sowohl in der Nationalität aber auch in der Kultur Heft 73/2016 Rezensionsaufsätze 55 SLR 73.indb 55 29.11.2016 15:48:38 Heft 73/2016 SLR aus. Fuyuki Kurasawa widmet sich dem Kosmopolitismus und erkennt ebenfalls eine Paradoxie, wie sie von Hannah Arendt bereits 1968 in Bezug auf die heimatlosen Ausländer formuliert wurde: Sie seien somit Weltbürger, da keiner Nation angehörend. Der Verfasser unterscheidet in Bezug auf die theoretische Grundlegung zwischen formalistischen, ethizistischen und materialistisch analytischen Orientierungen. Thematisiert wird in diesem Kontext auch die ›globale Zivilgesellschaft‹ (s. dazu auch meinen Beitrag von 2013). In Bezug auf die Eingebettetheit in den globalen Kapitalismus fehlt leider der Verweis auf George Soros (1998). Verschiedene Kosmopolitismen werden im weiteren Verlauf der Argumentation unterschieden: so z.B. banaler vs. imperialer Kosmopolitismus (S. 306 f.). Darüber hinaus wird argumentiert, dass ziviler Nationalismus bzw. Verfassungspatriotismus durchaus mit Kosmopolitismus vereinbar seien. Der sogenannte ›verwurzelte‹ Kosmopolitismus sei eine von verschiedenen sich überlagernden Identitäten – von lokal über regional, national und kontinental. Es sollte aber hinzu gefügt werden, dass Kosmopolitismus häufig durchaus negativ besetzt ist, insbesondere in Verschwörungstheorien wie die des Weltjudentums. Die Schlussfolgerung lautet, dass auf Grund der definitorischen Ambiguität und thematischen Elastizität von Kosmopolitismus dieser gleichzeitig als epistemologischer Ansatz, normative Instanz, institutionelles Design und Beschreibung des sozialen Lebens fungiere (S. 309). Insofern hänge die theoretische Prominenz vom jeweiligen Kontext ab. Das Kapitel zu Natur und Gesellschaft von Byron Kaldis handelt von der humanen Soziobiologie. Die Debatte, die seit Jahren zwischen Sozial- und Naturwissenschaftlern in dieser Frage geführt wird, ist die um Determinismus und Reduktionismus, d.h. ob menschliches Handeln letztlich von unseren Genen gesteuert wird, also letztendlich keine menschliche Handlungsfreiheit existiert. Diese Debatte kulminierte gar zu einem Wissenschaftskrieg (Flyvbjerg, 2003). Aber Sozialanthropologen wie Michael Tomasello haben die menschliche Natur bemüht um nachzuweisen, dass Altruismus und nicht nur das Überleben der Fähigsten zur menschlichen Grundausstattung gehöre (2010). Bisher kann die Soziobiologie nicht erklären, wie es bei gleichen Genen zu Unterschieden, unterschiedlichen Entscheidungen und Verhalten kommt. In diesem Punkt ist die Methode von Edgar Morin erheblich besser dazu geeignet. Bedauerlicherweise ist von seinem sechsbändigen Hauptwerk bisher nur der erste Band ›Natur der Natur‹ ins Deutsche übersetzt worden (2010), aber auch dieser allein ist in diesem Zusammenhang schon sehr hilfreich. Auch Kaldis geht in seinem Schlussabschnitt in dieselbe Richtung und plädiert für ›kulturelle Evolution‹, um die zunehmende Komplexität zu berücksichtigen. Er thematisiert auch die Gefahren der Medikalisierung und neuer Eugenik (S. 324 f.), die bereits so weit fortgeschritten seien, um einen ›neuen‹ Menschen zu schaffen. Piet Strydom führt diese Debatte in seinem Beitrag zu kognitiven und meta-kognitiven Dimensionen fort. Er plädiert für einen ›schwachen Naturalismus‹. In diesem finden sich die Berücksichtigung der ›kognitiven Revolution‹, die u.a. die Berücksichtigung von Emotionen und anderen unbewussten Faktoren unter Einschluss von Dialektik führe (S. 330). Zu unterscheiden seien dabei mikro-, meso- und makro-generative Mechanismen (S. 331 f.). In Habermas‹ Theorie der Kommunikation fänden sich all diese Elemente wieder. Im Gegensatz jedoch zum von Habermas propagierten herrschaftsfreien Diskurs fänden wir zahlreiche pathologische Formen – wie Faschismus, Nationalismus, Rassismus und Laissez faire-Liberalismus – vor. Strydon hofft auf entstehende transnationale und globale Bedingungen – z.B. Kosmopolitismus, um meta-kognitives Versagen zu vermeiden (S. 334). Die Hauptaufgabe von kognitiv inspirierter Sozial- und politischer Theorie sei, kritisch den Prozess der Konstitution und Organisation der entstehenden Weltgesellschaft zu begleiten (S. 337). Wer aber die Akteure einer solchen aufklärerischen Politik wären, bleibt im Dunkeln. John G. Gunnell setzt diese Debatte mit seinem Aufsatz zur kognitiven Neurowissenschaft fort. Die beiden letzten Autoren nehmen immerhin Bezug aufeinander. Der Artikel bietet einen konzisen Überblick über die Positionen in dem Bereich, wenn auch ein so wichtiger, früher Beitrag zu kognitiver Dissonanz (Festinger, 1957) den Fachleuten heutzutage offensichtlich nichts mehr sagt. Ein Verweis über 56 SLR 73.indb 56 29.11.2016 15:48:38 SLR neueste Forschungen zu ›Spiegelneuronen‹ bei Affen, die angeblich möglicherweise auch das Verhalten bei Menschen steuern, stelle neue Fragen (S. 347). Der Beitrag endet aber mit der eindeutigen Aussage, dass biologische Komponenten menschliches Verhalten nur zu einem stark begrenzten Teil zu erklären vermögen und damit keineswegs Sozialtheorien überflüssig machten. Guanju Wus Beitrag zum heutigen chinesischen sozialen und politischen Denken ist nicht nur wegen der Bedeutung Chinas von größter Relevanz, sondern auch gerade in Hinblick auf die diesbezügliche Geschichte der letzten Jahrzehnte. Seit der Kulturrevolution über die Öffnung Chinas seit 1978 und der Gründung der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften 1977 sind bis heute zahlreiche Brüche festzustellen. ›Der Kampf zweier Linien‹ (Mao Dze Dong) setzt sich bis heute ungebrochen fort. Die Suche nach einem eigenen Weg der Modernisierungen, die nicht bestimmte westliche Vorstellungen von Demokratie und Marktwirtschaft reproduzierten, stehe auf der politischen Tagesordnung. Dies wird natürlich aufmerksam von Auslandschinesen und besonders in Taiwan, Hong Kong sowie Singapur beobachtet und kommentiert. Besondere Bedeutung hat in diesem Zusammenhang Konfuzius. Nachdem er im Mao-China verbannt war, kehrt er in hunderten von Konfuzius-Instituten, die von der chinesischen Regierung finanziert werden, sowie in sehr erfolgreichen Fernsehsendungen zurück. Post-Tianmen-Diskurse – noch immer unter strenger Kontrolle der KPCh – begleiten diesen Prozess. Nationalismus hat als vorherrschende Ideologie mittlerweile den Kommunismus ersetzt. Chinas Sozialwissenschaftler stellen sich dem internationalen Diskurs. Im Bereich der Politikwissenschaften verbleibe aber weiterhin der Marxismus-Leninismus als herrschende Ideologie (He, 2012). Der Beitrag von Saskia Sassen ließ mehr erwarten. Die Reduktion auf Immigration lässt viele ihrer Thesen – die wohl von 2010 stammen – hinsichtlich der EU-Politik angesichts der derzeitigen Flüchtlingskrise obsolet erscheinen. Sheila Nair nimmt sich als Gegenstand in Anlehnung an Agamben den postkolonialen homo sacer vor. Der Konflikt zwischen Sicherheit und Souveränität bilde den Kern der Modernität. Die terroristischen Bedrohungen führten zu einer Entpolitisierung, wobei zu beachten sei, dass diese eng mit postkolonialen Strukturen zusammen hingen. Notstandssituationen würden zur Regel. Die Zukunft des Staates stellt Georg Sørensen in Frage. Nach Umfragen hatten 2009 mehr Menschen Vertrauen in undemokratische als in demokratische Führungspersönlichkeiten. Der Autor differenziert zwischen vier Staatstypen: der moderne, der postmoderne, der schwache postkoloniale und der sich modernisierende Staat. Dahl wird in Hinblick darauf zitiert, dass internationale Organisationen per se nicht demokratisch seien, da Bürger nicht an deren Entscheidungen partizipieren könnten. Demgegenüber formulierte Held 1995 ein Modell einer ›kosmopolitischen Demokratie‹. Dazu mag angemerkt werden, dass die EU als supranationale Konstruktion das Prinzip der Subsidiarität vereinbart hat, damit eine größtmögliche Partizipation der Bürger gewährleistet werde. Ob dieses Modell – das bereits jetzt innerhalb der EU auf Schwierigkeiten stößt – in einer Welt mit mehrheitlich mehr oder weniger (meist weniger) demokratischen Staaten global umgesetzt werden kann, muss mit einem großen Fragezeichen versehen werden. Die Konklusion ist, dass die Globalisierung keineswegs den Nationalstaat abgeschafft habe, wie bereits in der Einleitung des Bandes konstatiert wurde. Nichtsdestotrotz ständen alle vier aufgeführten Staatstypen vor riesigen Herausforderungen (S. 403 f.). Paul Blokker diskutiert den modernen Konstitutionalismus und den komplexen Pluralismus und kommt zum Ergebnis, dass der moderne Konstitutionalismus zu einer globalen Konvergenz des rechtlichen Verständnisses desselben führe (S. 415). Gleichzeitig bedrohe der Trend zur Fragmentierung von Souveränität den modernen Konstitutionalismus. Das bedeute, dass eben dieser moderne Konstitutionalismus sich in ständigem Wandel befinde und daher post- und sub-staatliche Pluralisierung staatlicher Ordnungen produziere. Erik O. Eriksen widmet sich unter der Überschrift ›Reflexive Integration‹ der Transformation Europas. Das quasi-föderale System bleibe weniger als ein Staat (S. 419). Nicht beachtet werden in diesem Beitrag die wichtigen Arbeiten zu dem Thema von Schutter und Lenoble (2010). Heft 73/2016 Rezensionsaufsätze 57 SLR 73.indb 57 29.11.2016 15:48:38 Heft 73/2016 SLR Gegenüber dem Zeitpunkt des Verfassens des Beitrags vor mehr als fünf Jahren hat sich aber hinsichtlich einer gemeinsamen Armee und Polizei – notabene in Bezug auf die Flüchtlingskrise – doch einiges geändert: Es gibt zumindest einen Embryo europäischer Streitkräfte und es gibt Frontex. Diese Strukturen verstärkten den supranationalen Charakter der EU, der weltweit einmalig ist. Zweifelsohne haben die Mitgliedsstaaten einen erheblichen Teil – nicht nur die Euro-Länder – ihrer Souveränität abgetreten, was gerade den sogenannten populistischen Kräften seit Jahren erheblichen Auftrieb gibt. Der Autor spricht gar von einem ‹kosmopolitischen Subset‹ (S. 424 f.) und endet mit einem optimistischen Ausblick – obwohl er als Norweger gar nicht Mitglied der EU ist. Auch Donatella della Porta und Raffaelle Marchetti nehmen sich die globale Zivilgesellschaft im Rahmen von transnationalem Aktivismus vor. Sie sprechen in Anlehnung an Sousa Santos von einem ›subalternen‹ Kosmopolitismus und in Anlehnung an Claus Offe von Meta-Politik (S. 432). Sie favorisieren eine ›sozialen‹ Kosmopolitismus (S. 435). Der Beitrag bleibt insofern Wunschdenken, als er von einer Basisbewegung träumt – die leider bis auf attac kaum zu sehen ist. Originell ist der Aufsatz von Meyda Ye eno lu in Hinblick darauf, dass Gastfreundschaft thematisiert wird. Bezug nimmt er dabei auf Levinas und Derrida. Kant war von einer konditionierten Gastfreundschaft ausgegangen. Nicht ganz folgen kann ich der Argumentation, dass es eine Verschiebung von einem Recht auf zu einer Ethik der Gastfreundschaft gegeben habe. Der moderne Nationalstaat habe gegenüber traditionellen Gesellschaften eine sehr restriktive Akzeptanz des Fremden: Willkommen als kaufkräftiger Tourist oder Arbeitskraft bzw. Unternehmer, jedoch Ablehnung als Immigrant. Angesichts der gegenwärtigen Flüchtlingskrise ist die Frage nach ›Willkommenskultur‹ vs. Abschottung von höchster Brisanz und nicht nur in theoretischer, hypothetischer Hinsicht. Soziales Leid und eine neue Politik der Sentimentalität ist das Thema von Iain Wilkinson. Dank der Massenmedien nähmen wir täglich Teil am Elend der Welt (Bourdieu et al., 1997). Jedoch ist die historische Unkenntnis erschreckend, wenn behauptet wird, dass erst seit den 1990er Jahren menschliches Leid Forschungsgegenstand geworden sei (S. 462). Sind denn die Untersuchungen von Friedrich Engels zur Lage der arbeitenden Klasse in England von 1845 heute vollkommen vergessen? Und am Ende zu behaupten, dass diese Elendsforschung uns an die Grenzen der Sozialwissenschaften führe (S. 468), ist ebenfalls nicht nachvollziehbar. Adam Arvidssons Beitrag zu neuen Formen Wertschöpfung baut u.a. auf den Arbeiten von Boltanski und Chiapello zum neuen Geist des Kapitalismus auf. Der Autor argumentiert, dass die sogenannten intangibles (Marken, intellektuelles Kapital, Reputation), also immaterielle Werte, heutzutage mehr zur Wertschöpfung beitrügen als die materielle Produktion selber. Das ist durchaus nachvollziehbar, wenn man die Netzökonomie betrachtet, die teilweise seit Jahrzehnten keinerlei Gewinne macht, aber einen höheren Börsenwert als die reale Ökonomie hat. Auch Serviceleistungen bringen häufig mehr Gewinn als die materielle Produktion selber. Demgegenüber würde eine ›ethische‹ Ökonomie dieser Fehlentwicklung Einhalt gebieten können (S. 476). Eine Rückbesinnung auf Marx’ allgemeines Wissen in den Grundrissen böte einen Ansatzpunkt zum Verständnis dieser Neuen Ökonomie. Vergessen hat Arvidsson dabei aber auch die Rolle der Gratis-Reproduktionsarbeit und Gorz’ Modell der Alternativökonomie (1980). Zum guten Schluss propagiert der Autor eine Synthese von ›Reputationsökonomie‹ und finanzieller Umverteilung als neues Wertgesetz, wie sie bereits bei den Unternehmen der sozialen Medien stattfände. Ist diese ›Brave New World‹ wirklich wünschenswert, um die derzeitigen Krisen nachhaltig zu überwinden? Der Aufsatz von Daniel Levy zu Gedenkpraxen orientiert sich an Foucaults Gegengedenken sowie Noras Konzept der Demokratisierung der Geschichte. Er plädiert im Sinne von Jan Assmann für eine Mnemo-Geschichte, d.h. eine epochale Erinnerung, die sich zwischen lokalen Bedingungen und globalen Strömungen verortet. Das bedeute aber auch eine Pluralisierung von Erinnerung auf Grund von Fragmentierung derselben (S. 490). Eine Gleichzeitigkeit der 58 SLR 73.indb 58 29.11.2016 15:48:38 SLR Ungleichzeitigkeit. Wie soll aber unter solchen Bedingungen Identität und gemeinsames Handeln entstehen? Austin Harringtons post-sekuläre Gesellschaft benennt eine brennende Frage angesichts von neuen Religionskriegen und religiösen Fundamentalismen: Richtigerweise konstatiert er, dass Europas Säkularisierungstendenzen der letzten Jahrhunderte eher die Ausnahme als die Regel gewesen seien (S. 494). Harrington wagt die These, dass Religion jedoch subjektiviert und ein Konsumartikel geworden sei (S. 500). Religiosität ist zwar für die große Mehrheit eher eine soziale, passive Form der Partizipation, nichtsdestotrotz haben religiöse Institutionen erheblichen Einfluss und Macht. In historischer Perspektive verweist er zu Recht u.a. auf die Pilgerväter, die aus religiösen Gründen England verließen, um ihren Glauben frei zu leben (S. 497). Auf der anderen Seite hat aber die Aufklärung seit Erasmus von Rotterdam die Säkularisierung der Alten Welt befördert. Das Absterben der Religion als Opium des Volkes, wie Marx und andere es erhofft hatten, ist offensichtlich nur teil- und zeitweise eingetreten. Und die Entwicklung der postsowjetischen Gesellschaften aber auch Chinas zeigen die Grenzen der Aufklärung (Széll, 2001). Und in der sogenannten Dritten Welt, in der trotz oder gerade wegen des Kolonialismus die Aufklärung nur sehr begrenzt verwirklicht wurde, ist Religion in Verbindung häufig mit ethnischen Differenzen stärker denn je. Aber auch im sogenannten aufgeklärten Westen ist der Papst eine der populärsten Figuren und Opus Dei treibt ungebremst sein Unwesen. Trotz der zahlreichen Beiträge sind m.E. wichtige Autoren und ihr jeweiliger Einfluss gar nicht oder nur marginal berücksichtigt: so z.B. Karl Polanyi (S. 77), Niklas Luhmann (S. 194, 237), Edgar Morin, Ernst Bloch, Amitai Etzioni, Johan Galtung, Paul Feyerabend, Ludwig Wittgenstein (S. 226) sowie George Ritzer mit seiner McDonaldization-Theorie. Auch wesentliche Aspekte wie die Umwelt (S. 20), Krisen (S. 73), Homosexualität, Religion, Kirchen, Neofaschismus, Islamismus, Universalismus und die Aufklärung (S. 229; Baier, 2000) werden nicht thematisiert. Man hat einmal mehr den Eindruck, dass Moden auch und gerade in den Sozialwissenschaften Themen und Autorenauswahl bestimmen. Der Band ist zudem sehr heterogen, dabei beziehen die Autoren – trotz tw. identischer Themen – sich zumeist nicht aufeinander. Unterbelichtet ist insgesamt die Ökonomie als Basis der Gesellschaft. In dieser Hinsicht sind außer Marx nur der Neoliberalismus mit Friedrich Hayek und Raimund Popper sowie ihre Schüler in Chicago vertreten. Ein so wichtiger Schüler von Popper, George Soros (1998), der einen anderen Weg als den des Neoliberalismus propagiert, scheint allen Autoren ebenfalls unbekannt zu sein. Nicht thematisiert wird auch die Frage einer integrierten Sozialtheorie (Széll/Yazawa, 1993). Im Band sind zudem keine der großen Namen als Autoren – mit Ausnahme von Saskia Sassen und Stewart Clegg – vertreten, sondern hauptsächlich NachwuchswissenschaftlerInnen – was im Prinzip nicht schlecht ist. Jedoch hat dies den Nachteil, dass viele Positionen aus zweiter Hand präsentiert werden. Obwohl es sich in der zweiten Auflage um eine Paperbackausgabe handelt, erfolgte weder eine Aktualisierung noch eine Korrektur der zahlreichen Druckfehler. Immerhin ist erfreulicherweise ein ausführlicher Index vorhanden, wie es bei Sammelbänden immer wünschenswert ist. Zum guten Schluss die Frage: Kann man den Band und ggf. wem empfehlen? Er ist kein Lehrbuch, da zu eklektisch und unsystematisch. Da ist zum Beispiel der Band von Hans Joas und Wolfgang Knöbl (2004) weiterhin bei aller Kritik (Széll, 2005) viel eher geeignet. Wer sich trotzdem einen gewissen Überblick über bestimmte aktuelle Debatten – hauptsächlich im angelsächsischen Bereich – verschaffen möchte, sollte ruhig in diesen Band ab und zu hinein schauen. Literatur Baier, H., 2000: Soziologie als Aufklärung, oder die Vertrei- Heft 73/2016 Rezensionsaufsätze bung der Transzendenz aus der Gesellschaft. Konstanz Bloch, E., 1959: Das Prinzip Hoffnung. 3 Bde. Frankfurt a.M. Bourdieu, P., (Hrsg.) 1997: Das Elend der Welt: Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz Caren, N., 2012: The 102 most cited works in sociology, 59 SLR 73.indb 59 29.11.2016 15:48:38 Heft 73/2016 SLR 2008-2012, ›http://nealcaren.web.unc.edu/the102-most-cited-works-in-sociology-2008-2012/‹ Engels, F., 1976: ›Die Lage der arbeitenden Klasse in England‹, in Karl Marx & Friedrich Engels, Marx-Engels Werke/MEW, Berlin, Dietz, Bd. 2: 225-506 [1845] Etzioni, A., 1993: The Spirit of Community: Rights, Responsibilities and the Communitarian Agenda. London Etzioni, A., 2004: The Common Good. Malden/MA Festinger, L., 1957: A theory of cognitive dissonance. Stanford/CA Feyerabend, P., 1988; Farewell to Reason. London Feyerabend, P., 2010: Against Method. London Feyerabend, P., 2011: The Tyranny of Science. Chichester Flyvbjerg, B., 2001: Making Social Science Matter – Why Social Inquiry Fails and how it Can Succeed Again. Cambridge Franke, B., 1988: Die Kleinbürger. Begriff, Ideologie, Politik. Frankfurt a.M. Galtung, J., 1977: Methodology and ideology. Essays in methodology. 4 vols. Købnhavn Gorz, A., 1980: Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus. Frankfurt a.M. Hofstede, G. H., 1993: Interkulturelle Zusammenarbeit. Kulturen, Organisationen, Management. Wiesbaden He, H., 2010: ›China‘s historical encounter with Western social sciences‹, in Kuhn, M./ Weidemann, D. (Hrsg.), Internationalization of the social sciences: Asia – Latin America – Middle East – Africa – Eurasia, Bielefeld, Transcript: 21-44 International Panel on Climate Change/IPCC, 2013-2014: Fifth Assessment Report. Geneva Joas, H./Knöbl, W., 2004: Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen. Frankfurt a.M. Laberge, Y., 2013: ›Contemporary social and political theory‹, European Political Science, # 12: 261-262 Luhmann, N., 1984: Soziale Systeme – Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M. Lyotard, J.-F., 1986: Das postmoderne Wissen: ein Bericht. Graz Morin, E., 2008: On Complexity. Advances in Systems Theory, Complexity, and the Human Sciences. New York Morin, E., 2010: Die Methode. Bd. 1: Die Natur der Natur. Wien Pereira, R., 2013: The most cited authors in Sociology ›http://urbandemographics.blogspot.de/2013/01/ the-most-cited-authors-in-sociology.html‹ [8 January 2014] Proctor, R. N./Schiebinger, L. (Hrsg.) 2008: Agnotology. The making and unmaking of ignorance. Stanford Ritzer, G., 1995: The McDonaldization of Society. An Investigation into the Changing Character of Contemporary Social Life. London et al., SAGE (rev. ed.) Schutter, O. de/Lenoble, J. (Hrsg.) 2010: Reflexive Governance: Redefining The Public Interest in a Pluralistic World. Oxford Soros, G., 1998: Die Krise des globalen Kapitalismus. Offene Gesellschaft in Gefahr. Berlin Széll, G., 2001: ›Risk & Reason – or the End of the Age of Enlightenment?‹, in Széll, G./Ehlert, W. (Hrsg.), New Democracies and Old Societies in Europe, Frankfurt a.M. et al.: 63-72 Széll, G., 2005: ›Sozialtheorie(n) heute?!‹ Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau, # 51: 27-33 Széll, G., 2013: ›Towards A Global Civil Society?‹, in Nicolaou-Smokoviti, L. et al. (Hrsg.), Citizen Participation in Social Welfare, Social Policy and Community Involvement. Shaping trends and attitudes of social responsibility, Frankfurt a.M. et al.: 115-122 Széll, G./Yazawa, S., 1993: ›The Re-Integration of Social Sciences – Methodological and Epistomological Foundations of Integrated Social Sciences<, Hitotsubashi Journal of Social Studies, vol. 25/2, December: Abstract This volume is the paperback edition of the book, which first was published in 2011. The title is promising and seems at first glance to fulfil this promise: In three parts and 42 chapters a large spectrum of today’s tpoics and debates is unfolded. It may not be a surprise that in regard to the envisaged English speaking public 32 of the 47 authors are Anglo-Saxon. This bias can also be found within the references: They are nearly exclusively in English – with the exception for Latin America and a few others. Nevertheless this bias is understandable, as the volume is in English and therefore – if available – only the translations are referenced. The two editors, Gerard Delanty and Stephen P. Turner, are already well known through many publications in the field. Gerard Delanty is professor of sociology for social and political thought at the University of Sussex. Stephen P. Turner is a research professor for philosophy at the University of South Florida. Altogether unfortunately a rather eclectic, and not very systematic compilation by mostly younger academics. So, not to be recommended for teaching purposes, however, some specific articles may be useful. 60 SLR 73.indb 60 29.11.2016 15:48:38 SLR Timm Kunstreich Erziehung als »respektables Kampfmittel«, »die Macht der herrschenden Klasse zu sichern«. Eine ermutigende Re-Lektüre von Siegfried Bernfelds Schriften zu Psychoanalyse und Pädagogik Heft 73/2016 Rezensionsaufsätze Über: Siegfried Bernfeld: Theorie und Praxis der Erziehung. Pädagogik und Psychoanalyse. Werke, Bd. 5, herausgegeben und mit einem Nachwort von Ulrich Herrmann, Wilfried Datler, Rolf Göppel, Gießen 2013, Psychosozial-Verlag, 669 S., 59,90 Euro »Bei Gott, Bürger Machiavell ist ein kluger Mann. Wir ernennen ihn zur Exzellenz Jugend- und Sozialminister und beauftragen ihn, dies teuflische Kunststück der Neuorganisation Sozialer Dienste durchzuführen. Er – schlau wie er ist – studiert keineswegs als Vorbereitung die Methodik der Einzelfallhilfe, belegt kein einziges Kolleg von Bäuerle, hat eine diabolische Art, Watzlawiks Kommunikationstheorie und Hofstädter zu loben, ohne sie zu lesen, hat aber die Psychoanalyse profund kapiert und hält den Sozialoberräten und Leitenden Sozialarbeitern seines Ministeriums vor ungefähr folgende Programmrede (gekürztes Stenogramm): ›… Dieses, unser Ziel, zu erreichen, schlage ich Ihnen folgende organisatorische Maßnahmen vor. Sie müssen nämlich verstehen, dass die Organisation der Sozialen Dienste das entscheidende Problem ist, dass wir konsequent und unerbittlich unserem Einfluss restlos vorbehalten müssen, während wir die Methoden der Sozialarbeit, den Einsatz von Medien, selbst Supervision beruhigt den Sozialpädagogen, den Ideologen der ›hilflosen Helfer‹, ja selbst dem Sozialistischen Büro überlassen können. Doch werde ich auch hier taktisch vorgehen. Fordern Sie z.B. mehr Weiterbildung, lassen wir lange um sie kämpfen und gewähren sie in Form einer Konzession immer dann, wenn wir eine Ablenkung der Aufmerksamkeit von Wichtigerem für nötig erachten…‹« (Textvariante, 84 f.). Diese modernisierte Fassung der berühmten Rede Machiavellis aus Bernfelds wohl bekanntestem Werk »Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung« stellten wir – der Arbeitskreis Kritische Sozialarbeit Hamburg – einer längeren und grundsätzlichen Analyse der behördlichen Sozialarbeit um 1980 voran – unter dem Titel: »Neuorganisation Sozialer Dienste = neue Strategie sozialer Befriedung?« (Informationsdienst Sozialarbeit, Heft 27: 60-96). Bernfelds klare und professionell nicht gerade schmeichelhafte Kritik war mir von meiner Lektüre des Sisyphos zehn Jahre zuvor am nachhaltigsten in Erinnerung geblieben. Als ich nun nach fast 50 Jahren die 120 Seiten noch einmal las, war ich überrascht, denn in meiner Erinnerung überwog die soziologische/marxistische Argumentation, die Re-Lektüre machte mir aber deutlich, dass der Sisyphos nicht nur die weiterhin gültigen Grenzen der Erziehung analysiert und miteinander in Beziehung setzt, sondern zugleich auch eine interessante Einführung in psychoanalytisches Denken gibt. Diese Verschiebung der Aufmerksamkeit hat sicherlich auch subjektive Gründe: Mein Interesse liegt heute stärker auf der Objekt-Relations-Theorie, d.h. zum Beispiel auf der Frage, welche psychosozialen Dynamiken dazu beitragen, auch und gerade die modernisierte Sozialbürokratie »zu lieben«. Zusammen mit der Tatsache, dass allein die Lektüre des Textes wegen seiner Ironie und 61 SLR 73.indb 61 29.11.2016 15:48:38 Heft 73/2016 SLR seiner wohldosierten Polemik ein Genuss ist, sind es gerade die vielfältigen Anknüpfungspunkte, die jede Leserin und jeder Leser auffordern, die eigenen Anfragen an Text und Sache kritisch zu vertiefen. Was den Text bis heute so einzigartig macht, ist die gelungene Verschränkung psychoanalytischer und marxistischer Argumentationsstränge. Anders als bei den meisten Ansätzen zur Verbindung von Psychoanalyse und Marxismus während der Studentenbewegung, in denen diese beiden kritischen Theorieansätze eher additiv aufeinander bezogen wurden, gelingt es Bernfeld quasi nebenbei, beide »Logiken« von der Sache bzw. vom Inhalt her zu verschränken. Diese Lesart soll am Beispiel der drei Grenzen der Erziehung verdeutlicht werden, zumal damit auch die Verbindung zu den anderen in diesem Band aufgenommenen Texten möglich wird. Vorausgeschickt seien jedoch vier Grundannahmen, die in allen Texten des Bandes zu finden sind, wenn auch natürlich in unterschiedlicher Intensität: (1) »Sinn und Funktion der Pädagogik ist die Rationalisierung der Erziehung« (21). Rationalisierung steht hier für ein Vernünftig-werden von Erziehung, nicht für eine Ökonomisierung oder Verkürzung. Mit diesem Begriff will Bernfeld wohl auch deutlich machen, dass er die neu entstehende Pädagogik als Wissenschaft für so unterentwickelt hält, dass diese Erziehung eher »gefährdet« (21). Die Entwicklung der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft ist gerade eine Aufgabe, an der Bernfeld mitwirken will. Deshalb nennt er die bisherigen Vertreter der Pädagogik: »Pädagogiker« (21 f.). Besonders die Didaktik unterzieht er beißender Kritik. Wissenschaftlichkeit fehle ihr. »Schlimmer noch, sie gerät in eine lächerliche, und von der revolutionären Pädagogik her gewertet, verbrecherische Situation. Und zwar durch eine der bitteren Paradoxien, deren die Geschichte der Pädagogik so reich ist. Das Schulwesen hat offenbar Wirkungen, die über den eigentlichen Unterricht weit hinausreichen. Die Schule – als Institution – erzieht« (30 f.). (2) »Die Schule – als Institution – erzieht« (31) – und zwar um die Klassenspaltung nicht nur zu befördern, sondern – so würden wir heute sagen – sie hegemonial bedeutsam zu machen. Genau das ist Sinn und Ziel der Rede des »sehr klugen und klassenbewussten Bürgers Machiavell…: Die Kinder müssen die bürgerliche Klasse lieben lernen« (84)1. (3) »Die Erziehung ist… die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache« (48). Diese berühmte Feststellung enthält nicht nur eine fundamentale Kritik am separierenden bürgerlichen Individualismus, sondern hebt vor allem hervor, dass die Wechselwirkungen zwischen ökonomischen, sozialen, psychischen und physischen Prozessen von entscheidender Bedeutung sind. »Kein Wirtschaftszug, der nicht mit – und wäre es unkennbar fein sublimierter Form – Sexualität gefärbt wäre, keine Regung der Biopsyche, die nicht eingeengt wäre in die konkreten Bedingungen einer Wirtschaft« (78). (4) Bernfelds Ziel ist eine »psychologisch und soziologisch fundierte Erziehungswissenschaft, die in ihrem Gegensatz zur, nach wie vor allein anerkannten, geisteswissenschaftlichen Pädagogik als naturwissenschaftliche, im Gegensatz zu der idealistischen Gesinnung der heute noch gültigen Pädagogik als materialistische bezeichnet werden müsste« (13)2. Eine grundlegende Relation in einem derart verstandenen Wissenschaftsverständnis ist nach Bernfeld die »Paargruppe«, die in jedem Verhältnis von Erwachsenen zu Kindern entsteht, sowohl in der Familie als auch in anderen sozialen Feldern. »Wo immer diese Paargruppe hergestellt ist, ergibt sich die Möglichkeit des Konfliktes, dass der Wille des Erziehers dem Willen des Kindes nicht entspricht« (51), ein Konflikt, den Bernfeld mehrfach als konstituierend für jedes pädagogische Verhältnis bestimmt. »Die Erziehbarkeit des Kindes ist beschränkt; die Erziehungsfähigkeit des Erziehers ist es 1 Wie das zu geschehen hat, macht das einführende Zitat deutlich, im Original steht Erziehung bzw. Pädagogik statt Sozialarbeit. Vor allem die grundlegende Teilung in Volksschule und Gymnasium ist das fast perfekte Herrschaftsmittel (wie wir wissen bis heute). 2 »naturwissenschaftlich« ist hier im psychoanalytischen Sinne der Gegenstandsbestimmung und der genauen Beobachtung zu verstehen. 62 SLR 73.indb 62 29.11.2016 15:48:38 SLR gleichfalls – diese beiden Grenzen erwähne ich in meinem Buch nur eben, weil sie seit je gekannt, wenn auch nicht immer beachtet sind….da sie die weithin sichtbaren sind, ist ihre neuerliche Markierung aber nicht so dringlich als die Aufdeckung der, auch heute noch unsichtbaren, dritten: der gesellschaftlichen« (12). Mit dieser beschäftigt er sich auf den ersten »108 Seiten« (119) des Sisyphos, auch wenn in diesen die ersten beiden Grenzen immer wieder unter verschiedenen Aspekten thematisiert werden. »Über die Erziehbarkeit des Kindes haben sich Pädagogiker gelegentlich sehr pessimistisch geäußert, so sehr, dass sie eigentlich die Pädagogik als Ganzes hätten für überflüssig erklären müssen« (120). Die Notwendigkeit und Unumgänglichkeit von Erziehung jenseits der ErzieherZögling-Diade unterstreicht Bernfeld mehrfach und hebt vor allem die Wechselwirkungen aller Erziehungsrelationen hervor, so z.B., wenn er die Geschlechterverhältnisse in ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung rekonstruiert (und dabei erstaunlich aktuell argumentiert): »Ich habe oft betont, dass die Scheidung der beiden Erziehungsformen, männlich und weiblich, eine theoretische, wissenschaftliche Abstraktion ist. Im konkreten Fall sind sie in einem bestimmten Mischungsverhältnis vorhanden und erfüllen zusammen die Gesamtfunktion: der physischen Erhaltung der Gesellschaft, der Sicherung und Beeinflussung der organischen Rekapitulation, deren Korrektur und Ergänzung durch Erzielung des Kulturplus: die Erhaltung der erziehenden Gesellschaft und ihrer psychischen Struktur« (74 f.). Dieses umfassende Verständnis von Erziehung und Erziehbarkeit markiert den roten Faden im dritten Kapitel des Bandes unter dem Titel »Kinder verstehen – Engagement für Kinder« (213 ff. Hervorhebungen von mir – TK), »… und so weit wie möglich: mit ihnen!« (TK) – so könnte die Quintessenz der zwölf Beiträge zur ersten Grenze unter dieser Überschrift lauten. Die Prügelstrafe (213 und 215 ff.) ist inzwischen abgeschafft, ein Schnullerverbot (221 f.) erscheint heute lächerlich, die Aufregung über Schundliteratur (223 ff. und 233 ff.) ist der über den freien Internetzugang gewichen, Sexualaufklärung (241 ff.) ist heute (wenn auch nicht unumstritten) Lehrgegenstand in der Schule. Insofern hat sich vieles geändert, auch wenn das darunter liegende Strafverständnis weiterhin Gültigkeit hat: »Die allgemeine Wirkung, die jedes Strafsystem allein schon durch seine Existenz hat, ist demnach, dass die Menschen in zwei Klassen gesondert, in eine diffamierte, verachtete, und in eine wertvolle und angesehene Klasse.… (Gegenüber der ökonomischen Klassenschichtung wäre die Klasseneinteilung – TK), die sich durch das Strafsystem herstellt, eine ideale (ideologische) zu nennen; sie überdeckt die reale Struktur der Gesellschaft und strukturiert sie ›moralisch‹ – ohne Ansehen der Geburt, des Vermögens usw. – in ›Gute und Böse‹« (271). Hingegen könnten der Text über das Spielzeug (»Spielzeug ist Turngerät für die Seele!«, 229), der Essay über den Traum (247 ff.), die Anmerkung über den Umgang mit Kindern (237 f.) sowie die Fallvignette über einen Schülerselbstmord (255 ff.) auch heute geschrieben sein. »… Die Möglichkeit des Konfliktes, dass der Wille des Erziehers dem Willen des Kindes nicht entspricht« (51) trifft natürlich auch auf Funktion und Person des Erziehers zu, und damit auf dessen Erziehungsfähigkeit – der zweiten Grenze der Erziehung. Diese »Erziehung im engeren Sinne ist ein Spezialfall, dessen spezifische Funktion zu untersuchen ist. Diese bewusste Erziehung ist ein historisch spätes Produkt« (49) in der »Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Erziehungstatsache« (48). Dennoch sind diesem Spezialfall zwei umfangreiche Abschnitte mit insgesamt 13 Texten gewidmet. In dem einen Abschnitt finden sich »Einmischungen in zeitgenössische pädagogische Diskurse« (173 ff.). In drei Texten geht es dabei um das bis heute umstrittene Anlage-Umwelt-Verhältnis. Schon damals wurden die besseren Noten von Schülern aus den gebildeten Schichten als deren natürliche Anlage gewertet, ebenso wie die schlechten der unteren. »Was aber besagen diese Tatsachen? Ganz offenbar: dass das Kind eines Akademikers eine mehr als sechsfache Chance hat, gute Noten zu bekommen gegenüber dem Kind eines Ta- Heft 73/2016 Rezensionsaufsätze 63 SLR 73.indb 63 29.11.2016 15:48:38 Heft 73/2016 SLR gelöhners. Und nichts weiter.… Sehr möglich, dass die Vererbung neben dem Berufswege eine determinierende Rolle spielt… Schlichte und wissenschaftliche Voreingenommenheit aber ist es zu behaupten, dass es die Vererbung sei, die allein außer dem Berufsmilieu des Vaters hier mitwirke« (177). Als naturwissenschaftlich orientierter Wissenschaftler interessiert sich Bernfeld sehr für Vererbung, allerdings nicht in der plumpen Form der sogenannten Erbbiologie: »Weil die Arbeiterkinder unternährt, übermüdet, in körperlicher und seelischer Not in der Schule sitzen, darum haben die Bürgerkinder achtmal so große Aussicht, gute Erfolge zu erlangen, und nicht weil das Proletariat seine Kinder dauernd erblich belastet« (Hervorhebung i.O., 189). Zwei weitere Artikel setzen sich mit Pestalozzi auseinander, den Bernfeld auf der einen Seite schätzt, auf der anderen Seite aber dessen ideologische Beschränktheit kritisiert. Das pädagogische Ziel Pestalozzis nennt er »die Herstellung einer infantilen Liebesgruppe, Erzieher – Kinder,…« (199). »Der Ausweg, den Pestalozzi zeitlebens gesucht und den er oft genug gesehen, doch nicht festgehalten hat, scheint mir in der Organisierung der Masse zu liegen, also etwa in dem, was mit dem Begriff der Freien Schulgemeinde gegeben ist« (ebd.), also in den Ansätzen, die Bernfeld in den zwanziger Jahren favorisierte. Der letzte Text in diesem Abschnitt ist eine kurze Charakterisierung der Individualpsychologie Alfred Adlers, die sich auf eine faire Darstellung dessen Position beschränkt, ohne die eigene, Adlers Individualpsychologie ablehnende durchschimmern zu lassen (209 f.). Der weitere große Abschnitt zur Erziehungsfähigkeit von Pädagogen bzw. deren Grenze umfasst »Schriften zur psychoanalytischen Ausbildung von Pädagogen« (283 ff.). Diese schließen thematisch an die drei umfangreichen Erörterungen zum Verhältnis von Psychoanalyse und Erziehungswissenschaft an, die im ersten Abschnitt nach dem Sisyphos-Text aufgenommen wurden. Zusammen ergeben sie eine umfangreiche, auch heute noch (oder wieder) gültige Auseinandersetzung mit diesem Verhältnis. Wer seine psychoanalytischen Kenntnisse auffrischen oder erst neu in dieser Materie einsteigen möchte, dem oder der sei empfohlen, mit den Schriften zur psychoanalytischen Ausbildung von Pädagogen zu beginnen. Denn diese bestehen im Wesentlichen aus Protokollen und Mitschriften von MitarbeiterInnen und TeilnehmerInnen an Kursen in Berlin und Wien sowie aus Notizen von Bernfeld selbst. Die Lektüre beginnt mit Protokollnotizen der psychoanalytisch-pädagogischen Arbeitsgemeinschaft in Berlin, in denen die jeweiligen Autoren namentlich genannt werden, so das eine plastische Vorstellung von Diskussionsklima und -inhalten entsteht – zum Beispiel über »Wilde Cliquen«. In einer Art Schlussfolgerung stellt Bernfeld fest: »Die Individuen werden nicht durch libidinöse Befriedigungen an die Organisation gefesselt, sondern durch die Gewalt, welche sie über ihre realen Lebensbedingungen hat. Sekundär fließen dann libidinöse Forderungen in die sachlich motivierten Organisationsformen ein« (296). Die Mitschriften aus Bernfelds Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse für Pädagogen in Wien sind auch heute noch geeignet, Interesse für diesen Zugang zur (Sozial-) Pädagogik zu wecken. Aus den vielen angesprochenen Thematiken, die zum Teil auch kontrovers verhandelt werden, sei nur die auch heute noch interessante Frage hervorgehoben, ob Erziehung ohne Zwang möglich sei. »Die Formel gilt nicht nur für die Schule, sondern für Erziehung überhaupt: Erziehung ohne Zwang. Merkwürdige Forderung, die ihren geistigen Vater in Tolstoi hat. Meiner Meinung nach völlig undurchführbar, obwohl sie einen wichtigen pädagogischen Kern enthält« (404). Für die Schule hält Bernfeld diese Forderung für angemessen – Kinder lernen nur, wenn sie neugierig und interessiert sind –, aber: »Wenn man die Formel ›Erziehung ohne Zwang‹ soweit verstehen will, dass sie heißt ›ohne Versagung‹, brauchen wir nicht darüber zu diskutieren, sie ist schlechthin unmöglich« (406). In den beiden Abhandlungen über das »freie« Institut (1949) und über die psychoanalytische Ausbildung (1952) wird noch einmal die »antiautoritäre« im Sinne von institutionenkritischen 64 SLR 73.indb 64 29.11.2016 15:48:38 SLR Position Bernfelds deutlich: »Meine These lautet: Die in unseren etablierten Institutionen durchgeführte Ausbildung verzerrt einige der wertvollsten Grundzüge der Psychoanalyse, verhindert deren Weiterentwicklung als Wissenschaft und als Werkzeug, mit dessen Hilfe man Verhaltensweisen ändern kann« (424). Diese Blockade macht Bernfeld an der Lehranalyse fest, deren zentrale Bedeutung dann in Gefahr läuft, unterminiert zu werden, wenn über die Lehranalyse zugleich über die Zulassung zum Beruf entschieden werde. Auch die Hierarchisierung im Sinne der »besten Lehrer« sei nicht unproblematisch. Bernfeld macht abschließend keine praktischen Vorschläge zur Veränderung, sondern möchte mit seiner Intervention dahin wirken, dass die Diskussion (wieder?) geöffnet wird, damit sinnvolle Kompromisse möglich werden (444 f.). Die drei im Anschluss an den »Sisyphos« aufgenommenen Texte zum Verhältnis von Psychoanalyse und Pädagogik (Der Erzieher (131 ff.); Die Psychoanalyse in der Erziehungswissenschaft (155 ff.); Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Pädagogik (167 ff.)) thematisieren in umfassender Weise Stellung und Funktion des Erziehers/Lehrers. Ausgangspunkt ist das grundsätzlich libidinös besetzte Verhältnis Erzieher-Kind – ein Thema, bei dem viele heute zusammenzucken und sogleich an sexuellen Missbrauch denken. Bernfeld hebt zunächst hervor, dass diejenigen Pädagogen, die sich dieser libidinösen Dimensionen nicht bewusst werden, »eine Art pädagogischen Cäsarismus ausbilden, hart an der Grenze des Psychotischen« (148), und zwar in zweierlei Weise. Das eine sind die »Beglücker« (ebd.), das andere sind die »Theoretiker der Allmacht der Erziehung« (ebd.). Ein weiterer Typus dürfte heute auch nicht seltener geworden sein: »Es sind die Beamte, die ebenso gut oder besser einen anderen bürokratischen Dienst tun könnten, oder Lohnarbeiter, die zufällig Disziplin statt anderer Ware produzieren« (149). Die Komplexität dieses Verhältnisses wird noch dadurch erhöht, dass der Pädagoge nicht nur »mit dem Kinde vor sich« sondern zugleich »mit dem Kinde in sich« zu kämpfen hat (Hervorhebung i.O., 153). Neben dieser zentralen Thematik ist es die herrschaftskritische Analyse des Bildungssystems, die eine wirkliche Erziehungswissenschaft zu leisten hätte (162 ff.). Die Psychoanalyse hätte in diesem Rahmen zu erforschen, »1.) … kurz: wie der Teil der Kultur (Ideologie), den wir Erziehung heißen, aus den Fundamenten der Gesellschaft – ihrer Wirtschaft – entsteht; 2.) in welcher Weise die Umwelt des Kindes auf die Entwicklung seiner psychischen Struktur einwirkt; 3.) welches die Funktion der bestehenden Erziehung und aller ihrer einzelnen Bestandteile ist…. 4.) die Rationalität der Erziehung zu prüfen, und die Mittel zu einer erhöhten Rationalität der Erziehung zu bieten,…« (165 f.). Nur wenn die Psychoanalyse in Theorie und Praxis in diesem Sinne ihre Autonomie entwickelt und auch erweitert – »wenn Schule, Haus, Erziehung, Unterricht nicht mehr ausreichen« (171) – kann sie ihre neue und gesellschaftskritische Position behaupten und fruchtbar machen, da sie »nur ihrem Ursprung nach ein Zweig der Medizin, ihrem Wesen und ihrer Funktion nach aber ein Teil der heutigen Erziehung ist« (ebenda). Mehrfach unterstreicht Bernfeld allerdings: Psychoanalyse ist kein Erziehungsratgeber oder schreibt »richtige« Erziehungsmaßnahmen vor (z.B. 155 ff.). Damit ist – wieder einmal – die dritte Grenze der Erziehung angesprochen, um die es Bernfeld im Sisyphos vor allem geht: die soziale oder gesellschaftliche. Auch hier unterstreicht er mehrfach, dass in dieser die anderen beiden (im dialektischen Sinn) aufgehoben sind: Die im Kind liegende Grenze ist in ihr zugleich aufbewahrt, wie die im Erzieher liegende (als isolierte) nicht mehr existent ist, da sie ohne den gesellschaftlichen Kontext nicht denkbar ist – auf diese Weise wird die »Summe der Reaktion auf die Entwicklungstatsache« (48) auf eine neue analytische Ebene gehoben. Auch Inhalt und Funktion dieser Grenze werden mehrfach genannt: »Erziehung ist konservativ. Ihre Organisation ist es insbesondere« (101); »in Bezug auf die Machttendenzen der erziehenden Gruppe intensivierend (ausbreitend, vermehrend)« (103). »Sie ist ein taugliches Heft 73/2016 Rezensionsaufsätze 65 SLR 73.indb 65 29.11.2016 15:48:38 Heft 73/2016 SLR Instrument gerade durch ihre Mängel« (45) und wird gerade deshalb zu einem »gesicherten Bestand des Bestehenden« (31). Gegen alle Tendenzen der Veränderung und Befreiung »hat die herrschende Klasse als sehr respektables Kampfmittel die Erziehung. Sie verleiht ihr eine Tendenz: die Macht der herrschenden Klasse zu sichern« (83 f.). »Erwacht nun irgendeine Regung der Auflehnung, so wird sie sich in der Autorität der Schule die empfindlichste Niederlage holen.… Da ist der Vater, der befiehlt und straft, der aber auch freundlich ist, wenn eins sehr brav war, aber auf alle Fälle fern und übermächtig. Er trägt den schönen Titel: Direktor. Da ist die Mutter: die Lehrerin, die freundlich, nah, liebevoll, aber launisch ist, die man gleichfalls, aber deutlicher noch durch Bravheit gewinnt; die ihrerseits vor dem Direktor zu zittern hat. Da sind schließlich die Geschwister Schulkameraden, nach Sitte und Recht alle einander völlig gleichgestellt, aber freie Bahn ist dem Tüchtigen offen; der volle Betrieb der freien Konkurrenz ist durchgeführt; man kann nach oben gelangen auf den ersten Platz in der Klasse und der Liebe der Lehrerin, wenn man tüchtig ist, tüchtig im Wissen oder im Schwindeln, im Schmeicheln oder in der Energie« (90) – so lässt Bernfeld seinen Machiavelli sprechen. In seiner Schlussfolgerung ist Bernfeld so unerbittlich, als ob er sich selbst von seinem Versuch, die soziale Grenze der Erziehung zu überwinden – im Kinderheim Baumgarten – deutlich distanzieren müsse: »Man tut gut, die soziale Grenze übertrieben scharf zu zeichnen. Man ist vor jeder Gefahr gesichert, sie zu überschätzen. Sie bestimmt die Wege der Erziehung. Der von ihr gesetzte Rahmen für jede Erziehung: die Organisation der Erziehung diktiert das Erziehungsresultat,…, hilft vielmehr im gewöhnlichen Fall – dem schlechtesten – geradezu zum Endresultat. Und dieses ist – wie es immer war – der Erwachsene dieser Gesellschaft, ihre Herrscher, ihre Bürger, ihre Proleten« (107). Dass Erziehung Gesellschaft nicht verändern kann, ist damit mehr als deutlich, dass aber eine Veränderung von Gesellschaft nicht ohne Erziehung – verstanden als gemeinsames Projekt von Erziehern und Kindern – möglich ist, deutet Bernfeld in dem einzig auf Englisch geschriebenen Text von 1940 selbst an. In diesem Beitrag über die in den USA für Jugendliche sehr bedeutsame »Camp«-Erfahrung in den fast obligatorischen Sommerfreizeiten hebt Bernfeld mit Bezug auf Untersuchungen seines Freundes und Kollegen Kurt Lewin das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen autoritär und demokratisch geführten Jugendgruppen hervor: Demokratisch geführte sind anderen Gruppen gegenüber weniger feindlich gesonnen. Mit diesem vorsichtigen Optimismus schließt er an seine Baumgarten-Erfahrungen Anfang der Zwanzigerjahre an, dass über Erziehung unter dem Kollektiv förderlichen Bedingungen Ansätze zur Gesellschaftsveränderung möglich seien, eine Position, die er im »Sisyphos« zumindest für die Diade ErzieherZögling deutlich abgelehnt. In diesem Sinne ist Bernfeld also nicht pessimistisch. Er praktiziert das, was Antonio Gramsci ungefähr zur gleichen Zeit im faschistischen Gefängnis formuliert: »Optimismus des Willens, Pessimismus des Verstandes« – oder wie Bernfeld es ausdrückt, wenn er von einer wechselseitigen Ergänzung der Sozialwissenschaft »und zwar in ihrer härtesten und lebendigsten Form, der Marxschen,« und der Psychologie spricht, »in ihrer tiefsten und lebendigsten Form, der Freudschen« (61). »Beide haben recht. Nicht die Marxisten und die Freudianer, sondern Marx und Freud« (79). Abstract Volume 5 of Siegfried Bernfeld’s works starts with his probably best known ouvre: »Sisyphus or the Limits of Education« (translated 1973). The following ca. 500 pages can be read as explanation and deeper analysis of the three limits of education – the limit in the child, the limit in the teacher/educator, and - most important - the limit in and of the society. Beside this the book is a splendid introduction into psychoanalysist thinking and acting and still in the merge of radical thinking in psychology and sociology. 66 SLR 73.indb 66 29.11.2016 15:48:38 SLR Holger Ziegler Professionalität und Pädagogik Heft 73/2016 Rezensionsaufsätze Über: Martin P. Schwarz/Wilfried Ferchhoff/Ralf Vollbrecht: Professionalität: Wissen – Kontext: Sozialwissenschaftliche Analysen und pädagogische Reflexionen zur Struktur bildenden und beratenden Handelns. Klinkhardt 844 Seiten, 49,90 Euro »Professionalität: Wissen – Kontext: Sozialwissenschaftliche Analysen und pädagogische Reflexionen zur Struktur bildenden und beratenden Handelns«, so lautet der Titel der von Martin Schwarz, Wilfried Ferchhoff und Ralf Vollbrecht herausgegebenen, 2014 im Verlag Julius Klinkhardt erschienenen Festschrift zu Ehren von Bernd Dewe. In der ersten Hälfte des voluminösen Bandes (Kapitel I - III) finden sich professionstheoretische Beiträge allgemeiner systematisch-konzeptioneller, gesellschafts- und gerechtigkeitstheoretischer sowie methodologischer Natur, in der zweiten Hälfte (Kapitel IV) finden sich Beiträge, die sich auf die Praxisfelder Erwachsenenbildung, Führung, Hochschuldidaktik, Schule, Betriebspädagogik und Soziale Arbeit beziehen. Damit nimmt die Festschrift Felder in den Blick, die in einem solchen Ensemble sehr selten Gegenstand eines Bandes sind. Auf den ersten Blick scheint ihre Gemeinsamkeit vor allem darin zu bestehen, dass sie Felder der pädagogischen und Bildungspraxis darstellen, die in Dewes breitem Oeuvre bearbeitet werden. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus bemerkenswert, dass die Beiträge des Sammelbandes zusammengenommen ein erkennbar kohärentes Gesamtwerk bilden, obwohl ein dezidierter Bezug auf Bernd Dewes wesentlichen Analyse- und Theorieentwurf einer »Reflexiven Professionalität« – der als mögliche Klammer zwischen den zunächst eher wenig verbunden erscheinenden Feldern fungieren könnte – keinesfalls in jedem Einzelbeitrag ersichtlich ist. Durchaus naheliegend ist diesbezüglich der Gedanke, dass trotz aller Diversität und Ausdifferenzierung unterschiedlicher pädagogischer Felder die Kernstrukturen dessen, was professionelles pädagogisches Handeln darstellt, weniger kontingent sind als manche Analysen dies bereits mit Blick auf je einzelne Arbeitsfelder nahelegen. Betrachtet man darüber hinaus die Ähnlichkeiten dessen, was – trotz deutlich unterschiedlichen Analyserastern und theoretischen Semantiken – als Herausforderungen an (professionelles) pädagogisches Handeln in den unterschiedlichen Feldern beschrieben wird, spricht alles dafür, dass Konzeptionen, die professiontheoretische Analysen mit gesellschaftstheoretischen Perspektiven verknüpfen, nicht nur möglich, sondern höchst wahrscheinlich auf dem richtigen Weg sind. Damit ist nicht gesagt, dass jede professionstheoretische Annahme und schon gar nicht jedes der teilweise impliziten gesellschaftstheoretischen Argumente bzw. jede entsprechende Annahme und Diagnose in diesem Band verfängt. Dies kann auch nicht die Erwartung sein. Bemerkenswert genug ist vielmehr der Umstand, dass es dem Band in seiner Konzeption und Komposition gelungen ist, insgesamt – bei allen unvermeidbaren Varianzen im Einzelnen – intellektuell und theoriesystematisch exzellente Beiträge von zweifellos führenden Wissenschaftler*innen so zu komponieren, dass sie in ihrer Gesamtheit nicht nur mit dem akademischen Projekt Bernd Dewes, sondern mit der zentralen Herausforderung des professionstheoretischen Diskurses sui generis korrespondieren: dem Problem der Möglichkeit einer Relationierung von Wissens- und Handlungsformen professioneller Praxis. 67 SLR 73.indb 67 29.11.2016 15:48:38 Heft 73/2016 SLR In den Arbeiten des Geehrten selbst wird dieses Problem – zunächst durchaus »klassisch« – auf dem Fundament einer analytischen Differenzierung von Handlungswissen und Wissenschaftswissen bearbeitet. Herausgearbeitet wird dabei nicht nur – dies wäre trivial –, dass diese Wissensformen (und die damit verbundenen Urteilsformen) »different« sind, sondern ihre weitgehende Inkommensurabilität. Genau in diesem Befund besteht die komplexe Herausforderung der Relationierung dieser Wissensformen als Professionswissen. Sofern dieses Argument faktual verfängt – und dies erscheint wenig zweifelhaft – sind die darin enthaltenen Implikationen schon alleine deswegen weitreichend, weil dann alle Varianten der Vorstellung, zwischen diesen Wissensformen könne »irgendwie« vermittelt werden, ebenso verworfen werden müssen, wie die im Kontext einer so genannten »evidence-based practice« prominent vertretene Überzeugung, wissenschaftliches Wissen, oder genauer, empirisch fundierte Wirkungsnachweise, seien geeignet, um pädagogische Praxis an- und notwendiges professionelles Wissen und Können abzuleiten oder gar zu erzeugen. In der professionstheoretischen Systematik von Bernd Dewes scharfer Auseinandersetzung mit und Kritik an solcherlei technokratischen und »effizienzorientierten« Debatten und Entwürfen, die sich zunächst im Kontext der Diskurse um »Qualität« und »Qualitätssicherung« und dann im Zuge einer (vermeintlich) »wirkungsorientierten Steuerung« pädagogischer Praxis finden, ist die jüngere Kritik an Abhängigkeit einer solchen evidenz-basierten Praxis von »pre-interpreted, prepackaged sources of evidence« (Upshur, 2006: 420) bereits systematisch angelegt. Der Einwand, dass das dort zugrunde liegende lineare Modell einer Übersetzung von Informationen aus einer Domäne (der Forschung) in eine andere (der Praxis) so fundamental fehlerhaft sei, dass die entsprechenden Wissenschafts- Praxis-Modelle nicht nur pragmatisch zu revidieren, sondern (schon allein um überhaupt Möglichkeiten einer fruchtbaren Auseinandersetzung zu eröffnen) schlicht zu verwerfen seien, stammt zwar von Nick Midgley (2009: 325), hätte aber von Bernd Dewe nicht minder scharf formuliert werden können: Nicht »Expertise« oder »Autorität«, schreibt Dewe gemeinsam mit Hans-Uwe Otto (2010: 197-198), stehe im Zentrum professionellen Handelns, »sondern die Fähigkeit der Relationierung und Deutung von lebensweltlichen Schwierigkeiten in Einzelfällen mit dem Ziel der Perspektiveneröffnung bzw. einer Entscheidungsbegründung unter Ungewissheitsbedingungen«. Die Einsicht, dass sich wissenschaftliches Wissen nicht unmittelbar in die Praxis der Sozialen Arbeit ›umsetzen‹ lässt, basiert dabei nicht nur auf faktualen Einsichten, sondern stellt auch das Fundament einer zentralen normativen Forderung nach einer »Anerkennung der Eigenrationalität und Begrenztheit der Wissensbestände« dar, die »vor der Überbetonung der professionellen wie auch der disziplinären Seite« bewahren und »zum bewussten Umgang mit Wissen und Nicht-Wissen« zwingen soll (ebd.). Diese kursorischen Anmerkungen hinsichtlich der in Dewes theoriesystematischen Analysen angelegten Kritik an gegenwärtigen Entwicklungstendenzen werden dem Ansatz und dem Forschungsprogramm einer Rekonstruktion der Modi der Wissensarbeit in pädagogischen Vermittlungszusammenhängen, um den kognitiven Hintergrund jenes reflexiven Verstehens und Könnens herauszuarbeiten, das den Kern »reflexiver Professionalität« darstellt, in keiner Weise gerecht, sie können aber erklären, warum der Anspruch der Herausgeber des Bandes »angesichts des Vordringens von Managementkonzepten und der damit einhergehenden Ökonomisierung von Bildung und Beratung eine Respezifizierung des Konzeptes der Professionalität […] vorzunehmen« einer der zentralen Herausforderungen der Professionsdebatte skizziert und gerade als Gegenstand eine Schrift zu Ehren von Bernd Dewe ausgezeichnet geeignet ist. Der gut 840 Seiten starke Band prozessiert diese Thematik in vier logisch gegliederten Kapiteln. Das erste hinführende Kapitel widmet sich dem Stand des (interdisziplinären) Programms einer wissenssoziologisch begründeten Professionalisierungsforschung im Feld des beruflichen Handelns. Das Kapitel besteht aus einem einzelnen Beitrag von Wilfried Ferchhoff und Martin Schwarz, der sich in einem gewissen Sinne genealogisch mit der Durchsetzung der (klassischen) 68 SLR 73.indb 68 29.11.2016 15:48:38 SLR Professionen und dem durchaus bemerkenswerten Perspektivwechsel in der Debatte weg vom Status der Profession hin zu Prozessen der Professionalität – und schließlich auch der »reflexiven Professionalität« – widmet. Damit ist in der Konzeption des Bandes das Terrain eröffnet, in dem jene Kernbegriffe zu verorten sind, denen sich das zweite Kapitel unter der Überschrift »Wissen, Handeln, Profession, Professionalität« annähert. Diese Überschrift wird über weite Strecken den insgesamt, wie im Einzelnen, überzeugenden Beiträgen von Martin Baethge zu »Wissensformen, Kompetenzentwicklung und Professionalität bei Dienstleistungstätigkeiten«, von Klaus Kraimer zur Strukturlogik professioneller »Krisenbewährung« sowie den professionssoziologischen Beiträgen von Michaela Pfadenhauer und Thomas Kurtz gerecht. Sie trifft durchaus auch den Kern des Beitrags von Roland Becker-Lenz zu nichtstandardisierbarem Wissen und Können, Alfred Schäfers Auseinandersetzung mit dem Wissen des Pädagogischen und – zumindest in einigen zentralen Teilen – auch Fritz Schützes Versuch der Fundierung einer in der Fallanalyse begründeten Profession Sozialer Arbeit. Gerade zu diesem Beitrag lohnt es sich zu bemerken, dass Schützes einflussreiche Überlegungen im Einzelnen zwar bekannt sind, dieser Beitrag aber zu den wenigen gehört, in dem Schütze seine Überlegungen in einer kondensierten Form auf eine Professionsanalyse der Sozialen Arbeit in toto bezieht. Andere Beiträge fokussieren weniger auf die Frage von Wissens- und Handlungsformen in operativen beruflichen Praxisvollzügen, sondern auf normative und politische Dimensionen von Professionen und Professionalität. So etwa Hauke Brunkhorsts Beitrag »zur sozialen Evolution von Professionalisierung und Solidarität«, der gerechtigkeits- und demokratietheoretische Aspekte der Evolution von Professionalisierung hervorhebt sowie für den Beitrag von Norbert Wohlfahrt, der auf Basis kapitalismustheoretischer wie -diagnostischer Argumente gerade die – aus seiner Perspektive – gerechtigkeitstheoretisch begründete und in Emanzipationsrhetoriken gehüllte Selbstideologisierungen der Professionsdiskurse zu entzaubern trachtet. In einem gewissen Sinne ebenfalls normativitätskritisch ist der Beitrag von Heiner Keupp, der mit Blick auf die Soziale Arbeit vor Identitätsdiskursen und den darin angelegten – tatsächlich oder vermeintlich – regressiven Tendenzen warnt. Möglicherweise liegen die Beiträge alleine deswegen weniger weit auseinander als es auf den ersten Blick scheint, weil Wissens- und normative Dimensionen oder genauer faktuale und evaluative Aussagen eben keinesfalls einfach zu trennen sind. Dabei geht es – neben der von Schäfer herausgearbeiteten Nähe des Pädagogischen vom Politischen – um die offensichtliche Verwobenheit von Wahrnehmung- und Urteilsmustern. Sofern diese Verwobenheit nicht berücksichtigt wird, bleiben Versuche einer Rationierung von Wissen und Handeln alleine deswegen blutarm und formalistisch, weil Handlungsgründe fehlen. Solche Handlungsgründe – in den Worten von Wilfrid Sellars der »realm of reason« – stecken bereits den Bereich des Normativen ab. Das macht die Warnung vor der Sehnsucht nach einem imaginären paradigmatischen Kern (Keupp) ebenso wenig hinfällig wie Wohlfahrts Kritik der Selbstideologisierung. Nichtsdestoweniger ist der Verweis auf den (noch einmal mit Sellars gesprochen) »realm of causes«, der sich z.B. im Rekurs auf die Tatsache realer Produktions- und Regulationsverhältnisse kapitalistischer Gesellschaftsformen oder (wie im Falle von Eckard König) mit Blick auf die Logiken und Regeln sozialer Systeme beschreiben lässt, kein Ersatz für das Problem von Handlungsbegründungen. Diese können mehr oder weniger überzeugend sein, sie sind aber per se weder überflüssig noch ein Ausweis realitätsferner Hybris. Dies gilt zumindest sofern man davon ausgeht, dass Handlungsbegründungen nicht nur ein Produkt dezisionistischer Willkür sind, sondern im Prinzip zur Gattung fallibler Aussagen gehören. Dass dies der Fall ist, haben insbesondere jüngere Arbeiten aus dem Kontext des sog. »critical realism« luzide deutlich gemacht. Allerdings ist diese – in zahlreichen professionstheoretischen Entwürfen zumindest implizit geteilte – Annahme nach wie vor nicht unumstritten. So etwa in der, für sich genommen durchaus eleganten, konstruktivistischen Perspektive Michaela Pfadenhauers, die Professionalität Heft 73/2016 Rezensionsaufsätze 69 SLR 73.indb 69 29.11.2016 15:48:38 Heft 73/2016 SLR als spezifische rollenbezogene Kompetenzdarstellung rekonstruiert. Diese Perspektive mag eine rekonstruktive Professionsforschung deutlich erleichtern. Nur scheint damit der für professionelle Handlungsbegründungen nicht ohne Weiteres aufzugebende Wahrheits- oder zumindest Gültigkeits- und Angemessenheitsanspruch nicht, wie Pfadenhauer schreibt, »inszenierungstheoretisch [ ] eingeklammert«, sondern vielmehr theoretisch und methodologisch ausgeklammert zu werden. Möglicherweise muss die ohnehin komplexe Relationierung von Wissen und Können erweitert werden, in die noch komplexere Rationierung von Wissen – Urteilen – Können. Die ein oder der andere der genannten Autor*innen wird sich im Zwischenfazit des Rezensenten möglicherweise nicht oder nur missverstanden wiederfinden, aber der Gedanke, dass zumindest ein wesentlicher Aspekt von Professionalität in der Form der Begründung von Inferenzentscheidungen besteht, scheint dem Rezensenten nach der Lektüre der Beiträge noch plausibler als vorher. Die im professionellen pädagogischen Handeln aufgehobenen Wissensformen scheinen sich in einem hohen Maße Kategorien zu bedienen, die Williams als »thick concepts« bezeichnet hat, d.h. auf Kategorien, deren deskriptive und normative Elemente sich nicht trennen lassen. Das hat übrigens recht wenig damit zu tun, dass diese Kategorien analytisch inferior wären. Im Gegenteil lassen sich die Elemente nicht trennen ohne die analytische Bedeutung und gesellschaftliche Relevanz dieser Kategorien selbst in Mitleidenschaft zu ziehen. Das gilt nicht nur für Professionsdebatten in pädagogischen Feldern, sondern für Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften im Allgemeinen. An prominenter Stelle hat der Nobelpreisträger Kenneth Arrow (1978: 472) darauf verwiesen, dass »the discussion of any important social question must involve an inextricable mixture of fact and value«. Diese Einsicht bezog Arrow auf Fragen, in denen es um die Anwendung komplexer mathematischer Methoden in der politischen Ökonomie ging – auf welcher Grundlage man sie ausgerechnet mit Blick auf einen Gegenstand bestreiten sollte, bei dem es um die pädagogische Bearbeitung komplexer Problematiken menschlicher Lebensführung geht, erschließt sich dem Rezensenten nicht. Während eine Reihe der Beiträge des dritten Kapitels diese grundlegenden professionstheoretischen Debatten ergänzen und vertiefen, geht es hier insgesamt eher darum, einen Ein- und Überblick zum Stand der theoretischen und empirischen Professionsforschung zu eröffnen. Dies geschieht mit insgesamt elf Beiträgen von zwölf Autoren und einer Autorin, namentlich Micha Brumlik, Gerd Antos, Michael Ballod, Frank-Olaf Radtke, Dietmar Gensicke, Horst Dräger, Ewald Terhart, Svenja Möller, Uwe Sander, Günther Frank, Franz Lorenz, Martin Schwarz und Harald Kerber, im Rekurs auf unterschiedliche Felder und Themenkomplexe. Die im »TheorieKapitel« skizzierten Inkommensurabilitäten und Spannungsverhältnisse zwischen professionellem Handeln (oder weiter formuliert sozialen Handeln im Allgemeinen) und (wissenschaftlichem) Wissen werden dabei in einer vertiefenden Weise entschlüsselt. Während einige Beiträge den Fokus auf zentrale gesellschaftliche Herausforderungen und Diskurse (wie z.B. den um »Integration«) richten, spielt bei der Mehrheit der Beiträge die Diagnose einer »Ökonomisierung« von Bildung und Erziehung eine wesentliche Rolle. Gegenüber einem wohlfahrtstaatlich geprägten, gesellschaftlich-kulturellen »Sozial-Demokratismus« können solche Entwicklungstendenzen sicherlich als eine Erschwerung des (unvollendeten) Professionalisierungsprojekts verstanden werden. Darüber hinaus entsteht jedoch, wie eine Reihe von Beiträgen zumindest in der Konsequenz übereinstimmend herausarbeitet, mit dem sog. »Managerialismus« nicht nur ein wenig professionalitätsförderlicher Organisationskontext, sondern ein veritables Konkurrenzprojekt, nicht nur zu Professionalität, sondern zum »Steuerungsmodus« Profession schlechthin. Die kardinale Frage, warum eigentlich Profession (oder zumindest Professionalität), lässt sich entsprechend weniger denn je aus gesellschaftlichen, institutionellen oder organisationalen Funktionsnotwendigkeiten ableiten. Sie ist als die Frage, warum eigentlich Professionalismus und nicht Managerialismus, neu zu stellen und wird dabei (schon alleine weil der Managerialismus 70 SLR 73.indb 70 29.11.2016 15:48:38 SLR im Wesentlichen ein normatives Glaubenssystem darstellt) kaum ohne politisch-normative und demokratietheoretische Argumente und Positionierungen zu führen sein. Das quantitativ umfänglichste Kapitel mit dem etwas sperrigen Titel »Formen der Institutionalisierung und Referenzkontexte bildenden und beratenden Handelns« stellt in einzelnen sog. ›Fallstudien‹ die Frage nach den »Bedingungen und Grenzen der Professionalitätsentwicklung« in unterschiedlichen, wie die Herausgeber schreiben, »heterogene[n], pädagogische[n] Praxisfelder[n]«. Allerdings sind dabei nicht nur die Praxisfelder, sondern auch die Fragestellungen der Autor*innen heterogen, zumal nicht alle Beiträge im engeren Sinn professionstheoretisch ausgerichtet sind, sondern auch z.B. disziplinpolitische Themen im Vor- und Umfeld professionstheoretischer Fragen bearbeiten. Im Einzelnen widmen sich Peter Fuchs, Dieter Nittel, Claudia Dellori, Jost Reischmann, Sabine Schmidt-Lauff, Wiltrud Gieseke und Alfred Langewand Fragen und Herausforderungen der Erwachsenenbildung, Joachim Ludwig, Martin Schwarz, Daniel Straß, Frank Nestmann und Jillian Werner setzen sich mit professionstheoretischen Themen von Beratung sowie Führung (Elke Moning-Petersen und Jendrik Petersen) auseinander. Dorothee Meister und Diana Urban gehen auf, als Gegenstand Professionsforschung in der Tat bislang wenig beachtete, Entwicklungen der Hochschuldidaktik ein, während Jan-Hendrik Olbertz eine Verteidigung der Universität als Bildungsprojekt schreibt. Es kann dahingestellt bleiben, ob und inwiefern diesem Projekt durch eine »Rückbesinnung« auf einen »immer wieder neu zu erfindenden« Humboldt gedient ist; die Warnung des (damaligen) Präsidenten der Berliner Humboldt-Universität, »jedem vordergründigen Modetrend der Hochschulreformdebatte« zu folgen, überzeugt durchaus und hat vor dem Hintergrund, dass es Olbertz dabei insbesondere um die Frage des Sinns einer Wettbewerbslogik des modernen Wissenschaftsbetriebs inklusive des sog. Exzellenzwettbewerbs geht, eine besondere politische Signifikanz, zumal die HumboldtUniversität ja selbst zum erlauchten Kreis jener besonders geförderten Universitäten gehört. Die betriebliche Weiterbildung ist das Feld, auf das sich die Arbeiten von Sibylle Peters, Martin Elbe, Sebastian Kunert, Katharina Feistel, Ralf Vollbrecht, Christine Dallmann sowie Peter Weber beziehen. Den Abschluss stellen Fallstudien von Hans-Uwe Otto, Burkhard Müller, Silvia Staub-Bernasconi und Peter Pantucek zum wohl klassischen Feld der Professionsdebatte, nämlich der Sozialen Arbeit, dar. Allein die Fülle der – wie angedeutet fast durchweg guten und teils exzellenten – Beiträge macht es fast unmöglich, jeden Beitrag einzeln zu würdigen. Dies ist aber auch nicht notwendig. Denn über den Hinweis hinaus, dass Martin Schwarz, Wilfried Ferchhoff und Ralf Vollbrecht eine ausgezeichnete Festschrift gelungen ist, kann der Band in seiner facettenreichen Gesamtheit als ein Kompendium verstanden werden, der den durchaus beachtlichen State of the Art der (pädagogischen) Professionsdebatte zum Ausdruck bringt. Der Eindruck, dass eine Form der Professionsforschung und -theorie zielführend ist, die weitgehend dem entsprechen dürfte, was sich im Anschluss an Bernd Dewe als das Projekt einer reflexiven Professionalisierung beschreiben lässt, scheint dabei weniger der Tatsache geschuldet zu sein, dass es sich bei dem Werk um eine Festschrift zur Ehren von Bernd Dewe handelt, sondern ist ein Eindruck, der nach der langen aber lohnenswerten Lektüre der umfänglichen Analysen in der Sache unterschiedlichster pädagogischer Themen und Felder mit einer kaum hinweg zu definierenden Notwendigkeit entsteht. Auch mit Blick auf die in dem Band skizzierten Entwicklungen und Herausforderungen scheint recht eindeutig zu sein, dass der Verweis auf Profession und Professionalität sicherlich nicht die (Er-) Lösungsformel mit Blick auf alle Problematiken in pädagogischen Handlungsfeldern darstellt. Ebenso evident scheint aber auch, dass eine Pädagogik, die – um die Formulierung von Hans-Uwe Otto zu borgen – akademisiert, aber nicht professionalisiert ist, in der Vergangenheit nicht ausreichte und auch in Zukunft mit hoher Sicherheit nicht ausreichen wird und nicht ausreichen kann. Heft 73/2016 Rezensionsaufsätze 71 SLR 73.indb 71 29.11.2016 15:48:38 Heft 73/2016 SLR Literatur Arrow, K., 1978: A Cautious Case for Socialism. In: Dissent, 25: 472-480 Dewe, B./Otto, H.-U., 2010: Reflexive Sozialpädagogik. In: W. Thole (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. Wiesbaden Midgley, N., 2009: Improvers, adapters and rejecters: the link between ›Evidence-Based Practice‹ and ›Evidence-Based Practitioners‹. In: Clinical Child Psychology and Psychiatry, 14, 3: 323-237 Upshur, R., 2006: Evidence-based medicine, reasoned medicine or both? Commentary on Jenicek’s ›The hard art of soft science‹. In: Journal of Evaluation in Clinical Practice, 12, 4: 420-422 Abstract The articel reviews the commemorative publication for Bernd Dewe. It appraises the contributions of the volume against background of some central points of Dewe's oeuvre and indicates some challenges for the debates on profession and professionalization in pedagogical fields. 72 SLR 73.indb 72 29.11.2016 15:48:39 SLR Albert Scherr Menschenrechte, nationalstaatliche Demokratie und funktionale Differenzierung – Wahlverwandtschaften oder Gegensätze? Heft 73/2016 Rezensionsaufsätze Sammelbesprechung Sammelbesprechung Alastair Davidson: The Immutable Laws of Mankind. Dordrecht/Heidelberg/New York/London 2012: Springer, 520 S., 281.-€ Bettina Heintz/Britta Leisering (Hrsg.): Menschenrechte in der Weltgesellschaft. Frankfurt/ New York 2015: Campus, 398 S., 39, 9 € Hans Jörg Sandkühler: Recht und Staat nach menschlichem Maßstab. Weilerswist 2013: Velbrück Wissenschaft, 688 S., 49,9 € Grundlegend für das moderne Verständnis der Menschenrechte ist das Postulat, dass jeder und jedem allein aufgrund der Tatsache, dass er/sie ein Mensch ist, bestimmte Rechte zukommen sollen, die ein Leben in Würde ermöglichen. Ganz offenkundig handelt es sich bei dieser Vorstellung um eine uneingelöste Utopie. Und ersichtlich ist ein Verständnis von Menschenrechten als allein juristisch zu garantierenden, zureichend durch positives Recht umsetzbaren Prinzipien unzureichend. Dies war bereits den Autoren der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 (AEDM) bewusst. Dezidiert wird im Artikel 28 der AEDM formuliert »Jeder hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können.« Die Idee der Menschenrechte geht damit über Vorstellung für eine Gestaltung der Rechtsordnung hinaus. Für das Selbstverständnis moderner, demokratisch verfasster Gesellschaften ist der Anspruch grundlegend, eine solche Gestaltung der Gesellschaft, ihrer sozialen und politischen Ordnung gewährleisten zu können, die eine Verwirklichung der Menschenrechte ermöglicht. Die Unterstellung eines solchen Passungsverhältnisses zwischen den Menschenrechten der Strukturen moderner Gesellschaften und den Prinzipien der Menschenrechte war jedoch bereits bei Marx und daran anschließend in der klassischen Soziologie Gegenstand der Kritik. So formulierte Max Weber (1920/1972: 725 f.) die ideologiekritische Einschätzung, dass die Idee der Menschenrechte in einem engen Zusammenhang mit der Entstehung des modernen Kapitalismus steht: »Es ist klar, dass jene Forderungen formaler Rechtsgleichheit und ökonomischer Bewegungsfreiheit sowohl der Zerstörung aller spezifischen Grundlagen patrimonialer und feudaler Rechtsordnungen zugunsten eines Kosmos von abstrakten Normen, also indirekt der Bürokratisierung, vorarbeiten, andererseits in ganz spezifischer Art der Expansion des Kapitalismus entgegenkommen. Wie die von den Sekten mit dogmatisch nicht ganz identischen Motiven übernommene ›innerweltliche Askese‹ und die Art der Kirchenzucht der Sekten die kapitalistische Gesinnung und den rational handelnden ›Berufsmenschen‹, den der Kapitalismus brauchte, züchteten, boten die Menschen- und Grundrechte die Vorbedingung für das freie Schalten des Verwertungsstrebens des Kapitals mit Sachgütern und Menschen.« Dass mit diesem ideologiekritischen Blick nicht das abschließende Urteil über die Menschenrechte gesprochen ist – wie in manchen Kreisen der politischen Linken vermutet wird – ist schon deshalb evident, weil sich der philosophische, politische und juristische Menschenrechtsdiskurs seit 73 SLR 73.indb 73 29.11.2016 15:48:39 Heft 73/2016 SLR Anfang des 20. Jahrhunderts substantiell weiterentwickelt hat. Bereits die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 geht wesentlich über die frühbürgerliche Menschenrechtskonzeption hinaus, indem dort substantielle soziale Menschenrechte deklariert werden. Die bei Max Weber angelegte soziologische Perspektive, die eine Wahlverwandtschaft von Gesellschaftsstruktur und Menschenrechtssemantik annimmt, wird bei Bettina Heintz und Klaus Japp in ihren Beiträgen zum Sammelband ›Menschenrechte in der Weltgesellschaft‹ aktualisiert. Sie gehen dabei von der These Niklas Luhmanns aus, der in seiner Arbeit ›Grundrechte als Institution‹ (Luhmann, 1965) argumentiert hat, dass die Grundrechte nicht zureichend als Schutzrechte des Individuums vor staatlichen Eingriffen bestanden werden können, sondern Normen sind, die der Struktur funktionaler Differenzierung entsprechen: »Für Luhmann hat Religionsfreiheit … nicht nur die Funktion, die Individuen frei über ihr Glaubensbekenntnis entscheiden zu lassen, sondern dient auch dazu, die Religion vor staatlichen Eingriffen abzuschirmen. Und ähnlich schützt die Gleichheit vor dem Gesetz … nicht nur den Angeklagten vor politisch motivierten Urteilen, sie garantiert auch die Autonomie des Rechtssystems.« (Heintz, 1995: 32). Die analytische Perspektive einer solchen funktionalistischen Betrachtung der Grundrechte machen sich Heintz und Japp für eine Auseinandersetzung mit der Funktion der Menschenrechte in der Weltgesellschaft zu eigen. Heinz formuliert dazu die These eines direkten Korrespondenzverhältnisses von Menschenrechten funktionaler Differenzierung: »Wer funktionale Differenzierung haben will, muss gleichzeitig für die Umsetzung der Menschenrechte sorgen, und wer sich für deren Umsetzung einsetzt, transportiert damit, willentlich oder nicht, auch eine spezifische Gesellschaftsform.« (ebd.: 48) Diese Annahme eines wechselseitig konstitutiven Zusammenhangs ist für das Verhältnis von Politik, Religion, Recht und Kunst zwar zweifellos plausibel und führt entsprechend zu einer normativen Fassung des gesellschaftstheoretischen Konzepts funktionaler Differenzierung, keineswegs aber für die kapitalistische Ökonomie, deren Ausdifferenzierung historisch und systematisch von zentraler Bedeutung für die funktional differenzierte Gesellschaft ist. Denn dass die kapitalistische Ökonomie der Weltgesellschaft direkte und indirekte Auswirkungen hat, die zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen führen, ist evident. Dies führt bei Klaus Japp dazu, dass ein Korrespondenzverhältnis von Menschenrechten und Sozialstruktur einschränkend nicht für die funktional differenzierte Weltgesellschaft, sondern nur für »den Typus des westlich-liberalen Regimes« (Japp, 2015: 81) annimmt. Japp betont dabei die Paradoxie, dass die universell gedachten Menschenrechte systematisch eine exklusive Grundstruktur aufweisen: »Einerseits werden orthodoxe, nicht-deliberative Positionen (insbesondere religiöser Kommunikation) ausgeschlossen […]. Andererseits steckt in der Vorstellung des Menschen an sich … ein Exklusionskern, der sich in den harten Exklusionszonen der Weltgesellschaft zeigt, wo die Menschen auch als Personen aus sozialen Beziehungen (vor allem Politik, Wirtschaft, Recht, Bildung) herausgefallen sind und sich nur noch zusammentun, um das Überleben ihrer Körper zu sichern.« (ebd.: 82) Damit greift Japp die These des späten Luhmann auf, dass die funktional differenzierte Weltgesellschaft ihren Anspruch auf Einbezug aller Individuen faktisch nicht realisieren kann und wendet diese zu einer dezidierten soziologischen Kritik des universellen Anspruches der Menschenrechte: »Weltgesellschaftlich gesehen treffen weder Grundrechte westlicher Provenienz noch deren Universalisierung zu Menschenrechten durchgehend auf entgegenkommende soziale und personale Strukturen. […] Der blinde Fleck des menschenrechtlich legitimierten liberalen Modernitätsregimes sind die Menschenrechte selbst – bzw. ihr eingebauter … Universalismus. Dessen Ethnozentrismus - oder anders: dessen ethnozentrische, etwa europäische Eingeschränktheit - bleibt unsichtbar hinter dem magischen Anspruch, alle Menschen einzubeziehen.« (ebd.: 85) Eine solche soziologische Perspektive betont, dass die strukturellen Auswirkungen des westlich-liberalen Regimes, insbesondere seiner Marktökonomie, weltgesellschaftlich zu Exklu- 74 SLR 73.indb 74 29.11.2016 15:48:39 SLR sionseffekten führen, die durch eine moralische Inanspruchnahme der Menschenrechte faktisch ebensowenig aufgefangen werden können wie durch ihre rechtliche Kodifizierung. Im Sinne einer Verteidigung der Idee der Menschenrechte gegen eine solche Kritik ist jedoch darauf hinzuweisen, dass den Verfassern der AEDM durchaus bewusst war, dass diese einen gesellschaftspolitischen Gestaltungsauftrag umfasst, wie im oben bereits zitierten Art. 28 deutlich wird: Die AEDM wurde von den Staaten der Vereinten Nationen als ein »common standard of achievement« verstanden, als eine geteilte Zielvorstellung der politischen Gestaltung der nationalen und der internationalen Ordnung. Dass sich die Menschenrechte bislang im Hinblick auf die internationale politische und wirtschaftliche Ordnung weitgehend als ein wenig wirksames Instrument erwiesen haben, ist kein Einwand gegen ihre Programmatik; dies verweist vielmehr auf die Übermacht nationaler politischer sowie ökonomischer Interessen gegenüber menschenrechtlichen Ideen. Anders formuliert: Die globale politische und rechtliche Regulation der kapitalistischen Ökonomie der funktional differenzierten Gesellschaft wäre eine notwendige Bedingung für die weltgeschäftliche Durchsetzung von Menschenrechten. Diese scheitert doch zentral an der nach wie vor primär nationalstaatlichen Verfasstheit von Politik. In seiner umfassenden Studie »Recht und Staat nach menschlichem Maß«, die ganz auf die Begründung eine menschenrechtlich fundierten Rechts- und Staatstheorie zielt, argumentiert Sandkühler (2013) – vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung der zentralen neuzeitlichen Staatstheorien – entsprechend, dass eine Gewährleistung von Menschenrechten nur durch eine Einschränkung der Reichweite kapitalistischer Vergesellschaftung durch einen »die Menschenrechte achtenden und schützenden demokratischen Rechts- und Sozialstaat« (ebd.: 13) möglich ist. Zentral für diese These ist einerseits die Annahme, dass die in den Menschenrechten enthaltenen moralischen Ansprüche wirksam nur durch Verrechtlichung durchgesetzt werden können und Staaten diejenigen Institutionen sind, die eine Rechtsordnung etablieren können. Dies führt bei Sandkühler nun aber keineswegs zu einer naiven Affirmation von Rechtsstaatlichkeit – er ist sich sehr deutlich der Paradoxie bewusst, dass staatliche Politik und Gesetzgebung die individuellen Menschenrechte ebenso bedroht, wie sie Bedingungen ihrer Durchsetzung sind. Sandkühler versucht diese Paradoxie durch einen normativen und materiellen Begriff des Rechtsstaats aufzulösen: In Anschluss an Kelsen argumentiert er, dass nur eine solche Staatlichkeit als legitim gelten soll, die auf eine Anerkennung der fundierenden Funktion des Rechts beruht (385 ff.), und zwar eines solchen Rechts, dessen Kern die Achtung und der Schutz der Menschenwürde ist (409 ff.): »Der Gehalt des materiellen Rechtsstaatsbegriffs ergibt sich aus der Norm der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde und aus dem positiven Recht der Menschenrechte.« (ebd.: 412) Den so gefassten Rechtsstaatsbegriff verbindet Sandkühler mit der demokratietheoretischen Überlegunge, dass Demokratie zentral als »Herrschaft des Rechts« (ebd.: 583) zu bestimmen ist. Dabei versteht er unter Herrschaft des Rechts notwendige Einschränkungen der Souveränität der jeweils Herrschenden, aber auch der individuellen Autonomie: »Demokratie ist die permanente Aufforderung zur Selbst-Desillusionierung über die Fähigkeit der Subjekte, unbegrenzt frei und rational zu handeln und aufgrund von Autonomie im moralischen Sinne ohne Einschränkung verantwortlich zu sein.« Dem liegt ein Verständnis von Freiheit zu Grunde, nach dem individuelle Handlungsfreiheit immer auch die Möglichkeit impliziert, sich für das moralisch Böse zu entscheiden. Dies führt in der Konsequenz zu einer explizit anti-utopischen Bestimmung von Demokratie als rechtlich gebundene staatliche Herrschaftsform. Sandkühler grenzt sich dazu entschieden gegen ein Verständnis von Demokratie als ideale Gesellschaftsform ab, zentral mit dem Argument, dass dies faktisch nur zu Enttäuschung, Ressentiments und generalisierter Demokratieablehnung führen kann. Sein Verständnis von Demokratie begründet er demgegenüber zentral mit dem Argument, eine unaufhebbare Pluralität politischer Ideen und Ideale: »Demokratie ist die politische Form einer Verweigerung: das eine Ideal, die eine Moral, die eine Heft 73/2016 Sammelbesprechung 75 SLR 73.indb 75 29.11.2016 15:48:39 Heft 73/2016 SLR Wahrheit - sie sollen kein Privileg genießen und nicht mit Zwang durchgesetzt werden können.« (ebd.: 581). Zentral für Sandkühlers Argumentation ist die Absicht, die Möglichkeit und Notwendigkeit eines menschenrechtlich fundierten Verständnisses von Rechtstaat und Demokratie aufzuzeigen. Er plädiert dezidiert normativ für eine rechtliche Positivierung der Menschenrechte und für ihre Anerkennung als aus historischen Unrechtserfahrungen abgeleitete Prinzipien mit universeller Geltung, deren Gewährleistung zentrale Aufgabe von Rechtsstaat und Demokratie sein soll. Sandkühler ist sich der Tatsache bewusst, dass diese Forderung voraussetzungsvoll ist: »Demokratie kann scheitern. Sie wird scheitern, wenn nicht die Menschenrechte auf ihrem jeweils entwickeltesten Niveau die Herrschaft des Rechts und den Staat bestimmen.« (ebd.: 583) Nimmt man diese abschließende These ernst, dann stellt sich die - angesichts globaler Ungleichheiten und des Umgangs der demokratisch verfassten Nationalgesellschaften des Nordwestens mit den Migrations- und Fluchtbewegungen im Zeitalter fortschreitender Globalisierung – die Frage, ob die Idee einer menschenrechtlich fundierten Demokratie nicht bereits gescheitert ist. Denn das Interesse der nationalstaatlich verfassten Demokratien an einer globalen Gewährleistung sozialer Menschenrechte ist ersichtlich gering und die Gewöhnung daran, dass elementare Menschenrechtsverletzungen im Umgang mit Flüchtlingen alltäglich stattfinden, schreitet fort. Auf die menschenrechtlich fundierte Kritik der offenkundigen Widersprüche zwischen dem Anspruch und der Wirklichkeit der Flüchtlingspolitik wird zunehmend mit einer Zurücknahme des Anspruchs, d. h. nicht zuletzt mit restriktiveren Fassungen des Asyl- und Flüchtlingsrechts reagiert. Für die Hoffnung auf eine »Demokratie nach dem Nationalstaat«, die sich »auf dem Wege zu weltbürgerlichen Formen des Zusammenlebens auf der Grundlage der bürgerlichen und politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte« (ebd.: 583) befindet, besteht gegenwärtig wenig Anlass. Sandkühler zeigt zwar überzeugend auf, dass eine solche Perspektive staatstheoretisch und rechtstheoretisch begründbar ist, er beansprucht jedoch nicht, eine historische und soziologische Analyse zu den Bedingungen ihrer Realisierbarkeit vorzulegen. Insofern stellt Alastair Davidsons historische Studie mit dem Untertitel »The Struggle For Universal Human Rights« eine notwendige Ergänzung und Erweiterung der rechts- und staatstheoretischen Perspektive Sandkühlers dar. Davidsons Interesse gilt nicht den philosophischen und rechtlichen Begründungen der Menschenrechte, sondern der Sozialgeschichte ihrer Inanspruchnahme und Durchsetzung: Er rekonstruiert die Entwicklung der Menschenrechtsidee in einer Perspektive, die die »Erzählungen des Leidens und der Ursachen des Leidens« (Davidson 2012: xvii; Übesetzung hier und im Weiteren A.S.) ins Zentrum stellt, die zur Einforderung von Menschenrechten geführt haben. In seiner umfassend angelegten Studie zeigt er auf, dass grundlegende Überzeugungen, die in den bürgerlichen Revolutionen des 18. Jahrhunderts zur Formulierung von Menschenrechten führten, historisch weiter zurückreichen sowie dass die AEDM und die daran anschließenden Konventionen der Kumulationspunkt eines langwierigen historischen Lernprozesses sind. In seiner Analyse argumentiert er, dass die Forderung nach der Anerkennung von Menschenrechten zentral von denjenigen ausging, die Unterdrückung erfahren haben sowie dass es bestimmte historische Ausnahmesituationen waren, in denen die politische und rechtliche Anerkennung menschenrechtlicher Standards durchgesetzt werden konnte. Vor dem Hintergrund seiner historischen Rekonstruktion stellt Davidson zudem die Annahme eines wechselseitig konstitutiven Zusammenhangs von Demokratie und Menschenrechten entschieden in Frage. Dies mit zwei Argumenten: Erstens wird argumentiert, dass die Menschenrechte in der Regel nicht mehrheitsfähig waren: »Dieses Buch zeigt, dass die Mehrheit an fast allen Orten und zu fast allen Zeiten weit davon entfernt war, diese Rechte zu wollen, die meisten Menschen wollten sie nicht.« (ebd.: xv). Zweitens zeigt Davidson auf, dass die Idee universeller Menschenrechte historisch und systematisch in einem Spannungsverhältnis zur Realität nationalstaatlich verfasster Demokratien steht. Davidson weist im Hauptteil seiner historischen Untersuchung 76 SLR 73.indb 76 29.11.2016 15:48:39 SLR nach, dass die Etablierung demokratischer Nationalstaaten in den USA, Frankreich und Australien von Anfang an mit gravierenden Repressionen gegenüber Minderheiten verbunden waren. Die weitgehende Vernichtung der indigenen Bevölkerung in Nordamerika und die Massaker an den Aborigines in Australien interpretiert er dabei als demokratisch legitimierte Genozide. Davidson verdeutlicht das Spannungsverhältnis von Nationalstaat, Demokratie und Menschenrechte weiter an den Positionen, die in den Verhandlungen um die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sowie die Charta der Vereinten Nationen eingenommen wurden. Er zeigt insbesondere auf, dass dort einflussreiche Forderungen, nicht zuletzt seitens der USA, vorgetragen und wirkungsmächtig wurden, dass die Menschenrechte keineswegs in einer Weise verstanden werden können, die zu einer Einschränkung der nationalen Souveränität führt (ebd.: 432 ff.). Im weiteren historischen Prozess erfolgte dann jedoch eine Verschiebung, in deren Folge die USA und die EU für sich das Recht reklamieren, die Menschenrechte als Legitimation für Eingriffe in die Souveränität von Staaten beanspruchen zu können, denen Menschenrechtsetzung vorgeworfen werden. Gleichzeitig aber reklamieren sie ihre nationale Souveränität und den Vorrang des nationalen Rechts gegenüber universell gefassten Menschenrechten – nicht zuletzt bei der Abschottung ihrer Außengrenzen gegen unerwünschte Zuwanderer. Resümierend lässt sich feststellen: Historische und soziologische Studien zeigen auf, dass sich jede naive Inanspruchnahme der kodifizierten Menschenrechte als eine vermeintlich in sich unproblematische Wertegrundlage verbietet, während gleichzeitig mit guten philosophischen Gründen argumentiert werden kann, dass es in soziokulturell pluralen Migrationsgesellschaften ebenso wie auf der Ebene der Weltgesellschaft keine Alternative zur Beanspruchung der Menschenrechte als normative Grundlage von Gesellschaft- und Sozialkritik gibt. Denn der Rückzug auf eine bloße Ideologiekritik der Menschenrechte führt ins Bodenlose, zum Verzicht auf Maßstäbe der Kritik, die als eine transkulturell und international plausible Antwort auf Unrechts- und Leidenserfahrungen verstanden werden können. Der Rückzug auf spezifische politische und/ oder religiöse Konzepte ist meines Erachtens jedenfalls nicht die anstrebenswerte Alternative. Eine menschenrechtliche Position, die gesellschaftspolitisch zu Forderungen nach Demokratisierung und politischer Eingrenzung der gesellschaftlichen Macht der kapitalistischen Marktökonomie als Bedingungen führt, ist jedoch schon in sich spannungsgeladen, weil sie einerseits einen im Verhältnis zur Ökonomie starken Staat fordert, der aber gleichzeitig die weitereichende Autonomie der Zivilgesellschaft und die individuellen Freiheitsrechte respektieren soll. Es ist konsequent, deshalb eine starke Bindung von Staatlichkeit an kodifizierte, rechtlich bindende Menschenrechte zu fordern. Ersichtlich aber ist dies nur als Selbstbindung von Staaten an die Menschenrechte herstellbar, was unter Bedingungen demokratisch verfasster Gesellschaften voraussetzt, dass die rechtliche Kodifizierung von Menschenrechten, auch solcher Menschenrechte, die mehr sind als die Grundrechte von Staatsbürger/innen, mehrheitsfähig ist. In einer pessimistischen Perspektive kann man angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen zu der Einschätzung kommen, dass die Hochphase des Menschenrechtsdiskurses möglicherweise beendet, d.h. ein weiteres Zurückdrängen der politischen Bedeutung der Menschenrechte zu erwarten ist. Die optimistische Alternative dazu wäre das Vertrauen darauf, dass sich unter Bedingungen fortschreitender Globalisierung der Einfluss der wissenschaftlichen und rechtlichen Diskurse sowie der sozialen Bewegungen zunimmt, die eine Realisierung menschenrechtlicher Prinzipien in der Weltgesellschaft einfordern. Zahlreiche Indizien sprechen dafür, dass die pessimistische Perspektive die realistischere ist. Heft 73/2016 Sammelbesprechung 77 SLR 73.indb 77 29.11.2016 15:48:39 Heft 73/2016 SLR Literatur Luhmann, N., 1965: Grundrechte als Institution. Berlin Nassehi, A., 2015: Zirkulation als Selbstzeck? In: A. Scherr (Hrsg.): Systemtheorie und Differenzierungstheorie als Kritik. Weinheim/Basel: 56-79 Scherr, A., 2015: Einleitung: Keine 11. These mehr? In: In: A. Scherr (Hrsg.): Systemtheorie und Differenzierungstheorie als Kritik. Weinheim/Basel: 13-37 Schimank, U., 2015: Die Prekarität funktionaler Differenzierung – und soziologische Kritik als »double talk«. In: A. Scherr (Hrsg.): Systemtheorie und Differenzierungstheorie als Kritik. Weinheim/Basel: 80-103 Weber, M., 1920/1972: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 78 SLR 73.indb 78 29.11.2016 15:48:39 Rezensionsaufsätze Trendberichte SLR Forschungsbericht Manfred Liebel Globale Kindheiten und das Versprechen der Kinderrechte Heft 73/2016 SLR Sabine Andresen, Claus Koch, Julia König (Hrsg.): Vulnerable Kinder. Interdisziplinäre Annäherungen (= Reihe Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung). Wiesbaden: Springer VS 2015, 245 S., 29,99 € Paul Close: Child Labour in Global Society (= Sociological Studies of Children and Youth, Volume 17). Bingley: Emerald Group Publishing Ltd. 2014, 246 S., 100,63 € (Hardcover) Luise Hartwig, Gerald Mennen, Christian Schrapper (Hrsg.): Kinderrechte als Fixstern moderner Pädagogik? Grundlagen, Praxis, Perspektiven. Weinheim/ Basel: Beltz Juventa 2016, 315 S., 39,95 € Ingi Iusmen, Helen Stalford (eds.): The EU as a Children’s Rights Actor. Law, Policy and Structural Dimensions. Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich Publishers 2015, 331 S., 42,00 € Brian Milne: Rights of the Child. 25 Years after the Adoption of the UN Convention. (= Children’s Well-Being: Indicators and Research 11). Cham et al.: Springer International Publishing 2015, 225 S., 106,99 € (Hardcover) Kate Cregan, Denise Cuthbert: Global Childhoods. Los Angeles et al.: SAGE Publications Ltd. 2014, 196 S., 36,10 € (Paperback) Wouter Vandenhole, Ellen Desmet, Didier Reynaert, Sara Lembrechts (eds.): Routledge International Handbook of Children’s Rights Studies. London/New York: Routledge 2015, 436 S., 143,28 € (Hardcover) Einleitung Dieser Forschungsbericht ist Monografien und Sammelbänden aus den beiden letzten Jahren gewidmet, in denen neue und teils ungewohnte Überlegungen zur Erforschung von Kindheiten und Kinderrechten sowie diesbezügliche Resultate präsentiert werden. Sie beziehen sich auf Fragen, die bisher nur wenig beachtet und bearbeitet worden sind. Vor allem wird in ihnen sichtbar, dass der Blick auf Kindheiten und Kinderrechte in verschiedenen Teilen der Welt offener und differenzierter werden und die konkreten Lebensverhältnisse der Kinder stärker beachten muss. 79 SLR 73.indb 79 29.11.2016 15:48:39 Heft 73/2016 SLR Kinder als verletzliche Wesen Die besondere Verletzlichkeit von Kindern wird oft in grob vereinfachender Weise als eine bloße Naturtatsache dargestellt und als Rechtfertigung für die Bevormundung von Kindern benutzt, z.B. in manchen institutionalisierten Formen und Maßnahmen des Kinderschutzes. Auch Spendenkampagnen von Kinderhilfsorganisationen bemühen oft die Bedürftigkeit und vermeintliche Hilflosigkeit von Kindern, um Mitleid und Spendenbereitschaft zu erzeugen. Oder staatliche Interventionsprogramme verweisen vorschnell auf vermeintliche Risiken des Kinderlebens und damit verbundener »Fehlentwicklungen«, um Eingriffe in das Leben von Kindern im Sinne einer bestimmten politischen oder pädagogischen Ideologie zu rechtfertigen, etwa nach dem Motto, in die Kinder müsste mehr und früher »investiert« oder sie müssten »strenger erzogen« werden. Um einem solch manipulativen Umgang mit der Verletzlichkeit von Kindern zu begegnen, bedarf es dringend der wissenschaftlichen Aufklärung durch möglichst interdisziplinäre und unvoreingenommene Forschung. Dabei ist es nicht damit getan, nur auf die besonderen Fähigkeiten, Handlungspotentiale oder die Rechte von Kindern zu verweisen, so wichtig dies ist, sondern es muss auch den Gründen der Verletzlichkeit von Kindern selbst auf den Grund gegangen werden. In dem von Sabine Andresen, Claus Koch und Julia König herausgegebenen Sammelband Vulnerable Kinder wird dies versucht. Der Ausgangspunkt für die in dem Band behandelte Thematik liegt nach Bekunden der Herausgeber*innen in folgendem Tatbestand. Die sozial- und erziehungswissenschaftliche Kindheitsforschung mit ihrer Betonung der Akteursperspektive der Kinder habe die Verletzlichkeit als Merkmal von Kindheit in den vergangenen Jahrzehnten eher gemieden und anderen Disziplinen wie der Medizin, der Evolutionstheorie, den Neurowissenschaften und der Psychologie überlassen. So habe in den erziehungswissenschaftlichen Diskursen die Perspektive auf die relative Autonomie, die Fähigkeiten und Handlungsressourcen von Kindern dominiert. Dies sei zwar als Reaktion auf die machtvolle Konstruktion des erziehungsbedürftigen, schwachen und unreifen Kindes nachvollziehbar, habe aber mitunter dazu geführt, »die Verletzlichkeit von Kindern ebenso zu überspielen wie ihre physische und psychische Angewiesenheit auf bestimmte Ermöglichungsbedingungen ihrer Selbstständigkeit« (S. 9). Ohne die Kinder als (mögliche) Akteure aus dem Auge zu verlieren, soll in dem Band der Akzent darauf liegen, dass und in welcher Weise Kinder verschiedenen Alters auf die Sorge und liebevolle Zuneigung der Älteren angewiesen sind. Als »anthropologische Ausgangssituation des Menschen« als einer »Frühgeburt« müsse die Ungleichheit im Generationenverhältnis hinsichtlich des Machtgefälles und der damit verbundenen Handlungsfähigkeiten und -spielräume mit bedacht werden. Die »Unausweichlichkeit der Generationendifferenz« soll gesellschaftstheoretisch und subjekttheoretisch mit der Analyse der Handlungsmöglichkeiten und -fähigkeiten von Kindern vermittelt werden. Die Herausgeber*innen sehen sich aber auch veranlasst, darauf hin zu weisen, »dass in den westlichen Industriegesellschaften des globalen Nordens die dramatisch in Szene gesetzte Vulnerabilität von Kindern gegenwärtig eine hohe Konjunktur hat« (S. 10). Insbesondere kritisieren sie die »hektisch zusammengeflickten Aktions- und wohlfahrtsstaatlichen Steuerungsprogramme« (S. 10), die nur auf die Korrektur von Verhaltens- und Entwicklungsstörungen fokussiert sind. Das gravierendste Problem dieses Trends sehen sie darin, »dass dieses jeglicher Ambivalenz entledigte Gefährdungsparadigma den Erkenntnissen der Kindheitsforschung, welche die tatsächlichen Eigenständigkeiten von Kindern herausgearbeitet hat, gänzlich unvermittelt entgegengesetzt steht« (S. 10). Vor diesem Hintergrund sehen die Herausgeber*innen das Ziel des Bandes darin, »die kindliche Vulnerabilität im Konfliktfeld von Bedingungen selbstbestimmten kindlichen Agierens und der Gefährdung und Begrenzungen solcher Ermöglichungsbedingungen zu diskutieren« (S. 10). 80 SLR 73.indb 80 29.11.2016 15:48:39 SLR Der Band ist in vier Teile gegliedert. Im ersten Teil wird Vulnerabilität als Dimension von Beziehung und Bildung systematisch diskutiert. Im zweiten Teil geht es um eine historisch-kulturwissenschaftliche Rekonstruktion des Bildes vom »vulnerablen Kind« und um das Verständnis der transgenerationellen Bedeutung des Erzählens. Der dritte Teil ist den Zusammenhängen von sozialer Ungleichheit und Vulnerabilität gewidmet, wobei den Erfahrungen materiellen Mangels, von Stigmatisierung und Ausgrenzung besondere Bedeutung beigemessen wird. Im vierten Teil wird die leibliche Dimension von Vulnerabilität unter Bezug auf Sexualität und Gewalt beleuchtet. Der Band wird mit einem Beitrag des Frankfurter Erziehungswissenschaftlers und Moralphilosophen Micha Brumlik abgeschlossen. Auch mehrere Autorinnen des Bandes beziehen sich auf seine grundlegenden Schriften, insbesondere diejenigen zur Advokatorischen Ethik (Brumlik, 1992) und Gerechtigkeit zwischen den Generationen (Brumlik, 1995). Der Band, der auf den Beiträgen einer Fachtagung anlässlich der Emeritierung von Micha Brumlik basiert, ist nicht zuletzt als Würdigung von dessen Persönlichkeit und Werk zu verstehen. Indem der hier vorgestellte Band die Thematik der Vulnerabilität zur Akteursperspektive der heutigen sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung in Beziehung setzt, hebt er sich wohltuend von anderen Veröffentlichungen (nicht zuletzt in den Medien) zur Verletzlichkeit und Hilfsbedürftigkeit von Kindern ab. Er vermittelt profunde und differenzierte Einblicke in die sozialwissenschaftliche und psychologische Fachdiskussion, vor allem mit Blick auf pädagogische Fragestellungen und Herausforderungen. Namentlich der Beitrag von Vera King macht mit seiner präzise formulierten subjekt- und kulturtheoretischen Reflexion kindlicher Angewiesenheit auf Ältere und der Ambivalenzen in den Generationsbeziehungen auf bisher wenig bedachte Dimensionen des Themas Vulnerabilität aufmerksam. Oder in dem Beitrag von Sabine Andresen wird in gelungener Verbindung von kindheitstheoretischen Überlegungen und empirischen Befunden verdeutlicht, wie die Vulnerabilität von Kindern aufs engste durch prekäre Lebensverhältnisse und soziale Ungleichheit mit bedingt ist. Einzelne Beiträge, vor allem diejenigen zur Diskursanalyse und psychoanalytischen Zugängen machen es aufgrund des verwendeten Fachjargons den Leserinnen und Lesern, die nicht in diesen Fachgebieten zu Hause sind, gewiss nicht leicht, die Argumente nachzuvollziehen. Es lohnt aber allemal, sich auf sie einzulassen. Bei der Rede von »Subjektivierung« ist es z.B. unerlässlich, sich näher mit dem Subjektverständnis des französischen Philosophen Michel Foucault zu befassen. Bei der einfühlsamen Interpretation der Bilder des aus Kolumbien stammenden und in Paris lebenden Malers Fernando Botero gilt ähnliches für die teils kontroverse psychoanalytische Fachdiskussion zum Verständnis von Traumata, aber auch für die in postkolonialen Theorien angesprochene »epistemische Gewalt« westlicher Diskurse, auf die die Autorin nur knapp (aber immerhin) Bezug nimmt. An einigen Stellen des Bandes wird darauf hingewiesen, dass sich die Beiträge auf Kinder in den eher wohlhabenden Gesellschaften des globalen Nordens beziehen. Gleichwohl ist mitunter in generalisierender Weise von »Moderne« oder »modernen Konzepten« die Rede, ohne diese zu lokalisieren und zu spezifizieren. Zwar klingt in manchen Beiträgen an, dass die so bezeichneten Phänomene in sich widersprüchlich sind und sogar zu zusätzlichen Belastungen führen und zur Vulnerabilität von Kindern beitragen können. Aber es wird ausgespart, dass sie sich weitgehend der Kolonisierung und Ausbeutung »fremder« Erdteile und nachfolgenden postkolonialen Machtkonstellationen verdanken, von denen sie mit infiziert sind (z.B. in Migrationsprozessen oder dem Kampf von Unternehmen und Staaten um wirtschaftliche Standortvorteile). Hier wäre für die weitere Debatte und Forschung zur Vulnerabilität von Kindern wünschenswert, auch den Blick auf Gesellschaften und Kulturen im globalen Süden zu richten, in denen oft andere Problemkonstellationen vorliegen, aber auch andere Antworten als in Europa gefunden werden. Dabei wären auch die postkolonialen Machtkonstellationen mit zu bedenken, wie dies Heft 73/2016 Trendberichte 81 SLR 73.indb 81 29.11.2016 15:48:39 Heft 73/2016 SLR zumindest ansatzweise in dem Beitrag von Marianne Leutzinger-Bohleber zu den Bildern von Fernando Botero geschieht. Über den kritischen Beitrag von Magrit Stamm und Isabelle Halberkann zum populär gewordenen Konzept der Resilienz hinaus wäre auch wünschenswert gewesen, auf das Spannungsfeld genauer einzugehen, das zwischen den Polen von Resilienz und Verletzlichkeit angesiedelt ist. Des Weiteren hätten die gattungsethischen Fragen um die neuen gravierenden Formen von Verwundbarkeit, die etwa Jürgen Habermas (2001) in seiner Auseinandersetzung mit dem Siegeszug der Biotechnologien und der »liberalen Eugenik« aufwirft, mehr als nur einige Randbemerkungen verdient gehabt. Sie finden sich immerhin in den Beiträgen, die sich um die asymmetrischen Generationenverhältnisse drehen. Zu drei Beiträgen sehe ich mich veranlasst, ausdrücklich kritische Anmerkungen zu machen. Claus Koch setzt sich unter Bezug auf die sog. Bindungstheorie und darauf aufbauende empirische Studien (vornehmlich in den USA) zur Vulnerabilität im frühen Kindesalter mit aktuellen Programmen der institutionalisierten Früherziehung in Deutschland auseinander. Er warnt davor, die Kinder zu früh in Krippen zu betreuen, da sie durch die frühe und langdauernde Trennung von ihren Eltern (vor allem den Müttern) emotional massiv überfordert und damit in ihrer Persönlichkeitsentwicklung, z.B. im Erwerb der Fähigkeit zur Empathie, gefährdet würden. Auch wenn er durchaus der Qualität der Früherziehung (z.B. einem günstigen Betreuungsschlüssel) eine gewisse Bedeutung zumisst, kommt er doch letztlich zu einem pauschalen Urteil, das sich nur am Alter der Kinder orientiert. Der Autor hätte m.E. die konkrete Lebenssituation der Kinder, um die es geht, ebenso mit bedenken müssen, wie den politischen Kontext, in dem diese Debatte in Deutschland geführt wird. Da dies nicht geschieht, läuft der Beitrag Gefahr, von einer politischen Seite vereinnahmt zu werden, die ihrerseits auf einem obsolet gewordenes Mutterbild und entsprechenden Ideologien einer vermeintlich von der Natur vorgegebenen »heilen Gesellschaft« aufbaut (wie bei der Kampagne der CSU für das »Müttergeld«, in polemischer Kritik als »Herdprämie« bezeichnet). In dem Beitrag von Mechthild Wolff zur Heimerziehung als vulnerablem Lebensort für Kinder wird der Institution selbst Vulnerabilität attestiert (»Vulnerabilität der Institution Heim«). Ebenso wie es problematisch ist, von »lernenden Institutionen« zu sprechen und somit strukturelle Gebilde mit menschlichen Eigenschaften auszustatten, trägt die Wortwahl der Autorin dazu bei, die Institution Heim als Ganze entweder zu idealisieren oder zu verteufeln. Es wäre weiterführend (gewesen), sich mit unterschiedlich denkbaren Strukturen dieser Institution sowie der Stellung und den Interessen (sowie der Ausbildung und Haltung) des hier tätigen Fachpersonals auseinanderzusetzen und Alternativen aufzuzeigen, die den Bedürfnissen, Interessen und Rechten der hier betreuten Kinder gerecht werden (z.B. die Einrichtung unabhängiger Beschwerdestellen). Hinsichtlich dieser Fragen ist es noch immer lehrreich, sich auf die entsprechenden Erfahrungen und Vorschläge von Janusz Korczak (in Polen) oder Siegfried Bernfeld (in Österreich) in den 1920er Jahren einzulassen. Noch eine (etwas längere) Bemerkung zum Beitrag von Micha Brumlik. Der Autor sieht in der nicht-medizinisch indizierten Beschneidung der Penisvorhaut männlicher Säuglinge, wie sie in der jüdisch-religiösen (und muslimischen) Tradition verankert ist, einen schwer zu entscheidenden »Grenzfall« der von ihm auf Immanuel Kant zurückgeführten advokatorischen Ethik, aber letztlich gelangt er zu dem Schluss, sie verteidigen zu müssen. Brumliks Argumentation ist – wie immer in seinen Schriften – scharfsinnig, und er macht zu Recht auf oft mitspielende Ressentiments in der Debatte zum Thema aufmerksam. Aber bei seiner Verteidigung dieses – wie er selbst zugesteht – äußerst schmerzhaften Rituals macht er es sich zu leicht. Der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit von Kindern kann m.E. nicht, wie er vorgibt, damit gerechtfertigt werden, dass generell in Sozialisationspraktiken, wie wir sie bisher kennen, der Körper und die 82 SLR 73.indb 82 29.11.2016 15:48:39 SLR Psyche von Kindern von Anbeginn ihres Lebens »geprägt« wird, ohne dass sie eine Chance haben, sich ihnen zu widersetzen. Es widerspricht auch ethischen Überlegungen, den Eingriff damit zu rechtfertigen, dass er nur eine kleine Zahl von Kindern betrifft (lässt sich ein ethischer Grundsatz in utilitaristischer Manier relativieren?), langfristige Schäden nicht zweifelsfrei nachgewiesen seien (müsste nicht eher nachgewiesen werden, dass er keine Schäden verursacht?), oder dass seine Legalisierung durch den Deutschen Bundestag dem »Rechtsfrieden« gedient habe (auf wessen Kosten?). Gerade im Sinne einer advokatorischen Ethik wäre stattdessen darauf zu insistieren, solche Praktiken auf ein Minimum (insbesondere auf medizinische Notfälle) zu beschränken und sie immer wieder im Sinne des Freiheits- und Emanzipationsversprechens an die Kinder zu problematisieren. Zumal wenn der Gedanke der Kinderrechte und die Anerkennung von Kindern als Rechtssubjekte mit eigener Menschenwürde ernst genommen wird, sollte jegliche Form paternalistischer Machtausübung (selbst in ihren »weichsten« Varianten) als bleibendes Problem empfunden und, wo immer möglich, vermieden oder zurückgedrängt werden. Mit seinem Plädoyer für die Beschneidung von kleinen Jungen allein unter Bezug auf eine jahrtausendealte Tradition setzt sich Micha Brumlik über die selbst formulierten Kriterien einer advokatorischen Ethik hinweg. Allerdings müsste das Gleiche auch für andere Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit von Kindern gelten, die bisher weit weniger Aufmerksamkeit gefunden haben, wie die von Brumlik erwähnte operative Korrektur von »Segelohren« oder die operative »Vereindeutigung« des Geschlechts bei intersexuellen Kindern. Solche Eingriffe sollten ebenso wie die Beschneidung mindestens solange unterbleiben, bis Kinder in der Lage sind, ihren Willen zu bekunden und eine eigene Entscheidung zu treffen. In der Gesamtschau ist das Buch ein differenzierter und ausgewogener Beitrag zum Verständnis der Vulnerabilität von Kindern, ohne diese in Gegensatz zu der in der Kindheitsforschung favorisierten Akteursperspektive zu bringen. Auf eindrucksvolle Weise wird in den eher theoretisch akzentuierten Beiträgen die Balance zwischen anthropologischen und biologischen Gründen für die Angewiesenheit und Abhängigkeit der Kinder auf der einen Seite und den historisch variablen sozialen und kulturellen Gründen auf der anderen Seite gewahrt und transparent gemacht. Nicht alle Beiträge sind in gleicher Weise verständlich und überzeugend, aber insgesamt tragen sie dazu bei, einen tieferen Einblick in die verschiedenen Dimensionen der Verletzlichkeit von Kindern zu ermöglichen. Von besonderem Wert ist, dass die Frage der Vulnerabilität mit der Frage der Generationsdifferenzen und den darin eingelassenen Ungleichheiten, aber auch dem damit immer verbundenen Neubeginn in Beziehung gesetzt wird. Wenn die in dem Band versammelten Argumente ernst genommen würden, müsste sich insbesondere der bisher übliche paternalistische und bevormundende Kinderschutz in grundlegender Weise wandeln. Heft 73/2016 Trendberichte Ein ungewohnter Blick auf Kinderarbeit Die dominierenden Diskurse um Kinderarbeit und den Umgang mit ihr folgen ebenfalls paternalistischen Vorstellungen von Kinderschutz. Schon der Terminus »Kinderarbeit« ruft im Alltagsverständnis Entsetzen hervor, und dieses Entsetzen wird von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und manchen Kinderhilfsorganisationen in ihrem erklärten »Kampf gegen Kinderarbeit« immer wieder absichtlich geschürt (vgl. Liebel/Meade/Saadi, 2012). Dies macht ein offenes und differenziertes Verständnis der Arbeit von Kindern und der Bedeutung, die sie für diese ja nach Lebensumständen erlangt, nahezu unmöglich. In der Regel wird der Terminus Kinderarbeit in sehr allgemeiner Weise verwendet, der die spezifischen Bedeutungen, die mit dem englischen Terminus »Child Labour« verbunden werden, kaum beachtet. Darunter wird gemeinhin eine Arbeit von Kindern verstanden, die unter ausbeuterischen Bedingungen stattfindet und die den Kindern schadet. Der Terminus wurde in der Auseinandersetzung mit der 83 SLR 73.indb 83 29.11.2016 15:48:39 Heft 73/2016 SLR rücksichtslosen Verwertung der Arbeitskraft von Kindern während der Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise geprägt. Er steht heute im Zentrum der Politik der Internationalen Arbeitsorganisation. Diese zielt auf eine restlose Abschaffung jeder Art von Arbeit, die von Kindern unterhalb eines bestimmten Mindestalters (in der Regel 15 Jahre bzw. vor Ende der Schulpflicht) ausgeübt wird, insbesondere wenn sie dem Lebensunterhalt dient. In unabhängigen Forschungen zum Thema wird immer wieder darauf hingewiesen, dass dieser Verwendung des Terminus Child Labour und der darauf gründenden »abolitionistischen« Politik eine vereinfachende und ideologisierende Betrachtungsweise zugrunde liegt. Insbesondere wird angemahnt, zu beachten, dass die Arbeit von Kindern unter sehr verschiedenen Bedingungen stattfinden kann und nicht zwangsläufig negative Konsequenzen für Kinder haben muss. Um der Verschiedenheit der Bedingungen Rechnung zu tragen und der ausschließlich negativen Bewertung der Arbeit von Kindern, die mit dem Terminus Child Labour verknüpft ist, entgegenzuwirken, wird deshalb in der unabhängigen Forschung nahegelegt, anstelle in bloß abwertender Weise von »Child Labour« in nicht wertender Weise von »Child Work« oder »Children’s Work« zu sprechen (vgl. Bourdillon et al., 2010). Ein Problem des Diskurses und der Politik, die sich um die Termini Kinderarbeit oder Child Labour ranken, wird auch darin gesehen, dass sie auf einem Kindheitsbild basieren, das mit der westlich-bürgerlichen Gesellschaft entstanden und nicht ohne weiteres auf andere Gesellschaften und Kulturen übertragbar ist. Kennzeichnend für dieses Kindheitsbild ist, dass es die Kinder trotz gängiger Partizipationsrhetorik von der Mitwirkung und Verantwortung in wichtigen Lebensbereichen ausschließt und ihnen auferlegt, sich erst einmal der Schule zu widmen und sich dort auf den »Ernst des Lebens« vorbereiten zu lassen. Die Schule sei der »beste Arbeitsplatz der Kinder«, heißt es z.B. in einer Kampagne der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Im Rahmen des Kinderarbeits- und Child Labour-Diskurses wird Kindern, die arbeiten, deshalb auch häufig unterstellt, sie seien »Kinder ohne Kindheit«, statt sich zu fragen, ob nicht auch andere Kindheiten möglich und im Interesse der Kinder sein können. In indigenen Gemeinschaften ist es z.B. üblich, dass Kinder von frühem Alter an kommunitären Arbeiten beteiligt sind, ohne überfordert oder gar ausgebeutet zu werden. Arbeitende Kinder, die sich in vielen Ländern des globalen Südens in eigenen sozialen Bewegungen (»Kindergewerkschaften«) zusammengeschlossen haben, fordern ausdrücklich für sich ein Recht zu arbeiten. Dabei geht es ihnen nicht um jede Art von Arbeit, sondern um eine Arbeit, die ihre Menschenwürde wahrt, auf die Herstellung lebensnotwendiger Güter gerichtet ist, ihr Leben lebenswerter macht und ihrer persönlichen Entwicklung zugutekommt. Von manchen Forschern wird seit den 1990er-Jahren die These vertreten, im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung veränderten sich die Formen der Arbeit von Kindern in grundlegender Weise. An die Stelle von manueller Arbeit trete die »Schularbeit«, deren Funktion darin bestehe, »Humankapital« zu erzeugen. Die Kinder werden als Akteure verstanden, die selbst bereits eine produktive Rolle spielen und dafür auch Anerkennung finden und »entlohnt« werden müssten (vgl. Qvortrup, 2000). Diese Thesen bilden den Hintergrund des Buches Child Labour in Global Society des an der University of London tätigen Soziologen Paul Close. Wenn der Autor von Child Labour spricht, hat er in erster Linie die »Schularbeit« im Sinn – von ihm »educational labour« genannt. Er geht zwar am Rande auch auf Formen und Bereiche von Arbeit ein, die von Kindern außerhalb der Schule ausgeübt werden, und setzt sich mit den darauf bezogenen ILO-Konventionen auseinander, sieht aber keinen Anlass, sie genauer zu betrachten und eigens zu analysieren. Den Schulbesuch betrachtet er deshalb als Arbeit, weil hier die Kinder unter Bedingungen tätig sind, die industriellen Arbeitsplätzen gleichen. Sie seien hier in ein Zeit- und Disziplinarregime eingespannt, das ihnen keinen Raum für selbstbestimmtes Handeln lasse. Sie würden dazu benutzt und abgerichtet, das Funktionieren der kapitalistischen Gesellschaft und Produktionsweise zu gewährleisten. 84 SLR 73.indb 84 29.11.2016 15:48:39 SLR Der Autor geht sogar noch einen wesentlichen Schritt weiter, indem er die Schularbeit als eine moderne Form der Sklaverei bezeichnet. Dabei bezieht er sich auf den Umstand, dass der Schulbesuch in fast der gesamten Welt durch die Schulpflicht erzwungen und ihre Nichtbefolgung unter Strafe gestellt wird. Um die Gleichsetzung mit Sklaverei zu plausibilisieren, beruft sich der Autor auf eine Definition von Sklaverei, die den Sklaven oder die Sklavin nicht als persönlichen Besitz des Sklavenhalters, sondern als Objekt von dessen faktischer Macht, über sie beliebig zu verfügen, versteht. Der Autor spricht vom Schulsystem als einem »industriellen Komplex«, weil dieses systematisch nach dem Vorbild industrieller Massenproduktion ausgebaut werde. Dabei setzt er sich kritisch mit Ideologien auseinander, die die Verallgemeinerung des verpflichtenden Schulbesuchs als Recht und Chance zur »Bildung für Alle« legitimieren. Schließlich macht der Autor den Versuch, die Interessen zu identifizieren, die hinter der weltweiten Verbreitung des verpflichtenden Schulbesuchs stehen. In diesem Zusammenhang setzt er sich mit den Institutionen und Organisationen auseinander, die er »human rights industry« und »citizen-activist communities« nennt. Mit ihren Kampagnen für die Ausbreitung des Schulsystems als Entwicklungsinstrument, die unter dem irreführenden Motto des »Rechts auf Bildung« geführt würden, trügen sie dazu bei, die Kinder den Interessen der erwachsenen Machteliten verfügbar zu machen und ihnen die Freiheit zu rauben, die ihnen zusteht. An der UN-Kinderrechtskonvention kritisiert er, dass sie auf einem Verständnis von Kindheit aufbaue, wonach Kinder »von Natur aus« unreif, schutz- und entwicklungsbedürftig seien. Indem die Konvention das Recht auf Bildung zur Schulpflicht pervertiere (Art. 28, Abs. 1), verweigere sie den Kindern das Recht, Bürgerinnen und Bürger im vollen Wortsinne zu sein. Dieses Recht sieht der Autor nur dann gewährleistet, wenn die Kinder aus freiem Willen über ihre Arbeitskraft verfügen könnten und legalen Zugang zum »freien Arbeitsmarkt« fänden. Paul Close macht auf manche Aspekte des Themas Child Labour aufmerksam, die wenig beachtet oder gern unter den Tisch gekehrt werden. So etwa, dass die Schule, so wie sie heute beschaffen ist, frappant ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen ähnelt, in denen die Arbeitenden so gut wie machtlos sind und fast alles hinnehmen müssen, was von ihnen verlangt wird. Oder dass die Schulpflicht ein obrigkeitsstaatliches Relikt ist, das selbstbestimmtes Lernen unmöglich macht und mit dem sozialdemokratischen oder liberalen Versprechen auf Gleichheit der Bildungschancen lediglich geschönt wird. Sein Eintreten für eine Kindheit, die nicht länger dem Diktat erwachsener Machteliten unterworfen ist und ein Leben in Würde ermöglicht, ist überzeugend begründet und in seiner Verve kaum zu überbieten. Und doch führt das Buch auf Abwege. Schon sein Titel verspricht etwas, was es nicht einlöst. Das Thema Child Labour hat wesentlich mehr Facetten, als in dem Buch zur Sprache kommen, zumal wenn es, wie der Autor beansprucht, unter soziologischen Fragestellungen angegangen wird. Ihm fehlt nahezu vollständig ein Begriff von Arbeit, der über den Verkauf von Arbeitskraft auf dem sog. Arbeitsmarkt hinausgeht. Arbeit kann auf sehr verschiedene Weise verstanden werden. Aber immer gehört auch dazu, dass sie eine Voraussetzung des Lebens ist, nicht nur weil sie ein monetäres Einkommen ermöglicht, sondern mehr noch weil sie Güter und Dienstleistungen (»Gebrauchswerte«) hervorbringt, ohne die kein Mensch existieren könnte. In Closes Szenario scheint der Gipfel von Freiheit und Lebenssinn darin zu bestehen, dass ein Mensch seine Arbeitskraft frei verkaufen kann. In dem Umstand, dass Kinder daran gehindert werden, sieht er den Kern ihrer Unterdrückung. Sicher ist richtig, dass Arbeit schon lange nicht mehr nur als manuelle Arbeit verstanden werden kann, sondern Teil eines komplexen sozioökonomischen Zusammenhangs ist, zu dem auch Wissen und Bildung gehört. Aber daraus lässt sich nicht so gradlinig, wie es der Autor tut, ableiten, dass das Handeln der Kinder in der Schule mit Arbeit gleichzusetzen sei. Oder gar, dass Kinder in der globalisierten Welt nur noch arbeiten, indem sie in der Schule ihr eigenes Humankapital Heft 73/2016 Trendberichte 85 SLR 73.indb 85 29.11.2016 15:48:39 Heft 73/2016 SLR erzeugen. Nach wie vor gibt es Millionen von Kindern, die aus verschiedenen Gründen und unter sehr verschiedenen Bedingungen außerhalb der Schule einer Arbeit nachgehen. Nicht alle, aber die meisten werden auch in der Schule in Anspruch genommen (nicht wenige arbeiten sogar, um überhaupt eine Schule besuchen zu können), aber das, was ihnen in der Schule ermöglicht oder abverlangt wird, hat wenig mit der Arbeit und den Erfahrungen zu tun, die sie außerhalb der Schule machen oder in Zukunft machen werden. Nicht von ungefähr wird deshalb immer wieder darüber nachgedacht (und mitunter werden auch praktische Versuche unternommen), schulisches Lernen mit konkreten Arbeitserfahrungen zu verbinden (z.B. bei Kindern, die als »schulmüde« oder »schulungeeignet« gelten). Sehr ernst zu nehmen ist das Argument des Autors, dass die Schule mittels der Schulpflicht dazu benutzt wird, um Kinder von anderen, als »nicht sinnvoll« oder »nicht lernrelevant« geltenden Tätigkeiten abzuhalten, zumal solchen, die gemeinhin als Arbeit verstanden werden. So setzt etwa die International Labour Organisation ganz offen darauf, ihrem Ziel der »vollständigen Abschaffung der Kinderarbeit« mittels Durchsetzung der Schulpflicht und Ausweitung der Schulbesuchszeiten näher zu kommen. Auch hier ist zwar viel von Bildung die Rede, die den Kindern ermöglicht werden soll, aber faktisch wird die Schule als ein Instrument verstanden, das andere, als »nicht kindgemäß« geltende und der sozialen Kontrolle entzogene Tätigkeiten unmöglich machen soll. Dem Autor ist zuzustimmen, wenn er die Schule als eine Art Zwangsapparat versteht, in dem die Kinder fremden Zwecken verfügbar gemacht und einem Verhaltenstraining unterworfen werden, das sie zu fügsamen und vielseitig einsetzbaren »Arbeitnehmern« in einer kapitalistisch geprägten Ökonomie abrichtet. Aber das schulische Dasein der Kinder deshalb zu einer Form der Sklaverei zu erklären, schießt über das Ziel weit hinaus. Die Tatsache, zum Schulbesuch genötigt zu werden und in der Schule kaum Rechte und eigene Entscheidungsbefugnisse zu haben, macht Schüler noch lange nicht zu Sklaven. Eine solche Gleichsetzung führt ähnlich wie Gleichsetzung des Schulbesuchs mit Arbeit dazu, die tatsächlich in vielen Regionen der Erde (auch in Europa) weiterhin existierenden Formen von Sklaverei, Freiheitsberaubung und Unterdrückung zu verharmlosen. Die Argumentation des Autors ist eigentümlich deterministisch, wenn er aus den gegebenen Strukturen und Abhängigkeitsverhältnissen gradlinig den Schluss zieht, die darin eingebundenen Individuen seien ihnen vollständig unterworfen. Er scheint sich nicht vorstellen zu können, dass die dem schulischen Reglement ausgesetzten Kinder und Jugendlichen sich trotz kaum vorhandener Rechte auch eigene Handlungsräume bewahren und sich den erfahrenen Zumutungen widersetzen. Gewiss kommen sie nicht umhin, vieles in der Schule als »notwendiges Übel« hinzunehmen, aber ob das, was sie in der Schule lernen, immer oder nur dem entspricht, was sie lernen sollen, steht auf einem anderen Blatt. Statt die Schule als hermetischen Unterdrückungszusammenhang zu dämonisieren, scheint es mir vielversprechender, die Rechte der Kinder in der Schule und ihre Möglichkeiten zu erweitern, sich gegen Rechtsverletzungen und unzumutbare Anforderungen zu wehren. Besonders problematisch finde ich, dass der Autor die einzig befreiende Alternative für die bislang dem Schulzwang unterworfenen Kinder darin sieht, dem Arbeitsmarkt als »freie Lohnarbeiter« zur Verfügung zu stehen. Trotz mancher antikapitalistischer Pirouetten findet sich in dem Buch kein Gedanke an Lebens- und Arbeitsformen, die nicht-kapitalistischen Prinzipien folgen. Arbeitende Kinder und Jugendliche, die für sich das Recht fordern, unter würdigen Bedingungen arbeiten zu können, sind da bereits wesentlich weiter. Sie machen sich Gedanken über solidarische und nachhaltige Wirtschaftsformen und unternehmen sogar praktische Versuche, diese hervorzubringen, etwa wenn sie eigene Kooperativen gründen, in denen sie über ihre Arbeitsbedingungen und die herzustellenden Produkte selbst entscheiden. Zwar sind auch solche 86 SLR 73.indb 86 29.11.2016 15:48:39 SLR Formen des Wirtschaftens und Arbeitens nicht davor gefeit, von der kapitalistischen Ökonomie vereinnahmt zu werden – etwa wenn sich die Produzenten um Absatzmärkte für ihre Produkte bemühen – aber sie enthalten einen Anspruch, der sich nicht mit der bloßen Konkurrenz auf dem Arbeits- und Warenmarkt begnügt. Trotz bester Absichten schlägt sich der Autor selbst ein Schnippchen, indem er in einem abstrakten Freiheitsbegriff befangen bleibt, der sich Freiheit nur als Freiheit von Zwang, aber nicht als Wegweiser zu einem besseren und befriedigenderen Leben vorstellen kann. Das Buch vermittelt eine Reihe von bemerkenswerten Eindrücken, wie das durch die Schulplicht geprägte Schulleben für Kinder zur Qual werden und ihre Menschenwürde missachten kann, aber es verfehlt den im Titel formulierten Anspruch, ein tiefergreifendes und differenziertes Verständnis der Arbeit von Kindern in einer sich globalisierenden Welt zu vermitteln. Heft 73/2016 Trendberichte Kinderrechte als Fixstern der Pädagogik? Vor nunmehr fast 27 Jahren, am 20. November 1989, wurde die UN-Kinderrechtskonvention von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen. Mit ihr wurden erstmals Kinder als Subjekte eigenen Rechts in international verbindlicher Weise anerkannt. In der Kinderrechtskonvention sind politisch-zivile, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte in einem einzigen Menschenrechtsvertrag zusammengefasst, wobei hervorzuheben ist, dass neben Schutzund Förderrechten erstmals auch Partizipationsrechte verankert wurden. Die Konvention und drei inzwischen beschlossene Zusatzprotokolle haben weltweit ein Umdenken über die soziale Stellung von und den Umgang mit Kindern eingeleitet. Auch in Deutschland kamen seitdem einige rechtliche Regelungen zustande, die kinderrechtliche Vorgaben aufnehmen und Kindern zugutekommen, z.B. das im Bürgerlichen Gesetzbuch seit dem Jahr 2000 verankerte Recht auf »gewaltfreie Erziehung«. Aber noch immer sind die Kinderrechte nicht im Grundgesetz verankert und es fehlt an einem umfassenden Kinder- und Jugendgesetz, wie es in vielen anderen Ländern inzwischen existiert (vgl. Maywald, 2012; Liebel, 2015a). Zahlreiche Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO), die mit Kindern befasst sind, orientieren ihre Arbeit heute an den Kinderrechten und setzen sich in Netzwerken (z.B. der »National Coalition Deutschland«) für ihre Umsetzung ein. In Deutschland haben sie erreicht, dass seit November 2015 eine unabhängige Monitoringstelle beim Deutschen Institut für Menschenrechte überprüft, in wie weit staatliches Handeln den Maßgaben der UN-Kinderrechtskonvention entspricht. In einer Reihe von Kommunen sind Kinderinteressenvertretungen entstanden. Sie verfügen zwar nur selten über die notwendigen rechtlichen Kompetenzen (z.B. als Beschwerdeinstanz) und sind nur unzureichend materiell ausgestattet, aber sie beleben das Interesse an den Kinderrechten, nicht zuletzt bei Kindern und Jugendlichen selbst. In Deutschland wie in vielen anderen Ländern greifen Kinder und Jugendliche die ihnen in der Konvention verbürgten Rechte heute auf und machen sie zu ihrer eigenen Sache, teilweise auch in organisierter Weise. Mitunter formulieren sie sogar Rechte, die in der Konvention nicht vorgesehen sind, und fordern sie ein. Kaum jemand bestreitet heute noch, dass Kinderrechte gerade in pädagogischen Institutionen wie Schulen, Kindertagesstätten und Heimen mehr Beachtung finden müssen und dass sich professionelles pädagogisches Handeln stärker an ihnen orientieren muss. Aber in welcher Weise dies geschehen kann und vor allem welche Änderungen der Machtstrukturen in den pädagogischen Institutionen und Beziehungen dafür erforderlich sind, darüber besteht noch wenig Klarheit. Aber es wird immerhin mehr darüber nachgedacht und gestritten. Das von Luise Hartwig, Gerald Mennen und Christian Schrapper herausgegebene Buch Kinderrechte als Fixstern moderner Pädagogik? geht auf einen Kongress zurück, der im Herbst 2014 in Koblenz von der OUTLAW-Stiftung gemeinsam mit der Universität Koblenz-Landau und der 87 SLR 73.indb 87 29.11.2016 15:48:39 Heft 73/2016 SLR Fachhochschule Münster veranstaltet worden war. Die Stiftung verfolgt nach eigenem Bekunden das Ziel, »Projekte zu fördern und/oder entsprechende Maßnahmen selbst zu ergreifen, die die Rechte von Kindern und Jugendlichen in den Mittelpunkt stellen und publik machen« (Selbstdarstellung). Der größte Teil der Beiträge basiert auf Vorträgen des Kongresses. Mit dem blumigen Bezug zu »Fixsternen« im Titel des Buches wollen die Herausgeber*innen unterstreichen, dass sie die Kinderrechte – ähnlich wie die Fixsterne in früheren Zeiten für Seefahrer – als »Orientierungsmarken« für die pädagogische Arbeit verstehen. Allerdings müssten diese von den Pädagoginnen und Pädagogen »gekannt, eingeordnet und gedeutet werden«, um nicht »in Untiefen oder auf Klippen, die in ihrer Arbeit ebenfalls reichlich drohen« (S. 13) zu geraten. Mit der Publikation wird das Ziel verfolgt, »geeignete Wege zu identifizieren und zur Diskussion zu stellen, wie die Kinderrechte im alltäglichen Leben ebenso wie in aktuellen gesellschaftlichen und politischen Debatten mit Leben gefüllt werden können« (S. 17). Die insgesamt 29 Beiträge des Buches sind drei Hauptteilen zugeordnet, die jeweils mit »Grundlagen«, »Praxis« und »Perspektiven« überschrieben sind, und enden mit einem »Schlusskapitel«, in dem die Herausgeber*innen die Quintessenz der Beiträge resümieren und mit Vorschlägen für den künftigen Umgang mit Kinderrechten verbinden. Fast alle Beiträge beziehen sich auf die Bedeutung der Kinderrechte für die pädagogische Praxis im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe bzw. folgen sozialpädagogischen Fragestellungen (zu Kinderrechten in der Schule vgl. Prengel/ Winklhofer, 2014; Krappmann/Petry, 2016). Wie alle Sammelbände, die aus Beiträgen von Kongressen und Tagungen zusammengestellt werden, steht auch der vorliegende Band vor der Herausforderung, diese in einer strukturierten und gut lesbaren Form zu präsentieren. Die Unterteilung in Grundlagen, Praxis und Perspektiven klingt gut, wirft aber die Frage auf, in welcher Weise die eher grundsätzlichen und programmatischen Beiträge mit den Berichten aus der Praxis verbunden und aufeinander bezogen werden. Dies ist naturgemäß während eines Kongresses selbst kaum möglich, aber es ist anzunehmen, dass sie dort wechselseitig diskutiert worden sind. Eine solche Diskussion ist in dem Band selbst leider nicht nachzuvollziehen, zumal auch die Herausgeber*innen in ihrem Schlusskapitel auf eine entsprechende kritische Rückspiegelung verzichten. Stattdessen konzentrieren sie sich darauf, ihre eigene Sicht der Kinderrechte mit Blick auf die pädagogische Praxis darzustellen. In den Beiträgen wird nicht nur thematisch ein weiter Bogen gespannt, sondern sie unterscheiden sich auch in ihren Positionierungen und ihrer analytischen Qualität. Neben anspruchsvollen Reflexionen über den Sinngehalt der Kinderrechte und die Herausforderungen, die sich bei ihrer »Übersetzung« in der sozialpädagogischen Praxis stellen, finden sich distanzlose Erfahrungsberichte und programmatische Aussagen, die eher Glaubensbekenntnissen gleichen. Hier hätten die Herausgeber*innen eine Auswahl treffen oder die Darstellungen mit den Autorinnen und Autoren vor ihrer Veröffentlichung diskutieren und bearbeiten sollen. Denn es ist ein Unterschied, Vorträgen auf einem Kongress zuzuhören oder sie nachträglich in ihrer schriftlichen Fassung zu lesen. Die Entscheidung der Kongressveranstalter und der Herausgeber*innen, die Kinderrechte als »Fixstern« zu bezeichnen, legt den Eindruck nahe, dass sie der kritischen Reflektion der Kinderrechte selbst keine große Bedeutung beimaßen. Das Bild vom Fixstern ist auch schief, da es erstens mehrere davon gibt (und die Bezeichnung aus heutiger naturwissenschaftlicher Sicht auch unpräzise ist) und zweitens die Kinderrechte im Unterschied zu den Fixsternen keine Naturtatsache, sondern ein menschliches Produkt sind. Dieses ist nicht nur verschieden zu verstehen und zu interpretieren, sondern verdankt sich auch bestimmten historischen und soziopolitischen Konstellationen und ist für Änderungen und Weiterentwicklungen offen. Gerade die offenkundigen Schwierigkeiten, ihnen in verschiedenen pädagogischen Praxisfeldern gerecht zu werden, laden dazu ein, darüber nachzudenken, unter welchen Voraussetzungen die 88 SLR 73.indb 88 29.11.2016 15:48:39 SLR Kinderrechte entstanden und wie sie im Licht der Praxiserfahrungen zu kontextualisieren und nicht zuletzt weiterzuentwickeln sind. Ohne Zweifel finden sich in mehreren Beiträgen des Bandes (vor allem in den Beiträgen von Jörg Maywald, Hans Jürgen Schimke, Kay Biesel und Sabina Schutter) hierzu sehr bedenkenswerte Hinweise und Anregungen. Auch das Schlusskapitel der Herausgeber*innen mit seinen Hinweisen auf die »eigenständigen Perspektiven« von Mädchen und Jungen sowie das »Spannungsverhältnis« von Pädagogik, Erziehung und Recht enthält solche Anregungen. Trotz mehrfach zu findender Hinweise zur Notwendigkeit der Partizipation von Kindern bleibt allerdings in fast allen Beiträgen des Bandes unterbelichtet, wie sich je nach Lebensumständen die Kinderrechte aus der Sicht von Kindern darstellen und wie Kinder selbst sie in ihrem Interesse nutzen können. Diese Frage ist nicht zuletzt im Rahmen pädagogischer Institutionen und Beziehungen wichtig, wo sie in Widerspruch zu den »asymmetrischen« Machtverhältnissen geraten. Dieses Manko spiegelt sich auch darin, dass in einigen Beiträgen unbedacht (?) davon die Rede ist, die Kinder müssten »beteiligt werden«. Bei Unternehmen, die die Umwelt schädigen, mag eine solche Formulierung angebracht sein, um sie zur Kompensation dieser Schäden zu veranlassen, bei Kindern (und bei Menschen überhaupt) sollte Partizipation jedoch als ein Handeln eigenständiger Subjekte verstanden und entsprechend bezeichnet werden. Insgesamt gibt der Sammelband einen breiten Überblick über Versuche, das Handeln in verschiedenen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe an den Kinderrechten zu orientieren. Er vermittelt einige bedenkenswerte Grundlagen für die Reflexion der Praxis und zeigt mögliche Perspektiven auf. Der von den Herausgeber*innen formulierte Anspruch, »Praxis-Entwicklung und Theorie-Reflexion produktiv aufeinander zu beziehen« (S. 311), wird in dem Band selbst allerdings nur ansatzweise eingelöst. Heft 73/2016 Trendberichte Europa als Fixstern der Kinderrechte? Nach Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention hat es noch einige Jahre gedauert, bis auch der Europarat (Council of Europe) und die Europäische Union (EU) zu Akteuren der Kinderrechte geworden sind. Dem Europarat, der am 5. Mai 1949 von zunächst 10 westeuropäischen Staaten gegründet wurde, gehören derzeit 47 Staaten einschließlich der 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union an. Der Europarat ist vor allem ein Forum für Debatten über allgemeine europäische Fragen, er ist jedoch auch befugt, Konventionen zu beschließen, die für die Mitgliedsstaaten rechtsverbindlich sind. Dies gilt z.B. für die am 4. November 1950 beschlossene Europäische Menschenrechtskonvention, deren Einhaltung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte überwacht wird. Seit der Europarat im Jahr 2006 das Programm »Building a Europe for and with children« beschlossen hatte, hat er mehrere Erklärungen und Leitlinien zu Kinderrechten veröffentlicht. Sie kulminierten im Juli 2016 in dem Dokument »Strategie für die Rechte des Kindes (1916 – 2021)« mit den Schwerpunkten: gleiche Chancen für alle Kinder, Partizipation aller Kinder; ein Leben frei von Gewalt für alle Kinder, kinderfreundliche Justiz für alle Kinder und Rechte des Kindes in der digitalen Umgebung (http://www.coe.int/en/web/children/children-s-strategy; zur Kinderrechtspolitik des Europarats siehe auch Council of Europe, 2016; van Bueren, 2008). Die beiden wichtigsten gesetzlichen Grundlagen der Europäischen Union sind der Vertrag von Amsterdam (1997) und die Charta der Grundrechte vom 7. Dezember 2000, die seit dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags am 1. Dezember 2009 als eine Art europäische Verfassung gilt und für die EU-Staaten (mit eingeschränkter Geltung in Großbritannien und Polen, die Vorbehalte geltend gemacht hatten) rechtsverbindlich ist. Der Amsterdamer Vertrag widmet sich in drei Artikeln dem Kinderschutz, der Kinderarmut und sozialen Ausgrenzung sowie der 89 SLR 73.indb 89 29.11.2016 15:48:39 Heft 73/2016 SLR Diskriminierung von Kindern. Die Charta der Grundrechte betont im Unterschied zu den vorangegangenen EU-Verträgen die Anwendbarkeit von Grundrechten auf Kinder. Am wichtigsten ist der Artikel 24. Er verweist zwar nur in einer Fußnote auf die UN-Kinderrechtskonvention, aber der Text enthält Bezüge auf »das beste Interesse des Kindes« und sein Recht auf Partizipation. Obwohl der Artikel im ersten Absatz nur angibt, dass Kinder »ihre Sichtweisen frei ausdrücken können«, ohne dies als Recht anzuerkennen, bedeutet er einen Fortschritt gegenüber der bisher dominierenden Auffassung, dass Kinder nur schutzbedürftig seien. Absatz 2 geht sogar noch weiter, indem er nahelegt, die Interessen von Kindern in allen politischen Bereichen, die sie betreffen, zu berücksichtigen. (Eine solche oder ähnliche Verankerung der Kinderrechte steht im deutschen Grundgesetz bis heute aus.) Die Grundrechtecharta geht damit auch über die allgemeine Erwähnung von Kinderrechten in der Europäischen Konvention für Menschenrechte von 1950 hinaus. Am 4. Juli 2006 hatte die EU-Kommission erstmals »Überlegungen zu einer EUKinderrechtsstrategie« veröffentlicht. Damit wollte sie die kinderrechtsrelevanten Aktivitäten besser koordinieren und Kinderrechte stärker in die Politik der EU integrieren. Statt einer zusammenhängenden Strategie präsentierte die EU-Kommission allerdings am 15. Februar 2011 eine »Agenda für die Rechte des Kindes«, die sich auf Einzelmaßnahmen beschränkt, die in den nachfolgenden Jahren umgesetzt werden sollten. Dazu zählen: – die Justizsysteme in der EU kindgerechter zu gestalten; – spezielle Aktionen zum Schutz von schutzbedürftigen Kindern in der EU: Kinder in Armut, behinderte Kinder, Opfer von sexueller Ausbeutung und Menschenhandel, Asyl suchende Kinder, unbegleitete oder von ihren Eltern getrennt Kinder aus Drittstaaten, Roma-Kinder; Kinder ohne Schulabschluss und Schulabbrecher; Alarmsysteme für vermisste und entführte Kinder; Schutz von Kindern im virtuellen Raum; – Förderung und Schutz der Kinder außerhalb der EU: Bekämpfung der Gewalt gegen Kinder, Bekämpfung von Kinderarbeit, Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten, Ausrottung des Sextourismus mit Kindesmissbrauch, humanitäre Hilfe für Kinder in Not- und Krisensituationen; – Kindern Gelegenheit geben, ihre Meinung zu äußern und angehört zu werden (ohne konkrete Maßnahmen zu nennen; unter anderem dafür war in der »Mitteilung« der EU-Kommission von 2006 ein »Forum für die Rechte des Kindes« vorgesehen, das seitdem zwar mehrmals tagte, aber ohne je Kinder einzuladen); – Kinder besser und verständlicher über ihre Rechte informieren: auf dem Webportal EUROPA eine besondere Einstiegsseite für Kinder einrichten. Nach einer Bemerkung, dass mehr in die Kinder »investiert« werden müsse, endet die EUAgenda mit den aufmunternden Worten: »Alle Akteure müssen ihr Engagement erneuern, wenn die Vision von einer Welt Wirklichkeit werden soll, in der Kinder Kinder sein dürfen und in Sicherheit leben, spielen, lernen, ihr ganzes Potenzial entfalten und das Beste aus den sich bietenden Möglichkeiten machen können.« (http://ec.europa.eu/justice/policies/children/docs/ com_2011_60_de.pdf) In dem von Ingi Iusmen und Helen Stalford herausgegebenen Buch The EU as a Children’s Rights Actor wird eine kritische Bestandsaufnahme der bis dato beschlossenen Pläne und Maßnahmen der Europäischen Union zur Umsetzung der Kinderrechte innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen vorgenommen. Es handelt sich um einen Sammelband mit Beiträgen von Rechts- und Sozialwissenschaftler*innen sowie von Kinderrechtsaktivist*innen aus Großbritannien, Belgien und den Niederlanden. Die beiden Herausgeberinnen haben in den vergangenen Jahren zu Kinderrechten in verschiedenen Bereichen der EU-Politik Untersuchungen vorgelegt. Sie verfolgen mit dem Buch die Absicht, die EU-Politik zu Kinderrechten auf ihre Stärken und Schwächen 90 SLR 73.indb 90 29.11.2016 15:48:39 SLR aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und zu einer kohärenten Kinderrechtsstrategie und -praxis beizutragen. Die Kinderrechtspolitik der EU wird in den Beiträgen aus zwei miteinander verbundenen Perspektiven untersucht. Zum einen wird gefragt, wie der Schutz und die Förderung der Kinderrechte in den EU-Systemen (Politikansätze, Institutionen, Rechtsnormen und institutionelle Prozesse) verankert sind und verbessert werden könnten. Zum anderen werden die bisherigen Wirkungen der EU-Politik zu Kinderrechten hinsichtlich der Lebensverhältnisse und des Lebens von Kindern kritisch beleuchtet, sowohl auf EU-interner als auch auf externer Ebene. Im abschließenden zusammenfassenden Beitrag unterstreichen die beiden Herausgeberinnen die Notwendigkeit, über die »dekorative« Berufung auf Kinderrechte hinauszugehen und von »top down« zu »bottom up«-Ansätzen zu gelangen, in denen den Sichtweisen und Stimmen von Kindern als Teil der Zivilgesellschaft stärkere Beachtung geschenkt wird. Der Sammelband vermittelt einen zwar selektiven, aber vielfältigen Überblick über die Entwicklung und verschiedene Bereiche der EU-Kinderrechtspolitik. Dabei werden auch Bereiche (wie z.B. die Rekrutierung minderjähriger Fußballer aus dem globalen Süden) aufgegriffen, die sonst wenig Beachtung finden. Der Band erscheint zudem zu einem günstigen Zeitpunkt, da die im Jahr 2011 beschlossene EU-Agenda zu Kinderrechten im Jahr 2015 ausgelaufen ist und zur Überprüfung ansteht. Die Beiträge beziehen sich zwar allesamt auf die Kinderrechte, haben aber ein durchaus unterschiedliches Verständnis davon. In einigen Beiträgen – wie denen zur Kinderarbeit oder den Schutzrechten der Kinder – wird das »beste Interesse der Kinder« (im Deutschen amtlicherseits schlecht mit dem Ausdruck »Kindeswohl« übersetzt), eines der Leitprinzipien der UNKinderrechtskonvention, in paternalistischer Weise gedeutet, ohne den Sichtweisen der Kinder nennenswerte Beachtung zu schenken. Die international geführte Debatte um verschiedene Ansätze des Kinderschutzes wird nicht aufgegriffen. Insofern wird der Band auch der erklärten Intention der Herausgeberinnen, »bottom up«-Ansätzen in der EU-Kinderrechtsagenda zum Zuge zu verhelfen, nicht in allen Beiträgen entsprochen. In mancherlei Hinsicht hätte auch die Bewertung der EU-Kinderrechtspolitik kritischer ausfallen können. So wird kaum auf Widersprüche innerhalb der EU-Politik und ihre problematischen Folgen eingegangen. Es hätte z.B. eine Auseinandersetzung damit angestanden, dass die EUKommission bei ihren »external actions« als »ausschließliches Kriterium« für die anvisierten Maßnahmen die »Bedürftigkeit« der Kinder betont und damit ein eher paternalistisches Verständnis von Kinderrechten vertritt, das nicht die Subjektstellung der Kinder, sondern in erster Linie ihren Opferstatus und ihre Hilfsbedürftigkeit ins Auge fasst. Die von der EU-Kommission vorwiegend vertretene Perspektive ist die einer Helferin, die sich anderen überlegen dünkt und keinen Anlass sieht, über die möglicherweise problematischen Aspekte eigenen Handelns nachzudenken. So ist es gewiss kein Zufall, dass EU-intern fast nie die Frage auftaucht, ob die EU oder manche ihrer Mitgliedsstaaten mit ihrer Handels- und Fiskalpolitik selbst dazu beitragen, die Menschen- und Kinderrechte in anderen Ländern (auch in EU-Ländern wie z.B. Griechenland und Spanien) zu verletzen und damit die Probleme mit hervorzubringen, die mit der humanitären Hilfe gelindert werden sollen. Umso dringender ist, dass zivilgesellschaftliche Organisationen künftig bei der EU-Kinderrechtspolitik stärkeren Einfluss erlangen und dass vor allem endlich konkrete Schritte eingeleitet werden, die auch Kindern und Jugendlichen ermöglichen, in effektiver und bedeutungsvoller Weise an deren Konzipierung und Umsetzung mitzuwirken. Ein weiteres Problemfeld der EU-Menschenrechts- und Kinderrechtspolitik, auf das in dem Buch noch nicht eingegangen werden konnte, ist der Umgang mit den zahlreichen Flüchtlingen aus Syrien, Irak, Afghanistan und Eritrea sowie anderen afrikanischen Ländern, die in den letzten Jahren in der EU Schutz zu finden hofften, unter ihnen viele Kinder. Der am 18. März 2016 mit Heft 73/2016 Trendberichte 91 SLR 73.indb 91 29.11.2016 15:48:39 Heft 73/2016 SLR der Türkei hierzu abgeschlossene Deal setzt sich leichtfertig über grundlegende internationale Normen des Flüchtlings- und Asylrechts hinweg, worauf nicht nur die Menschenrechtsorganisation Pro-Asyl, sondern auch das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen deutlich hingewiesen hat. Auch die international verbürgten Menschenrechte der Kinder werden durch diesen Deal flagrant verletzt. Von der EU müsste deshalb nicht nur als Akteur für, sondern auch gegen Kinderrechte gesprochen werden. Nicht alle Beiträge sind in gleicher Weise überzeugend, doch insgesamt vermittelt das Buch profunde Einblicke in die verschiedenen Bereiche und Handlungsansätze der EU-Kinderrechtspolitik und regt dazu an, sich genauer mit ihr auseinanderzusetzen. Kinderrechte zwischen Verheißung und Ernüchterung Seit Annahme der Konvention über die Rechte des Kindes durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen sind zahlreiche Schriften entstanden, die sich mit Kinderrechten befassen. Darunter befinden sich einerseits Publikationen, die die Kinderrechtskonvention einem breiteren Publikum, zum Teil auch Kindern selbst, näher zu bringen versuchen. In diesen Schriften wird die wichtigste Herausforderung darin gesehen, die Grundgedanken der Kinderrechte in Gesellschaft und Politik zu verankern und ihre Umsetzung im täglichen Handeln zu befördern. Eine andere, eher wissenschaftliche Art von Publikationen setzt sich mit dem Entstehungsprozess der UNKinderrechtskonvention, den dabei wirksam gewordenen Einflüssen, ihrem Universalanspruch und ihrer Bedeutung als Teil des internationalen Systems der Menschenrechte auseinander. Neben Untersuchungen aus juristischer Perspektive, die sich z.B. mit der rechtlichen Interpretation und nationalstaatlichen Geltung der Konvention oder einzelner Artikel befassen, finden sich Studien, die die Konvention und die darauf sich berufende oder davon stimulierte Praxis von Staaten und nicht-staatlichen Akteuren aus soziologischer, philosophischer, ethischer oder historischer Perspektive beleuchten. Was bisher unzureichend konzipiert bleibt, ist eine interdisziplinäre Kinderrechtsforschung, die alle Aspekte der Kinderrechte mit der konkreten Lebenssituation von Kindern in verschiedenen Gesellschaften und Kulturen verbindet. Das Buch des britischen Sozialwissenschaftlers Brian Milne mit dem Titel Rights of the Child. 25 Years after the Adoption of the UN Convention lässt sich als Herausforderung für eine solche Forschung verstehen. Es handelt sich um die persönlich gehaltene Bilanz eines Forschers, der seit den 1980er-Jahren in den Entstehungsprozess der Kinderrechtskonvention involviert war und sich seitdem immer wieder an den Kinderrechtsdebatten in verschiedenen Teilen der Welt beteiligt hat. Der Autor hatte zum Zeitpunkt der Annahme der Konvention gemeinsam mit Judith Ennew ein Buch mit dem Titel The Next Generation. Lives of Third World Children (Ennew/Milne, 1990) veröffentlicht, in dem ein damals ungewöhnliches Bild von Kindern in der »Dritten Welt« gezeichnet worden war. Statt Mitleid einzufordern oder die Rettung dieser Kinder zu beschwören, wurde gefordert, ihnen mit Respekt zu begegnen und eine Sichtweise zu überwinden, die in den Kindern nur defizitäre und hilflose Wesen sieht. (Eine gekürzte Fassung des Buches war 1991 auch in deutscher Übersetzung erschienen [Ennew/Milne, 1991], allerdings war der vom Verlag gewählte Titel Kinder, die nicht Kind sein dürfen der mit dem Buch verfolgten Absicht alles andere als angemessen.) Um einen solchen Wandel zu fördern, plädierten Ennew und Milne für eine Perspektive, die die Kinder als Subjekte eigener Rechte anerkennt und ihnen Möglichkeiten eröffnet, an der Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse aktiv mitzuwirken. Die Notwendigkeit einer solchen Perspektive hatten sie mit konkreten Fallstudien aus 12 Ländern untermalt. Im dem nun erschienenen Buch wird dargestellt, was aus diesen Erwartungen und Hoffnungen geworden ist und inwieweit die UN-Kinderrechtskonvention dazu beigetragen hat. Es war als gemeinsame Bilanz der Entwicklung der Kinderrechte seit dem Erscheinen des früheren Buches 92 SLR 73.indb 92 29.11.2016 15:48:39 SLR konzipiert worden, doch der unerwartete Tod von Judith Ennew im Oktober 2013 zwang Brian Milne, es allein zum Abschluss zu bringen. Mit dem Buch will der Autor auch an das Leben und die Verdienste seiner Kollegin und früheren Lebensgefährtin als Forscherin und Kinderrechtsaktivistin erinnern. Judith Ennew hatte sich in ihren letzten Lebensjahren insbesondere für Kinder unterdrückter Minderheiten in Südostasien eingesetzt und hierzu die Kinderrechtsorganisation Knowing Children gegründet (vgl. Invernizzi et al., 2016). Der Autor konstatiert, dass die UN-Kinderrechtskonvention vielfach nur selektiv aufgegriffen und insbesondere die den Kindern in dieser Konvention erstmals zugebilligten Partizipationsrechte unzureichend beachtet und umgesetzt worden seien. Die »Bewegung« von einer Perspektive, die den Kindern »helfen« will, zu einer Perspektive, die die Rechte der Kinder achtet, sei »unvollendet« geblieben. Insbesondere eigenständige soziale Bewegungen von Kindern, die er am Beispiel der Bewegungen arbeitender Kinder veranschaulicht, seien in ihrer Bedeutung nicht genügend verstanden und kaum gehört und gefördert worden. Bei der Umsetzung der Kinderrechtskonvention sei meist von einem Kindheitsbild ausgegangen worden, das die Kinder als noch nicht ausreichend entwickelte Wesen betrachte und ihrer »Wohlfahrt« und ihrem »Schutz« mehr Beachtung schenke als ihrem Handlungsvermögen (Agency). Dabei seien zu wenig die konkreten Lebensverhältnisse der Kinder und die kulturspezifischen Eigenheiten kindlicher Entwicklung beachtet worden, die manche der »im Westen« als »normal« vorgestellte Entwicklungswege obsolet erscheinen lasse. Im weiteren Verlauf des Buches erinnert der Autor daran, dass die Kinderrechtskonvention ohne Beteiligung von Kindern zustande gekommen ist. Zwar würden inzwischen oft die »Stimmen der Kinder« beschworen und es gäbe auch mehr Events, bei denen Kinder zugegen seien, aber ihren Stimmen seien meist bloße Dekoration und sie hätten keine erkennbaren praktischen Auswirkungen auf die Entscheidungen der Erwachsenen. Des Weiteren setzt sich der Autor damit auseinander, dass Kinder oft mit bestimmten Ausdrücken bezeichnet werden, die den Eindruck erwecken, diese Kinder würden sich in ihrem Wesen von anderen Kindern unterscheiden. Dies führe zu Abstempelungen mit diskriminierenden Folgen. Judith Ennew hatte in diesem Zusammenhang den Ausdruck »children out of place« geprägt (vgl. Connolly/Ennew, 1996). Milne nennt als Beispiele die Rede von »Straßenkindern« und »Kindersoldaten«. Ihre Konstruktion zu Kindern »jenseits der Normalität« widerspreche dem Geist der Kinderrechtskonvention. Der Autor kritisiert, die mit der Kinderrechtskonvention entstandene »neue Sprache von Kinderrechten« sei inzwischen weitgehend zu leeren Formeln erstarrt. Sie ließen Kinderrechte als etwas erscheinen, das nur »top down« gehandhabt werden könne. Es gehe kaum noch darum, die Rechte mit dem Leben der Kinder zu verbinden, sondern ihr Leben an vermeintlich fraglosen Normen zu messen. Dies habe unter anderem zur Folge, dass die Kinderrechte den Kindern fremd bleiben und von ihnen nicht in Anspruch genommen werden. Der Autor bezweifelt, ob sich seit der 1924 vom Völkerbund beschlossenen Genfer Deklaration der Rechte des Kindes wirklich ein Verständnis von Kinderrechten als Rechte, die Kinder selbst in Anspruch nehmen können, durchgesetzt habe. Zwar würden in der UN-Konvention von 1989 die Kinderrechte nicht nur als Verpflichtungen von Staaten oder erwachsenen Menschen verstanden, sondern auch als subjektive Rechte der Kinder, doch in der Praxis sei es weitgehend dabei geblieben, Rechte als etwas zu verstehen, das Erwachsene zugunsten der Kinder handhaben. Es würde auch zu wenig beachtet, dass Kinderrechte nicht Sonderrechte für Kinder, sondern Menschenrechte seien, die auch und im Besonderen für Kinder gelten. Seine Antwort auf die Frage, was sich in den seinerzeit von ihm und Judith Ennew untersuchten Ländern inzwischen geändert habe, fällt zwiespältig aus. Manches im Leben der Kinder sei besser geworden, aber dies bleibe weit hinter den Hoffnungen und Erwartungen zurück, die er und seine Mitautorin damals gehabt hätten, und es sei ungewiss, ob die Verbesserungen dauerhaft Heft 73/2016 Trendberichte 93 SLR 73.indb 93 29.11.2016 15:48:39 Heft 73/2016 SLR seien. Am Ende des Buches betont er, das Projekt der Menschenrechte von Kindern müssen weiter verfolgt werden, aber sie müssten stärker als solche Rechte verstanden und ausgeweitet werden, die aus Kindern vollwertige und gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger werden ließen (»citizenship rights«). Außerdem müsse sich eine Forschung entwickeln, die sich an dem Recht der Kinder orientiere, mitzubestimmen, was und wie erforscht werden soll. Das Buch ist aus einer sehr persönlichen Perspektive geschrieben. Es ist aber nicht nur die subjektive Meinungsäußerung eines Autors, der sich mal eine Last von der Seele schreiben wollte, sondern basiert auf sehr genauen Kenntnissen der Kinderrechtsdiskussion und -praxis von mehr als 30 Jahren. Angesichts der Fülle an Einzelinformationen ist es nicht immer leicht, dem Autor zu folgen und den roten Faden des Buches im Auge zu behalten, aber dieser Nachteil wird mehr als wettgemacht durch eine sehr lebendige Darstellungsweise und scharfsinnige Argumentation. Einige Kritikpunkte seien angemerkt. Das Kapitel, in dem der Autor die früheren Fallstudien aktualisiert, bleibt im Vergleich zu den anderen Kapiteln eigentümlich blass und ist wohl nur dem Bemühen geschuldet, den Faden zum früheren Buch nicht abreißen zu lassen. Auch hätte ich mir gewünscht, dass der Autor genauer die Debatte um »objektive« und »subjektive« oder »Wohlfahrts-« und »Handlungsrechte« der Kinder aufgegriffen und kommentiert hätte. Schließlich finde ich es bedauerlich, dass der Autor die Geschichte der Kinderrechte erst mit der Genfer Deklaration der Rechte des Kindes beginnen lässt und nur kurz andere historische Beiträge streift, in denen schon früher ein klares Verständnis von Kinderrechten als subjektiv in Anspruch zu nehmenden Menschenrechten formuliert wurde. Es ist gewiss verdienstvoll, in der Dokumentation die von Janusz Korczak konzipierten Kinderrechte (vgl. Beiner, 2008; Liebel, 2013b) aufgenommen zu haben, aber es ist misslich, dass andere gleichermaßen wichtige Beiträge nicht einmal erwähnt werden. Dazu rechne ich insbesondere die Moskauer Deklaration der Rechte des Kindes, die zu Beginn der Russischen Revolution in den Jahren 1917/18 entstanden war (vgl. dazu Liebel, 2015b). Sie hat zwar ebenso wenig wie Korczaks Kinderrechte »Rechtskraft« erlangt und ist bald im Keller der Geschichte verschwunden, aber sie lässt ein Verständnis von Kinderrechten sichtbar werden, dass weit über all die Rechte hinausgeht, die in »offiziellen« Dokumenten seitdem verankert worden sind. Demgegenüber möchte ich ausdrücklich hervorheben, dass das Buch zahlreiche Einblicke in wenig bekannte Details der Kinderrechtsdebatte der letzten 25 Jahre vermittelt, z.B. die sich wandelnde Rolle von UNICEF, des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen, oder interne Kontroversen in den UN-Gremien um die Beteiligung von Kindern. Dem Buch ist deutlich anzumerken, dass der Autor über einen reichen Schatz von Erfahrungen in dem von ihm behandelten Gebiet besitzt. In ihm kommt ein Mensch zum Vorschein, der die vergangenen 30 Jahre als einen intensiven Lernprozess erfahren hat, an dem er die Leserinnen und Leser nun über das Buch teilhaben lässt. Sein Buch regt dazu an, sich Gedanken über die weitere Ausgestaltung der Menschenrechte von Kindern zu machen. Das Versprechen der Kinderrechte im Licht globaler Kindheiten Die soziale Kindheitsforschung hat seit den 1980er Jahren den Blick dafür geschärft, dass Kindheit nicht ein natürlicher Zustand, sondern eine historisch entstandene und sich immer wieder verändernde soziokulturelle Konstruktion ist. Sie hat auch darauf aufmerksam gemacht, dass das, was wir unter Kindheit verstehen, davon abhängt, aus welcher Perspektive sie betrachtet wird und von welchen Interessen diese Perspektive geleitet wird. Die Vorstellungen von Kindheit sind auch immer von normativen Maßstäben beeinflusst, was Kindern zusteht und für sie gut ist – und dies unterscheidet sich zum Teil beträchtlich in verschiedenen Weltregionen und Kulturen. 94 SLR 73.indb 94 29.11.2016 15:48:39 SLR Die heute dominierende und oft als universell propagierte Vorstellung von Kindheit ist mit der bürgerlichen Aufklärung in Europa entstanden. Sie besteht darin, Kindheit als eine Entwicklungsphase zu betrachten, die strikt von der Welt der Erwachsenen getrennt und als Schutz- und Schonraum konzipiert ist. Kindern wird ein gewisser Eigenraum zugestanden, in dem sie gleichsam auf Probe lernen sollen, ein »richtiger Erwachsener« und ggf. auch Staatsbürger zu werden. Die darin eingeschriebenen Elemente von Eigenständigkeit und Partizipation bleiben in der Regel auf »Kinderangelegenheiten« beschränkt und unterliegen der Kontrolle der Erwachsenen. Angesichts der großen Unterschiede zwischen den Lebensumständen und dem Selbstverständnis von Kindern in verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Regionen der Welt, stellt sich die Frage, ob von einer einzigen Kindheit oder ob eher von verschiedenen Kindheiten zu sprechen ist. Gelegentlich wird unter dem Eindruck wirtschaftlicher Globalisierungsprozesse und der Ausbreitung elektronischer Medien angenommen, es habe sich in jüngster Zeit eine Art globaler Kindheit herausgebildet. Zwar haben Kinder heute mehr als früher Möglichkeiten, Realitäten außerhalb ihres nahen Lebensumfeldes wahrzunehmen, aber die Rede von der globalen Kindheit verleitet leicht dazu, zu übersehen, dass sich in ihr vorwiegend das im globalen Norden favorisierte Kindheitsbild spiegelt. Das Leben von Kindern bleibt von der Globalisierung nicht unberührt, aber sie führt beileibe nicht dazu, dass alle Kinder der Welt sich in derselben Lebenssituation befinden und dieselbe Kindheit hätten. Die in Europa entstandene Vorstellung von Kindheit ist vielfach mit dem Anspruch verbunden, auch in anderen Teilen der Welt durchgesetzt zu werden. Der verbreitete Sprachgebrauch (z.B. von UNICEF), Kinder, deren Lebenssituation nicht dem europäischen Vorbild entspricht, als »Kinder ohne Kindheit« zu bezeichnen, kann dazu führen, dass deren Leben nicht angemessen wahrgenommen oder sogar ignoriert und herabgewürdigt wird. Die australischen Sozialforscherinnen Kate Cregan und Denise Cuthbert befassen sich in ihrem Buch Global Childhoods mit dem, was ein Globalisierungsprojekt von Kindheit genannt werden könnte. Dabei gehen sie der Frage nach, wie das in Europa entstandene »westliche« Kindheitskonzept in der Welt verbreitet wird und welche unvermeidlichen Fallstricke und Widersprüche damit verbunden sind. Da sie ihren Blick nicht auf das propagierte Ziel beschränken und dieses nicht unbesehen für bare Münze nehmen, sondern auch die tatsächlichen Lebensverhältnisse der Kinder in verschiedenen Teilen der Welt ins Auge fassen, kommen sie zu dem Ergebnis, nicht von einer einzigen, sondern von verschiedenen »globalen Kindheiten« zu sprechen. Beim Blick auf die verschiedenen Regionen der Erde unterscheiden sie zwischen dem »globalen Norden«, von dem das Globalisierungsprojekt von Kindheit seinen Ausgang nimmt, und dem »globalen Süden«, auf den sich das Projekt vornehmlich richtet und in dem darauf verschiedene Antworten gegeben werden. Die Unterscheidung ist nicht in einem geografischen, sondern in einem geopolitischen Sinn zu verstehen. Zum »Norden« werden vornehmlich Europa, Nordamerika und Australien gerechnet, zum »Süden« die sogenannten Entwicklungsländer in Afrika, Asien und Südamerika. Dazwischen ist eine wachsende Zahl von sogenannten Schwellenländern angesiedelt, z.B. Brasilien und China. Im ersten Teil des Buches werden grundlegende Ideen und theoretische Ansätze der Kindheitsforschung vorgestellt und diskutiert. Im zweiten Teil wird anhand von Fallstudien herausgearbeitet, welche Herausforderungen sich für eine kontextbezogene und kultursensible Kindheitsforschung ergeben. In beiden Teilen stehen das »westliche« Verständnis von Kindern und Kindheit und seine Ausbreitung in der Welt auf dem Prüfstand. Es wird als ein widersprüchliches Konstrukt identifiziert. Einerseits würden Kinder als »werdende Erwachsene« und Kindheit als »Entwicklungsphase« konzipiert (vornehmlich in Erziehung, Gesetzen und Medizin), andererseits als kompetente Akteure verstanden, die eng mit den je besonderen Lebensverhältnissen verknüpft seien und darin eine aktive Rolle spielen oder spielen sollen (vornehmlich in Soziologie, Anthro- Heft 73/2016 Trendberichte 95 SLR 73.indb 95 29.11.2016 15:48:39 Heft 73/2016 SLR pologie und Politikwissenschaft). Beide Varianten würden im Zuge der Globalisierungsprozesse zur vorherrschenden Denkweise über Kinder und Kindheit in der ganzen Welt, allerdings auch in verschiedenen Ländern und lokalen Praktiken mehr oder minder offen in Frage gestellt. In den Fallstudien wird u.a. unter Rückgriff auf historische Forschungen nachgezeichnet, unter welchen Voraussetzungen sich das heute dominante Verständnis von Kindern und Kindheit zwischen dem späten 17. und dem 20. Jahrhundert im westlichen Europa herausgebildet hat und über pädagogische Handlungsanleitungen und Institutionalisierungen popularisiert worden ist. Die Darstellung dient dazu, deutlich zu machen, in welche Fallstricke die Propagierung dieses Kindheitsverständnisses gerät, wenn die jeweils besonderen Lebensverhältnisse der Kinder nicht mit beachtet werden. Solche Fallstricke ergeben sich nach Ansicht der Autorinnen vor allem im globalen Süden. Die UN-Kinderrechtskonvention wird als Versuch diskutiert, auf globaler Ebene Normen für eine gute Kindheit festzuschreiben. Die Vorstellungen von Kindheit hätten sich von schutzbetonten zu partizipativen Konzepten verschoben, wobei die in Europa entstandenen Kindheitsmuster zum Vorbild gedient hätten. Die Debatten um die Kinderrechtskonvention zeigten, dass Spannungen zwischen ihrem universellen Anspruch und kultureller Diversität bestünden. Der normative Anspruch, ein »globales Kind« zu konstruieren, müsse vor allem im globalen Süden, in dem Grundfragen des Überlebens das Leben der Kinder bestimmen, erst noch beweisen, ob er angemessen und wirksam sei. Weitere Fallstudien befassen sich mit Familie, Schule und Arbeit als Orten, an denen sich während der Kindheit Identitäten oder – wie die Autorinnen unter Bezug auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu sagen – der Habitus herausbildet. Es wird gezeigt, dass ein Kindheitskonzept, das an den genannten Orten auf der Vorrangstellung von Erwachsenen aufbaut oder bestimmte Orte für Kinder ausschließt, in vielen Situationen – vor allem im globalen Süden – zu einer noch stärkeren Marginalisierung und Benachteiligung der Kinder führen kann und eine Kategorie von Kindern entstehen lässt, die fehl am Platz scheinen (ähnlich schon Katz, 2004). Eines der untersuchten Beispiele sind die sog. Child-Headed Households, die als Folge der HIV/ AIDS-Pandemie oder von Kriegen vor allem im südlichen Afrika zu finden sind. Sie erweisen sich für Kinder, die ihre Familie verloren haben, als die bessere Alternative gegenüber der Verpflanzung der Kinder in eine besondere Institution oder Pflegefamilien (vgl. Liebel, 2013a: 148 ff.). Ein anderes Beispiel sind arbeitende Kinder. Sie hätten trotz oft prekärer Arbeits- und Lebensbedingungen eine im üblichen Kindheitsmuster nicht vorgesehene Selbstständigkeit erreicht, die durch ihre Verpflanzung an vermeintlich »kindgemäße« Orte oder in eine hierarchisch bis autoritär strukturierte Schule verloren zu gehen drohe. Kindern, deren Habitus dem dominanten Kindheitsmuster nicht entspreche, würden auf diese Weise »verkindlicht« (»re-childed«). Die Autorinnen plädieren dafür, über das gewohnte Kindheitsmuster hinauszudenken und auch solche Orte für Kinder als legitim anzuerkennen, die darin nicht vorgesehen sind. Andere Fallstudien sind »Kategorien« von Kindern gewidmet, deren Leben als »unkindlich« (»unchildlike«) erscheint, z.B. »Kindersoldaten« und »Waisen«. Die Autorinnen demonstrieren, dass die gelebte Realität der so etikettierten Kinder wesentlich komplexer ist, als die polarisierten Darstellungen in den Medien, aber auch offizielle Definitionen von UN-Institutionen wie UNICEF und kinderrechtsbasierte Hilfsprogramme nahelegen. Sie plädieren dafür, auf solche Kategorisierungen zu verzichten und Hilfskonzepte zu überdenken, die die Kinder nur als Opfer von Katastrophen wahrnehmen und sie zu »retten« und »rehabilitieren« beanspruchen. Sehr kritisch setzen sie sich auch mit der Adoption von vermeintlichen Waisen aus dem Süden in den Norden auseinander. Sie sei ein Geschäft geworden, das den Eindruck nahelege, dass vielfach nicht die »Waisen« Adoption benötigen, sondern die Adoptionspraxis nach »Waisen« verlangt und sie sogar als solche erfindet. Stattdessen sollten Unterstützungsformen gefunden werden, 96 SLR 73.indb 96 29.11.2016 15:48:39 SLR die den Lebenskontext der Kinder beachten, ihre eigenen Sichtweisen, Interessen und Handlungskompetenzen respektieren und gemeinsam mit den Kindern vor Ort nach Lösungen suchen. In weiteren Fallstudien setzen sich die Autorinnen mit der nationalistischen Rhetorik auseinander, dass Kinder zentral für die Zukunft der Nation seien. Mit zahlreichen Beispielen aus dem globalen Norden und dem globalen Süden belegen sie, dass Kinder keineswegs in gleicher Weise durch den Staat geschätzt und geschützt, sondern vielfach diskriminiert, ausgegrenzt und misshandelt wurden und werden. Als Beispiele werden u.a. genannt: Indigene Kinder, die (z.B. in Australien oder Kanada) ihren Eltern weggenommen und forcierter Assimilierung unterworfen oder sterilisiert wurden. Oder Kinder, die bei der Gründung neuer Staaten (z.B. auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien) ihrer Staatsangehörigkeit beraubt und zu »Staatenlosen« gemacht wurden. Oder die willkürliche Adoption von Kindern, deren Mütter und Väter politisch verfolgt, zum »Verschwinden« gebracht und ermordet wurden (z.B. unter dem Militärregime in Argentinien). Ein weniger bekanntes Beispiel ist die Deportation von armen, elternlosen, ausgesetzten oder »auffällig« gewordenen Kindern aus dem britischen »Mutterland« in (ehemalige) Kolonien, wo sie als billige Arbeitskräfte schamlos ausgebeutet wurden; eine Praxis die in Großbritannien bis in die 1960er Jahre üblich war (vgl. Liebel, 2016). Für die heutige Zeit ließe sich die von europäischen Staaten praktizierte Deportation von Flüchtlingskindern oder die willkürliche Behandlung palästinensischer Kinder durch das israelische Besatzungsregime ergänzen. Die Autorinnen bezeichnen solche Praktiken als »politically motivated social engineering«, das einem Genozid, Ethnozid oder Ideozid, also einem rassistisch oder ideologisch motivierten Völkermord gleichkomme. In einem grundsätzlich angelegten Kapitel widmen sich die Autorinnen der komplexen Frage, welcher Wert Kindern beigemessen wird. Sie verstehen »Wert« in verschiedener Weise, von der Funktionalität oder Nützlichkeit im ökonomischen Sinn bis hin zur emotionalen, psychischen oder symbolischen Wertschätzung. Auf den ersten Blick scheint das dominierende »westliche« Verständnis von Kindheit eine Bewertung von Kindern nicht einzuschließen, aber bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass Kinder sehr wohl auch einer wirtschaftlichen Bewertung unterliegen, die in der Regel auf den Wert und den Vorteil, den Kinder für Erwachsene erbringen, bezogen ist. Dies wird z.B. offensichtlich, wenn Versicherungen abgeschlossen werden, eine Adoption geplant ist, oder wenn, wie es heute üblich ist, der Sinn schulischer Bildung darin gesehen wird, »Humankapital« hervorzubringen. Unter Bezug auf die zuerst 1985 erschienene, bahnbrechende Studie der US-amerikanischen Soziologin Viviana Zelizer mit dem Titel Pricing the Priceless Child. The Changing Social Value of Children (Zelizer, 1994) machen die Autorinnen darauf aufmerksam, dass der Kindern beigemessene Wert sich im Laufe der Geschichte verändert hat und sich in verschiedenen Kulturen unterscheidet. Er gilt auch in derselben Gesellschaft nicht für alle Kinder in gleicher Weise, sondern wird oft davon abhängig gemacht, welches Geschlecht Kinder haben, aus welcher Klasse oder Ethnie sie stammen oder welchen staatsbürgerlichen Status sie haben. Die Autorinnen plädieren deshalb für eine »holistische« Betrachtungsweise, in der die Frage des Werts von Kindern im jeweiligen sozialen und kulturellen Kontext reflektiert und mit der Frage verbunden wird, welche Interessen sich in der Bewertung von Kindern niederschlagen. Abschließend richten die Autorinnen den Blick auf die Veränderungen, die sich heute in den Konzeptionen von Kindheit und dem Umgang mit Kindern oder der Nachwuchsplanung abzeichnen. Sie untersuchen die bisher schon erkennbaren Auswirkungen biomedizinischer Technologien, die es ermöglichen, bereits vor der Geburt das Geschlecht oder andere Eigenschaften des erwarteten Kindes zu erkennen oder sich ein Kind durch eine Samenspende oder mittels »Leihmüttern« erzeugen zu lassen. Die Autorinnen machen auf die Folgen aufmerksam, die diese Praktiken für das Verständnis von Familie und Verwandtschaft und vor allem für die zukünftige Identität der auf diese Weise entstandenen Kinder haben kann. Zu Beginn des 20. Heft 73/2016 Trendberichte 97 SLR 73.indb 97 29.11.2016 15:48:40 Heft 73/2016 SLR Jahrhunderts hatte die schwedische Frauen- und Kinderrechtsaktivistin Ellen Key in ihrem weltberühmten Buch Das Jahrhundert des Kindes (deutsche Neuausgabe Key, 2000) ein Recht des Kindes proklamiert, seine Eltern zu wählen. Sie wollte mit diesem paradox erscheinenden Recht Kindern ein Leben in Armut und Krankheit ersparen. Unter dem Eindruck der damals verbreiteten Denkströmung der Eugenik verstand sie dieses Recht als Aufforderung an den Staat, die Erzeugung von Kindern nur Eltern zu gestatten, die »gesund« sind und in verantwortlicher Weise für das Kind sorgen können. Ohne sich auf das historische Beispiel von Ellen Key zu beziehen, bringen auch die Autorinnen des hier vorgestellten Buches die Zukunft der Kinder mit den Rechten in Verbindung, »wählen« und »wissen« zu können. Sie verstehen diese Rechte aber nicht als eine Pflicht zur Kontrolle der Elternschaft, sondern als Recht der Kinder, in ihrem (späteren) Leben die Freiheit zu haben, über ihr Geschlecht (Gender) entscheiden zu können, und zu erfahren, wer ihre Erzeuger waren. Die Autorinnen betonen die Pflicht des Staates und der internationalen Gemeinschaft, die möglichen Folgen der neuen biomedizinischen Technologien zu bedenken und rechtliche Regelungen zu treffen, die Kinder davor bewahren, zum Spielball biotechnischer Willkür zu werden. Vor allem halten sie es für wichtig, dem Trend zum »Perfektionismus« beim »biomedizinischen Management von Kindern« Schranken zu setzen. Mit Blick auf den Medizintourismus, der sich z.B. die materielle Not indischer Frauen zunutze macht, die sich um des Überlebens willen als Leihmütter zur Verfügung stellen, plädieren sie dafür, die Rechte und Würde dieser Frauen ebenso zu wahren wie die der Kinder, die auf diese Weise zur Welt kommen. Wer sich heute mit Kindern und Kindheit(en) in der Welt befasst, kommt an der UN-Kinderrechtskonvention nicht vorbei. Dieses völkerrechtliche Übereinkommen ist nicht nur der Kulminationspunkt eines Prozesses, der mit der Erfindung der Menschenrechte in der europäischen Aufklärung begann. Es hat auch die seitdem weltweit geführten Debatten um das, was kindgemäß ist und Kindern zusteht, entscheidend geprägt. In diesen Debatten wird die Kinderrechtskonvention keineswegs einhellig begrüßt. Neben denen, die Kinderrechte überhaupt in Zweifel ziehen, weil Kinder keine zum rationalen Denken fähige Menschen seien, werden selbst von den Kinderrechtsbefürwortern mindestens zwei gegensätzliche Positionen vertreten. Während die einen die Kinderrechtskonvention als »Meilenstein« (UNICEF) auf dem Weg zu einer besseren Kindheit betrachten und nur noch ihre mangelnde Umsetzung beklagen, sehen die anderen in ihr ein imperiales eurozentrisches Projekt, mit dem die »westlichen« Vorstellungen von Kindheit ungeachtet kultureller Diversität »globalisiert« und dem »Rest der Welt« aufgedrängt werden. Kate Cregan und Denise Cuthbert fordern mit ihrem Buch dazu heraus, über diese kontroversen Positionen hinauszugehen und zu einer differenzierteren Beurteilung zu gelangen. Sie lassen keinen Zweifel, dass das mit der Kinderrechtskonvention transportierte Kindheitsbild westlichen Ursprungs ist und mit dazu beiträgt, Kindheiten zu missachten und fehl zu deuten, die diesem Bild nicht entsprechen, aber sie erkennen auch an, dass die Konvention für die Nöte und Interessen von Kindern, die bislang wenig Beachtung fanden und auf die wenig Rücksicht genommen wurde, sensibilisiert hat. Vermutlich wären die von Staaten zu verantwortenden Verbrechen an Kindern, über die im Buch detailliert berichtet wird, durch das pure Vorhandensein der Konvention nicht verhindert worden, aber mit der Konvention ist ein rechtliches Instrument entstanden, das solche Verbrechen wirkungsvoller anzuklagen und zu bekämpfen erlaubt. Gewiss ist es nicht immer leicht, den roten Faden im Auge zu behalten, von dem sich die beiden Autorinnen leiten lassen. Es fehlt eine konzise Einleitung und ein resümierendes Schlusskapitel, wo die Quintessenzen des Buches hätten verdeutlicht werden können. Auch ist es mitunter verwirrend, wenn die Autorinnen Begriffe verwenden – wie »entwickelte« oder »Entwicklungsländer« oder »Modernisierung« – die mit ihren Grundgedanken eigentlich nicht kompatibel sind und zumindest in ihrer Problematik hätten gekennzeichnet werden sollen. Aber wer sich die Mühe 98 SLR 73.indb 98 29.11.2016 15:48:40 SLR macht, das Buch aufmerksam zu lesen (die jedem Kapitel vorangestellten wesentlichen Thesen sind dabei hilfreich), kann durchaus erkennen, worum es den beiden Autorinnen vorwiegend geht. Mit der scheinbar paradoxen, als Buchtitel gewählten Formulierung Globale Kindheiten bringen sie zum Ausdruck, dass das Leben von Kindern in verschiedenen Regionen und Kulturen der Welt nicht mehr unabhängig voneinander betrachtet, aber auch nicht an dem westlichen Kindheitsbild als einzigem Maßstab gemessen und beurteilt werden kann. Wo dies geschieht, geraten Kindheiten im globalen Süden in die Gefahr, durch den globalen Norden auch noch nach dem Ende der Kolonialherrschaft weiterhin kolonisiert, ausgegrenzt und unterdrückt zu werden. Der Maßstab für den weltweiten Umgang mit Kindern, für den die Autorinnen plädieren, gleicht demjenigen, den der polnisch-jüdische Kinderarzt und Pädagoge Janusz Korczak bereits vor nunmehr hundert Jahren aufgestellt hat. Alle Kinder, ungeachtet ihres Alters, ihres Geschlechts, ihrer sozialen, kulturellen und regionalen Herkunft, ihrer Hautfarbe oder ihrer persönlichen Eigenheiten sind als vollwertige Menschen anzuerkennen, ihnen ist mit Respekt zu begegnen und ihre Menschenwürde ist zu achten. Dies heißt auch, für eine Welt einzutreten, die allen Kindern ermöglicht, ein menschenwürdiges Leben zu führen und sich überall dort einzumischen und Gehör zu finden, wo ihre Gegenwart und Zukunft auf dem Spiel steht. Dies hat, wie Kate Cregan und Denise Cuthbert in ihrem Buch unterstreichen, auch Konsequenzen für den Umgang mit der UN-Kinderrechtskonvention. Sie sollte nicht als eine Art Bibel betrachtet werden, die über jede Kritik erhaben ist und auf jede Frage in jedem Teil der Welt eine Antwort bereithält, sondern als ein in einer bestimmten historischen Situation entstandenes völkerrechtliches Dokument, das der ständigen Korrektur und Weiterentwicklung bedarf. Ein solches Verständnis von Kinderrechten geht auch über die verbreitete Auffassung hinaus, die staatlichen Autoritäten seien der Nabel der Welt. Solange die Welt nach Staaten geordnet ist, haben diese eine besondere Verantwortung für das Wohlbefinden der Kinder, die in ihrem Einflussbereich leben. Aber diese Verantwortung kommt erst zum Tragen, wenn es auch den Kindern selbst möglich ist, ihre Rechte zu gebrauchen und sie einzufordern, wo immer sie verletzt werden. Heft 73/2016 Trendberichte Perspektiven einer kritischen Kinderrechtsforschung Solchen Maximen folgen auch Forschungsansätze zu Kinderrechten, die sich seit der Jahrtausendwende herausgebildet haben (vgl. Güthoff/Sünker, 2001; Liebel, 2012; Hanson/Nieuwenhuys, 2013). Bisher gab es zwar eine weitverzweigte und theoretisch fundierte Kindheitsforschung und Menschenrechtsforschung, aber über das, was eine spezifische Forschung zu Kinderrechten sein könnte, worin ihre konkreten Aufgaben bestehen und auf welchen theoretischen Grundlagen sie fußen sollte, bestand lange keine Klarheit. Insofern Kinderrechte als Menschenrechte verstanden werden, steht die Kinderrechtsforschung vor der Herausforderung sowohl an die Kindheitsforschung als auch an die Menschenrechtsforschung anschlussfähig zu sein und mit ihr verzahnt zu werden. Mit dem kürzlich von dem belgischen Rechtswissenschaftler Wouter Vandenhole und Mitarbeiter*innen herausgegebenen Routledge International Handbook of Children’s Rights Studies liegt erstmals eine Publikation vor, die einen weitgespannten Überblick über die möglichen Leitlinien, Aufgaben und Gebiete einer kritisch verstandenen Kinderrechtsforschung vermittelt. Das Handbuch ist im Umfeld des Children’s Rights European Academic Network (CREAN) [vormals European Network of Masters in Children’s Rights (ENMCR)] entstanden, zu dessen Mitgründern und Mitstreitern in Deutschland der weiterbildende Masterstudiengang »Childhood Studies and Children’s Rights« gehört. Dieser wird seit 2007 an der Freien Universität Berlin und ab dem Wintersemester 2016/17 an der Fachhochschule Potsdam angeboten. 99 SLR 73.indb 99 29.11.2016 15:48:40 Heft 73/2016 SLR Die Herausgabe des Handbuchs wird damit begründet, »that ›something seems to be going on‹ in children’s rights scholarship. Several scholars have recently proposed new conceptualizations of children’s rights that reflect a shift from a top-down understanding towards a bottom-up approach of children’s rights. What unites these perspectives is their ›contextual orientation‹ that criticizes dominant paradigms in children’s rights research« (S. XV). Dieses noch immer dominante Paradigma wird darin gesehen, dass es ein objektives Set von Zielen postuliere, die in jedem Kontext anwendbar seien, und dass die UN-Kinderrechtskonvention als der einzige Bezugspunkt und Maßstab herangezogen werde. Ein solcher Ansatz sei blind für die sozialen, ökonomischen und historischen Kontexte, in denen die Kinder aufwachsen, und beachte nicht hinreichend die Verschiedenheit von Interpretationen und Bedeutungen, die Kinderrechte haben könnten. Um Alternativen sichtbar zu machen, verbindet das Handbuch verschiedene disziplinäre Zugänge und Themen mit einem kritischen Ansatz, der die Kinderrechte in verschiedenen sozialen und kulturellen Kontexten beleuchtet und den Fokus auf die in ihnen angelegten Spannungen, Potentiale und Grenzen richtet. Das Handbuch umfasst zwei große Teile. Im ersten Teil werden die Kinderrechte aus der Perspektive verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen und Forschungsgebiete beleuchtet. Hierzu wird unter anderem auf Rechtswissenschaft, Soziologie, Erziehungswissenschaft, Geschichtswissenschaft, Sozialarbeit, Geographie, Anthropologie, Gender Studies und Citizenship Studies Bezug genommen. Die daraus resultierende Herangehensweise ist eher multidisziplinär als interdisziplinär zu nennen und erfordert von den Nutzerinnen und Nutzern des Handbuchs, die verschiedenen Zugänge zusammen zu denken und selbst aufeinander zu beziehen. Im zweiten Teil werden ausgewählte Themen an den Schnittflächen des Globalen und Lokalen betrachtet. Zu den diskutierten Themen gehören die Partizipation von Kindern, die Beziehung von Kinderrechten zu Fragen der Bildung, Gesundheit, Gewalt, Armut, Migration oder der Ausbeutung der natürlichen Lebensgrundlagen. Spezielle Kapitel sind arbeitenden Kindern, indigenen Kindern, der Genitalverstümmelung von Mädchen und alternativen Formen der Kinderbetreuung (alternative care) gewidmet. Im Schlusskapitel werden die Grundlinien einer kritischen Kinderrechtsforschung umrissen. Von einem Handbuch ist nicht zu erwarten, dass es alle wichtigen Themen und denkbaren Sichtweisen behandelt oder dass die insgesamt 27 Autorinnen und Autoren zu denselben Schlüssen gelangen. Die vorgenommene Auswahl ist jedenfalls plausibel und vermittelt einen plastischen Eindruck, wofür eine sich als kritisch verstehende Kinderrechtsforschung gut sein kann. Sie lässt sichtbar werden, dass es dabei vor allem um die Untersuchung und Erklärung der Entstehungszusammenhänge, Begründungen, Manifestationen (Kodifizierungen), Umsetzungsund Wirkungsbedingungen, Bedingungen und Möglichkeiten der Weiterentwicklung, sowie der Rezeptionsweisen der Kinderrechte und ihrer Bedeutungen für Kinder geht. Abschließend seien einige Perspektiven benannt, die sich aus den im Handbuch präsentierten Überlegungen für die Kinderrechtsforschung ergeben (könnten). Sie sollte sich stärker als bisher der Frage widmen, was Kinderrechte für Kinder bedeuten und wie sich Kinder ihre Rechte aneignen und sie selbst praktizieren können. Dies erfordert ein kontextspezifisches Verständnis der Kinderrechte und eine situations- und lokalspezifische Reflexion ihrer praktischen Umsetzung. Es wäre stärker der Gedanke aufzunehmen, Rechte als einen Beitrag zur Stärkung des Individuums bzw. von Kollektiven zu verstehen, als einer Art zusätzlicher Begründung z.B. bei der Kritik an Ungleichheit (»Ungerechtigkeit«) des Zugangs zu gesellschaftlichen Ressourcen oder der unzureichenden Erfüllung staatlicher Verpflichtungen, z.B. im Fall selektiver Bildungssysteme, Kinderarmut oder der Exklusion von »Behinderten« und »Minderheiten«. 100 SLR 73.indb 100 29.11.2016 15:48:40 SLR Kinderrechte können ebenso wenig wie Menschenrechte allgemein nur als kodifizierte Rechte (im Sinne des positiven Rechts) verstanden werden, sie bestehen also nicht nur aus den Setzungen der UN-Kinderrechtskonvention. Deshalb ist es notwendig, auch die ethischen und moralischen Dimensionen von Rechten oder »ungeschriebene Rechte« (Ennew, 2002) in die Betrachtung einzubeziehen und Kinderrechte immer als work in progress zu verstehen (dafür bürgert sich im Englischen der Ausdruck »living rights« ein; vgl. Hanson/Nieuwenhuys, 2013). Kinderrechte sind ebenso wie Menschenrechte das Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen und Prozesse und somit immer veränderbar und verschieden interpretierbar. Bei Kinderrechten ist auch die Phantasie gefragt, sich Rechte als Schöpfung der Kinder vorzustellen, auch wenn Kinder im formalen Sinn Recht weder »setzen« noch »sprechen« können (aber auch das könnte sich ja mal ändern). Ebenso ist im Sinne einer kritischen Rechtstheorie zu bedenken, dass formal gleiche Rechte unterschiedliche Bedeutungen und Wirkungen haben können, je nach sozioökonomischer Position und soziokultureller Verortung der Rechtssubjekte, und dass ihnen sogar eine ideologische Funktion zukommen kann im Sinne der Verschleierung ungleicher, strukturell bedingter Machtverhältnisse bei vermeintlicher »Gleichheit vor dem Gesetz« oder angesichts des »Rechts auf Partizipation«. In einer solchen Perspektive könnte sich das kritische und auf soziale Transformation gerichtete Potential der Kinderrechtsforschung erweisen. Heft 73/2016 Trendberichte Literatur Beiner, F., 2008: Was Kindern zusteht. Janusz Korczaks Pädagogik der Achtung. Gütersloh Bourdillon, M./Levison, D./Myers, W./White, B., 2010: Rights and wrongs of children’s work. Brunswick/ London Brumlik, M., 1992: Advokatorische Ethik. Zur Legitimation pädagogischer Eingriffe. Bielefeld Brumlik, M., 1995: Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Berlin Connolly, M./Ennew, J., 1996: Introduction: Children out of place. In: Childhood, 3(2): 131-147 Council of Europe, 2016: The best interests of the child – A dialogue between theory and practice. Straßburg Ennew, J./Milne, B., 1990: The Next Generation. Lives of Third World Children. Philadelphia Ennew, J./Milne, B., 1991: Kinder, die nicht Kind sein dürfen. Leben und Überleben in der Dritten Welt. München Ennew, J., 2002: Outside Childhood: Street Children’s Rights. In: Bob Franklin (ed.): The New Handbook of Children’s Rights. London: Routledge: 201-215 Güthoff, F./Sünker, H. (Hrsg.), 2001: Handbuch Kinderrechte. Partizipation, Kinderpolitik, Kinderkultur. Münster Habermas, J., 2001: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zur liberalen Eugenik? Frankfurt/M. Hanson, K./Nieuwenhuys, O. (Hrsg.), 2013: Reconceptualizing Children’s Rights in International Development: Living Rights, Social Justice, Translations. Cambridge Invernizzi, A./Liebel, M./Milne, B./Budde, R. (Hrsg.), 2016: Children out of Place and Human Rights. In Memory of Judith Ennew. Cham et al. Katz, C., 2004: Growing Up Global: Economic restructuring and children’s everyday lives. Minneapolis Key, E., 2000: Das Jahrhundert des Kindes. Neu herausgegeben mit einem Nachwort von U. Herrmann. Weinheim/Basel Krappmann, L./Petry, C. (Hrsg.), 2016: Worauf Kinder und Jugendliche ein Recht haben. Kinderrechte, Demokratie und Schule. Ein Manifest. Schwalbach/Ts. Liebel, M., 2012, with contributions by K. Hanson, I. Saadi, and W. Vandenhole: Children’s Rights from Below: Cross-cultural Perspectives. Basingstoke Liebel, M., 2013a: Kinder und Gerechtigkeit. Über Kinderrechte neu nachdenken. Weinheim/Basel Liebel, M. (Hrsg.), 2013b: Janusz Korczak – Pionier der Kinderrechte. Ein internationales Symposium. Berlin/ Münster Liebel, M., 2015a: Kinderinteressen. Zwischen Paternalismus und Partizipation. Weinheim/Basel Liebel, M., 2015b: Die Moskauer Deklaration über die Rechte des Kindes (1918). Ein Beitrag aus der verborgenen Geschichte der Kinderrechte. In: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau, 38(2): 73-90 Liebel, M., 2016: Koloniale und postkoloniale Staatsverbrechen an Kindern. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 11(3) (im Erscheinen) Liebel, M./Meade, Ph./Saadi, I., 2012: Brauchen Kinder ein Recht zu arbeiten? Kindheitskonzepte und Kinderarbeit. 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In particular, it becomes visible that the views on the social representations of childhood and children‘s rights in different parts of the world must be more open and more differentiated and take into account the concrete living conditions of children. 102 SLR 73.indb 102 29.11.2016 15:48:40 SLR Stephen Mennell Die us-amerikanische Heuchelei – Ein Erklärungsversuch Heft 73/2016 Rezensionsaufsätze Essays Essays O, wad some Power the giftie gie us To see oursels as others see us! It wad frae monie a blunder free us Robert Burns: To a Louse Oh, gäbe eine Macht uns die Kraft Uns zu sehen, wie andere uns sehen! Das würde uns vor vielen Gefahren bewahren Weltweit werden viele Menschen immer wieder über die Hybris der amerikanischen Außenpolitik, einschließlich ihrer neuesten Manifestation in der Ukraine-Krise, in Erstaunen versetzt. Sir Simon Jenkins formulierte dies im Guardian (2014), in etwas antikisierender Manier scharfsinnig treffend: Wie könnte es jemand wagen einer großen Macht dafür zu vergeben über eine kleine mit roher Gewalt herzufallen und dies mit irgendwelchem Unsinn von Extremismus oder ›Verteidigungsverantwortung‹ zu rechtfertigen? Es sollte im 21. Jahrhundert keinen Raum in der Welt für ein solch zynisches Mobbing geben. Und wofür soll das im Übrigen gut sein? Nur, damit ein Testosteron-gesteuerter Leader mit Männlichkeitskomplex vor heimischem Publikum sich groß aufspielen kann? Solche Dinge sind völlig unakzeptabel. Dies muss seinen Preis und seine Konsequenzen haben! Aber genug vom Irak! – Was ist mit der Ukraine? Während hier keinesfalls die russische Intervention in die Ukraine oder Präsident Putin gerechtfertigt werden sollen, seien Polemik und kritische Fragen von Jenkins weitergeführt: Hat kein irakischer, afghanischer, kosovaischer oder libyscher Geist über ihre Schultern geschaut? . . . Die Besetzung der Ukraine war ein Dorffest im Vergleich zum Leid und Weh, mit dem Baghdad und Belgrad, die Schlachtfelder von Falluja und Helmand, überzogen wurden. Und während die Westmächte ihre blutbefleckten Legionen in die Heimat zurück führten, wäre wohl ein Anflug von Demut angemessen gewesen. Anscheinend aber nicht . . . Die Frage, vor die sich der Sozialwissenschaftler gestellt sieht, lautet: wie ein solcher Hochmut zu erklären sei – oder, neutraler formuliert: ein solches Defizit kollektiven Selbstgefühls, dieses intensive gemeinschaftliche Gefühl des Im-Recht-Seins bei den Westmächten und den USA. Im Alltag wird dies oft als Ausdruck des in den USA ausgeprägten Patriotismus, gemeinsam geteilter Werte (der drollige Dauerbrenner der amerikanischen Soziologie) verstanden und nicht zuletzt auch ihrer traditionellen, beharrenden Religiosität (s. Mennell, 2007, Kap. 11). Solche ›Scheinheiligkeit‹ gibt es jedoch keineswegs nur in den USA. Wie Norbert Elias in seinen Beobachtungen zur ›Dualität des nationalstaatlichen Normenkanons‹ ausführte: Wie immer sie organisiert sein mögen, die meisten der souveränen, interdependenten Nationalstaaten, die zusammen die Machtbalance-Figuration des 20. Jaherhunderts bilden, bringen bei ihren Bürgern einen zweifachen Normenkanon hervor, dessen Forderungen in sich widersprüchlich sind: einen Moralkanon egalitären Charakters, abstammend vom Kanon aufsteigende Sektionen des tiers état, dessen höchster Wert der Mensch ist, das menschliche Individuum als solches, und einen nationalistischen Kanon, nicht-egalitären Charakters, abstammend vom machiavellistischen 103 SLR 73.indb 103 29.11.2016 15:48:40 Heft 73/2016 SLR Kanon der Fürsten und herrschenden Adelsgruppen, dessen höchster Wert ein Kollektiv ist, der Staat, das Land, die Nation, zu der ein Individuum gehört. (Elias, 2005 [1989]: 227).1 Die für die Außenpolitik zuständigen Personen sind sich in den meisten Ländern, einschließlich der USA, dieser Duplizität moralischer und machiavellistischer Verhaltenskodizes vermutlich irgendwie bewusst – auch wenn sie nur den moralischen Diskurs für öffentlichkeitsgeeignet halten –, sie selbst sind jedoch von beiden Kodizes beeinflusst. Aber die Dualität ist im Fall der USA aufgrund ihrer Weltmachtposition besonders evident. Wie Johann Goudsblom treffend beobachtete, hat diese die USA gewissermaßen in die Lage versetzt, in den 1890er Jahren weiter zu existieren.2 Und seit ihre hegemoniale Position im Abnehmen begriffen ist, beginnen ihre unablässigen brusttrommelnden Versicherungen von ihrer moralischen Tugendhaftigkeit und Überlegenheit dem Rest der Welt auf die Nerven zu gehen. Dies ist ein guter Grund den amerikanischen Fall näher zu untersuchen. Elemente seiner ›Scheinheiligkeit‹ können am besten am Beispiel des Sumpfes im Nahen Ostens untersucht werden; dazu wäre jedoch der Umfang eines Buches, nicht eines Artikels, vonnöten. Die aufgezeigten Hauptprinzipien und -prozesse lassen sich indes am Beispiel der Ukraine-Krise von 2014 verdeutlichen. Der furor hegemonialis Eine relativ einfache Erklärung für diesen ›Mangel an kollektivem Selbstgefühl‹ oder, positiv formuliert: für dieses Durchschlagen einer ›kollektiven Selbstgerechtigkeit‹, in den USA hat seinen Grund im typisch kurzen Horizont und dem Fehlen historischen Wissens bei ihren Politikern. Neben den von Simon Jenkins genannten Katastrophen jüngeren Datums könnte man darüber hinaus anführen, dass die USA im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte alles darangesetzt haben die der ehemaligen Sowjetunion angehörenden Staaten aus dem russischen Einflussbereich herauszulösen und in das amerikanischen Empire3 zu überführen, und zudem Russland-feindliche Regierungen zu stärken (wo solche Einstellungen nicht ohnehin schon vorhanden waren). Am 9. Februar 1990, nach dem Fall der Berliner Mauer und unmittelbar vor der deutschdeutschen Wiedervereinigung, vereinbarten der sowjetische Regierungschef Mikchail Gorbachev, der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl und der US-Außenminister James Baker, dass die Truppen der Roten Armee aus Deutschland abgezogen werden und, im Gegenzug, die NATO-Truppen nicht weiter vorrücken sollten. Der Westen hielt sich aber nicht an diese Vereinbarung, möglicherweise auf der fadenscheinigen legalen Grundlage, dass die Sowjetunion sich in Auflösung befunden und daher der Gegenpart der Übereinkunft nicht mehr bestanden habe. Wahrscheinlicher ist aber, dass die Amerikaner aufgrund des desolaten Zustands Russlands in den 1990er Jahren schlicht davon ausgingen, dass sie damit durchkommen würden, wie sie auch sonst mit ihren doppelten Standards durchzukommen pflegten. Viele Kommentatoren hätten es für klug befunden nach Auflösung des Warschauer Paktes die NATO ebenfalls abzuschaffen; aber sie war eben eine zu zentrale Institution des American Empire, wie ihr Einsatz in Afghanistan, ganz außerhalb ihres offiziellen Wirkungsbereichs, offen- 1 Stephen D. Krasner argumentiert ähnlich in seinem Buch Sovereignty: Organized Hypocrisy (1999). Viel hat sich im 21. Jahrhundert nicht geändert. 2 Im persönlichen Gespräch. 3 Die Amerikaner streiten im Allgemeinen immer noch ab, dass es ein amerikanisches Empire gibt. Das Versäumnis sich über das hegemoniale globale Bestreben des Landes klar zu werden, könnte erklären helfen, weshalb das Ergebnis als ein ›Imperium der Unwissenden‹ oder ein ›zusammenhangloses Imperium‹ beschrieben wurde – s. dazu Andrew Alexander (2011) und Michael Mann (2004). Noch gravierender wirkt sich dies für die wiederholte Unfähigkeit aus ›Rückschläge‹ der amerikanischen globalen Interventionspolitik zu antizipieren (2001, 2004, 2006). 104 SLR 73.indb 104 29.11.2016 15:48:40 SLR barte.4 Stattdessen schob sich die NATO bis an die Grenzen Russlands, Weißrusslands und der Ukraine vor. Polen, Ungarn und die Tschechische Republik – drei ehemalige Warschauer-Pakt Staaten, aber nie Teile der UdSSR, schlossen sich 1999 an. Dann wurden 2004 die drei baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen – jede zwischen den Weltkriegen ein unabhängiger Staat, vor und nach dieser Periode jedoch zu Russland gehörend – in die NATO aufgenommen. Drei weitere ehemals kommunistische Staaten, Bulgarien, die Slowakei und Slowenien (letztere zuvor zu Jugoslawien gehörend), kamen im selben Jahr dazu. 2009 wurden Albanien und Kroatien zugelassen. George F. Kennan, der Architekt der Kalten Kriegs-Politik eines sich wechselseitigen In-Schach-Haltens, äußerte hierzu kritisch, dass die ›NATO-Erweiterung der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der Nachkriegs-Ära‹ gewesen sei (1997). Im Lichte ihrer leidvollen Geschichte ist es nun sicherlich verständlich, dass sich viele dieser Staaten – hauptsächlich Polen, die baltischen Staaten, Ungarn, die Tschechen und die Slowaken – vor möglichen künftigen russischen Interventionsgelüsten zu schützen suchen. Ihre Lage im Verhältnis zu Russland ist der der lateinamerikanischen Länder zu den USA nicht unähnlich. Man erinnere sich nur an den dem mexikanischen Präsidenten Porfirio Diaz (1830-1915) zugeschriebenen Ausruf: ›Armes Mexiko! So weit von Gott und so nah an den Vereinigten Staaten!‹ Und wieder zeigt sich hier der Mangel an historischem Wissen: Haben amerikanische Präsidenten und Außenminister denn noch nie von der Monroe Doktrin gehört, die zur Legitimation der permanenten amerikanischen Interventionen – militärischer, politischer, ökonomischer und subversiver – in lateinamerikanischen Staaten benutzt wurde? Zentralamerika wurde von den Vereinigten Staaten von Amerika als ihr ›Vorgarten‹ betrachtet. Dann ist die Ukraine eben Russlands Vorgarten. Da Russland, und ein großer Teil der Ukraine, Bestandteile desselben Staatskörpers waren, wäre die seinerzeitige feindliche Übernahme des tiefen Südens der USA ein vielleicht noch treffenderer Vergleich. Wir alle wissen, welche Folgen dies 1861 tatsächlich hatte. Solche möglichen Abwägungen haben amerikanische Politiker jedoch nicht davon abhalten können, den Ukrainern die Möglichkeit einer NATO-Mitgliedschaft in Aussicht zu stellen. In der Konsequenz hätte dies aber zum Verlust der historischen Marinebasis Russlands in Sevastopol geführt und zu ihrer Übernahme durch die US-amerikanische Marine. Im Verlauf der Verhandlungen zwischen der Ukraine und der Europäischen Union, Ende 2013/ Anfang 2014, zur vorgeschlagenen Beitrittsvereinbarung sprachen viele europäische Politiker von der Notwendigkeit das ukrainische Volk nicht zu einer alternativen Wahl zwischen der EU und Russland zu zwingen, in der Hoffnung, dass auch eine freundschaftliche Verbindung zu beiden möglich sein müsste. De facto aber bot die EU ein völlig neoliberales Abkommen an – mit einer für die fast bankrotte Ukraine völlig unzureichenden finanziellen Unterstützung – und in der kaum verhüllten Absicht Präsident Viktor Janukowytsch die bevorstehende ukrainische Wahl verlieren zu lassen. Dennoch traten die EU-Diplomaten, angeführt von Baroness Ashton, noch relativ vorsichtig auf. Die Haltung in Washington war dagegen eine sehr andere. Im Gespräch mit dem ukrainischen US-Gesandten Geoffrey Pyatt äußerte die Assistentin des Staatssekretärs für Europäische und Eurasische Angelegenheiten beim Außenministerium, Victoria Nuland: ›Fuck the EU‹ (Zum Teufel mit der EU). Als diese Bemerkung ins Internet gelangte, musste sie sich entschuldigen; jedoch war die Äußerung zweifelsohne symptomatisch für vorhandene Einstellungen, die sonst bloß unterdrückt werden.5 Heft 73/2016 Essays 4 Gleichzeitig wurde die Doktrin vom ›liberalen Interventionismus‹ als Rechtfertigung für die militärischen Abenteuer im Namen von ›Menschlichkeit‹ lanciert – eine raffinierte Methode die oben erwähnte Dualität normativer Codes scheinbar zu versöhnen. 5 Siehe Ed Pilkingtons Bericht in The Guardian, vom 06.02.2014: Man fragt sich, ob die Geschichte darüber aufklärt, dass die europäischen Verbündeten als – um Lenins Ausdruck zu gebrauchen – ›nützliche Idioten‹ betrachtet werden, die großen Ärger auslösen, wenn sie aufhören nützlich zu sein und stattdessen den amerikanischen Zielen im Wege stehen. 105 SLR 73.indb 105 29.11.2016 15:48:40 Heft 73/2016 SLR Diese Episode zeigt auch, wie wenig bewusst westlichen Politikern – absichtsvoll oder nicht – die problematische und gebrochene Geschichte der Ukraine ist. Deren Grenzen, wie sie Anfang 2014 gezogen waren, sind relativ jungen Datums. Die Krim wurde, wie in jenen Zusammenhängen erinnert wurde, erst 1954 und eigentlich aus eher administrativen Gründen, von einem der Stammstaaten der UdSSR in einen anderen überführt, von der UdSSR, worin zu der Zeit die einzelnen Staaten nur etwa den Status von Provinzen hatten, in die Ukraine. (Der Transfer war übrigens eine viel beiläufigere Angelegenheit als z.B. 1800 die Übergabe der westlichen Teile von Connecticut an den Teil, der später zum Staat Ohio werden sollte.) Die Krim war seit ihrer Annexion nach dem Sieg über das Osmanische Reich historisch immer Teil der Sowjetunion gewesen. Mit dem westlichen Streifen der heutigen Ukraine, Galizien und Wolhynien, einst Bestandteile des Österreich-Ungarischen Imperiums, verhielt es sich sogar noch problematischer: die Region, deren Hauptstadt Lwiw (zuvor Lvov und Lemberg) ist, war zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg ein Teil Polens, obwohl die meisten ihrer Einwohner ukrainisch sprachen. Die Mehrheit der Ukrainer kämpfte – sogar noch nach der von Stalin 1932-33 herbeigeführten großen Hungersnot – an der Seite der Sowjetunion, und damit der westlichen Aliierten; andererseits kämpften auch ziemlich viele Westukrainer in der Ukrainischen Befreiungsarmee an der Seite der Nazis. Svoboda, eine der beim Sturz der Janukowytsch-Regierung aktivsten Parteien, hat ihre Wurzeln in Lwiw und in der Pro-Nazi-Fraktion. Aus diesem Grund wurden sie während der Ereignisse von 2014 von Ostukrainern als ›Faschisten‹ beschimpft – und es wurde konstatiert, dass mit deren Eintritt in die Kiewer Regierung eine solche Partei zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg eine offizielle Machtbeteiligung in einem europäischen Land erlangt hat.6 Es ist auch, wie oben schon bemerkt, daran zu erinnern, dass ein ziemlich großer Teil der heutigen Ukraine für eine lange Zeit ihrer Geschichte zu Russland gehört hat. Die Bezeichnung ›Russland‹, und ihr Ursprung, lässt sich auf das mittelalterliche Kiew Rus zurückführen; dessen Machtzentrum wechselte wegen der mongolischen Invasion im 13. Jahrhundert von Kiew nach Moskau. Eine bedeutsame spätere Episode bestand im Erstarken der ukrainischen Bauern im 17. Jahrhundert in der Gegend von Zaporischja in der Ostukraine, die von russischen Truppen gegen die Ausbeutung des polnischen Adels und die Ausbreitung des Polnisch-Litauischen Reiches unterstützt wurden. Dies markierte eine wichtige Station sowohl beim Aufstieg der Zarenmacht in Europa sowie beim Niedergang der polnischen Großmacht.7 Bis heute spricht ein großer Teil der ukrainischen Bevölkerung im Süden und Osten des Landes russisch als erste Sprache und – wie die turbulenten politischen Ereignisse in der Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit 1991 gezeigt haben – fühlen sich viele ihrer Bürger nach wie vor mit Russland verbunden.8 6 Professor Don Kalb von der Zentralen Europäischen Universität, ein Spezialist dieser Region, kommentierte: ›Svoboda bekam nie mehr als 10% der Stimmen, sogar in ihren eigenen Hochburgen, aber ihre Agenda wurde zur nationalen Agenda und, zwischen November 2013 und Februar 2014, in einem gewissen Ausmaß auch ihr Vokabular und ihre Mythologie. Ungewollte Ergebnisse von revolutionärer Mobilisierung und insbesondere die Bereitschaft von Liberalen sich mit Faschisten zu verbünden, die sie in und um den Maidan verteidigen konnten, erklären, mit anderen Worten, den flotten Rechtsrutsch‹ (Äußerungen im persönlichen Gespräch). 7 Ich danke Don Kalb dafür, dass er mich auf diese historische Episode aufmerksam gemacht hat. 8 Nach in West-Zeitungen abgedruckten Landkarten zu urteilen, scheint russisch die im etwas größeren Teil der Ukraine verbreitete erste Sprache zu sein – was nicht heißt, dass die Mehrheit der gesamten Bevölkerung russisch als erste Sprache spricht. Solche vereinfachenden Karten verbergen eher die Komplexitäten. Don Kalb weist auch darauf hin (ebenso im persönlichen Gespräch), dass nur sehr wenige Menschen in der Ukraine nicht beide Sprachen, russisch und ukrainisch, sprechen. Die dies nicht tun, sind hauptsächlich die in armen Regionen mit einer geringen Bildung. Er stellt fest, dass Eheschließungen zwischen Paaren mit den unterschiedenen ersten Sprachen vorkommen: ›In diesen Ehen ist es nicht selbstverständlich, dass die russisch-Sprechenden sich mit Putin identifizieren und die ukrainisch-Sprechenden mit Poroschenko oder dem Maidan sympathisieren. Ich höre viele unerwartete und tatsächlich komplexe Geschichten. Ganz allgemein gesagt: die einfache Ableitung der russischen von der ukrainischen Ethnie ist Unsinn und fördert Gewalt (auf beiden Seiten)‹. 106 SLR 73.indb 106 29.11.2016 15:48:40 SLR Eine der ersten Aktionen des ukrainischen Parlaments nach dem Sturz von Janukowytsch war die Abschaffung des Russischen als der offiziellen Landessprache; dies wurde wiederum zügig rückgängig gemacht. Der russisch-sprechenden Bevölkerung im Osten und Süden des Landes kann es jedoch kaum übel genommen werden, wenn sie die erste Maßnahme als Menetekel an der Wand des Westens betrachtet. Sogar diese kurze und unzureichende Darstellung der tatsächlich viel komplizierteren Geschichte der Ukraine sollte ausreichen, um deutlich zu machen, warum Diplomaten die Notwendigkeit einer umsichtigen Annäherungsweise hätten erkennen müssen. Obwohl sich die USA bezüglich ihrer Respektierung des internationalen Rechts im Allgemeinen recht selektiv zeigen, ist ihre Außenpolitik gleichwohl von einem gewissen Juristenjargon durchdrungen – wiederum Ausdruck der Janusköpfigkeit ihrer normativen Codes. Dies ist den aktiven Politikern vermutlich sehr bewusst, sie halten es aber für einen Bestandteil im Rahmen eines Gesamtpakets von Geopolitik. Im Falle der Ukraine hat – im Verlauf der Verhandlungen, die zum Ergebnis hatten, dass die Ukraine den Teil des russischen atomaren Arsenals, das sich auf ihrem Territorium befand, herausgeben sollte – der Westen völlig zurecht darauf hingewiesen, dass sowohl Russland als auch die USA und Großbritannien garantiert hatten, dass die Grenzen der Ukraine unangetastet bleiben würden. Generell lässt sich nämlich die Respektierung der Souveränität und Autonomie von Nationen zurückverfolgen bis zum Westfälischen Frieden von 1648 und sogar bis auf das berühmte Prinzip des Augsburger Friedens: cuius regio, eius religio. Aber solchen Abkommen wurde regelmäßig erst bei Verstößen die Ehre erteilt, besonders wenn feindliche Bewegungen eines Staates als Bedrohung der souveränen Interessen eines anderen empfunden wurden. Jenseits solcher grundsätzlichen Prinzipien durchzieht aber eine Voraussetzung wie ein roter Faden die amerikanische Außenpolitik, dass nämlich die Regierung eines Landes im Namen all ihrer Bürger spreche und sie diese unter ihren Willen zusammenzubinden vermöge.9 Diese ›homogenisierende‹ Sicht der Amerikaner auch auf die anderen Staaten der Welt beruht wahrscheinlich auf der Tatsache, dass ein sehr großer Teil der Amerikaner ausgesprochen patriotisch ist (oder, um es genauer zu sagen: nationalistisch), insofern sie von einem starken ›Wir-Amerikaner-Bild/Gefühl‹10 durchdrungen sind. Und analog gehen sie davon aus, dass es in allen anderen Ländern und Völkern ebenso zugeht.11 Im Extremfall geht dies mit einer Spur Rassismus einher. Präsident Woodrow Wilson, selbst ein Original-Südstaatler, scheint davon ausgegangen zu sein, dass die ethnischen Grenzen Europas klar und unzweideutig seien, als er in Versailles das Prinzip der ›Selbstbestimmung‹ propagierte. Dagegen gab Sir Ivor Jennings in den 1950er Jahren zu bedenken: Vor fast vierzig Jahren verkündete ein Professor für Politische Wissenschaft, der zugleich Präsident der Vereinigten Staaten war, eine Doktrin, die lächerlich war, jedoch als ein vernünftiger Vorschlag akzeptiert wurde: die Doktrin von der Selbstbestimmung. Auf der Oberfläche schien sie vernünftig zu sein: Lass das Volk entscheiden. Lächerlich war sie deshalb, weil das Volk nicht Heft 73/2016 Essays 9 Dies ist ein Überhang aus einer länger bestehenden Tradition. Wie Clark (2012: 168) vom Europa am Vorabend des Ersten Weltkriegs bemerkte, war das ›Personalisieren von Staaten-als-Einzelnen Teil der verkürzten Sichtweise der amerikanischen politischen Karikatur, reflektierte aber zugleich eine tief eingewurzelte Denkgewohnheit: die Tendenz, Staaten als aus Individuen zusammengesetzte Gebilde zu sehen, die von ebenso zusammengesetzten Institutionen durch einen unsichtbaren Willen gelenkt werden.‹ Dasselbe Syndrom kann in der Dämonisierung der Person Vladimir Putins erkannt werden. 10 ›Wir-Bilder‹ ist Norbert Elias Formel für die Art von kollektiven Selbstbildern, die sich die Mitglieder einer Gruppe von der Gruppe, der sie angehören, konstruieren und in Bezug auf die sie emotional besetzte Wir-Gefühle ausbilden (s. besonders Elias, 2001). 11 Ein gutes Beispiel dieser amerikanischen konservativen Sichtweise ist der Glaube daran, dass, wenn Saddam Hussein erst einmal beseitigt und ein paar seiner Standbilder zerstört sein würden, der Demokratisierungsprozess im Irak sich schon durchsetzen werde. 107 SLR 73.indb 107 29.11.2016 15:48:40 Heft 73/2016 SLR entscheiden kann, bevor nicht entschieden ist, wer denn überhaupt dieses Volk ist (Jennings 1956: 55-56).12 Es war international bekannt, dass die Struktur der Wir-Bilder (und der korrespondierenden Wir-Gefühle) im ukrainischen Volk alles andere als einfach ist. Das verhinderte jedoch nicht die amerikanische Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes. Die amerikanische Strategie der Einkesselung vorausgesetzt, 13 ist schwer verständlich, warum Amerika hätte überrascht sein sollen als Russland zu Gegenmaßnahmen in der Krim-Angelegenheit griff. Denn Russland hatte dies schon einmal getan, als der ausgesprochen anti-russische und pro-amerikanische Präsident Mikheil Saakaschwili, 2004 an die Macht gekommen, alles daran setzte Georgien zum NATO-Mitgliedstaat zu machen. Es soll hier aber nicht die Intervention Russlands in Georgien oder die Ukraine verteidigt werden. Auch soll nicht geleugnet werden, dass die Janukowytsch-Regierung in der Ukraine, obwohl frei gewählt, durch und durch korrupt und abscheulich war. Aber das allein kann nicht das Hauptmotiv für die von Amerika unterstützte Destabilisierung des Regimes gewesen sein. Die USA haben stets – und haben dies immer noch – enge Bündnispartnerschaften mit noch viel übleren Machthabern, wie z.B. in Saudi Arabien, unterhalten. 14 Meine Absicht ist es hier – wenn wir einen Esel einen Esel nennen, sprich der Wahrheit die Ehre geben wollen – die Klugheit der westlichen Strategie in Frage zu stellen und diese als Ausdruck des US-amerikanischen Imperialismus zu entlarven. Ein weiteres Symptom der amerikanischen Scheinheiligkeit in der Ukraine-Krise war die Ausbeutung des tragischen Absturzes des Fluges MH17 der Malaysischen Airline am 17. Juli 2014. Zur Zeit der Abfassung dieses Artikels noch unklar, scheint deren wahrscheinlichste Ursache die Abfeuerung einer Abwehrrakete durch pro-russische ›Rebellen‹ in der Donetsk-Region gegen das, was sie für einen ukrainischen Kampfjet hielten, gewesen zu sein.15 Aber wie die Amerikaner wohl wissen – weil Donald Rumsfeld ihnen dies nonchalant mitgeteilt hatte16 – passieren ›solche Dinge‹ eben in Kriegsgebieten. Entsprechend wurde vom amerikanischen Militär der Euphemismus ›Kollateralschäden‹ erfunden, um damit die Hunderttausende getöteter Zivilisten begrifflich abzudecken, die den permanenten überseeischen Kriegshandlungen der USA in den letzten Jahrzehnten zum Opfer gefallen sind. In den konkreten Einzelfällen, wie dem unbeabsichtigten Abschuss des iranischen Passagierflugzeuges im Persischen Golf durch die USS Vincennes, am 3. Juli 1988, bei dem 299 Menschen ihr Leben verloren, scheint diese politische 12 Viel später behandelte Benedict Anderson diesen Punkt in seinem Buch Imagined Communities (1983) ausführlicher. 13 Von 2001 bis 2005 wurden die USA aufgefordert, ihren Luftstützpunkt in Usbekistan (einer vormalig russischen Militärbasis) zu räumen, und von 2001 bis 2014 bestand einer in Kyrgisistan. Um 2001 wurde in den USA erwogen, ob ein weiterer in Tadschikistan eingerichtet werden sollte. Die ›Stans‹ in Zentralasien sind allesamt unappetitliche Regime. 14 Der Fall der US/Saudi-Arabischen Allianz ist besonders interessant. Das Saudi-Regime, autoritär und repressiv gegenüber der eigenen Bevölkerung, war international ausgesprochen aktiv durch die Unterstützung der extremen wahabi-salafistischen Richtung des Islam, die Al-Quaida und ähnliche, den USA feindlich gesonnene terroristische Organisationen, unterstützt hat. Aber das Regime selbst pflegt daneben eine pro-westliche Einstellung, indem es z.B. große Mengen Öl an die USA verkauft und große Mengen Waffen von den USA kauft. 15 Es wurde kolportiert, dass sich kurz vor seinem Abschuss zwei ukrainische Kampfflugzeuge in der Nähe des Flugzeugs befunden haben sollen, aber dies schien nicht weiter untersucht worden zu sein – und schon gar nicht von Journalisten. Der seriöse niederländische Journalist und Akademiker, Karel von Wolferen, beklagte in zwei Blog-Nachrichten (2014) die ›Korruption‹ westlicher Journalisten, weil sie das, was ihnen das Pentagon mitteilte, für bare Münze genommen und die MH17-Katastrophe weder aufgeklärt, noch die offizielle Losung angezweifelt, noch sich um die weiter gehende Frage des coup d’etat von 02/2014 gekümmert hätten. 16 Am 11. April 2003, in Kommentaren zu den Plünderungen in Baghdad – vor allem des großen Nationalen Museums von Irak –, die auf die amerikanische Invasion folgte. 108 SLR 73.indb 108 29.11.2016 15:48:40 SLR Amnesie in Kraft gewesen zu sein.17 Und ebenso wurde nicht daran erinnert, dass am 4. Oktober 2001 das ukrainische Militär zufällig ein Flugzeug der Sibirischen Fluggesellschaft auf dem Flug von Tel Aviv nach Novosibirsk abgeschossen hatte, bei dem 78 Menschen getötet wurden. Auch Russland hatte am 1. September 1983 den Flug KE07 der Koreanischen Airlines auf dem Weg von New York nach Seoul versehentlich abgeschossen. Solche Vorfälle hätten doch eine besondere Vorsicht zur Folge haben müssen. Dagegen bestand die unmittelbare Antwort Amerikas auf die MH17-Tragödie darin – Samantha Power, US-Gesandte bei den Vereinten Nationen, tat sich hier besonders hervor –, Russland, und besonders Präsident Putin als Einzelnen18, hierfür verantwortlich zu machen und damit zugleich zu demonstrieren, dass das Phänomen, das Elias (2002a [1985]: 127) den furor hegemonialis nannte, voll um sich gegriffen hatte. Man kam nicht umhin den Eindruck zu gewinnen, dass diese Tragödien nur zu gern zu Waffen im Kampf gegen Russland umgeschmiedet wurden. Alles wurde zu einem Teil des Spiels und seiner doppelten Standards. Dies sind aber nur Symptome des Problems. Wir benötigen vielmehr eine Erklärung für die amerikanische Heuchelei. Im Folgenden möchte ich die Arbeitshypothese entfalten, dass wir die Beziehungen zwischen Amerika und dem Rest der Welt als eine den Erdball umfassende Etablierten-Außenseiter-Beziehungsstruktur betrachten müssen. Um zu erklären, was damit gemeint ist, wird zunächst ein kleiner theoretischer Exkurs notwendig. Heft 73/2016 Essays Etablierten/Außenseiter-Beziehungen Um 1959/60 herum führten Norbert Elias und sein MA-Student John Scotson eine Untersuchung in einer kleinen industriellen Ansiedlung in der Peripherie von Leicester durch (2002 [1965]). Kurz zusammengefasst, wurden zwei der Arbeiterklasse zuzurechnende Gruppen (beide der weißen Arbeiterklasse zugehörig; man sollte heute vielleicht hinzusetzen, dass es die Zeit vor der großen Zuwanderung südasiatischer Migranten war). Die Mitglieder beider Gruppen arbeiteten in derselben Fabrik und waren, gemäß der üblichen soziologischen Klassifikation nach ihrer beruflichen Position, soziologisch nicht unterscheidbar. Einen Unterschied gab es jedoch, der sich als ein wesentlicher herausstellen sollte. Die eine Gruppe lebte nämlich ›im Dorf‹; das war der Ortsteil mit den alten, um 1880 erbauten Häusern, in dem viele Familien alteingesessen waren, über Generationen untereinander geheiratet hatten und enge Netzwerkbeziehungen unterhielten. Als langjährig Etablierte besetzten sie die wichtigsten Einflusspositionen im Ort – in den Kirchen, den Wohlfahrtsverbänden, den Klubs, pubs usw. Die andere Gruppe, die im kurz vor dem Zweiten Weltkrieges errichteten (Industrie)Gebiet (Estate) lebte, setzte sich aus relativen Neuankömmlingen zusammen, von denen viele während des Krieges mit ihren Arbeitgebern von London dorthin umgesiedelt worden waren. Das Entscheidende war nun, dass die ›etablierten‹ Dörfler sich einig waren, die an sich völlig gleichen ›Außenseiter‹ im Estate zu ignorieren. Eine der interessantesten Beobachtungen, die Elias in diesem Zusammenhang machte, war die Rolle, die der Klatsch dabei spielte. Die Dörfler redeten von der eigenen Gruppe, den eigenen Gruppenmitgliedern, im Sinne einer ›Minorität der Besten‹. Auf diese Weise formten sie ein 17 Das terroristische Bombardement der Pan-American Fluges 103, das am 23. Dezember 1988 den Absturz bei Lockerbie, Schottland, mit 259 Toten an Bord und 11 am Boden, zur Folge hatte, war mit großer Wahrscheinlichkeit eine Vergeltungsmaßnahme für dieses Vorkommnis. Jedoch wurde der Kapitän der Vinncennes nicht etwa getadelt oder bestraft, sondern mit einer Medaille belohnt. 18 An anderer Stelle habe ich die allgegenwärtige Tendenz der Amerikaner ausgeführt, Problem- und Motivlagen zu individualisieren, anstatt in Begriffen von de-personalisierten und ungeplanten sozialen Prozessen zu denken. Ich glaube, dass ein solches Denken tief in der amerikanischen Kultur verankert ist und sowohl die amerikanische Soziologie wie Ökonomie bestimmt; s. dazu Mennell (2014a). 109 SLR 73.indb 109 29.11.2016 15:48:40 Heft 73/2016 SLR Wir-Image – eine Art Selbststereotyp –, das auf dem Ansehen der tüchtigsten und würdigsten Gruppenmitglieder beruhte. Man konnte dies den ›Bewunderungs-Klatsch‹ nennen. Er sorgte für starke Wir-Gefühle und einen gemeinsamen Sinn für Tugendhaftigkeit als Grundlage des Gruppengefühls. Aber es gab auch den üblen Klatsch. Der beinhaltete das ›Herziehen‹, das schlechte Reden, über die Leute des Estate im Sinne einer ›Minorität der Minderwertigen‹; dadurch wurde das Gegenstereotyp, das ›Sie-Bild‹ des Estate, konstruiert. Es basierte auf dem konkreten Verhalten von tatsächlich nur zwei oder drei Familien, die durch Gewalttätigkeit, Trunkenheit oder Promiskuität auffielen, und deren Kinder in der Gefahr standen zu ›jugendlichen Delinquenten‹ zu werden. Auf die meisten Menschen des Estate trafen diese Merkmale aber nicht zu. Jedoch konnten diese sich nicht durch eine entsprechende Welle Gegen-Klatsches zur Wehr setzen, da ihre sozialen Netzwerke und Machtpositionen weniger gut ausgebaut waren als die der ›Dörfler‹. Elias und Scotson entdeckten aber ein noch entscheidenderes Moment, nämlich dass die Menschen des Estate dazu tendierten, das feindliche Bild der Dörfler allmählich in ihr eigenes Selbstkonzept zu übernehmen; sie fingen, mit anderen Worten, an, sich selbst für ›nicht so gut wie‹ die Dörfler zu halten. Außenseitergruppen – die ohnmächtigsten gesellschaftlichen Gruppen – sind generell durch Ambivalenz, eine fluktuierende Balance zwischen Akzeptanz und Ablehnung ihrer untergeordneten Position, gekennzeichnet. Und wenn sich, ganz allgemein, das Machtverhältnis zwischen einer etablierten und einer Außenseitergruppe stärker ausbalanciert, tritt die ablehnende Tendenz stärker in den Vordergrund. Später baute Elias dieses Konstrukt zu einem wichtigen Baustein seiner allgemeinen Theorie von Machtverhältnissen aus.19 Wie können diese Einsichten nun auf die Position der USA in der heutigen Welt bezogen werden? Amerika hat ganz offensichtlich seit 1945 die Zentren der Weltmacht besetzt und, wenigstens dem ersten Eindruck nach, noch entschiedener seit 1990. Dies manifestiert sich nicht nur als militärische Stärke, obwohl, wie man weiß, die Ausgaben der USA für ihre Streitkräfte ungefähr so groß sind wie die der übrigen 195 Länder der Welt zusammen. Zu erwähnen ist, dass diese Aufblähung des militärischen Apparats einen deutlichen Bruch mit der amerikanischen Geschichte bis zum Zweiten Weltkrieg markiert, insofern bis dahin in Friedenszeiten ihre Streitkräfte eher unbedeutend waren.20 Selbstverständlich spielt auch die ungeheure ökonomische Stärke der USA eine große Rolle. Sie waren bereits zuvor eine enorme industrielle Macht, erlangten aber nach dem Krieg eine nie dagewesene beherrschende Position, weil die Ökonomien ihrer europäischen Verbündeten und ihrer japanischen Feinde im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen zusammengebrochen waren. Die Etablierung des Dollar als der Welthandelsund Reservewährung bedeutete, dass die USA im Endeffekt ›Geld drucken‹ und zu günstigen Konditionen unbegrenzt Kredite aufnehmen konnten. Wie man in den vergangenen Jahren gesehen hat, bildete diese neue Rolle, die der Dollar zu spielen begann, auch die Grundlage für extensive Zuständigkeiten außerhalb des heimischen Territoriums. Denn per US-Gesetzgebung müssen alle in Dollar getätigten Geschäfte über New York abgewickelt werden, und so wurden – beispielsweise – europäische Banken zu massiven Geldstrafen verurteilt, wenn sie die von den USA über Länder, wie den Iran oder Cuba, verhängten Sanktionen missachteten.21 Der 19 S. Elias Essay ›Zur Theorie von Etablierten–Außenseiter Beziehungen‹ (2002b [1976]: 7–56) und Weitere Facetten der Etablierten–Außenseiter Beziehung: Das Maycomb-Modell (2002c [1990], in Elias und Scotson 2002: 7–56 und 285–308, entsprechend. 20 Zu Berechnungen der ›militärischen Proportion‹ (Anteil des militärischen Personals im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung) seit dem späten 18. Jahrhundert, s. Mennell (2007: 243-44). 21 Ein anderes Beispiel ist die Verurteilung Argentiniens durch ein Bundesstaaten-Gericht zugunsten eines amerikanischen Geier-Fonds (verwaltet von einem rechten Republikaner), der zufolge Argentinien den vollen Wert einer Anleihe zurückzuzahlen hatte, die jener Fonds zuvor, nach der Zahlungsunfähigkeit Argentiniens in 2002, zu einem 110 SLR 73.indb 110 29.11.2016 15:48:40 SLR Internationale Währungsfonds, die Welt Bank und die Kreditvergabe-Institute tragen ebenfalls dazu bei, das amerikanische Wirtschaftsregime und seine spezifischen Kapitalismusformen dem (überwiegenden) Rest der Welt aufzunötigen. 22 Außerdem wäre da noch die Frage nach der ›sanften Macht‹ der Kultur zu diskutieren. Ohne Zweifel haben die amerikanischen Massenmedien ihren globalen Einfluss weit über die Verbreitung von Hollywood-Filmen hinaus ausgedehnt; dieser reicht inzwischen so weit, dass beispielsweise der extrem rechte Fox News-Fernsehkanal und viele andere amerikanische Unterhaltungskanäle weltweit ausgestrahlt werden. In welchem Ausmaß solche Einflüsse in direkte politische Macht und ideologische Herrschaft umgesetzt werden können – das wird von amerikanischen Politikern vermutlich überschätzt, da diese Verbreitung amerikanischer ›Kultur‹ zugleich die für Außenseitergruppen typischen Ambivalenzen aktiviert. Aber kaum zu bezweifeln ist die Rolle der Massenmedien innerhalb der USA, die, als funktionale Alternative zum erwähnten ›Selbstbeweihräucherungs-Klatsch, das Selbstbild einer kollektiven Tugendhaftigkeit, das unter Amerikanern vorherrscht, verstärken‹.23 Im Endeffekt jedenfalls gründet die Auffassung der Amerikaner von sich selbst in der Konzeption einer ›ElitenMinorität‹, und die vom Rest der Welt in der einer ›Minderwertigkeits-Minorität‹. Die USA sind, und dies bereits seit langer Zeit, ein sehr bedeutendes Land. In ihrer Geschichte findet sich eine Unmenge Material, auf das sich das Bild einer kollektiven moralischen Überlegenheit aufbauen ließ. Dies ist so bekannt, dass es hier nicht näher ausgeführt zu werden braucht. Aber der Selektionsprozess dauert immer noch an. Entsprechend gibt es viele Beispiele dessen, was nicht zum amerikanischen Wir-Imago gehört, welche jedoch – als ›Sie-Bild‹ – in den Augen des Restes der Welt eine große Rolle spielen. Einige davon seien im folgenden aufgelistet, zunächst die Welt insgesamt betreffend: – permanente militärische Interventionen der USA in Länder in vielen Teilen der Welt; – ihre Entführungsprogramme und gezielten Beseitigungen von Menschen, die sie für ihre Feinde halten; – ihre aufgeblasene Militärmaschinerie; – ihre hoch-selektive Respektierung internationalen Rechts; – ihre Gefangenhaltungen ohne Gerichtsbeschluss; – ihre regelmäßige Anwendung von Folter;24 Heft 73/2016 Essays Spottpreis erworben hatte. Diese Entscheidung zwang Argentinien, das sich seit 2002 schon gut erholt hatte, sich am 31. Juli 2014 erneut zu verschulden. Josef Stiglitz, Gewinner des Nobelpreises für Wirtschaft und früherer Chef-Ökonom der Weltbank, sagte dazu: ›Es sind eine Menge Bomben überall auf der Welt abgeworfen worden, und jetzt wirft Amerika eine Bombe in das ökonomische System der Welt. Wir wissen nicht, welches Ausmaß an Zerstörung die Explosion haben wird – und das nicht nur in Argentinien (Stiglitz, 2014). 22 Godfried van Benthem van den Bergh meinte (im persönlichen Gespräch), dass der IWF, die Welt Bank und sogar die NATO anfingen etwas weniger gefügige Marionetten der USA zu werden. Auf der anderen Seite könnte behauptet werden, dass das gesamte ›Muskelpaket‹ von Wall Street und London in Aktion gebracht wird, um das in Gang zu halten, was man früher den ›Washington Konsens‹ wirtschaftlicher Belange nannte. Aber dies ist ein zu weites Feld, um hier ausreichend behandelt werden zu können. 23 Die ›sozialen Medien‹, besonders Facebook und Twitter, könnten inzwischen angefangen haben in diesem Zusammenhang eine gewisse Rolle zu spielen. Es ist gesagt worden, dass solche sozialen Medien einen demokratisierenden Einfluss bekommen könnten, indem sie die Machtbalance zwischen den vom Big-Business kontrollierten Massenmedien und dem dazu sich hauptsächlich passiv verhaltenden Publikum korrigierten. Im Prinzip vermögen sie es durch die Verbreitung unterschiedlicher Standpunkte schon dem mainstream der Massenmedien etwas entgegenzusetzen. Es ist noch zu früh, etwas Genaueres darüber zu sagen, denn es gibt noch nicht genügend schlüssige Anhaltspunkte dafür. Im Moment scheint es angebracht zu vermuten, dass die sozialen Medien die mainstream-Meinungen ungefähr in gleichem Maße verstärken oder konterkarieren wie die älteren Massenmedien. 24 Zu seiner Ehre sei gesagt, dass Präsident Obama die Bezeichnung ›Folter‹, statt der üblichen Beschönigung ›entwickelte Befragungstechniken‹ gebrauchte. In seiner Rede an der Nationalen Verteidigungs-Universität Fort McNair, 111 SLR 73.indb 111 29.11.2016 15:48:40 Heft 73/2016 SLR – ihre Spionageprogramme, sogar gegenüber denen, die sich für ihre Verbündeten halten, und ihre willkürlichen Überwachungsprogamme rund um die Welt; – ihre hoch selektive ›Menschenrechts‹rhetorik ;25 – ihre Unterstützung Israels und korrupter autoritärer Regierungen im Nahen Osten; – und die offensichtliche Unfähigkeit führender amerikanischer Politiker sich in die Situation von irgendjemand anders hineinversetzen zu können. Die amerikanische Gesellschaft selbst betreffend: – ein Wahlsystem, das vor allem durch Manipulationen am Wahlrecht und die Verschiebung von Wahlkreisgrenzen ausgehebelt wird, so dass die Wahlergebnisse zunehmend verfälscht werden;26 – eine ausgesprochen politisierte Rechtsprechung; – die Stärke des militärisch-industriellen Komplexes, vor der Präsident Eisenhower schon 1961 gewarnt hatte, was aber geflissentlich ignoriert wurde – zum Schaden der amerikanischen Demokratie; – allgemeiner, eine extreme Beeinflussung der Regierung durch Großunternehmen und die Großfinanz. Schätzungen zufolge bringt ein Tausendstel der Bevölkerung 25 Prozent der Mittel für Wahlkampagnen auf, und so ist kaum bezweifelbar, dass die Innenpolitik der USA den Anreizen und Imperativen politischer Spender gegenüber aufgeschlossener ist als denen der öffentlichen Meinung. Die Citizen United-Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von 2010 schaffte tatsächlich alle Beschränkungen in der Höhe von Wahlgeschenken und –ausgaben ab, solange sie frei von quid pro quo-Bestechungen bleiben;27 – die außerordentlich große und weiter zunehmende soziale und ökonomische Ungleichheit in der amerikanischen Gesellschaft, die – wegen der globalen ökonomischen Macht Amerikas – auch anderen Ländern immer mehr aufgenötigt wird;28 – der Einfluss gesellschaftlicher Gruppen, die auf der Basis ihres religiösen Glaubens die Lehre von der Evolution, aber auch aus kurzsichtigen ökonomischen Interessen Maßnahmen zur Klimaverbesserung ablehnen; – Amerikas hohe Gewaltquoten; diese sind in den letzten Jahren zwar etwas zurückgegangen (wie in vielen anderen Ländern auch), sind aber immer noch viel höher als in anderen modernen Gesellschaften. Das hängt zusammen mit: 25 26 27 28 am 23. Mai 2013, merkte er an, dass ›wir in manchen Fällen unsere Grundwerte verletzt haben – indem wir die Folter als Verhörmethode bei unseren Feinden angewendet und Menschen in einer Weise behandelt haben, die gesetzeswidrig ist. Die ›Menschenrechte‹ sind ein Beispiel dafür, wie Zivilisierungsprozesse ihren Weg über die nationalen Grenzen, wenn auch selektiv, gefunden haben, mit allen internen Widersprüchen, die für Zivilisierungsprozesse generell charakteristisch sind. Das Konzept des ›Zivilisierungsprozesses‹ ist sicherlich einer der Hauptbeiträge Norbert Elias zu den Sozialwissenschaften (1997 [1939]). Andrew Linklater (2011) hat, im ersten Band seiner geplanten Trilogie, angefangen die Relevanz von Norbert Elias Ideen für die internationalen Beziehungen aufzuzeigen. Es gibt in Amerika eine lange Tradition korrupter Wahlen (s. Gumbel, 2005); aber die skandalöse Präsidentschaftswahl von 2000 lenkte die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Tatsache, dass die Durchführung von Wahlen in den USA nicht den Standards in der weiteren demokratischen Welt entspricht. Dies hatte welthistorische Konsequenzen. Siehe zu diesen Punkten Martin Gilens und Benjamin I. Page (2014) und Zephyr Teachout (2014). Teachout behauptet, dass Korruption in dem weiteren Sinne einer Privilegierung privater gegenüber öffentlichen Interessen die Hauptbedrohung für eine demokratische Regierung darstelle, wie die Urheber der amerikanischen Verfassung bereits vorausgesehen hatten, und wie es sich inzwischen ziemlich durchgesetzt hat. S. dazu Piketty (2013). Zu meiner Kommentierung der Verbindung zwischen Globalisierung und sozialer Ungleichheit, s. Mennell (2014). 112 SLR 73.indb 112 29.11.2016 15:48:40 SLR – der Waffen-›Kultur‹, der Besessenheit vieler Amerikaner vom Recht auf Waffenbesitz, für das viele Außenstehende kein Verständnis haben;29 – Amerikas außergewöhnlich hohe Gefangenenrate, mit einem stark überproportionalen Anteil an Afro-Amerikanern – Symptom des fortdauernden rassistischen Erbes in der amerikanischen Gesellschaft; – das Festhalten an der Todesstrafe, die in den meisten westlichen Ländern nicht mehr akzeptiert wird; 30 – und eine Diskreditierung jeden Landes, das Mitglied im Council of Europe oder der Europäischen Union werden will. Alle diese Punkte werden viel und kontrovers diskutiert. Der hier entscheidende Punkt ist, dass sie allesamt Kandidaten für das ›Sie-Bild‹ sind, das sich immer mehr Völker dieser Erde von den Vereinigten Staaten machen. Gleichwohl scheint es, als ob der Rest der Welt die Selbstkonzeption der Amerikaner – wenngleich in ambivalenter Weise – akzeptiere. Den Soziologen sind schon lange die Versuche weniger mächtiger Gruppen bekannt den mächtigeren nachzueifern, deren Verhaltensweisen zu übernehmen und sie nachzuahmen – oft nur halb bewusst. Der Trend zur Amerikanisierung Westeuropas ist seit dem Zweiten Weltkrieg unübersehbar. Und tatsächlich haben die europäischen Staaten in verschiedenem Ausmaß einen Prozess durchlaufen, der mit einem technischen Ausdruck aus dem 19. Jahrhundert als ›Mediatisierung‹ bezeichnen werden kann. Dieser wurde im Kontext der deutschen Geschichte verwendet, um die Unterordnung eines geringeren unter einen größeren Staat zu bezeichnen, wobei der Herrscher des ersteren Titel und Würde, die ihm zuvor zugekommen waren, behielt, obwohl er an Machtfülle eingebüßt hatte. Die große Mehrheit der Fürstentümer im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation wurde in der napoleonischen Periode auf diese Weise mediatisiert. In einer späteren, der wilhelminischen Phase, nahmen dagegen die Könige von (z.B.) Bayern und Sachsen einen geringeren Rang ein als die Preußenkönige, die 1871 zu Kaisern über ganz Deutschlands erklärt wurden. Die NATO-Allianz, die nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts einer seitens der Sowjetunion empfundenen Bedrohung ins Leben gerufen wurde, kann als die Fortsetzung eines solchen Mediatisierungsprozesses angesehen werden. Die Briten stellen hier einen besonders kläglichen Fall dar. Weil Großbritannien seine Sprache mit den Vereinigten Staaten teilt, scheinen kulturelle Assimilationsaspekte hier besonders weit um sich gegriffen zu haben. Aber auch in der politischen Dimension: Schon seit vielen Jahrzehnten macht die Außenpolitik Englands nicht mehr den Eindruck von Amerika unabhängig zu sein. Einerseits scheint diese unselbständige Position von weiten Teilen des britischen Volkes akzeptiert zu sein; andererseits wird dies in einem Land, das nur ein Jahrhundert zuvor selbst eine beherrschende Weltmacht war, als zutiefst demütigend empfunden. Merkwürdigerweise wird dieser Groll über seinen Niedergang in den Angelegenheiten, in denen Großbritannien formal und substantiell ein entscheidendes Wort mitzureden hat, oft auf die Europäische Union projiziert, mehr jedenfalls als auf die Vereinigten Staaten, auf die es praktisch (trotz der eher einseitig so gesehenen ›besonderen Beziehungen‹) wenig oder überhaupt keinen Einfluss hat, die vielmehr die britische ›Souveränität‹ wirkungsvoller einschränken als es die EU tut.31 Viele Kommenta- Heft 73/2016 Essays 29 Zu einer überzeugenden Erklärung der Ursprünge der Waffenkultur s. Spierenburg (2006). 30 Die Todesstrafe wurde tatsächlich in vielen Staaten abgeschafft, und Hinrichtungen sind gegenwärtig in den USA außerhalb Staaten wie Texas nicht sehr zahlreich; auch hier sind Afro-Amerikaner stark überproportional vertreten, s. Garland (2011). 31 Ein seltsames Beispiel ist die angeblich ›unabhängige nukleare Abschreckung‹ Großbritanniens. Die ungeheuren Kosten für die Unterhaltung und den vor kurzem vorgenommenen Austausch der atomaren U-Boote verzehren einen so großen Teil des britischen Verteidigungsetats, dass der Rest seiner Streitkräfte auf ein nie dagewesenes Maß zurückgeschrumpft werden musste. Viele Politiker erklären die ›nukleare Abschreckung‹ für notwendig, um 113 SLR 73.indb 113 29.11.2016 15:48:40 Heft 73/2016 SLR toren haben auf die problematische Qualität des britischen Wir-Bildes in seiner post-imperialen Phase Bezug genommen. Norbert Elias stellte fest, »England ist in der jüngsten Gegenwart ein bewegendes Beispiel für die Schwierigkeiten der Anpassung einer Großmacht ersten Ranges and das Herabsinken zu einer zweit- oder dritt-rangingen Macht.« (Elias: 2005 [1989]: 11) und verglich die hierbei ablaufenden Prozesse mit denen auf der Ebene der (individuellen) Psychogenese: Freud ... suchte den Zusammenhang zwischen dem indivudellen und besonders dem Triebschicksal eines Menschen und dessen persönlichem Habitus aufzudecken. Aber analoge Zusammenhänge gibt es auch zwischen den langfristigen Schicksalen und Erfahrungen eines Volkes und seinem jeweils gegenwärtigen sozialen Habitus. Auch in dieser Schicht des Persönlichkeitsaufbaus – nennen wir sie provisorisch die ›Wir-Schicht‹ – sind oft Komplexe, Störungserscheinungen am Werk, die denen der individuellen Neurosen an Kraft und Leidensdruck kaum nachstehen. (Elias: 2005 [1989]: 31) Angesichts dieser engen Identifikation mit den USA, aber auch ihrer zwiespältigen Gefühlslagen ihrer geringer gewordenen Bedeutung in der Welt wegen, sind die Briten – oder zutreffender: die Engländer – zu so etwas wie Amerikanern mit einem Minderwertigkeitskomplex geworden. Wenn das für Britannien zutrifft, um wie viel schärfer müssen die ›Schwierigkeiten‹ und ›Leiden‹ für Russland sein, das im letzten Viertel des Jahrhunderts faktisch nicht nur als Welt-Supermacht, die sich mit den USA auf Augenhöhe befunden hatte, abgestiegen war, sondern sich von diesen auch systematische Demütigungen gefallen lassen musste.32 Aus demselben Grund auch sind wir immer noch konfrontiert mit den Konsequenzen der traumatischen Demütigung, die Amerika selbst durch die Angriffe auf New York und Washington am 11. September 2001 erlitten hat. Und doch muss man zur Kenntnis nehmen, dass es – in großen Teilen der Welt, und nicht nur in Britannien – auch eine breite Akzeptanz der amerikanischen Vorherrschaft gibt, die möglicherweise dem Gefühl entspringt, dass, trotz aller Dummheiten und schädlichen Militär- und Diplomatenaktionen, die Amerikaner immer noch so etwas wie einen stabilen Rahmen in einer beunruhigenden Welt darstellen. Würde es im Laufe des 21. Jahrhunderts möglich sein einen dauerhaften inneren Frieden in der Welt zu errichten, so bedeutete das einen ungeheuren Segen für die ganze Menschheit, etwas, wovon die Menschen seit Jahrhunderten träumen. In Frieden zu leben, Sicherheit und Absicherung, sind ein Privileg, dessen große Teile der Weltbevölkerung sich nicht erfreuen. Die Folgen eines solchen Weltfriedens wären unübersehbar, und es wäre vermutlich ein rascher Zivilisierungsschub zu erwarten. Um noch einmal den entwicklungsoptimistischen Elias zu zitieren: ›wenn . in diesem oder jenem Gebiet die Macht einer Zentralgewalt wächst, wenn über ein größeres oder kleineres Gebiet hin die Menschen gezwungen werden, miteinander in Frieden zu leben, dann ändert sich auch ganz allmählich die Affektmodellierung und der Standard des Triebhaushalts. ‹ (1997 [1939]: 371). Wenn es irgendeine Art Weltregierung gäbe, brächte dies für den Rest der Welt beträchtliche Vorteile mit sich. Diese könnten in den Augen der Regierungen der betroffenen Länder den Preis aufwiegen, den sie für eine gewisse Mediatisierung, der sie sich unterziehen müssten, zu zahlen hätten. Ob das Erreichen eines solchen Zieles universell gut geheißen würde, wenn es bedeutete, dass die USA diese Funktion die permanente Mitgliedschaft Britanniens im UN-Sicherheitsrat zu rechtfertigen. Es scheint in der britischen Öffentlichkeit weniger bekannt zu sein, dass die ›britischen‹ Nuklearwaffen nicht ohne amerikanische Genehmigung eingesetzt werden dürfen. 32 Dies war für die amerikanische Politik unter Präsident George W. Bush in den Jahren, die dem Zusammenbruch der Sowjetunion direkt folgten, weniger typisch, setzte aber entschieden mit der Amtszeit Madeleine Albrights als Außenministerin unter Präsident Clinton ein. 114 SLR 73.indb 114 29.11.2016 15:48:40 SLR der Weltregierung ausübten – wie dies in gewisser Weise ja bereits tatsächlich der Fall ist – ist jedoch mehr als fraglich (s. Mandelbaum, 2006).33 Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde von einigen Idealisten, in der guten Absicht dem Weltfrieden zu dienen, kurzzeitig eine Mediatisierung der Vereinten Nationen hoffnungsfroh ins Auge gefasst. Ihrer Satzung zufolge war sogar eine dauerhafte Stationierung von US-Truppen angedacht, die unter Kontrolle des Sicherheitsrats (in dem die fünf Siegermächte den Status einer ständigen Mitgliedschaft mit Veto-Recht haben sollten) schnell handlungsfähig sein sollten. Diese Vision wurde mit dem Beginn des Kalten Krieges fast augenblicklich ad acta gelegt. Interessanterweise erklärte Präsident Obama in seiner West Point-Rede von 2014: Nach dem Zweiten Weltkrieg war Amerika weitsichtig genug, um Institutionen zu schaffen, die geeignet waren den Frieden zu bewahren und den menschlichen Fortschritt zu unterstützen – angefangen von der NATO und den Vereinten Nationen, bis zur Weltbank und dem IWF. Diese Institutionen sind nicht perfekt, aber sie haben die Kräfte vervielfacht. Sie verringern die Notwendigkeit einseitiger amerikanischer Aktionen und sorgen für eine größere Zurückhaltung unter den Nationen. Mit anderen Worten: Führende amerikanische Politiker erkennen die Vereinten Nationen nicht als eine übergeordnete Autorität an, deren Entscheidungen sogar von den USA zu respektieren sind, sondern als eine von ihnen geschaffene Einrichtung, ein Mittel der amerikanischen Machtpolitik.34 Sollten wir uns nun – wenn uns irgendeine Form der Weltregierung langfristig wünschenswert erschiene, und wenn diese nicht länger von den Vereinten Nationen wahrgenommen werden könnte – einverstanden erklären mit einer Zusammenfassung aller Nationen zu einem einzigen Weltstaat unter der Herrschaft Amerikas? Und wäre das überhaupt durchführbar? Heft 73/2016 Essays Warum gibt es keinen Weltstaat? Die Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika von 2002 repräsentierte das, was ich das Dubya Addendum zur Rooseveltschen Erweiterung der Monroe Doktrin (Mennell, 2007: 211-12) genannt habe. Der zuvor erklärte Anspruch der USA auf das Recht die westliche Welt zu kontrollieren, sollte jetzt auf die gesamte Welt ausgedehnt werden. In seiner West Point-Rede vom 1. Juni 2002 stellte Präsident George W. Bush fest, dass ›unsere Sicherheit es erforderlich macht, dass alle Amerikaner … auf Präventivmaßnahmen vorbereitet sind und, wenn nötig, unsere Freiheit und unser Leben zu verteidigen‹ (Bush, 2002; Hervorh. S. M.). Der Anspruch auf Ausweitung der amerikanischen besonderen Interessen, insbesondere der wirtschaftlichen, auf den ganzen Erdball, wurde zuerst von Staatssekretär John Quincy Adams im Namen Präsident Monroes formuliert. Präsident Theodore Roosevelts ›Big Stick‹ sollte jeder Staat und jede Gruppe zu spüren bekommen, der diesen in die Quere kam. Obwohl die Präsidentschaft von Bush Junior inzwischen als eine einzige Katastrophe gilt, ist dieser Grundsatz nie zurück genommen worden. Er wurde von seinem Nachfolger nur besonnener vorgetragen. In seiner West Point-Rede vom 28. Mai 2014 erklärte Obama: 33 Die wirtschaftliche Stärke als Folge des Stellenwerts des Dollars als Welt-Reservewährung ist, wie ich bereits erwähnt habe, ein wichtiger Faktor im Anspruch der USA auf Anwendung ihrer Gesetze auch außerhalb ihres einheimischen Territoriums. 34 Die Schaffung der UN wurde mit der Vorstellung verknüpft, dass den Großmächten auch eine besondere Verantwortung beim Bewahren der internationalen Ordnung zukommen solle; seit aber zwei der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats schon bald in die Lage kamen als Amerikas Feinde angesehen zu werden und ihre Vetos entsprechend einsetzten, ist deren Haltung zur UN immer spannungsreich gewesen. 115 SLR 73.indb 115 29.11.2016 15:48:40 Heft 73/2016 SLR Seit dem Zweiten Weltkrieg resultierten einige unserer kostspieligsten Fehler nicht aus unserer Zurückhaltung, sondern aus unserer schnellen Bereitschaft uns in militärische Abenteuer zu stürzen, deren Konsequenzen wir nicht bedacht hatten – ohne nämlich für eine internationale Unterstützung und Legitimierung unseres Handelns zu sorgen; ohne die amerikanische Öffentlichkeit über die notwendigen Opfer zu informieren . . . Amerika muss auf der Weltbühne immer die Führungsrolle übernehmen. Kein anderer wird dies tun, wenn wir es nicht machen. Das Militär, dem du angehört hast, ist und wird immer das Rückgrat dieser Führungsaufgabe sein. Aber die amerikanische Militäraktion kann nicht jederzeit die einzige – oder selbst vorrangigste – Komponente unserer Führungsrolle sein. Nur weil wir ein guter Hammer sind, bedeutet das noch nicht, dass jedes Problem ein Nagel ist. Und er fügte hinzu: Für die Zukunft, soweit wir sie überblicken können, bleibt der Terrorismus die unmittelbarste Bedrohung für Amerika und Übersee. Aber eine Strategie, die beabsichtigt in jedes Land, das terroristische Netzwerke schützt, einzudringen, ist naiv und unhaltbar. Aber andererseits: werden die Vereinigten Staaten, wenn nötig, im Alleingang mittels militärischer Gewalt handeln, wenn es unsere Kerninteressen erfordern – wenn unser Volk bedroht wird, wenn es um unsere Existenzgrundlage geht oder wenn die Sicherheit unserer Verbündeten in Gefahr ist. Unter all diesen Umständen werden wir uns harten Fragen stellen müssen, ob unsere Handlungen angemessen, effektiv und gerecht sind. Die internationale Meinung zählt; jedoch sollte Amerika nie um Erlaubnis fragen, ob es sein Volk, seine Heimat und seine Lebensweise beschützen dürfe. Dies lässt sicherlich einen großen Spielraum für die Definition nationaler Interessen und die Tür für militärische Abenteuer weit geöffnet, auch wenn die Ereignisse in Afghanistan und dem Irak einen ernüchternden Effekt hatten. Angesichts des enormen Drucks, den der extrem rechte Flügel der amerikanischen Politik ausübt, hätte wohl kein Präsident mutiger den weltweiten Waffeneinsatz missbilligen können. Und die Verhältnisse am Boden stimmen immer noch mit der National Security Strategie von 2002 überein. In mehr als 150 (von ungefähr 196) Ländern der Welt waren 2014 noch amerikanische Streitkräfte stationiert. Die USA haben den Planeten mit Garnisonen überzogen – mit Ausnahme der großen Flächenstaaten der Russischen Föderation und Chinas. Aber warum ist es das Ziel des ›Dubya Addendum‹ einen Weltstaat zu schaffen? Dazu sind einige Überlegungen zum Konzept ›Staat‹ notwendig. In der amerikanischen Alltagssprache könnte sich eine begriffliche Unschärfe daraus ergeben, dass die ›Staaten der Union‹ ungefähr das sind, was in Kanada die ›Provinzen‹ oder in Deutschland die ›Bundesländer‹ sind. Jedoch ist die unter Soziologen fast einheitlich gebrauchte Staatsdefinition die Max Webers, nach der ein Staat eine Organisation ist, die erfolgreich den Anspruch auf verbindliche Gesetzgebung über ein Territorium auf der Basis legitimer Gewaltausübung erheben und aufrecht erhalten kann (Weber, 1972: 30). Aufgrund dieser Definition kommt die Security Strategy von 2002 dem Anspruch, das gesamte Territorium der Erde zu einem einzigen Staat und die USA zu seiner Führungsmacht zu erklären, sehr nahe. Diese doch eher beunruhigende Feststellung erfordert noch einige nähere Ausführungen. Zunächst ist es für Webers Definition nicht erforderlich, dass der Herrschaftsapparat ein Monopol auf den Gebrauch von Gewalt auf seinem gesamten Territorium hat. Es wird immer Gewaltverbrechen geben. Das Entscheidende ist, dass der Staatsapparat das Monopol auf legitime Machtausübung beansprucht. Das bedeutet für den Fall, dass private Bürger – oder für unseren Zusammenhang wichtiger: untergeordnete Herrscher – zu den Waffen greifend, um z.B. auf eigene Faust Rache zu üben, damit zu rechnen hätten von den Organen der monopolhaltenden Herrschaft, die den alleinigen Anspruch auf legitime Gewaltausübung hält, bestraft zu werden. 116 SLR 73.indb 116 29.11.2016 15:48:40 SLR In der Ukraine/Krim- Krise (wie etwas früher im syrischen Bürgerkrieg) beanspruchten die USA erkennbar ein solches Recht Strafen aufzuerlegen, waren sich aber nicht so recht darüber im Klaren, ob sie die wirksamen Mittel dazu hätten. Des Weiteren ist das Wort legitim für Webers Definition entscheidend, aber sie hat sich, aufgrund ihrer statischen Konzeption, als doppeldeutig erwiesen. Hat sich Weber auf die Legitimität des Gewaltmonopols des Herrschers in den Augen der Beherrschten berufen? Oder meinte er vielmehr, dass die Herrscher ihren Anspruch, nur ihrem eigenen Gewaltgebrauch käme Legitimität zu, erfolgreich müssten verteidigen können? Findet Legitimation ihre Rechtfertigung zuvörderst nur in den Augen der Herrschenden, und wird ihre Herrschaft erst im Nachhinein auch in den Augen der Beherrschten legitimiert? Historisch frühe Staaten könnte man als Schutzgelderpressungs-Systeme bezeichnen. Wie Johan Goudsblom (1998) feststellte, bestanden frühe militärisch-agrarische Herrschaftseinheiten in einer ›fatalen Symbiose‹ produktiver, aber verwundbarer Landwirtschaften und unproduktiver, aber gewaltbereiter Kriegerklassen. In der Regel mussten die Bauern vor den Übergriffen der Krieger benachbarter Territorien beschützt werden; aber die Krieger des eigenen Herrschers konnten bei Nichteintreten solcher Gefahren auch selbst genug Gefährdungen anzetteln, um den Bauern Anteile ihrer Produkte, Arbeitsleistung, und später auch Steuern, abzunötigen. Jedoch sind und waren die Existenz realer Außengefährdungen und die Bereitstellung wirksamen Schutzes dagegen auf der Seite der Subjekte die leitenden Motive für die Anerkennung der legitimen Autorität ihrer Führer. Dies könnte als der allmähliche Übergang von der Dominanz der Staats- zu der der Nationen-Bildung betrachtet werden. Die Entwicklung eines Solidaritätsgefühls, von Wir-Gefühlen gegenüber seinem Land, war ein wichtiger Bestandteil der Innenpolitik moderner Regierungen bei anhaltender Gefahr in Kriegshandlungen mit andern Ländern verstrickt zu werden.35 Goudsblom sprach von dem, was er ›das Paradox der Befriedung‹ nannte: Ein altes Sprichwort sagt: si vis pacem para bellum – Wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor. Dieses Sprichwort zeigt die eine Seite des Pazifizierungsprozesses. Für die andere Seite könnten wir das andere römische Sprichwort anführen: si vis bellum cura pacem – Wenn du einen Krieg riskieren willst (mit einiger Aussicht auf Erfolg), musst du dich um den Frieden kümmern (in deinen eigenen Reihen) (Goudsblom, 2001). Dieser Teil des Problems findet jedoch in den USA kaum Beachtung: Die Rolle, die die USA in der Welt spielen, wird von den meisten Amerikanern für eindeutig legitim gehalten (wenn sich Minoritäten an anti-Kriegsdemonstrationen beteiligten, hielt man sie im allgemeinen für unpatriotisch). Auch das Problem der Legitimation in den Augen der Anderen scheint in Amerika weniger Beachtung gefunden zu haben.36 Die am weitesten verbreitete Meinung ist offenbar die, dass das, was wir, Amerika, tun, legitim ist, weil wir gut sind, und das, was unsere Gegner tun, illegitim, weil sie böse sind. Dieses manichäische Weltbild ist es, was einer Erklärung bedarf. Und ein Teil derselben ist, wie ich meine, die Entstehung einer Etablierten/Außenseiter-Beziehung gigantischen Ausmaßes mit einer stark zugunsten der USA ausschlagenden Machtfülle. Heft 73/2016 Essays 35 Dies mag ja, zumindest in einigen Ländern, immer weniger für zutreffend gehalten werden. Nico Wilterdink stellte die Hypothese auf, dass die seit 1980 in westlichen Gesellschaften zu beobachtende Zunahme ökonomischer Ungleichheiten der Stärkung der internationalen Interdependenzen von Unternehmens- und Finanzkapital und einer damit zusammenhängenden Schwächung der Interdependenzen innerhalb dieser Gesellschaften, geschuldet ist; s. Wilterdink (2000) und auch Mennell (2014a, 2014b). 36 Das war eine der Hauptbotschaften der neuesten Arbeit Chalmers Johnsons, der Trilogie ›blowback‹, die in den Jahren, die auf 9/11 und den Einmarsch in den Irak folgten, erschienen ist. Aber die drei Bände haben vielfach feindliche Reaktionen bei den Politikern ausgelöst. Weithin wurde Johnson nachgesagt, er habe sich ›den AmerikaHassern angeschlossen‹. Tatsächlich handelte es sich aber eher um den Appell einer gewissen Zurückhaltung in Fällen emotional bestimmter, kurzfristiger kämpferischer Einlassungen. 117 SLR 73.indb 117 29.11.2016 15:48:40 Heft 73/2016 SLR Schlussfolgerung Relativ wenige Menschen haben vorausgesehen, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion die USA eher schwächen als stärken würde, dass an die Stelle einer bipolaren sich tendenziell eine multipolare, nicht aber unipolare Welt etablieren würde. Godfried van Benthem van den Berg vertrat bereits 1992 die zu der Zeit recht beunruhigende Meinung, dass die sich während des Kalten Krieges ›wechselseitig angedrohte Zerstörung‹ der Großmächte beide zur Zurückhaltung gezwungen habe, weil die Krisengefahr, von der sie prinzipiell gleich betroffen waren, sich zu einem Nuklearkrieg hätte ausweiten können (besonders nach der Kuba-Krise, die gerade noch abgewendet werden konnte). Der Autor erörterte die Frage, ob das unbeabsichtigte Ergebnis des nuklearen Stillstands- und Beschränkungsabkommens zum funktionalen Äquivalent einer einzigen Weltregierung tauge – was bedeutete, dass eine hochstabile Machtbalance für viele Staaten einen starken Anreiz darstellte sich einer der beiden Supermächte anzuschließen – jedoch setzten die unipolare, und später multipolar gewordene Welt solchen Spekulationen ein Ende. Ein Jahrzehnt später stellte der Politikwissenschaftler Joseph Nye (2003) fest, dass die USA es nicht mehr ›im Alleingang schaffen können‹. Ein anderes Mitglied dieser kleinen Gruppe visionärer Konzeptualisten war Norbert Elias. Schon 1970 entfaltete er eine klare theoretische Perspektive der Gründe und Umstände, unter denen Machtverhältnisse weniger ungleich werden könnten und der Verlauf sozialer Prozesse weniger von den Plänen und Absichten der mächtigsten Spieler gesteuert werde, sondern viel entscheidender von den unbeabsichtigten Ergebnissen der verwobenen Pläne beteiligter Spieler. Zudem wies er auf die wahrscheinlichen ideologischen Konsequenzen hin, den dies auf das beunruhigende Empfinden der Völker, von undurchschaubaren sozialen Kräften in Bann geschlagen zu sein, ausüben könnten (Elias 2006, Kap. 3 ›Spielmodelle‹). Später, in Humana Conditio (2002a), einem grundlegenden Exkurs über Weltpolitik, untersuchte Elias die Möglichkeit für die eine oder andere Seite den Kalten Krieg für sich zu entscheiden. Dies hielt er für nicht wahrscheinlich; darin irrte er sich allerdings; denn die UdSSR brach zusammen, und die USA gingen als die übergeordnete ›Supermacht‹ hervor – wie es jedenfalls zunächst aussah. Ganz richtig erkannte Elias aber, dass die Herrschaft der dominierenden Supermacht in dem Moment untergraben werde, wo es ihr gelinge sich gegenüber der anderen durchzusetzen und sich an die Spitze zu setzen, und zwar genau weil die Angst vor der ehemaligen Gegenmacht und die entsprechende Angst auf Seiten der Protektionsstaaten damit abnehme. In vielen Teilen der Welt haben viele Menschen tatsächlich den nicht unbegründeten Eindruck Schutz vor den Gefährdungen zu benötigen, die von den USA ausgehen. In dieser Hinsicht könnte der entstehende Weltstaat an das Protektionsgeschäftssystem der frühen militärisch-agrarischen Staaten gemahnen. Ein langer Weg ist zurückzulegen, um die der amerikanischen Außenpolitik zugrunde liegende konstante Suche nach den bösen Feinden, die eine existentielle Bedrohung für sie bedeuteten, zu erklären. Wie Gore Vidal beobachtete, ist immer ›irgendein schrecklicher fremder Feind zur Hand, um uns in die Nacht des Hasses auf unsere Güte und rosige Plumpheit zu katapultieren‹ (2004: 6). Seit 2001 hat die unendlich biegsame Bedeutung des Wortes ›Terrorismus‹ diesem Zweck hervorragend gedient, obwohl dessen ungenauer Kompass Amerika fast dazu gebracht hat sich im syrischen Bürgerkrieg mit Ablegern von Al Quaida zu arrangieren.37 Nachdem die USA sich aber endlich aus den Untiefen des Mittleren Ostens befreit hatten, gab es in Foggy Bottom einen beinahe hörbaren Seufzer der Erleichterung, als ihnen nämlich klar wurde, dass sie zum viel einfacheren und vertrauteren Geschäft der Dämonisierung Russlands zurückkehren konnten. 37 Die USA wurden aus dieser verzwickten Lage durch das in weiten Kreisen bewunderte diplomatische Geschick Sergei Lavrovs, Präsident Putins Außenminister, befreit; dies hat jedoch bei den Amerikanern keine wahrnehmbare Dankbarkeit ausgelöst. 118 SLR 73.indb 118 29.11.2016 15:48:40 SLR Ich habe argumentiert, dass ein Weltstaat – die endliche innere Befriedung der ganzen Welt – große Vorteile mit sich bringen könnte. Aber wie eine Zusammenführung von selbständigen Nationen unter dem Banner der Vereinten Nationen nicht wahrscheinlich erscheint, so auch nicht der einhellige Zusammenschluss von fast 200 Staaten unter der Flagge des American Empire. Ist schließlich vorstellbar, dass in Amerika die Einsicht reift, dass eine einseitige, von den USA ausgeübte Weltherrschaft unhaltbar geworden ist – aus etwa den gleichen Gründen, die Antiimperialisten, wie Mark Twain und Carl Schurz, schon Anfang des 20. Jahrhunderts geltend gemacht haben? Die erinnern an den Wahlspruch des Amerikanischen Bürgerkriegs ›no taxation without representation‹. Damit formulierte man in Zeiten des ersten amerikanischen Empire die Einsicht, dass die Völker ihrer Kolonien – die Philippinen, Hawaii und Kuba – nicht länger beherrschbar waren ohne ihnen eine Repräsentanz zuzugestehen. Entweder musste man ihnen die Unabhängigkeit geben oder sie zu Staatsbürgern mit Wahlrecht machen.38 Der Herrschaftsbereich der USA ist heute viel umfassender. Sollte sich die amerikanische Regierung unter diesen Umständen nicht schrittweise für den klügeren Weg entscheiden und sich die Strukturen der Vereinten Nationen zu eigen machen, statt allen Völkern der Welt ein Mitspracherecht in amerikanischen Regierungsangelegenheiten einzuräumen? Das erscheint unwahrscheinlich. Aber im Lichte der Geschichte ist voraussehbar, dass sich langfristig – wenn nicht eine globale Katastrophe das Ökosystem der Welt zum Zusammenbruch bringt, oder ein vernichtender Atomkrieg die Menschheit auf ein stark reduziertes soziales Organisationsniveau zurückwirft – neue Integrationsformen herausbilden werden, die geeignet sind mit den Problemen, die die spezifischen Formen der globalen Interdependenzen aufwerfen, vernünftig umzugehen. Dieser Essay hat an den Ereignissen des 2014 ausgelösten Ukrainekonflikts angesetzt, hätte seinen Ausgangspunkt aber auch an vielen anderen Eskapaden der amerikanischen Außenpolitik nehmen können. Es war nicht meine Absicht Präsident Putin oder Russland weißer als weiß zu waschen. Auch erscheint es nicht ganz zulässig mit dem Finger auf die USA allein zu zeigen, denn es hat (in unterschiedlichem Maße) eine Kakophonie hysterischer Verurteilungen Russlands auch seitens zahlreicher europäischer Nationen gegeben: Während ich an diesem Beitrag schreibe, versucht der britische stellvertretende Premierminister gerade die von der FIFA für 2018 in Russland angesetzte Weltmeisterschaft zu verhindern.39 Ich habe dargestellt, dass Amerikas Machtposition in der Welt – wenngleich weniger unangefochten als vormals, oder gerade deswegen – die Nation besonders empfänglich gemacht hat für Hochmut und kollektive Selbsttäuschung – für das, was die alten Griechen hybris nannten. Ihre Außenpolitik mündet dadurch immer wieder in kollektive Katastrophen. Man könnte das, was ich als die ›großräumigste globale Etablierten/Außenseiter-Beziehung‹ beschrieben habe, auch als eine umfassende globale ›Zivilisationsoffensive‹ des Westens betrachten – genauer, als den Stolz des westlichen Selbstverständnisses das Ergebnis eines langwierigen europäischen Heft 73/2016 Essays 38 Das ist heute eine sehr praktische Frage. Stiglitz (2006: 120-2, 211) führt an, wie beispielsweise in der Konferenz der Welt-Handelsbeziehungen in Uruguay die USA – aus eng interpretierten kommerziellen Gründen im Rahmen von Handelsregulatorien – auf ihren intellektuellen Eigentumsrechten bestanden hätten, wodurch verhindert worden war, dass arme Länder preiswertere no-name-Produke selbst herstellen konnten und wodurch wahrscheinlich Hunderttausende Menschen zum Tode (insbesondere durch AIDS) verurteilt worden waren. Im Gegensatz zu all diesen Unzulänglichkeiten des amerikanischen politischen Systems und der Ungleichheiten in der amerikanischen Gesellschaft spielen Vorstellungen von ›Fairness‹ trotz allem immer noch eine gewisse Rolle in der Politikgestaltung, womöglich aus Furcht vor den Konsequenzen bei den nächsten Wahlen, wenn man auf diese völlig verzichtete. 39 Andererseits stellte Vizepräsident Biden am 2. Oktober 2014 in einer Grußbotschaft an der Harvard Universität fest, es sei ›wahr, dass sie (die europäischen Länder) dies nicht tun wollten (Russland Sanktionen auferlegen). Amerikas politische Führung und der Präsident der Vereinigten Staaten mussten darauf bestehen, dass Europa sich wehrte, auch wenn dies Europa oft in eine peinliche Lage brachte und zudem mit ökonomischen Härten und Kosten verbunden war‹. 119 SLR 73.indb 119 29.11.2016 15:48:40 Heft 73/2016 SLR Zivilisierungsprozesses auf den ganzen Erdball auszuweiten. Wenn dem so sein sollte, bestünde ein Problem in der persistierenden Dualität seiner normativen Codes. Vielen Menschen könnte all dies zu kompliziert sein. Sie könnten sagen, dass die amerikanische Außenpolitik einfacher gestaltet werden sollte, etwa nach dem Muster der altmodischen Realpolitik. Zielt sie aber bloß darauf ab das Territorium ihres Weltreichs und die Herrschaft ihrer Kapitalismusformen mit allen erforderlichen Mitteln, Ideologien und ihrem ›Patriotismus‹, der die harten Realitäten verschleiern helfen soll, auszuweiten? Ich kann das nicht recht glauben. Vielmehr scheint mir, als hätte die von Norbert Elias entwickelte Theorie der Etablierten/Außenseiter-Beziehungen – Kern seiner umfassenderen Theorie von Machtverhältnissen und ihren Konsequenzen – für diese Problemlagen etwas anzubieten. Etwas, das über Realpolitik hinausgeht. Die Formation von Wir-Bildern, verbunden mit entsprechenden Wir-Gefühlen, mündet in ein kollektives Selbststereotyp kritik-immuner Tugendhaftigkeit und Selbstgerechtigkeit auf Seiten der mächtigeren Seite der Konfliktparteien. Das geht einher mit der Formierung zugespitzter, auf Vorstellungen ›minderwertiger Minoritäten‹ basierender Sie-Bilder für die Gegenpartei(en). Zugleich führt dies aber zu einer Nichtbeachtung korrespondierender Negativbilder im Innern der USA (und ihrer Verbündeten) selbst, die den schwächeren Außenseitergruppen angeheftet werden. Diese Vernachlässigung wird insbesondere dann gefährlich, wenn die Außenseiter allmählich an Macht gewinnen. Diese Etablierten/Außenseiter-Prozesse haben einen langen Weg zurückzulegen, um die manichäische Weltsicht der Amerikaner, die sie auf die Welt jenseits ihrer eigenen Küsten pflegen, zu erklären: ihre Cowboy- und-Indianer-Mentalität, ihre gut-undböse-Naivität, und ihre ›Oh-Mist!‹-Unschuldsattitüde, wenn sie mit den Folgen ihrer Aktivitäten konfrontiert werden.40 Wendeten die Macher von Außenpolitik die Etablierten/AußenseiterPerspektive auf die globale Politik an, so könnte das dazu beitragen ihre Politik realistischer zu gestalten, weniger störanfällig infolge nicht voraus bedachter Folgen. Und doch mildert meine Argumentationslinie ironischerweise die Schuldzuweisung gegenüber Amerika ab, weil die aufgezeigten Prozesse alle möglichen Machtbalancen zwischen gesellschaftlichen Gruppen betreffen, wie an den imperialen Mächten der Vergangenheit, besonders am Beispiel Groß Britanniens in den Tagen seiner imperialen Glanzzeit gut gezeigt werden kann. Denn, wie Christopher Clark (2012), der die paranoide Deutschland-Phobie im britischen Außenministerium in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts analysiert hat, feststellte, setzte ›die britische Außenpolitik – ebenso wie die amerikanische im 20. Jahrhundert – in aller Regel auf Bedrohungs- und Invasionsszenarien als ihre handlungsleitenden Maximen‹.* (Übersetzung aus dem Englischen von Erika Richter) 40 Ich bin Bruce Mazlish dankbar meine Aufmerksamkeit auf diese ›Aw shucks!‹-Reaktionen, wie er sie nannte, gelenkt zu haben. * Ich danke Harold Behr, David Blake, Godfried van Benthem van den Bergh, Ruben Flores, Don Kalb, Andrew Linklater, Bruce Mazlish, Patrick Murphy, Malcolm Pines, Vic Schermer, Svein Tjelta und Karel von Wolferen für ihre hilfreichen Kommentare während der Entstehung dieses Beitrags. 120 SLR 73.indb 120 29.11.2016 15:48:40 SLR Literatur Alexander, A., 2011: America and the Empire of Ignorance. 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Norbert Elias’s theory of established–outsider relationships is deployed in understanding how the USA relates to the rest of the world, together with Elias’s idea of the duality of normative codes in nation states. The formation of we-images and associated we-feelings, based on a highly selective ‹minority of the best’, feeds into a collective self-stereotype of unquestioned virtue and self-righteousness on the part of the more powerful party to a conflict. The formation of exaggerated they-images of other players, based on a ‹minority of the worst’, is a complementary part of the process. But the process also leads to a neglect of the corresponding negative they-images of the USA (and its allies) that are formed on the side of the weaker outsider groups – and this neglect becomes especially dangerous as the outsiders gradually become relatively more powerful. 122 SLR 73.indb 122 29.11.2016 15:48:41 SLR Gerard Delanty Nachdenken über die Bedeutung von Solidarität für das heutige Europa Heft 73/2016 Essays Meine beiden Begriffe – Solidarität und Europa – scheinen heute ein unglückliches Paar abzugeben, nicht zuletzt im Lichte dessen, was jetzt Brexit genannt wird. Und tatsächlich lässt schon ein nur oberflächlicher Blick auf die politische Landkarte des heutigen Europa die Entkoppelung der Solidarität von allem, was mit der europäischen Idee verbunden war und ist, deutlich erkennen. Er enthüllt einen tief gespaltenen Kontinent. Die alte Teilung zwischen Ost und West wurde um die neue zwischen Nord und Süd ergänzt. Aber die eigentlichen Teilungen verlaufen nur allzu oft nicht zwischen den Nationen, sondern innerhalb derselben. Kulturelle und ideologische Konflikte entstehen hauptsächlich in den nationalen Zusammenhängen. Die europäische Frage ist daher unvermeidlich eng mit anderen Konflikten verknüpft. Nur selten treffen wir auf eine gemeinsame nationale Position, die andere Bereichen ausschließt. Vielleicht ist das ein Grund nicht völlig zu verzweifeln. Die Unterstützung für die europäische Integration war stets in erster Linie instrumentell und von nationalen Interessen angetrieben. Immer gab es aber auch eine normative Dimension der europäischen Integration, die nicht ohne Verbindung mit der Bedeutung von Solidarität geblieben war und nicht auf nationale Interessen reduziert werden konnte. Die Vereinbarkeit der nationalen Interessen mit dieser weiteren Bedeutung von Solidarität wurde noch selten auf die Probe gestellt. Auch ist es unvermeidbar, dass es einen Konflikt mit den nationalen Interessen gibt, sobald, wie es derzeit der Fall ist, ein bestimmter Integrationsgrad erreicht ist, was ein erneutes Nachdenken notwendig werden lässt (and a new reckoning will ensue). Auf diese Weise bildeten sich auch die Nationalstaaten. Hier aber findet zuerst und vor allem ein Zusammenstoß innerhalb der Nationen statt und nicht einer zwischen Britannien und Europa, den ich bloß für das Symptom einer tiefer liegenden Misere halte. Die Situation wird verkompliziert durch das Einsetzen einer tiefen ökonomischen Krise in Europa, und einen Euro, der viele der schwächeren und kleineren Länder im deutschen Kapitalismus gefangen hält, was tatsächlich den Sinn von Solidarität in Frage stellt. Aber genau diese Situation der moralischen und sozialen Krise lässt die Frage nach der Solidarität und ihrer Beziehung zur europäischen Idee umso relevanter werden. Jedoch gibt es viele Vorstellungen von Europa, und die Idee der Solidarität fügt sich nicht nahtlos in die anderen Ideen von Europa, die mit denen von Freiheit und Gleichheit verbunden sind. Ich möchte im Folgenden die tiefen, wenngleich nicht unversöhnlichen Widersprüche zwischen diesen politischen Traditionen entfalten und diskutieren. Es gibt zwei deutlich unterscheidbare theoretische Positionen zum Konzept der Solidarität. Beide werde ich hier kritisch hinterfragen. Die erste vertritt die Ansicht, Solidarität sei an kulturelle und territoriale Gegebenheiten gebunden. Demzufolge sei Solidarität zuvörderst in einer gemeinsamen Identität verankert und verliere außerhalb einer national definierten politischen Gemeinschaft ihren Sinn. Die zweite Position vertritt dagegen die Auffassung, Solidarität sei ein universalistischer moralischer Wesenszug des Menschen und daher potentiell von globaler Dimension. Demzufolge kenne die menschliche Solidarität keine Grenzen. Für die erste Position spricht eine Menge, während die zweite die Menschen mit einer kosmopolitischen Neigung anspricht, der ich selbst zuneige. Zusammengefasst, hat die eine also 123 SLR 73.indb 123 29.11.2016 15:48:41 Heft 73/2016 SLR die Bedeutung einer sozial-beschränkten, gebundenen Solidarität und die andere die einer allgemein-menschlichen Solidarität, die nicht beschränkt ist. Ich bin allerdings der Meinung, dass keine dieser Positionen hinreichend ist, sondern dass ein anderes Konzept von Solidarität ersonnen werden muss, das seinen Grund weder in einem territorialen Ort noch in einer universellen Moralität hat, sondern Elemente beider in sich vereint. Ich fange mit der Frage an, warum wir Formen von Solidarität brauchen und worum es bei einer solchen Fragestellung heute geht. Im zweiten Teil versuche ich eine Definition von Solidarität, die das Dilemma der Alternative geschlossen versus offen vermeidet. Im dritten Teil stelle ich ein paar sozio-historische Beispiele von Solidarität vor, und schließlich versuche ich die Frage zu beantworten, ob es eine europäische Solidarität überhaupt gibt. Was steht auf dem Spiel? Wie im Falle von Konzepten der Sozial- und Humanwissenschaften ist das Konzept der Solidarität ein umstrittenes. Aber statt daraus zu schließen, dass es zu unklar und folglich unbrauchbar sei, benötigen wir es meines Erachtens, weil wir ohne dasselbe keine Begrifflichkeit hätten unser bewusstes oder willentliches Engagement für eine gemeinsame Welt zum Ausdruck zu bringen. Und ohne dieses gäbe es kein soziales Leben. Und in diesem Sinne betrifft es die normative Dimension von sozialer Bindung oder Gesellschaft, das heißt von Gesellschaft im Sinne einer geteilten sozialen Welt. Das Konzept ist zudem verbunden mit anderen Konzepten, die die soziale Textur der Gesellschaften bestimmen, wie z.B. das von Gabe und Hingabe und Vertrauen. Wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass es sich bei der Solidarität nicht unbedingt um eine nur positive Bedingung handelt; sie kann auch negative Formen annehmen: eine einschießende und eine, die kraft ihrer integrativen Funktion die Möglichkeit des Ausschließens hat. So missbrauchten die Nazis Solidarität, um Gehorsam und Loyalität in einer Blut– und Boden-Ideologie zu verankern. Seit der Französischen Revolution war die Bedeutung von Solidarität – in der Tradition der Brüderlichkeit – an die zusätzlichen Ideen von Freiheit und Gleichheit geknüpft, wobei sie im allgemeinen diesen gegenüber einen geringeren Stellenwert hatte. Diese französische Idee der solidarité beeinflusste alle anderen Sinngebungen, einschließlich der deutschen, von Solidarität. Sie ergänzte die letzteren, ebenfalls normativen Konzepte und legte den Schwerpunkt auf die sozialen Bindungen, die eine politische Gemeinschaft ermöglichen. Eine grundlegende Idee ist dabei, eine Gesellschaft oder politische Gemeinschaft beruhe auf der Voraussetzung, dass ihre Mitglieder sich für sie einsetzten und dass sie um ihrer Zukunft willen nicht allein auf dem Streben nach Freiheit – allgemein im negativen Sinne als Freiheit von Tyrannei verstanden – oder Gleichheit beruhen könne. Die Bürger müssten sich außerdem füreinander einsetzen. Solidarität bezieht sich also auf die Art und Weise, wie soziale Beziehungen beschrieben werden sollten. Das menschliche Handeln kann soziale Chancen verhindern, darin besteht die Gefahr der Freiheit. Soziale Gerechtigkeit, wie das Streben nach Gleichheit, erfordert eine vorausgehende Verpflichtung gegenüber den sozialen Beziehungen, die die Mitgliedschaft definiert und den Horizont des politischen Gemeinwesens absteckt. Die politische Geschichte der modernen Gesellschaften folgte, grob gesagt, zwei Traditionen: eine, die mehr Wert auf die Freiheit legte und eine andere, die die Gleichheit favorisierte. Letztere propagierte eine soziale Gerechtigkeit und fand ihren Ausdruck im Sozialismus und ihren verschiedenen Varianten, während erstere sich im Liberalismus manifestierte und auf dem Glauben an Freiheit als übergeordnetem Politikziel gegründet war. Die Politik der Solidarität als solche füllten diese und andere Traditionen mit sozialem Inhalt. Zweifellos war sie mehr mit der zweiten als mit der ersten Tradition verbunden. Diese Zuschreibungen sind jedoch zu ungenau, 124 SLR 73.indb 124 29.11.2016 15:48:41 SLR wie es die Beispiele von sozialem Liberalismus und christlicher Demokratie zeigen. Außerdem fungierte Solidarität als eine normative Grundlage für Sozialpolitik, während sie zugleich für noch zu erreichende Ziele stand. Das Problem der Solidarität stellt sich zuerst, wenn sich eine politische Gemeinschaft im Bewusstsein einer zu errichtenden gemeinsamen sozialen Welt konstituiert. In diesem Sinne ist sie ein Produkt der Moderne, die begann, der Mächtigkeit des menschlichen Handelns einen höheren Stellenwert zuzuerkennen. Die modernen Gesellschaften leben, anders als ihre Vorgängerinnen, von der Überzeugung, dass die politischen Gemeinwesen mehr Kunstprodukte als Naturtatsachen seien und dass die Menschen ihre Welten im Lichte ihrer Zukunftsvisionen einzurichten vermöchten. Daraus entstand das Problem, wie zu entscheiden sei, wer zum politischen Gemeinwesen gehört. Das heißt nicht, dass Solidarität in vormodernen Gesellschaften nicht existent gewesen wäre, sondern lediglich, dass solche Gesellschaften zu ihrem Funktionieren auf Solidarität nicht angewiesen waren. Diese Frage wird gegenwärtig im Kontext einer Situation, in der die Nationalstaaten nicht länger selbständige geo-politische und kulturelle Einheiten sind, umso relevanter. Ich will nicht leugnen, dass sie die wesentlichen Einheiten sind, in denen Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit usw. ihren Ort haben; dennoch werden sie mehr und mehr von globalisierenden Kräften betroffen, und im europäischen Kontext sind sie eng miteinander verbunden. In dieser turbulenter gewordenen Welt halten die mit 1789 eingeführten dominanten politischen Traditionen – des Liberalismus und des Sozialismus – die richtigen Antworten nicht mehr bereit. Und dies einfach deshalb, weil sich die Fragestellung verändert hat. Es hat eine Akzentverschiebung von Freiheit und Gleichheit zu Solidarität stattgefunden. Das heißt, die Frage lautet nunmehr, wer es denn sei, der in den Genuss von Freiheit und Gleichheit kommt. Der moderne Nationalstaat übernahm den naiven Universalismus der Französischen Revolution, der alle Bürger zu Gleichen erklärte. Der moderne konstitutionelle Nationalstaat – einer der Nachfolger von 1789 – trat also den langen Prozess der Ausdehnung von Wahlrecht und übergreifender sozialer Bürgerschaft an. Selbstverständlich blieb dieser ausgesprochen exklusiv, aber seine Voraussetzungen waren weitgehend universalistisch, und seine Erfolge waren beträchtlich. Die liberalen und republikanischen Nationalismen, die diese Bestrebungen stärkten, sind nicht verschwunden, werden aber von neuen Problemen und einer veränderten Situation herausgefordert, eine, in der der Staat selbst infrage gestellt wird. Ebenso steht die ihm zugrunde liegende Bedeutung des nationalen politischen Gemeinwesens auf dem Prüfstand, mit dem Ergebnis, dass gegenwärtig heftig darum gestritten wird, wer überhaupt Mitglied einer politischen Gemeinschaft sei. Aber die, die ausgeschlossen sind, lassen sich nicht mehr so leicht zum Schweigen bringen wie in früheren Jahrhunderten. Wir müssen also die Bedeutung von Solidarität klären, um die Frage beantworten zu können, wer zum politischen Gemeinwesen gehört. Das führt zu der übergreifenderen Frage, wie Gesellschaft im Kontext einer Situation möglich ist, in der der Staat eine verbindliche normative Ordnung nicht mehr verordnen kann. Einfach ausgedrückt: Die draußen vor der Tür wollen hinein. Meiner Meinung nach ist dies nicht primär eine Frage der Freiheit, und auch nicht wirklich eine der Gleichheit. Selbstverständlich werden hier Fragen nach der Freiheit und Gleichheit aufkommen, aber dies wird nur der Fall sein, wenn zuvor geklärt wurde, wer die Mitglieder des politischen Gemeinwesens sind. Alles in allem erachte ich die Frage nach der Solidarität als vorrangig gegenüber der nach der Freiheit und Gleichheit. Damit erhebe ich einen starken Anspruch, denn schließlich bedeutet dies eine Umkehrung des Vermächtnisses von 1789, das den Vorrang der Freiheit, und später der Gleichheit, zum Grundbekenntnis der Moderne erhob. Aber wir sollten nicht vergessen, dass der Ruf nach Solidarität erst vernehmlich wird, wenn sie vermisst wird. Erst in Krisenzeiten wird Solidarität zum Problem. In solchen Zeiten historischen Umbruchs, wenn die alten und für selbstverständlich gehaltenen Annahmen nicht länger gültig Heft 73/2016 Essays 125 SLR 73.indb 125 29.11.2016 15:48:41 Heft 73/2016 SLR sind und die moralische Textur der Gesellschaft plötzlich zu zerbröseln beginnt, werden Fragen laut, was die Gesellschaft denn noch zusammenhalten könnte. Das führt insbesondere zu der Frage, ob Solidarität etwas ist, das erst hergestellt werden muss – wenn sie ganz fehlt oder nur unzureichend präsent ist –, oder ob sie paradoxerweise selbst das Mittel zur Behebung ihrer Abwesenheit ist. Solidarität – ein Definitionsversuch Wie ich ausgeführt habe, gibt es in den neueren Debatten über Solidarität die Tendenz diese entweder als auf den Nationalstaat beschränkt oder als eine essentiell moralische menschliche Qualität, und daher als unbeschränkt, aufzufassen. Das Problem mit der ersten Position besteht darin, dass Solidarität, während sie tatsächlich in einem engen Zusammenhang mit dem Entstehen des nationalen Gemeinwesens steht, dennoch weder unbedingt durch diesen beschränkt noch als Zustand/Kondition notwendigerweise begrenzt ist. Ich möchte also allen Ernstes behaupten, dass Verbindung Begrenzung nicht voraussetzt. Man kann starke Bindungen haben, ohne dass diese territorial gebunden sein müssen (wie z.B. in Diaspora-Situationen). Die Beziehung ist eine zufällige, wie wenn z.B. der moderne Staat selbst um den Preis der Freiheit soziale Beziehungen förderte (vgl. Preußen unter Bismarck, wo es eine Art Tauschhandel zwischen einer Solidarität als Sicherheit und einer Freiheit im Sinne von Demokratie gab). Wenn Territorialität der Schlüsselfaktor ist, würde dieser das Argument selbst untergraben, da es gewaltige territoriale Größenunterschiede zwischen den Staaten gibt. Wenn sehr große Staaten, wie Australien oder Brasilien, Solidaritätsbeziehungen auf der Basis ihrer Staatlichkeit erzeugen können, ist nicht einzusehen, warum dies noch größeren Einheiten nicht auch sollte gelingen können. Inzwischen hat sich ebenso das Argument durchgesetzt, dass das moderne nationale Gemeinwesen unabhängig von seiner Größe ein nur imaginiertes sei. Dann wird die Fähigkeit des nationalen Gemeinwesens, die Mittel zu seiner Selbstimagination zu erzeugen, zum entscheidenden Faktor. Darin werden einige erfolgreicher sein als andere. Ich halte dies für einen entscheidenden Punkt, der uns auch etwas über Solidarität mitzuteilen hat: dass sie nämlich Phantasie erfordert. Wie viele, wenn nicht alle politischen Erzeugnisse, hat Solidarität eine imaginative Dimension und verlangt nach Symbolisierungen, um in Realität umgesetzt werden zu können. Solidarität als soziale Solidarität ist allerdings auf einen politischen Ordnungsrahmen, in dem sie sich entfalten kann, angewiesen. Andererseits und im Gegensatz dazu geht die universalistische Position davon aus, dass insbesondere die Solidarität ein Wesenszug aller Menschen, und daher prinzipiell nicht durch ein nationales Gemeinwesen oder Ähnliches beschränkt sei. Demzufolge wird oft behauptet, dass ein globales Gemeinwesen auf dieser fundamentalen moralischen Tatsache möglich sein müsse. Diese Position geht also von einem Universalismus aus, der einen Partikularismus voraussetzt – mit anderen Worten: es handelt sich also um einen schwachen Universalismus oder eine Art Schnittmengen-Konsens. Es wird hier also zwischen starken und schwachen Formen unterschieden, wobei die globalen schwache Formen sind. Diese Sichtweise bringt verschiedene Probleme mit sich. Eines davon besteht darin, dass das partikularistische dann doch irgendwie für das eigentliche Solidaritätsmodell gehalten wird und dass globale, das heißt über das nationale Gemeinwesen hinausreichende Solidaritätsformen, bestenfalls zweitrangig sein können. Zwar möchte ich diese Position nicht gerade umstürzen, aber gute Gründe dafür anführen, dass beide Positionen sowohl in starken als auch schwachen Formen vorkommen können. Indessen mehren sich die Anzeichen dafür, dass die nationalen Solidaritätsformen im Rückgang begriffen sind und dies zu einer Zeit, wo andere Formen stärker werden, diese aber nicht ersetzen. Die universalistische Position ist also, kurz gesagt, nur vertretbar, wenn sie als schwache Moralität gefasst wird. 126 SLR 73.indb 126 29.11.2016 15:48:41 SLR Es gibt noch ein zweites und eher philosophisches Problem. Ich folge hierin Richard Rortys Position, die er in einem wichtigen Essay (in ders.: Contingency, Irony and Solidarity , 1989) vorträgt. Darin bezweifelt er, dass Solidarität ein essentieller moralischer Wesenszug, sondern viel mehr historisch kontingenten Umständen zuzuschreiben sei. Diese kantische Idee war einst nützlich darin vormoderne Vorstellungen zu überwinden. Heute müssen wir aber über den universalistischen Glauben, der auf der Voraussetzung basiert, das Selbst sei der Referenzpunkt der universalistischen Vernunftgründe, hinausgehen. Und während Rorty nicht der Auffassung widerspricht, wir könnten versuchen die Grenzen des politischen Gemeinwesens zu erweitern, um die Ausgeschlossenen mit aufzunehmen – ungefähr das globale Argument –, versucht er die philosophischen Voraussetzungen einer Position auszuhebeln, die Solidarität für ausschließlich universalistisch bestimmt hält. Er drängt uns dazu die Quelle der Solidarität weniger in der »Fähigkeit mehr und traditionelle Differenzen (des Stammes, der Religion, Rasse, Sitten u.a.) sehen zu können, sondern vergleichbare Leidens- und Demütigungserfahrungen wahrzunehmen – die Fähigkeit also uns sehr verschiedene Menschen als zu ›uns‹ gehörig« zu betrachten. (Rorty, 1989: 192). Ich möchte nicht mehr oder anderes aus Rortys Argument machen als zunächst festhalten, dass es ihm darauf ankommt Solidarität als potentiell offen und nicht auf hoch partikularistische und daher geschlossene Kontexte beschränkt zu sehen. Dies wird möglich, wenn sie nicht so sehr als eine moralische Bedingung betrachtet wird, sondern als eine, die aus kontingenten Umständen hervorgeht, so wenn zum Beispiel Menschen in Zeiten historischer Umbrüche sich schwierigen Situationen und Erfahrungen von Leid und Demütigung ausgesetzt sehen. Wie sie dann reagierten, könne allerdings nie vorausgesagt werden. Rorty versichert jedoch, dass das Ausmaß dieses Leidens sehr wahrscheinlich ein bestimmender Faktor sein werde, jene Leidenden als zu ›uns‹ gehörig wahrzunehmen, dass dies aber wohl nicht im Namen einer universellen Humanität geschehen werde. Aus diesen Gründen ist Solidarität nicht notwendigerweise eine lokal oder partikular beschränkte Angelegenheit noch ein nur schwacher moralischer Appell an die allgemeine Menschlichkeit. Daher das kulturalistische und moralische Argument zurückweisend, halte ich es für angemessener, Solidarität politisch zu fassen. Diese Position ist von Habermas vertreten worden, für den Solidarität ebenfalls nicht auf legale Verpflichtungen reduzierbar war. Denn es gibt Solidarität bereits vor dem Gesetz, und sie unterscheidet sich außerdem von der Moralität: »Das Konzept kann und sollte in ausgesprochen politischem Sinne gebraucht werden« (Habermas, 2015: 20). Habermas sieht etwas Wesentliches, wenn er feststellt, dass Solidarität auf ein Netzwerk sozialer Beziehungen bezogen ist und das Potential hat sogar über Gesetz und Moralität hinauszugehen. So sei es zum Beispiel mehr eine Frage der Solidarität als des Rechts, wie viel Ungleichheit ein reiches Land zu akzeptieren bereit sei (S. 23). Zwischen Moral und ethischen Ansprüchen unterscheidend – letztere in den Kontext von Hegels Theorie der Sittlichkeit fallend – »beziehen sich ethische Erwartungen und Appelle an Solidarität auf das Interesse einer verlässlichen gemeinsamen Lebensform, die das eigene Wohlergehen einschließt« (S. 21). Solidarität ist ein politischer Anspruch – der von den Marginalisierten oder ihren Anwälten vorgebracht werden kann und den der Gesetzgeber jeweils in soziale Rechte transformieren kann (S. 25). Der Unterschied zu Hegels Sittlichkeit besteht darin, dass Solidarität sich nicht so sehr auf eine bestehende oder vor-politische Gemeinschaft bezieht, sondern auf eine erst künftige, auf eine erst noch zu schaffende. Habermas (2001: 8) bestand darauf Solidarität als einen Prozess kognitiven Lernens zu begreifen, wobei die Idee einer ›Solidarität unter Fremden‹ zuerst im nationalstaatlichen Kontext entstand, aber nicht auf ihn zu beschränken ist, da dieser schlicht eine historische Zufälligkeit sei. Das Konzept der Solidarität bleibt ein wichtiges Anliegen des Habermasschen Schaffens, insofern es Denkanstöße für alternative Modelle sozialen Lebens bereithält (Habermas, 1986). Die Moderne vermittelt der Solidarität eine bestimmte Stoßrichtung, die für die modernen Heft 73/2016 Essays 127 SLR 73.indb 127 29.11.2016 15:48:41 Heft 73/2016 SLR Gesellschaften entscheidend ist, um ihrer sozialen Integrationsaufgabe nachkommen zu können. Solidarisches Handeln wird notwendig, weil andere Integrationsformen die integrativen Funktionen nicht leisten können. Die Moderne enthält ein Versprechen: dass Gleichheit und Freiheit möglich werden. Dieses Versprechen lässt sich jedoch nicht leicht einlösen. Habermas' Argumentation erinnert an die politische Philosophie Hannah Arendts, die vom Versprechen einer gemeinsamen Welt sprach (Arendt, 2005). Auch für sie war die bürgerliche Solidarität eine Bedingung der Möglichkeit der politischen. Die Theorie der Solidarität war eines der wichtigsten Vermächtnisse Emile Durkheims und das Herzstück seiner soziologischen Theorie. In Division of Labour in Society (1893) legte er dar, wie die in der Vergangenheit vorherrschenden Solidaritätsformen, die er ›mechanische‹ nannte, weil sie auf der ›mechanischen‹ Reproduktion der sozialen Beziehungen basierten und überwiegend auf persönlicher Bekanntschaft beruhten, allmählich an Bedeutung verloren. In modernen Gesellschaften sind im Gegensatz dazu andere Solidaritätsformen gefragt, die, als Resultat der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, mehr durch indirekte als durch direkte soziale Beziehungsformen gekennzeichnet sind. Die der Moderne angemessenen Solidaritätsformen werden demzufolge nicht mehr als mechanische, sondern als organische klassifiziert – eine etwas verwirrende Bezeichnung, die aber auf die Vielheit der indirekten Verbindungen, die für die modernen sozialen Verhältnisse spezifisch sind, verweisen soll. Durkheims Theorie legt eine noch immer valide Rechenschaft von einer Solidarität ab, die nicht nur für den entwickelten Nationalstaat, sondern für jede Art politischen Gemeinwesens jenseits der Nation brauchbar bleibt. Durkheim dachte auch bereits über eine europäische Gesellschaft als Gegensatz zur Nationalstaatlichkeit nach. Seine Division of Labour beschließt er mit der etwas rätselhaften Erklärung: »Unter den europäischen Völkern gibt es durch eine spontane Bewegung das Bestreben eine europäische Gesellschaft zu formen, die schon eine Idee von sich hat, und die Anfänge einer Organisation. Sollte auch die Bildung einer einzigen menschlichen Gesellschaft für immer unmöglich bleiben – was historisch noch nicht erwiesen ist –, so bringt uns doch die Formung immer größerer Gesellschaften dieser Zielrichtung wenigstens ein Stück weit näher« (S. 405-6). Es gibt noch einen weiteren guten Grund an Durkheim zu erinnern, insofern er behauptete, die Gegenwart sei durch eine nur unvollkommene Realisierung der organischen Solidarität charakterisiert. Die alten Solidaritätsformen existierten weiter, könnten die Erfordernisse der Moderne aber nicht länger erfüllen, und die neuen Formen seien nur unvollkommen entfaltet. Das Ergebnis war ein Zustand gesellschaftlicher Anomie, der durch die neu entstehende Solidarität, deren Zeichen er in bestimmten Entwicklungen der modernen Gesellschaft entdeckte, gelindert werden sollte. Sein Rechenschaftsbericht blieb jedoch limitiert durch seine Beschäftigung mit einer Art affirmativem Solidaritätskonzept in Zeiten einer schweren nationalen Krise infolge des Französisch-Preußischen Krieges, der nachfolgenden Dreyfus-Affaire und der Pariser Kommune. Und doch bleibt sein Verständnis von Solidarität als einer bürgerlichen Moralität (ein Begriff, den er auch später noch in so ziemlich der gleichen Bedeutung gebrauchte), die mit den indirekten Arten der modernen Sozialbeziehungen entsteht, in denen die Textur der Gesellschaft durch Krisen geschwächt wird, bis in unsere Zeit hoch bedeutsam. Dennoch meine ich, dass eine aktuelle Theorie nicht einfach Durkheim darin folgen kann, die organische Solidarität sei letztlich in den institutionellen Strukturen der modernen Gesellschaft, die auf die Kooperation der sozialen Gruppen angewiesen ist, verankert. Der radikale Impetus seines Konzepts wird gezähmt durch eine Interpretation, die Solidarität auf das Maß zurückstutzt, das ihr durch die Versöhnung von Freiheit und Gleichheit zugestanden wird. Zusammenfassend kann gesagt werden: Solidarität ist ein politisches und normatives Konzept; es hat eine besondere Relevanz für moderne Gesellschaften und entsteht vor allem in Zeiten der Krise; es ist nicht notwendig auf nationale Gemeinwesen beschränkt; aber es handelt sich dabei 128 SLR 73.indb 128 29.11.2016 15:48:41 SLR auch nicht um eine universelle Moralität. Es kann positive und negative Formen annehmen, ist kein Nullsummen-Zustand, hat aber verschiedene Ebenen und Ausformungen. Heft 73/2016 Essays Historische und soziologische Perspektiven Ich halte es für hilfreich einen Unterschied zu machen zwischen dem, was uns gemeinsam ist – unsere Identität also – und dem Teilen. Solidarität in komplexen Gesellschaften, die dabei sind sich zu transnationalen Kontexten zu entwickeln, ist nicht notwendigerweise auf gemeinsame Welten angewiesen. Und doch ist ein gemeinsames Gefühl der Zugehörigkeit sogar in Kontexten mit sehr großen Unterschieden möglich. Tatsächlich tendiert die Bedeutung von Erfahrungen, die mit dem Leben im Gemeinwesen verbunden sind, dazu in komplexen Gesellschaften zu verschwinden. Das soll aber nicht heißen, dass eine gemeinsame Welt nicht möglich sei. Diese wird sich wahrscheinlich eher aus den kommunikativen Verbindungen zwischen den Menschen konstituieren als aus den geteilten kulturellen Werten und Identitäten oder der geteilten sozialen Welt. Das Zunehmen vermittelter Beziehungen, welches ein Zeichen unserer Zeit ist, lässt gleichermaßen die Tatsache wie die Möglichkeiten des Teilens anwachsen. Nicht länger auf persönlichen Beziehungen beruhend, eröffnen sich für die sozialen Beziehungen in der Moderne neue Möglichkeiten. Ich habe oben festgestellt, dass das politische Gemeinwesen der Moderne die phantasievolle Gestaltung der sozialen Beziehungen beinhaltet. Mag uns auch mit Anderen nicht viel verbinden, so wird Teilen dennoch möglich und wird angesichts der Umstrukturierung der sozialen Beziehungen durch die Mediatisierung tatsächlich vermehrt umgesetzt. Wir können daher unsere Erfahrungen teilen, auch wenn sie nicht gleich sind. In diesem Sinne zu teilen erfordert Kommunikation, durch die die Erfahrungen interpretiert werden; und dies setzt sich im Zuge der Moderne durch. Solidarität vermag also durch die Öffnung vorher geschlossener Welten Fuß zu fassen – wobei sich das ›Wir‹ zum Einschluss der ›Anderen‹ weitet –, oder auch durch offenere soziale Kontexte, die nicht so sehr aus den etablierten Lebensformen als aus globalen Bewegungen hervorgehen. Während die Moderne eine Veränderung der sozialen Beziehungen mit sich brachte, die die Bedeutung von Solidarität gestärkt hat, hat sie zugleich die sozialen Bande geschwächt. Diese doppelte Bewegung untermauert – um mit Polanyi zu sprechen – das, was ich für den nachhaltigsten Aspekt von Solidarität als einer sozio-historischen Kondition halte, namentlich ihre subversive Qualität. Solidarität hat in modernen Gesellschaften häufig das politische Potential den status quo in Frage zu stellen. Denn nicht diesem, und auch nicht einem vorausgehenden politischen Gemeinwesen, wird zugestimmt, sondern dem Versprechen einer neuen politischen Gemeinschaft, und dies oft gerade von denen, die ausgeschlossen sind. Solidarität bedeutet also nicht notwendig, dass die Bessergestellten den Bedürftigen und Notleidenden helfen, wie es zum Beispiel bei der Caritas der Fall ist, sondern ist Produkt einer politischen Infragestellung der bestehenden normativen Ordnung der davon Ausgeschlossenen. Dieser politische Nutzen ist vielleicht der eindrucksvollste Gebrauchswert von Solidarität. So wurde das Konzept mit den anti-Globalisierungs- und den kosmopolitischen Gegenbewegungen in Verbindung gebracht (Delanty, 2009; Kurasawa, 2004; Pensky, 2007; Schwartz, 2007). Einige Solidaritätstheoretiker unterscheiden zwischen ihren normativ-politischen und ihren mehr institutionellen Formen (Karagiannis, 2007). Die ersteren tendieren dazu Solidarität als Erweiterung der moralischen und politischen Horizonte der Gesellschaft durch neue Verständnisse sozialer Einbindung zu sehen. Für Gould (2007) verändert Solidarität die sozialen Gruppen, ist, mehr als in Durkheims Modell, eine verstärkende Bedingung, da sie aus konflikthaften Umständen hervorgeht. Und während dies auch einen gegenteiligen Effekt haben kann, schafft es häufig neue Sympathien und stößt, aus emotionaler Umorientierung oder sozialer Empathie, ungewohnte 129 SLR 73.indb 129 29.11.2016 15:48:41 Heft 73/2016 SLR Denkweisen an. Soziale Kritik ist ein essentielles Resultat von Solidaritätspolitik. In diesem Sinne unterscheidet sich Solidaritätspolitik also beispielsweise von einem Humanitarismus, der die bestehenden Selbstverständlichkeiten über die Bürgerschaft /Bürgerzugehörigkeit nicht in Frage stellt (s. auch Bartky, 2002). Wie Alexander (2006) bemerkte, beinhaltet die soziale Solidarität tatsächlich solche Dispositionen und bildet so eine der Grundlagen der Gesellschaft. Solche Fragen konstituieren einen essentiellen Gegenstand der Soziologie. Es scheint demnach, dass man die Solidarität auf zweierlei Weise fassen kann. Sie kann in Beziehung gesetzt werden zu den Bedürfnissen der modernen Gesellschaften nach Integration – das betrifft die soziale Solidarität –, oder sie kann in Beziehung gesetzt werden zur Kritik und Veränderung bestehender Diskurse um soziale Zugehörigkeit. Durkheims Theorie zählt zur ersten Kategorie, und Elemente im Verständnis der letzteren können wir in den aktuellen kosmopolitischen Strömungen erkennen. Und während das Konzept auch auf vormoderne Gesellschaften angewendet werden kann, ist es, wie ich gezeigt habe, wesentlich ein Produkt der modernen Gesellschaften, da erst in diesen die Notwendigkeiten von Legitimation und Integration aufkommen, die nur mit kommunikativen Mitteln gelöst werden können – im Gegensatz zum Beispiel zu den autoritären der Tradition. Aus einer historisch-soziologischen Perspektive sind, als Reaktion auf Krisenereignisse, Verschiebungen in der terminologischen Genealogie erkennbar. Stichwortartig angeführt, hat dies angefangen mit der Französischen Revolution, die als Geburtsstunde des modernen Konzeptverständnisses betrachtet werden kann, über die großen Programme der Nationalstaatsbildung, die Komplikationen und Krisen des 20. Jahrhunderts bis hin zur intensivierten Periode der Globalisierung und den gegenhegemonialen Bewegungen unserer Zeit. In diesen Perioden, wie immer man sie klassifizieren mag, rücken die kritischen und affirmativen Dimensionen in den Blick, die, wie ich gezeigt habe, nicht auf Vorstellungen einer universalistischen moralischen menschlichen Natur allein gegründet werden können. Für beide Positionen lassen sich sowohl starke als auch schwache Ausprägungen finden. Die konkrete Form, die Solidarität jeweils annimmt, hängt auch davon ab, wie sie mit anderen politischen Konzepten, insbesondere denen der Freiheit und Gleichheit, interagiert. Stjerno (2009), der eine sehr detaillierte Konzeptgeschichte verfasst hat, konnte zeigen, welche Verbindungen es mit der christlichen, insbesondere katholischen Soziallehre und der Arbeiterbewegung eingegangen ist und so zu einer einflussreichen Kraft der modernen Sozialdemokratie sowie der christlichen Demokratie geworden ist. Dieser großartigen Darstellung habe ich nicht viel hinzuzufügen, möchte sie jedoch um einen wichtigen Aspekt ergänzen. Das Solidaritätskonzept ist so schwer zu bestimmen, weil seine konkrete empirische Existenz stets das Resultat von Interpretationen gesellschaftlich Handelnder ist. Dies gilt selbstverständlich nicht für das Konzept von Solidarität allein, sondern für alle großen Ideen der Moderne. Insofern hat es keine zeitlose oder übergeschichtliche Bedeutung, die in den sozialen Institutionen, Bewegungen oder in der menschlichen Natur verankert wäre. Empirische Erscheinungsweisen sind stets das Resultat von Interpretationen, die sich die sozialen Akteure von ihrer Welt machen und davon, wie sie ihre Projekte sehen. Darüber hinaus und zusätzlich zu dieser interpretativen Funktion wird auch die Art, in der sich ein bestimmtes Konzept – in diesem Fall das der Solidarität – mit anderen verbindet, zu einem entscheidenden Faktor. Diese Auffassung stimmt mit der historischen Rekonstruktion Stjernos überein, die meines Erachtens auch gezeigt hat, dass und wie Solidarität mit anderen Ideen, wie denen von Freiheit und Gleichheit, verwoben ist. Die Dimension der Schnittmengenbildung wird zu einer Hauptaufgabe von Interpretationen, Selektionen und resultierenden Neukombinationen. Politische Realitäten werden also durch Prozesse der Interpretation, Selektion und Kombination konstruiert, und daraus ergeben sich schließlich neue Variationen/ Varianten. 130 SLR 73.indb 130 29.11.2016 15:48:41 SLR Gibt es eine europäische Solidarität? Wenn wir den Terminus der Solidarität gebrauchen, berufen wir uns auf einen Begriff, der der historischen europäischen Erfahrung entstammt. Per definitionem ist er in diesem Sinne also mehr oder weniger europäisch. Zweifelsohne wird eine Menge Arbeit zu tun sein, um diesen Begriff in andere Bedeutungsregister, wie z.B. andere Zivilisationsgeschichten, transferieren zu können. An dieser Frage interessiert mich abschließend, ob und in welchem Maße dieses europäische politische Erbe der Solidarität gegenwärtig ein prominenter Diskursgegenstand ist. Sie wird nicht ganz leicht zu beantworten sein. Denn Solidarität ist keine der besonders deutlich herausgearbeiteten Ideen der Moderne, im Unterschied zum Beispiel zu denen der Freiheit und Gleichheit, die meiner Auffassung nach die Hauptantriebskräfte bei der Gestaltung der europäischen Moderne waren. Man hat gesagt, der Republikanismus sei das Kernstück der europäischen politischen Überlieferung – ich halte dies für eine hochproblematische Behauptung. Die Demokratie im weiteren Sinne entwickelte sich zwar erst relativ spät, kann aber nicht eigentlich als eine europäische Erfindung verbucht werden. Es kann indes kaum bezweifelt werden, dass die Freiheit und Gleichheit in der modernen europäischen Phantasie einen großen Raum eingenommen haben. Wo ist dann aber die Solidarität zu verorten? Als ein bestimmendes Merkmal der europäischen politischen Überlieferung bleibt die Solidarität von etwas eingeschränkter Bedeutung, wenn wir sie im Zusammenhang mit dem Kampf um soziale Gerechtigkeit und Gleichheit betrachten. Ich habe darauf hingewiesen, dass Solidarität selbst nicht auf soziale Gerechtigkeit reduziert werden kann, die ihrerseits im allgemeineren Kontext des Egalitarismus verortet werden muss. In einem weiteren Sinne ist eine Solidaritätspolitik aber sehr wohl Bestandteil des Kampfes um soziale Gerechtigkeit. Der Widerstand gegen ein auf Marktwirtschaft basierendes Gesellschaftsmodell ist sicherlich ein starkes Handlungsmotiv in der europäischen Geschichte, das sich in Form antikapitalistischer Bewegungen sozialistischer, sozialliberaler und sozialdemokratischer Provenienz manifestiert hat. Gleichermaßen hat dies die in der unmittelbaren Nachkriegsperiode in Westeuropa virulenten Bestrebungen, ein soziales Kapitalismusmodells zu kreieren, gestärkt. Letztlich macht diese Zähmung des Kapitalismus durch die politische Einforderung einer sozialen Gerechtigkeit den entscheidenden Unterschied Europas zum Rest der Welt aus. In diesem Sinne machten die Ansprüche auf soziale Gerechtigkeit und Solidarität an das politische System des modernen Europa auf mindestens zweierlei Weisen geltend. Die eine gestaltete eine Sozialpolitik, die oft mit Solidarität gleichgesetzt wird. Die andere war allgemeiner auf die normativen Komponenten des Gesellschaftsverständnisses gerichtet. Beide Strömungen finden sich in den Kerndokumenten der EU wieder; so ist Solidarität zum Beispiel im Vertrag von Rom von 1957 wie in der Charter der Grundrechte von 2000 erwähnt. Letztere stellt sie in einen Zusammenhang mit Sozialpolitik, und in ersterer geht es um ein allgemeineres und schwer zu fassendes normatives Konzept von Gesellschaft, zugleich als Ziel wie als Voraussetzung. Trotz dieser Einlassungen von Solidarität in die rechtliche Konstitution von Politik kann das Konzept, dem bisherigen Argumentationsgang zufolge, nicht auf rechtliche Setzungen oder auf Gleichheit reduziert werden. Vielmehr handelt es sich um eine politische und normative politische Strömung, die vor allem in Krisenzeiten nachgefragt wird. Solidarität ist nicht auf die Leitlinien des Nationalstaats oder aus dem gleichen Grunde auf die europäische Politik beschränkt. Vielmehr gibt es viele Anzeichen dafür, dass die Stoßrichtung von Solidarität sich heute eher gegen Europa wendet. Die gegenhegemonialen politischen Bewegungen, die mit Antikapitalismus und Migration verbundenen sind, sind gegenwärtig die tragenden Säulen der Solidaritätsidee. Dies vergegenwärtigt uns auch, dass Europa nie bloß Europa ist, nie allein der Schmied seines Glückes sein kann, weil es immer auch von dem mitbestimmt wird, was im ›Rest‹ der Welt vor sich geht. Europa hat in einem gewissen Ausmaß seine Modernität um den doppelten Konflikt von Heft 73/2016 Essays 131 SLR 73.indb 131 29.11.2016 15:48:41 Heft 73/2016 SLR Freiheit und Gleichheit geformt. Aber die Dimension, die von der Solidaritätsidee repräsentiert wird, fügte sich nicht nahtlos in diese politischen Traditionen und die damit verbundenen Gesellschaftskonzepte ein. Gegenwärtig scheint der Zusammenhalt verlorenzugehen: Die europäische Gesellschaftsidee wird von innen wie von außen auf eine Zerreißprobe gestellt. Schlussfolgerung Aus all diesen Gründen bin ich mit der derzeit üblichen Aufspaltung einer sozialen Solidarität als Teil der nationalen Identität des modernen Nationalstaats – und einer offeneren, globalen menschlichen Solidarität, nicht einverstanden. Ich habe ausgeführt, dass Solidarität, wie andere derartige Ideen auch, immer in spezifischen Kontexten politisch definiert ist und dass diese Kontexte nicht notwendigerweise territorial begrenzt sind. Solidarität ist ein Begriff, der für neue Interpretationen offen bleibt. Einer der stärksten Einflüsse, in denen die Idee der Solidarität heute aufscheint, manifestiert sich in den globalen Bewegungen und in der Figur des Flüchtlings. Einer der Gründe, warum dies viele Menschen beunruhigt, ist, dass dadurch einige der dominierenden Grundüberzeugungen der europäischen Moderne in Frage gestellt werden, insbesondere die, dass dieses Europa die Idee der Freiheit verwirklicht habe. Die Verteidigung Europas findet heute eher im Namen des Schutzes der Freiheit denn in dem der Solidarität statt, die, wo man sich auf sie beruft, mehr gegen als für Europa eingesetzt wird. Deshalb gilt es vielleicht jetzt die Idee der Solidarität fester im europäischen politischen Erbe zu verankern. (Übersetzung aus dem Englischen von Erika Richter) Literatur Alexander, J., 2006: The Civil Sphere. Oxford Arendt, H., 2005: The Promise of Politics, New York Barkty, L., 2002: Sympathy and Solidarity and Other Essays. Lanhan Brunkhurst, H., 2005: Solidarity: From Civic Friendship to a Global Legal Community, Cambridge Durkheim, E., 1984: The Division of Labour in Society. London Gould, C., 2007: ›Transnational Solidarities‹ Journal of Social Philosophy 38 (1): 148-64 Habermas, J., 1986: Autonomy and Solidarity: Interviews (edited by P. Dews), London Habermas, J., 2001: ›Why Europe Needs a Constitution‹, New Left Review 11 (Sept-Oct): 5-16 Habermas, J., 2015: ›A Plea for European Solidarity‹ in The Lure of Technology, Cambridge Jabri, 2007: ›Solidarity and Spheres of Culture: The Cosmopolitan and the Postcolonial‹, Review of International Studies 33: 715-28 Karagiannis, N., 2007: (ed.) European Solidarity, Liverpool Komter, A. F., 2005: Social Solidarity and the Gift. Cambridge Kurasawa, 2004: ›Cosmopolitanism from Below: Alternative Globalization and the Creation of a Solidarity without Bounds‹ Arch. Europ.Social XLV (2): 233-255 Lockwood, D., 1992: Solidarity and Schism: The Problem of Disorder in Durkheimian and Marxist Sociology, Oxford Pensky, M., 2007: ›Two Cheers for Cosmopolitanism: Cosmopolitan Solidarity as a Second-Order Inclusion‹ Journal of Social Philosophy 38 (1): 165-84 Rorty, R., 1989: Contingency, Irony and Solidarity, Cambridge Schwartz, J., 2007: ›From Domestic to Global Solidarity: The Dialectic of the Particular and Universal in the Building of Social Solidarity‹ Journal of Social Philosophy 38 (1): 131-47 Stjerno, S., 2009: Solidarity in Europe: History of an Idea, Cambridge Wilde, L., 2013: Global Solidarity, Edinburgh 132 SLR 73.indb 132 29.11.2016 15:48:41 SLR Abstract The concept of solidarity is often seen either as a bounded social or as a universalistic moral trait of human beings and is potentially therefore of global scope. The argument of the article is that both are wrong and that it is possible to arrive at another account of solidarity that sees it resting neither on a bounded space nor on a universal morality, but incorporates elements of both. The question solidarity is prior to the question of liberty and equality. Solidarity is always politically defined in specific contexts and that these contexts are not necessarily territorially limited. It is a term whose meaning is always open to new interpretations. One of the strongest currents today in which the idea of solidarity appears is in global movements and the figure of the refugee. Heft 73/2016 Essays 133 SLR 73.indb 133 29.11.2016 15:48:41 Heft 73/2016 SLR Christoph Sänger Den Marxismus lebendig erhalten. Pädagogische Impulse zweier Vordenkerinnen des demokratischen Sozialismus: Anna Siemsen und Alice Rühle-Gerstel Vielen mag es wie ein Witz erscheinen, im Jahre 2016 ausgerechnet an die Überlegungen zweier sozialistischer Pädagoginnen zu erinnern, wo doch seit dem Untergang der Staatssozialismen Osteuropas und dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989/1991 der Kapitalismus endgültig das letzte Wort der Geschichte haben sollte und sozialistische Widerworte für überflüssig erklärt und belächelt wurden. Sozialistische Pädagogikkonzepte wollte man zack zack zu den Akten legen, sie durften allenfalls Artenschutz beanspruchen. Gut fügte sich, dass große Theoriesysteme schon längst als überholt galten. Einer von diesen Vielen ist Heinz Sünker sicher nicht. Er gehört zu der kleinen Schar marxistisch inspirierter Denker, die unbeirrbar – nicht zu verwechseln mit unbelehrbar – die Perspektive eines demokratischen Sozialismus vertritt (statt vieler Titel: Sünker, 2003, 2006). Auch an solchen Intellektuellen liegt es, dass der Marxismus keine Anstalten macht, wie gewünscht von der Bildfläche zu verschwinden. Den Referenzrahmen für Sünkers Schriften bilden die »ältere« Kritische Theorie, insbesondere in Adornos Version, und der subjekttheoretisch orientierte westliche Marxismus nach 1960. Zudem nimmt er in pädagogischen Studien neben seinem Lieblingsautor Heinz-Joachim Heydorn immer wieder Bezug auf Klassiker des Sozialismus, so auch auf Anna Siemsen (1882-1951), eine fast in Vergessenheit geratene sozialistische Pädagogin und Volksbildnerin aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gehört sich solche Gelehrsamkeit für einen 68er? Damals in den Hochzeiten der Bewegung sicher nicht, viele folgten William Blakes Motto »Die Tiger des Zorns sind weiser als die Rosse der Belehrung«. Seit den 1970er Jahren wird den Rossen der Belehrung allerdings mehr Raum gegeben und Weisheit attestiert. In diesem Sinne soll es hier – kein Witz – um die Lehrgebäude zweier Vordenkerinnen des demokratischen Sozialismus gehen. Wichtige Aspekte des Werkes von Anna Siemsen werden vorgestellt und verglichen mit Leitgedanken von Alice Rühle-Gerstel (1894-1943), einer Zeitgenossin von Siemsen, die ebenfalls den Titel einer Schlüsselfigur unorthodoxer marxistischer Pädagogik der 1920er bis 1940er Jahre für sich beanspruchen darf, im kollektiven Gedächtnis der wissenschaftlichen Pädagogik ähnlich wie Siemsen jedoch kaum eine Rolle spielt. Natürlich darf im Anschluss der Bezug zu aktuellen Aussichten einer sozialistisch orientierten Pädagogik nicht fehlen. 1 Anna Siemsen. Leben, Werk, Pädagogik Anna Siemsen gestaltete ihr Leben, so brachte es ihr Bruder August 1951 in der kurz nach ihrem Tod verfassten und bis heute als wichtige Fundstelle dienenden Biografie auf den Punkt, als »unermüdlichen Kampf, um die Herzen und Köpfe der Menschen für den Sozialismus, d. h. für die Wohnbar- und Menschlichmachung der Erde zu gewinnen« (Siemsen, 1951: 125). Dieser Einsatz führte zur Zusammenarbeit mit einer Vielzahl an Mitstreitern und Gesinnungsgenossen, in unterschiedlichen beruflichen Stellungen und Organisationen und brachte einen steten Wechsel der Lebens- und Arbeitsorte mit sich. Man kann das auf eine »innere Unruhe« und ein 134 SLR 73.indb 134 29.11.2016 15:48:41 SLR »Getriebensein« im Ringen um die sozialistische Sache zurückführen (Hansen-Schaberg, 1999: 113). Die Vielfalt brachte zahlreiche Kontakte zu renommierten Linksintellektuellen ihrer Zeit mit sich, mit denen Siemsen zeitlebens regelmäßig korrespondierte. Somit dokumentiert ihre Biographie (vgl. Sänger, 2016: 7-16) die Anstrengungen und Brüche der sozialistischen Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Geboren wurde Anna Siemsen 1882 im westfälischen Hamm in einem Pfarrershaushalt, wuchs also in einem bildungsbürgerlichen Kontext auf. Die fünf Geschwister der Familie entwickelten sich zu sehr eigenständigen Köpfen mit beachtlichen Lebenswerken. Vielleicht in bewusster Abwendung von ihrem Vater traten alle Siemsen-Kinder aus der Kirche aus und wandten sich – ihren Gerechtigkeitssinn betonend – dem Sozialismus zu, stark beeinflusst durch die Lektüre der Klassiker und die Diskussionen darüber im heimischen Kreis. August Siemsen hebt in seiner Biografie die Leseleidenschaft seiner Schwester hervor: »Mehr vielleicht als in der Schule haben wir durch Lesen gelernt. Wir waren richtige Leseratten und erlebten intensiv mit, was wir lasen, besonders Anna.« (Siemsen, 1951: 17) Anna begrüßte an der Schule, dass sie der begabten Schülerin genug Zeit ließ, ihrer Leseleidenschaft nachzukommen, erinnerte sich andererseits an die autoritären Unterrichtsmethoden und den Militarismus im Schulalltag, die sie bis in ihre Träume verfolgten, wie sie in ihrer Autobiografie notierte (Siemsen, 1940: 16). Die späteren Bemühungen, an der Erziehung der neuen Menschen für die werdende Gesellschaft mitzuwirken und beispielsweise Heranwachsende durch geeignete Literatur zu friedliebenden, internationalen Einstellungen und humanen Denkweisen zu führen, haben hier eine starke Wurzel. Zu einem Erweckungserlebnis geriet – Siemsen war inzwischen Lehrerin und in Germanistik promoviert – der Erste Weltkrieg 1914-1918: Aus der gefühlsmäßigen wurde nun die geschulte, wissende Sozialistin (Siemsen, 1951: 33). Das Studium wichtiger sozialistischer Texte ermöglichte Siemsen eine grundsätzliche Kritik der Hohenzollernmonarchie und der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Die 1920er Jahre führten zu einer Ausweitung der beruflichen Tätigkeiten, Siemsen wirkte als Schulrätin, Leiterin des Berufsschulwesens in Groß-Berlin, Bildungsreformerin in Düsseldorf, Berlin und Thüringen. Eine besondere Auszeichnung bedeutete die Professur für Pädagogik in Jena, Siemsen war damit eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Bildungslandschaft und in der Erziehungswissenschaft, geriet aber auch in eine Außenseiterrolle. Als Frau und als Sozialistin mangelte es an Reputation. In der pädagogischen Szenerie der Weimarer Republik, die von geisteswissenschaftlichen Ansätzen dominiert wurde, konnte die nüchterne Analytikerin kaum Fuß fassen. Sie saß zwischen allen Stühlen, gehörte sowohl zur Reformpädagogik, zur Sozialdemokratie, zur Frauenbewegung, war aber nirgends richtig zuhause und eckte überall an, wie die Erziehungswissenschaftlerin Hansen-Schaberg resümiert: »[...] der SPD zu links, der Frauenbewegung zu sozialistisch und antifeministisch, der Erziehungswissenschaft zu popularistisch und feuilletonistisch und allen zu unbequem.« (Hansen-Schaberg, 1999: 113) Durch einen Rechtsruck bei den Wahlen zum thüringischen Landtag (1923) verlor Siemsen schnell den Posten im dortigen Bildungsministerium, auch der Tätigkeit an der Uni Jena vermochte sie aus gesundheitlichen Gründen nur bedingt nachgehen. Die beruflichen Einschränkungen hatten indes ihr Gutes: Neben weitverzweigten ehrenamtlichen Tätigkeiten (Liga für Menschenrechte, Bund entschiedener Schulreformer, Verband sozialistischer Lehrerinnen und Lehrer u.a.) konnte Siemsen ihre Publikationstätigkeit ausdehnen. Das Ausmaß ist durch jüngere Studien ans Licht gehoben worden. Verzeichnet die Personalbibliografie des Archivs der Arbeiterjugendbewegung in Oer-Erkenschwick, die in den 1980er-Jahren entstand, ca. 40 Bücher/Broschüren und etwa 500 Aufsätze aus Siemsens Feder, so kommt Bauer in einer jüngeren Studie auf über 800 Titel (Bauer, 2012). Pädagogik, Politik und Literatur waren Siemsens bevorzugte Themen. Mit ihren Veröffentlichungen hatte Siemsen es nicht leicht: Die ab 1920 entstandenen literaturbezogenen Studien, die politischen Einmischungen und pädagogischen Aufsätze standen im Kontrast zur Heft 73/2016 Essays 135 SLR 73.indb 135 29.11.2016 15:48:41 Heft 73/2016 SLR allgemeinen Stimmungslage und zum pädagogischen Mainstream der Weimarer Republik, wo entweder noch Autoritätsgläubigkeit und gewaltverherrlichende Tendenzen dominierten oder schon zur Revision von Versailles und zum neuen Krieg geblasen wurde. Zählbaren Erfolg hatte Siemsen nicht, ihre auf Völkerverständigung, Emanzipation und Frieden abzielenden Bücher erreichten nur geringe Auflagenhöhen. Im Mai 1933 landeten einige von Siemsens Büchern auf den Scheiterhaufen der Bücherverbrennung, zusammen mit zahlreichen Werken von ihr favorisierter Schriftsteller, deren bildenden Gehalt sie in ihren Schriften unermüdlich herausgearbeitet hatte. Traurig an den Bücherverbrennungen war, wie schnell, nämlich kaum vier Monate nach dem Untergang der Weimarer Republik, in öffentlichen Spektakeln der freie und humane Geist ohne große Proteste heruntergemacht werden konnte. Das alles musste nicht einmal von oben angeordnet werden. Die Erstellung Schwarzer Listen, die Säuberung von Universitäts- und Institutsbibliotheken und die Überfälle auf Buchhandlungen und Leihbüchereien gingen auf das Konto von Studentenverbänden. Hatten die Studenten den Verstand verloren, teilten sie den weit verbreiteten Schwächeanfall gegenüber dem neuen Regime, wollten sie sich in vorauseilendem Gehorsam als besonders tüchtige Volksgenossen erweisen, oder hatten sie das Falsche gelesen? Für Anna Siemsen war die bedrohliche Entwicklung schon frühzeitig absehbar gewesen. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1931 setzte sie sich mit der aufkommenden NS-Ideologie auseinander, und bemerkte zugleich belustigt und alarmiert, dass wohl auch die Begeisterung für Karl-May-Bücher zum Glauben an die »wunderbaren Offenbarungen des nordischen Gedankens« beigetragen habe; in der UB Erlangen zählte Karl Mays Old Shatterhand während des Sommersemesters 1930 zu den meist gelesenen Büchern (Siemsen, 1931). Siemsen war den Nazis, auch aufgrund solcher hellsichtigen Warnungen, bereits früh ein Dorn im Auge und musste 1933 ins Schweizer Exil flüchten. Hier verstärkte sie ihre Bildungsarbeit und Rezensionstätigkeit für schweizerische sozialistische Zeitschriften. 1937 erschien ihr berühmtes Spanisches Bilderbuch, ein Bericht über einen Aufenthalt im spanischen Bürgerkrieg an der Seite namhafter Intellektueller (Siemsen, 1937). An den Debatten um den Neuaufbau eines demokratischen Deutschlands beteiligte sich Siemsen seit den frühen 1940er-Jahren und entwickelte vielfältige Überlegungen für die Reorganisation des Bildungswesens und der Lehrerbildung. Ab 1945 standen noch einmal die pädagogisch-politischen und literarischen Neigungen im Fokus ihres Interesses. Das Angebot der (Wieder)Anstellung in Jena lehnte sie mit dem Hinweis auf die dortigen politischen Verhältnisse ab. Im sozialdemokratischen Hamburg schien eine sinnvolle Beschäftigung möglich, aber nach einem zermürbenden Bürokratiekrieg verweigerte man ihr eine anständige Anstellung und Besoldung, während in der NS-Zeit angepasste Pädagogen längst wieder in leitenden Positionen wirkten. Immerhin erhielt Siemsen einen Lehrauftrag für Pädagogik und Literatur und war federführend an der Durchführung von Lehrerbildungskursen beteiligt. Hinzu kam ein großes Engagement in der sozialistischen Europa-Bewegung. Auch eine Reihe weiterführender Studien zur Literatur (Goethe, Schulbücher, Literatur im Unterricht usw.) entstand, das Basiswerk »Die gesellschaftlichen Grundlagen der Erziehung«, eine Art Quintessenz des pädagogischen Denkens Siemsens, das bereits 1934/1935 verfasst worden war, konnte veröffentlicht werden (Siemsen, 1948a). Den auch in dieser Lebensphase breit gefächerten Aktivitäten setzte Siemsens Tod im Januar 1951 ein Ende. Überblickt man das Gesamtwerk von Anna Siemsen, so zeigt sich einerseits eine Kontinuität in Theorie und Praxis. Siemsen ist nach dem Schlüsselerlebnis Erster Weltkrieg dem Sozialismus treu geblieben und hat sich auf vielfältige Weise für sozialistische Bildung und Politik eingesetzt. Andererseits ist ihr Werk keinesfalls aus einem Guss. In Abhängigkeit von den Kontexten – immerhin vier Phasen deutscher Gesellschaftsgeschichte: Kaiserreich, Weimarer Republik, Nazizeit, Deutschland nach 1945 – wandeln sich Beschäftigungsfelder, politisch-pädagogische 136 SLR 73.indb 136 29.11.2016 15:48:41 SLR Perspektiven und Akzentsetzungen. Der sozialistische Schwung und Fortschrittsoptimismus geht mit den Jahren flöten, schuld sind der Zweite Weltkrieg und die für die sozialistische Bewegung deprimierende Erfahrung der 1930er- und 40er-Jahre, dass die Massen an linker Politik wenig interessiert sind. In den Anfangsjahren der Weimarer Republik hatte Siemsen noch die Euphorie der Reformpädagogik geteilt und in zahlreichen Aufsätzen die Erziehung des neuen Menschen für die – wie es im Jargon ihrer Gesinnungsgenossen hieß – »werdende Gesellschaft« anvisiert. Die Organisationen der Arbeiterbewegung bildeten für sie musterhafte Gemeinschaften, in denen die Arbeiter »das Klassenbewusstsein als Vorläufer und Vorbedingung eines neuen und zum ersten Male erdumfassenden Gemeinschaftsgefühls« vorfänden (Siemsen, 1926: 219). Die Gewerkschaften galten als »Keimzellen einer neuen Gesellschaft«, der »beginnende Sozialismus des Bewusstseins« schien sich in der Gesellschaft breit zu machen (ebd.: 219 f.). Mitte der Dreißiger Jahre schwärmte Siemsen für die Erziehungspraxis im republikanischen Spanien und verklärte den hier erzeugten Gemeinschaftsgeist: »So erzogene Kinder werden niemals vergessen, was ihnen die Zeit der Republik an Wärme und Reichtum gab. Sie werden weder Knechte noch Untertanen werden« (Siemsen, 1937: 129). Gute zehn Jahre später klang Siemsen ernüchterter und räumte ein, dass sich viele Sozialisten den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus zu rasch und einfach vorgestellt hätten: »Aber wir haben erleben müssen, dass die subjektive Bereitschaft der Menschen dazu fehlt.« (Siemsen, Gesellschaftswandel: 2) Die Idee vom Sozialismus als unwiderstehlicher Massenbewegung war ausgeträumt, Skepsis gegenüber von oben gesteuerten Reformprogrammen machte sich breit. Dass es bei der Erziehung und Bildung von kritischem Bewusstsein vor allem auf den Einzelnen bzw. Lehrer ankomme, kann man als eine Bilanz ihres Denkens ansehen. Siemsen setzte auf Basisarbeit mit den Subjekten vor Ort. Erziehung – im Kleinen – sollte das »wichtigste Geschäft einer Gesellschaft« bleiben (Siemsen, 1948a: 156). Aber wenn auch die dickschädlige sozialistische Fortschrittsgewissheit, die lange Zeit die Marschrichtung von Siemsens Argumentation bestimmt hat, zum Lebensende hin kleinlauter wird, so bleibt Siemsen bis in ihre letzten Aufsätze hinein der marxistischen Denkweise verpflichtet. Mit ihren Reflexionen auf sich wandelnde Bedingungen für sozialistische Veränderungen nimmt sie den historischen Materialismus ernster als manch andere Vertreter, die sich im Besitz der Wahrheit sonnen und Weiterentwicklungen für überflüssig halten. Heft 73/2016 Essays 2 Alice Rühle-Gerstel. Leben, Werk, pädagogischer Ansatz Schon die Ausgangskonstellation ist ähnlich: Alice Gerstel wurde 1894 in einem gehobenen bürgerlichen Kontext geboren, von dem sie sich wie Siemsen im Laufe des Ersten Weltkrieges distanzierte (Skizze bei Mackenthun, 2002; Mikota, 2007; Friedrich, 2013). Die vermögende Fabrikantenfamilie Gerstel aus Prag sorgte für eine konservative Erziehung der ältesten von drei Töchtern, aber bereits als junge Erwachsene suchte sich Alice durch Kontakte zu literarischen Zirkeln ihrer Heimatstadt – und zu Schriftstellern wie z.B. Franz Werfel – vom Elternhaus zu emanzipieren. Der Einsatz als freiwillige Krankenschwester in Kriegslazaretten 1914/15 politisierte die junge Erwachsene, die ab 1917 für die sozialistische Bewegung entflammt war. Der Sozialismus sollte neben der Individualpsychologie Alfred Adlers ihr zukünftiges Denken und Handeln entscheidend prägen. Nach dem Abitur folgte das Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft in Prag und München, ergänzt durch intensive psychologische Lektüre und erste psychotherapeutische Erfahrungen, abgeschlossen 1921 mit der Promotion über Friedrich Schlegel. Im selben Jahr heiratete Alice den 20 Jahre älteren Politiker und Soziologen Otto Rühle (1874-1943), der ein weiterer Leitstern in ihrem Leben wurde. Während der 1920er Jahre arbeitete Rühle-Gerstel an einer Synthese von Marxismus und Individualpsychologie, deren Grundkonzeption sie in einem ihrer berühmtesten Bücher »Der Weg 137 SLR 73.indb 137 29.11.2016 15:48:41 Heft 73/2016 SLR zum Wir« (Rühle-Gerstel, 1927/1980) darlegte. Hier wird versucht, ökonomische und persönliche Phänomene dialektisch aufeinander zu beziehen, z.B. den Mehrwert als Zentralpunkt des Kapitalismus und das Machtstreben als Angelpunkt der neurotischen Seelenstruktur ins Verhältnis zu setzen (ebd.: 150 ff.). Daneben gab Rühle-Gerstel die »Blätter für sozialistische Erziehung« heraus, fortgesetzt als Zeitschrift »Das proletarische Kind. Monatsblätter für proletarische Erziehung«, in dem von ihr zusammen mit Otto Rühle in Dresden gegründeten Verlag »Am anderen Ufer«. Lehraufträge führten Alice Rühle-Gerstel an die Arbeiteruniversität Dresden Hellerau, zahlreiche Vortragsreisen nach Berlin und Wien. Trotz der genannten Tätigkeiten und umfangreicher Bildungsarbeit im Volkshochschulbereich blieb noch Zeit für intensivere Studien zur Pädagogik, zu psychologischen Themen, insbesondere Alfred Adler, und zur Frauenfrage, letztere zusammengefasst im Werk »Das Frauenproblem der Gegenwart: eine psychologische Bilanz«. Mit dem Erscheinen dieses Werkes im Jahre 1932 durfte sich Rühle-Gerstel zu den führenden marxistisch orientierten Individualpsychologen ihrer Zeit zählen. Im selben Jahr emigrierte Rühle-Gerstel mit ihrem Mann nach Prag, wo sie als Journalistin für das Prager Tageblatt und als Übersetzerin tätig war. Vier Jahre später, 1936, folgte sie ihrem Ehemann Otto Rühle ins mexikanische Exil. Die Erfahrungen der Prager Jahre verarbeitete sie in dem posthum (1984) erschienenen Roman »Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit«, einem Frauenroman, der sich durch seine antiautoritäre und antistalinistische Haltung auszeichnet. Wegen ihrer unorthodoxen Haltung, auch im Trotzki-Prozess, waren die Rühles in kommunistischen Kreisen isoliert. Diese Kreise bewirkten wohl auch die Entlassung von Alice Rühle-Gerstel und Otto Rühle aus dem Staatsdienst – sie hatten bis 1939 für das mexikanische Erziehungsministerium gearbeitet –, so dass sich beide mit Gelegenheitsarbeiten (Übersetzungen, Zeichnungen, Sprachunterricht u.ä.) herumschlagen mussten. 1943 starb Otto Rühle an einem Herzinfarkt, woraufhin sich Alice sofort das Leben nahm. Den Selbstmord hatte sie Freunden angekündigt, in einem ihrer im Exil verfassten Gedichte (»Selbstmord eines Emigranten«, vgl. Mackenthun, 202: 219) auch offen angesprochen. Während Anna Siemsen zeit ihres Lebens – trotz der realistischen Wende seit den 1940er Jahren – von einem unbeugsamen Lebenswillen und unverwüstlichen pädagogischen Optimismus geprägt war, hatten Alice Rühle-Gerstel die deprimierenden Erfahrungen im Exil (Heimatlosigkeit, finanzielle Schwierigkeiten, beruflicher Abstieg) und der Siegeszug des Faschismus in Europa (Verlust politischer Perspektiven und von Freunden und Weggefährten) am Ende allen Lebensmut genommen. In den 1920er Jahren war bei Rühle-Gerstel von dieser resignativen Stimmung noch nichts zu spüren. Ganz im Ton ihres Milieus setzte sie auf die Möglichkeit der Befreiung der Menschheit durch die »Neue Einheit«, in der »Klassenkampf und Mut (…) aus ihren besonderen Sphären – hie soziale Klassenangelegenheit außen, hie seelische Individuenangelegenheit innen – befreit und in der Aktivität des wirklichen Lebens ineinander übergegangen sind« (Rühle-Gerstel, 1927/1980: 221). Angestrebt wurde eine »Synthese des Menschen«, verstanden als »notwendige und darum auch mögliche Ideologie der Zeit, die den Sprung tun muss vom Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit« (ebd.: 222). Hinter solchenVerschmelzungsoptionen stand die Idee, die Hauptansätze und Grundanliegen von Marxismus und Individualpsychologie verbinden zu können. Beide, so Rühle-Gerstels Leitannahme, lehrten, dass »›Menschen‹ und ›Verhältnisse‹ (…) nicht zu trennen und in eine zeitliche Reihenfolge einzuspannen (sind). Alle Verhältnisse werden von Menschen gemacht, getragen und geändert. Alle Menschen leben in und durch die Verhältnisse« (ebd.: 195). Deshalb sei offensichtlich, »dass Menschen und Verhältnisse gleichzeitig und zusammen verändert werden müssen« (ebd.: 196). Der Mensch sollte von neurotischen Zwängen (seine Hilflosigkeitsgefühle durch ein fiktives Größenich zu kompensieren), die Gesellschaft vom Diktat des Kapitalismus (der Privatbesitz und Klassentrennung zementiert) befreit werden. Als Ziel schwebte Rühle-Gerstel eine »höhere Gemeinschaft« vor, in der zwischenmenschliche Be- 138 SLR 73.indb 138 29.11.2016 15:48:41 SLR ziehungen neue Qualität bekommen: »In ihr verhalten sich alle Menschen wie gleich zu gleich« (ebd.). Die dafür zu bevorzugende Organisationsform mitmenschlichen Daseins war laut RühleGerstel der Sozialismus, durch den die für das klassengespaltene Gesellschaftssystem typischen Trennungen Oben-Unten, Stark-Schwach, Männlich-Weiblich u.a.m. überwunden würden. Viele Vertreter der Individualpsychologie und des Marxismus teilten Rühle-Gerstels Synthesekonzept nicht. Auf Tagungen sozialistischer Individualpsychologen wurde die Rangfolge bzw. Über-, Unter- bzw. Zuordnung beider Bezugskonzepte heftig diskutiert (Mackenthun, 2002: 220-224). Alfred Adler, der Begründer individualpsychologischer Theorien, leitete Minderwertigkeitsgefühle und Neurotisierung aus falscher Erziehung und falschen Familienverhältnissen ab, ohne diese einer speziellen Klasse zuzurechnen oder eindeutig aus den Produktionsverhältnissen abzuleiten. Die marxistischerseits geforderte Bevorzugung einer Klasse – des Proletariats – als Träger der Umgestaltung und die Hoffnung auf automatische Heilung durch Veränderung der sozioökonomischen Bedingungen wurde skeptisch betrachtet. Marxisten lehnten im Gegenzug eine Gleichberechtigung ihrer Lehre mit der Individualpsychologie u.a. mit dem Argument ab, die Konzentration auf das Seelenleben behindere die Einsicht in die gesellschaftsstrukturell bedingten Deformationen und Unterschiede. Rühle-Gerstel hat sich mit den Einwänden beider Richtungen beschäftigt, ihnen eine Überbetonung der Gegensätze vorgeworfen und immer wieder auf die o.g. Wechselwirkung von »Menschen« und »Verhältnissen« verwiesen. In dieser Sichtweise würde sich der Gegensatz von Innenschau und Außenbetrachtung und von individueller und gesamtgesellschaftlicher Veränderung erübrigen. Was aber konnte marxistischen Individualpsychologen bzw. individualpsychologisch ausgerichteten Marxisten Hoffnung geben, dass Menschen, die, so zumindest Rühle-Gerstel, zusehends in ›falschen Verhältnissen‹ lebten und ›kranke Seelenzustände‹ entwickelten – »im gegenwärtigen Zeitpunkt ist die Menschheit durchneurotisiert … Die Neurose wird der normale Seelenzustand« (Rühle-Gerstel, 1927/1980: 124 f.) –, eine Veränderung in Richtung »höhere Gemeinschaft« schaffen? Rühle-Gerstel setzt auf das »Bewusstsein«, ihr Trumpf, den sie im Kapitel »Heilen und Bilden« (ebd.: 119-137) ausspielt. Das Bewusstsein, das der Ichmensch im gesellschaftlichen Überlebenskampf dazu diene, den Konkurrenten zu durchschauen, könne er nutzen zur Selbstschau und Offenlegung all seiner Fehler, Finten, Widersprüche, Hemmungen und Überkompensationen, unter denen er leidet (ebd.: 133 f.), damit einen mühsamen, aber fruchtbaren Aufklärungsprozess ingang setzen, der nicht weniger als eine neue Zeit einläute. Der »zur Befreiung von sich selbst« bereite und mutige »Durchschnittsmensch« könne allmählich erste Früchte ernten: »Der Mangel stirbt ab, die Unsicherheit wird kleiner, die Isolation verschwindet, es wächst das Vertrauen und damit das Selbstvertrauen, die Minderwertigkeitsgefühle sterben ab, das alte Bewertungslineal wird zum Gerümpel geworfen. … In der höheren Einheit der Brüderlichkeit dürfen die Verschiedenheiten der Brüder harmonisch zu leben beginnen. Es sind nicht mehr Verschiedenheiten des ›Mehr‹ oder ›Weniger‹, sondern des ›So‹ und ›Anders‹. Ich und Ich verschmelzen im Wir, in dem sie nicht untergehen.« (ebd.: 135 f.) Garniert wird dieses pathosgeladene Zukunftsbild mit dem bekannten Marx-Klassiker: »›Die freie Entwicklung eines jeden wird die Bedingung der freien Entwicklung aller sein‹«. (ebd.) Ihr Versuch, Marxismus und Individualpsychologie zu verschmelzen, hat Alice Rühle-Gerstel schon zu Lebzeiten wenig Beifall gebracht, aus heutiger Sicht erscheint das Vorhaben gescheitert (vgl. Mackenthun, 2002: 234-237). Der auf Versöhnung, Ermutigung und Heilung ausgerichteten Individualpsychologie waren und sind klassenkämpferische Parolen und Radikalforderungen wie die nach der »Diktatur des Proletariats« verdächtig, ein neurotisches Machtstreben zu bedienen (ebd.: 235). Dieser Einsicht hat sich Rühle-Gerstel nicht verschlossen, sie mag ein Motiv gewesen sein, Parteidoktrinen konsequent die rote Karte zu zeigen. Möglicherweise liegt der große marxistische Individualpsychologe Manès Sperber nicht falsch, wenn er im Vorwort zur Heft 73/2016 Essays 139 SLR 73.indb 139 29.11.2016 15:48:41 Heft 73/2016 SLR Neuausgabe von Rühle-Gerstels »Der Weg zum Wir« 1980 bezweifelt, »ob Alice Rühle es heute auch noch für gewiss halten würde, dass der Marxismus – und nur er – die umfassendste und tiefste Einsicht in die Geschichte und in die Gesetze gesellschaftlicher Entwicklung bietet. Dass sie auch heute noch zur Adlerischen Lehre stünde, daran zweifle ich nicht ...« (Geleitwort in ebd.) In dem im mexikanischen Exil verfassten, etwa 1938 abgeschlossenen Roman »Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit« wird die Abkehr vom Parteikommunismus reflektiert. Alice Rühle-Gerstel beschreibt darin das Schicksal und die Verwicklung der Lebensgeschichten von Emigranten und Kommunisten in Prag in den Jahren 1934 bis 1936, vor allem im Zeitungsmilieu, und lässt ihre Heldin Anna (die der echten Alice ziemlich gleicht) am Ende auf Distanz zur kommunistischen Partei gehen (Rühle-Gerstel, 1984), was man auch als Abrechnung mit eigenen Illusionen deuten kann. Das Erscheinen des Romans in den 1980er Jahren fällt zusammen mit der Wiederentdeckung Rühle-Gerstels durch die damalige Frauenbewegung, die die Schilderung der Exilsituation aus Frauensicht als Pionierleistung wertschätzte und auch an Rühle-Gerstels Studien zum »Frauenproblem der Gegenwart – Eine psychologische Bilanz « aus dem Jahre 1932 anknüpfte. Im Prager Exil hatte Rühle-Gerstel für das Prager Tagblatt eine Kinderbeilage entwickelt und betreut, in welcher Kinder mit eigenen Beiträgen vertreten sind (Krause, 2014). Das war ein ganz anderer literaturpädagogischer Ansatz, als ihn die Kommunistische Partei vertrat, die Kinder und Jugendliche im Sinne der Parteiinteressen zu instrumentalisieren suchte und insofern an eigenständigen Beiträgen nicht interessiert war. Damit setzte sich ein Konflikt fort, der in die 1920er Jahre zurück reicht: Schon da hatten Alice Rühle-Gerstel und Otto Rühle mit ihren Vorstellungen zur Bücherei des proletarischen Kindes bei der KPD angeeckt, weil sie zwar wie viele linksorientierte Theoretiker in der Bewusstseinsbildung des Proletariats als Klasse ein Hauptziel von Literatur sahen, aber jene Grundsätze kommunistischer Kinder- und Jugendarbeit ablehnten, die die Kinder und Jugendlichen zu Befehlsempfängern von Parteidirektiven und Parteiinstanzen degradierten (Mikota, 2007: 5-12). Eine in diesem Sinne verzweckte Literaturpädagogik hätte ja den Untertanengeist und die Autoritätshörigkeit verlängert, die man als Übel bürgerlicher Lebensweise und Literatur gerade bekämpfen wollte. 3 Siemsen und Rühle-Gerstel im Vergleich. Kritische Anmerkungen zu Gemeinsamkeiten, Unterschieden und Ergänzungen der pädagogischen und literaturpädagogischen Ideen Es ist ein offenes Geheimnis, das von links gerne diskret beschwiegen wird: Wie Anna Siemsen und Alice Rühle-Gerstel waren nicht wenige sozialistische Zeitgenossen zeitweilig einer linksgerichteten Gemeinschaftssehnsucht verhaftet, die in herrschaftsfreier und zwangloser Gemeinschaft das Gegenmodell zur bestehenden Gesellschaft begriff, ohne die Gefahren des Gemeinschaftspathos hinreichend zu reflektieren. Damit bewegte man sich ganz im Sog der Zeit, in der Gemeinschaft als Universallösung für die als kalt empfundene moderne Gesellschaft angesehen wurde. E. Weiß hat auf dieses Problem bei Siemsen hingewiesen und sich gewundert, dass Siemsen nicht auf die damals von Tönnies angebotene Differenzierung von Gesellschaft und Gemeinschaft zurückgegriffen hat (Weiß, 2001: 17-20). Tatsächlich drohen ihr bei der feierlichen Gemeinschaftsbeschwörung die unverzichtbaren Vorzüge gesellschaftlicher Modernisierung aus dem Blick zu geraten, was schade ist, weil Siemsen die Entwicklungstendenzen der modernen Gesellschaft hin zu Differenzierung und Vielheit begrüßt und als Voraussetzung von Gemeinschaft wertgeschätzt hat (Siemsen, 1948a). Deutlicher hätte sie betonen können und das sollte heute akzeptiert werden, dass die Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft 140 SLR 73.indb 140 29.11.2016 15:48:41 SLR wie rationaler Diskurs, Meinungskonkurrenz, Distanz usw. in der angestrebten Gemeinschaft unverzichtbar bleiben. Diese Forderung geht auch an die Adresse von Rühle-Gerstel, deren Vorstellungen von der »höheren Gemeinschaft« auf die Bildung »neuer Menschen« und den Wegfall der wie sie meint »klassenhaft gegebenen Gegensatzpaare: Individuum-Kollektivum, Materie-Seele, Außen-Innen, Evolution-Revolution« spekulieren (Rühle-Gerstel, 1927/1980: 137: 221 u.a.), eine Entwicklung, die sich nicht von selbst einstellen wird (abgesehen davon, inwieweit sie wünschenswert ist). Hinter Rühle-Gerstels Vision stecken wie bei Siemsen hochgeschraubte Erwartungen an die Geschichtsentwicklung in Richtung klassenlose Gesellschaft bzw. Herrschaft des Proletariats, die sich noch zu Lebzeiten der beiden Vordenkerinnen als fragwürdig erwiesen haben. Das Credo der sozialistischen Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass der Kapitalismus dem unmittelbar bevorstehenden Untergang geweiht ist und die Arbeiterklasse in Führung gehen wird, hat sich bis heute nicht erfüllt. Der Kapitalismus ist zählebiger als erwartet und die Arbeiterklasse nicht das erhoffte revolutionäre Fabelwesen gewesen. Neue Strategien einer kapitalismuskritischen Pädagogik, deren Anliegen sich ja nicht erledigt haben, sind nötig. Stellt sich die Aufgabe, sorgfältig mit dem Angebot der beiden Vordenkerinnen umzugehen und sie nicht leichtfertig für eigene Zwecke einzuspannen. Ein Beispiel: Siemsen hat Erziehung für die werdende Gesellschaft anvisiert und deshalb die Ausbildung kritischen Bewusstseins eingeklagt, das die Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse vorantreiben kann. Jugendliche dürften nie zur bloßen Kopie der Erwachsenenwelt geformt werden in dem Irrglauben, diese sei vollkommen. Daraus erklärt sich der von Siemsen immer wieder geforderte Verzicht auf »unbedingte Autorität«, um der »nachdrängenden Jugend« Zukunft zu eröffnen (Siemsen, 1948a: 104). Allein deshalb ist Siemsen aber nicht als antiautoritäre Pädagogin einzuordnen, wie es mancher kritische Pädagoge gerne hätte. Ihr »Bekenntnis zur Freiheit des Bewusstseins« hat sie eingeschränkt; es gelte »in dem Sinne, daß das jederzeit gesellschaftlich bestimmte Bewusstsein nicht durch Zwang und Gewalt aus seiner natürlichen Bahn gelenkt werden darf« (ebd.). Unter der natürlichen Bahn verstand Siemsen eine fortschreitende Gesamtrichtung gesellschaftlicher Entwicklung bzw. »zukunftsgerichtete revolutionäre Richtung« mit der »endgültige(n) Zielsetzung« zunehmender Universalität, Rechtsgleichheit, Zusammenarbeit der gesellschaftlichen Gruppen usw. (ebd.). Gegenläufige Tendenzen, konservative, reaktionäre oder romantische, die eine Rückwärtsentwicklung der Gesellschaft anstreben, hat Siemsen abgelehnt und offensiv bekämpft. Hier stößt das Bekenntnis zur Freiheit des Bewusstseins auf seine Grenzen. Viel Erziehungsarbeit sei nötig, die bequeme konservative Haltung zu überwinden. Siemsen zufolge hat der Mensch »die natürliche Neigung, sich als das Ziel und Zentrum aller Dinge anzusehen«, entsprechend »gehört ein nicht geringes Maß von Bewusstseinsklarheit und Selbstüberwindung dazu, sich und damit auch die eigene Gesellschaft nur als Durchgangspunkt zu sehen und zu werten« (ebd.: 101). Durch laisser-faire wird das nicht zu erreichen sein, hier bedarf es zumindest einer Erziehungsautorität, die Bewusstseinsbildung und Selbstüberwindung anleitet. Aber auch gezielte Aufklärung wird nicht immer Erfolg haben, wie Siemsen in Bezug auf den Nationalsozialismus und Antisemitismus, auch als Sozialismus des dummen Kerls charakterisiert, ausführt (ebd.: 159). Wenn keine Hoffnung auf Einsicht besteht, dann helfen ggf. nur strengere Gesetze, dann ist Schluss mit dem – pädagogischen – Schmusekurs. Alltagstaugliche pädagogische Konzepte lassen sich aus der übergreifenden Geschichtsperspektive Siemsens (zunehmende Universalität, Rechtsgleichheit usw.) nicht eins zu eins ableiten. Wenn Siemsen die Autoritätsfixierung und Untertanengesinnung ihrer Zeit kritisiert und das, was die Kritische Theorie unter »autoritärem Charakter« versteht, als Problem gesellschaftlicher und erzieherischer Fehlentwicklungen benannt (ebd.: 146, 150-155), dann ist sie gegen die Übermacht falscher Autoritäten in Gesellschaft und Erziehung, aber unbedingt für »helfende Autorität« im Sinne heutiger Kritischer Pädagogik (Bernhard, 2011: 328-337). Heft 73/2016 Essays 141 SLR 73.indb 141 29.11.2016 15:48:41 Heft 73/2016 SLR Für Siemsen war, das wird aus dem skizzierten Beispiel deutlich, das Bewusstsein – ähnlich wie bei Rühle-Gerstel – Dreh- und Angelpunkt für menschlichen Fortschritt. Durch »Erweiterung der Bewusstseinssphäre« sollte »allmählich der Raum unserer trieb- und gefühlsmäßig bestimmten Reaktionen eingeschränkt« werden »gegenüber dem erkenntnisbegründeten und planvollen Handeln« (Siemsen, 1948a: 158). Im Fokus stand der bewusst handelnde Mensch, der fähig ist, die ihn vor-prägenden Triebe und gesellschaftlichen Verhältnisse, seine Innen- und Außenwelt »zu überschauen, zu ordnen und schließlich zu lenken und zu beherrschen« (ebd.: 105). Unklar bleibt bei diesen Überlegungen, was Siemsen genau unter einer entsprechenden Bewusstseinsarbeit versteht, und wie man sich die Wechselwirkung zwischen Bewusstsein einerseits und Gefühlen, Affekten und Trieben andererseits vorzustellen hat. Nur soviel steht fest: Im Land der Gefühle hält Siemsen eine strenge Aufsicht für notwendig, Gefühle und Triebe werden dem Bewusstsein strikt untergeordnet. Eine solche Aufklärung und planmäßige Beherrschung und Ordnung favorisierende Sicht von Mensch und Gesellschaft wirft eine Reihe an Rückfragen auf (vgl. Sänger, 2016: 205-216), die hier nicht einzeln erörtert werden können, einige kurze Anmerkungen müssen reichen. Siemsens Standpunkt ist verständlich als Gegenposition zu den im frühen 20. Jahrhundert aufkommenden irrationalen vernunftkritischen Bewegungen und als Antwort auf den als chaotisch und irrational empfundenen Kapitalismus. An der Vision einer aufgeklärteren Gesellschaft hält sie insofern aus guten Gründen festhält. Aber sie müsste klären, wie genau das Bewusstsein sozusagen ›Herr im eigenen Hause‹ werden, die Gefühle und Triebe bremsen soll, ohne dass diese – unkontrolliert, in eine falsche Richtung usw. – zurückschlagen. Es müsste präzise analysiert werden, wie – sozial bedingte – »schwere Einsamkeits-, Angst- und Hasskomplexe«, die Siemsen ins Zentrum ihrer Überlegungen über die Unterwerfungsbereitschaft der Massen und den Rückfall in den Faschismus rückt (Siemsen, 1948a: 5 f.), entstehen und handlungsleitend werden. Diese Lücken bei Siemsen könnten mit Rühle-Gerstel aufgefüllt werden: Diese hat die Innenwelt des Menschen, das Zusammenspiel von Trieb, Gefühl, persönlicher Reifung und gesellschaftlicher Formung in ihren Studien zur Neurosenlehre und allgemeinen Seelenlehre in den Blick genommen (Rühle-Gerstel, 1927/1980: 79-119). Menschliches Machtstreben wird beispielsweise als Umgang mit Minderwertigkeitskomplexen seziert, in Verbindung mit ökonomischen Prozessen gebracht und die damit verbundenen negativen Auswirkungen für das Verhältnis von Ich und Gemeinschaft aufgezeigt: »Der Zerfall der Gemeinschaft verstärkt so sehr die individuelle Unsicherheit, dass sie in der Seele nur noch als verschärftes Minderwertigkeitsgefühl mit dem einzigen Kompensationsausweg des Machtstrebens erscheint. Das heutige Machtstreben aber treibt die Gemeinschaft immer weiter in den Zerfall.« (ebd.: 156) Inwieweit aus solchen Studien Schlussfolgerungen für den Erziehungsalltag gezogen werden können, wäre eine vertiefende Studie wert, aber folgendes vorläufiges Resümee scheint erlaubt: Während Anna Siemsen mit ihren Reflexionen auf »Die gesellschaftlichen Grundlagen der Erziehung« (Siemsen, 1948a) Verdienste bei der Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Pädagogik zur Sozialwissenschaft gutzuschreiben sind, hat Alice Rühle-Gerstel die Entfaltung einer (individual)psychologischen Erziehungswissenschaft vorangetrieben. Beide Ansätze waren von der Überzeugung geprägt, dass sich Individuum und Gesellschaft, Seele und Soziales nicht getrennt betrachten lassen, haben sich ihrem Gegenstand indes von verschiedenen Seiten genähert. Ganz einig waren sich die Wissenschaftlerinnen in der Wertschätzung von Literatur als Erziehungs- und Bildungsmittel. Schon die biographischen Parallelen sind aufschlussreich. Die Leseleidenschaft, die die Kinderzeit Anna Siemsens laut August Siemsen bestimmte und die sich bis ins hohe Alter durchzieht, charakterisiert auch Alice Rühle-Gerstel. Ein Leben ohne Bücher konnte sie sich nicht vorstellen, schon mit zwölf hatte sie, wie sie in einem Artikel im Prager Tagblatt 1933 schreibt, »den Grundstein zu meiner Bibliothek gelegt: Ibsens ›Gespenster‹ in Reclam-Ausgabe. Bald danach kam (…) der ›Cyrano de Begerac‹ dazu und dann der ›Zara- 142 SLR 73.indb 142 29.11.2016 15:48:42 SLR thustra‹. Aus der Kinderkommode rückten Grimms und Andersens Märchen ein, die Sagen des klassischen Altertums und Onkel Toms Hütte. (…) Später war die Bibliothek gewachsen, hatte das romantische Alter durchgemacht, das religiöse, das nihilistische, das philosophische« (zit. nach Mikota, 2007: 1). In der Weimarer Republik haben Siemsen und Rühle-Gerstel in zahlreichen Publikationen das Leseverhalten des (jungen) Arbeiterlesers zu beeinflussen versucht. Damit mischten sie sich in den Kampf um die Köpfe ein, der seit dem Kaiserreich zwischen den großen sozialmoralischen Milieus der damaligen Zeit mit ihren konkurrierenden Weltanschauungen, zwischen dem sozialdemokratischen, bürgerlich-protestantisch-liberalen und dem katholischen Lager, entflammt war. Die »Leserlenkung« (Langewiesche, 2000) zählte zu den wichtigsten Waffen. Gerade in der Arbeiterbewegung waren die – durch die größere Zugänglichkeit der Masse zu Literatur zunehmenden – Möglichkeiten, Literatur für die Durchsetzung eigener Interessen einzusetzen, schnell erkannt und offensiv genutzt worden, die sich im 19. Jahrhundert entfaltende Arbeiterbildung sah im Buch den »wichtigsten Führer zum Sozialismus«. Ob revolutionär oder revisionistisch ausgerichtet, den Bildungsmodellen nach sollte der Arbeiter durch das Buch die Welt besser durchschauen lernen und zur Umgestaltung im sozialistischen Sinne motiviert und befähigt werden. Siemsen hat in diesem Zusammenhang eine eigene Literaturtheorie entwickelt, in der sie Kunst als »große Erzieherin« adelt (Siemsen, 1948b: 34), und für Arbeiter u.a. einen Einführungsband in die europäische Literatur verfasst, um diesen den Zugang zu den großen Werken zu ermöglichen (Siemsen, 1948c). Dabei hoffte sie, dass es beim Leser vom Erlebnis zur Erkenntnis komme. Kunst bzw. Dichtung galt als »gestaltete(r) Ausdruck eines Erlebnisses oder Lebensgefühls« (Siemsen, 1948b: 9), als »gefühltes Werk, das wiederum Gefühl erregen will« (ebd.: 8) Als »große Erzieherin« eigne sich Kunst, weil sie an Tiefenschichten des Menschen anknüpft. Aber es durfte nie um bloße Gefühlserregung gehen. Siemsen schätzte gerade solche Kunstwerke bzw. Dichtung hoch ein, die »unmittelbare Willensentschlüsse herbeizuführen oder allgemeine Zielrichtung vorzubereiten« geeignet sind, die »zur richtigen öffentlichen Haltung, zur Politik« führen will (ebd.). Ihre Hoffnung richtete sich darauf, durch Kunst »menschliches Bewußtsein zu wecken und menschliche Leidenschaften zu reinigen« (ebd.: 61). Auf den Bücherempfehlungslisten, die Siemsen in ihren Aufsätzen zur Arbeiterbildung oder für den Schulunterricht entwickelte, befanden sich deshalb Bücher, die den Leser ein realistisches Bild der Wirklichkeit erfahren lassen, z.B. sozialkritische Romane von Sinclair, London, Zola oder Rolland. Das hieß auch, gegen die zeitgenössische Tendenz zur Idylle in Kinder-, Jugend- und Erwachsenenliteratur zu Felde zu ziehen. Bei der Auswahl der Werke für ihr Einführungswerke in Literatur hat sich Siemsen, wie sie an einer Stelle schreibt, auf jene konzentriert, die den »wirkliche(n) Tag mit seinen Nöten, Aufgaben und großen Zielen« behandeln, was als Abgrenzung gegenüber allzu lebensfremder Dichtung, die »im Himmel« bzw. bloß »von Ewigkeitswerten« lebt, und gegenüber Unterhaltungsliteratur, die »im blauen Dunst lebt«, gemeint war (Siemsen, 1948c: 166). Dem Schriftsteller müsse es also gelingen »›der Menschheit große Gegenstände‹, Freiheit, Wahrhaftigkeit und Recht und de(n) Kampf menschlicher Leidenschaften« im Rahmen der von ihm dargestellten Wirklichkeit zu erfassen (ebd.: 143). Mit diesen Vorzugsoptionen ist Siemsen nahe bei dem Konzept für eine »Bücherei des proletarischen Kindes«, die Alice Rühle-Gerstel zusammen mit Otto Rühle entworfen hat. In zahlreichen Aufsätzen der Zeitschrift »Das proletarische Kind« wurde die vorhandene Literatur auf ihre Verwendbarkeit geprüft (Rühle-Gerstel/Rühle, 1925/1926), wobei sich als Kriterien für ›gute‹ Literatur u.a. herausschälen: die Bücher sollen den Heranwachsenden Identifikationsmöglichkeiten bieten, allerdings statt falscher Helden des Krieges die neuen der Wissenschaft und des Alltags, sie sollen zur Wirklichkeit hinführen und Kindheit nicht schönreden, sie sollen die Arbeiterkinder die eigene Klassenlage erkennen lassen, sie sollen Vorurteile abbauen helfen (Mikota, 2007). Das Ehepaar Rühle hoffte, so zum Bruch mit hierarchischen Strukturen Heft 73/2016 Essays 143 SLR 73.indb 143 29.11.2016 15:48:42 Heft 73/2016 SLR und autoritären Verhältnissen beitragen zu können. Seine Vorschläge für geeignete Literatur wurden daher auch nicht als Vorschrift verstanden, sondern als Angebot, mithilfe dessen sich das Kind informieren und selbstständig entscheiden kann (ebd.: 10). Ein fataler Fehler aus Sicht von Parteikommunisten wie Edwin Hoernle, der Positionen wie die Anna Siemsens und die der Rühles als »kleinbürgerlich-sozialistische Reformpädagogik« abtat, weil sie von Idealismus und Utopismus verseucht seien, wenn beispielsweise ein »vollkommenes neues Zeitalter« angestrebt werde durch »›Weckung der schöpferischen Kräfte des Kindes‹« – für Hoernle Grund genug, sich über die »lächerliche Beschränktheit« und das »Geschwätz« solcher »reformistische(r) Klugscheißer« aufzuregen (Hoernle, 1969: 16, 150 f.). Das Ziel der Kommunisten, einen »Nachwuchs von revolutionären Kämpfern und Baumeistern des Sozialismus« zu erziehen, sei konkret in den gegebenen gesellschaftlichen Konflikten zu erreichen, und nicht in Bezug auf eine ›werdende Gesellschaft‹: »Man kann nicht zur Aktivität erziehen außer durch Aktivität« (ebd.: 130 f.). Die Kinder sollten also direkt an den »Tagesaufgaben« ihrer Klasse beteiligt werden und sich in den proletarischen Kampf einmischen, wofür eine bloße »historisch-theoretische Aufklärung« nicht ausreiche (ebd.: 131). Diese im aggressiven Ton unerbittlicher Selbstgerechtigkeit vorgetragenen Angriffe mündeten in den Vorwurf, die Beschuldigten – also Reformpädagogen der Marke Siemsen oder Rühle-Gerstel und Rühle bis hin zu Löwenstein, Kanitz und Max Adler – hätten Anleihen beim Marxismus gemacht, ohne diesen konsequent anzuwenden, hätten mit »Halbheiten« ein »unehrliches Spiel« getrieben, um letztlich als »treffliche Bundesgenossen« der Bourgeoisie zu fungieren (ebd.: 150-164). Nicht zu klären ist, ob Anna Siemsen und die Rühles sich mit solchen agententheoretischen Vorwürfen beschäftigt haben – konkrete Äußerungen fehlen, aber Alice Rühle-Gerstels Abrechnung mit dem Stalinismus oder Anna Siemsens Zurückweisung des Stellenangebots in Jena nach 1945 sind auch eine Antwort. Eine heutige sozialistische (Literatur)Pädagogik wird das Gebot der Realitätsnähe übernehmen sollen, ohne einer Instanz (Partei) das Monopol auf Wirklichkeitserkennung und auf Einsicht in den Ablauf der weiteren Geschichte zu überlassen. 4 Schluss: Lebendiger Marxismus und lebensnahe Pädagogik Damit zur Frage, wie sich eine sozialistisch orientierte Pädagogik, in der Bundesrepublik seit den seligen Bildungsreformzeiten der 1960/70er Jahre als Kritische Erziehungswissenschaft/Pädagogik bekannt, heutzutage ausrichten könnte. Vor allem gilt es die Fallen zu vermeiden, in die ihre Vertreter beim ersten Auftritt – im Rahmen der verpatzten Bildungsreform – getappt sind. Das mahnt der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth in einem Aufsatz zur Situation der Kritischen Erziehungswissenschaft an der Jahrtausendwende an, in welchem er den kritischen Pädagogen die Leviten liest und verschiedene Plagen dieser Pädagogikrichtung aufs Korn nimmt (Tenorth, 1999). Zu den bemängelten Denkmustern zählt auch die Bildungstheorie des bei kritischen Pädagogen bis heute beliebten sozialistischen Vorzeigetheoretikers Heinz-Joachim Heydorn, die, so Tenorth, »eschatologische« Züge trage und Bildung als »Erlösung« vom üblen Erziehungsgeschäft missverstehe (Tenorth, 1999: 150-156). Kurz gesagt: Der hochgestochene Bildungsbegriff ist für alle, die sich in den Niederungen erzieherischer Kleinarbeit befinden, ein schickes Programm ohne Alltagsrelevanz, also untauglich. Heinz Sünker als eingefleischtem Heydorn-Anhänger wird diese Kritik Bauchschmerzen bereiten, aber immerhin befindet sich Tenorths Aufsatz in einem von ihm mit herausgegebenen Sammelband (er hat dessen Verbreitung also nicht gerade verhindert). Man braucht die harsche Kritik Tenorths an Heydorn nicht vollends zu teilen, sollte aber die Gefahren, die mit der Heydornschen Polarisierung von Erziehung und Bildung verbunden sind, ernst nehmen, was Heydorn wohlgesonnene Erziehungswissenschaftler auch beherzigen. Z.B. analysiert Heinz Sünkers Geistesverwandter Michael Winkler die Schwächen, die sich aus 144 SLR 73.indb 144 29.11.2016 15:48:42 SLR der antithetischen Gegenüberstellung von Erziehung und Bildung bei Heydorn ergeben, und moniert eine Unterschätzung der Möglichkeiten von Erziehung. Heydorn bleibe, wie Winkler zusammenfasst, »die Einsicht in die innere Rationalität von Erziehung, in ihre Möglichkeitsstruktur verwehrt« (Winkler, 2008: 111). (Den Aufsatz über Heydorn hat Winkler übrigens in einer Festgabe für Heinz Sünker zum 60ten veröffentlicht.) Die Perspektive auf die Möglichkeitsstruktur von Erziehung tut für den Bildungstheoretiker aber bitter not, vielleicht darf man in Anlehnung an Horkheimers Diktum »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen« auf das Verhältnis von Erziehung und Bildung übertragen sagen: Wer von Erziehung nicht reden will, sollte von Bildung schweigen. Anders ausgedrückt: Wer in Bildung die Erlösung vom üblen Erziehungsgeschäft sieht, wird den Potentialen von Erziehung nicht gerecht, auf die Bildung angewiesen ist. Von manchen Vertretern Kritischer Pädagogik ist die Verklammerung erziehungstheoretischer und bildungstheoretischer Fragestellungen inzwischen als Desiderat erkannt worden. A. Bernhard kommt in seiner jüngst publizierten Studie über Heydorn – derzufolge Heydorn Erziehung in einem milderen Licht gesehen hat als Tenorth behauptet (was hier nicht näher verfolgt werden kann) – zu dem Schluss, dass bildungsphilosophische Diskussionen bislang fahrlässigerweise die »Mündigkeitspotenziale« ignoriert hätten, die sich erzieherischen Prozessen verdanken: »Die Fähigkeit, permanent die eigene Mündigkeit voranzutreiben gegen die restriktiven Vorgänge gesellschaftlicher Sozialisation, resultiert eben nicht nur aus Bildungsprozessen, sondern bleibt an jene Grundstimmung geknüpft, die in Erziehungsprozessen aufgebaut wird.« (Bernhard, 2015: 260) Das bedeutet: »Hoffnung auf Bildung kann es nur insoweit geben, wie es Hoffnung auf Erziehung gibt.« (ebd.: 261) Diese Sichtweise ist ganz im Sinne Anna Siemsens, die Erziehung als Grundlage der Entwicklung zur humanen Persönlichkeit verstanden hat. Dann müssen in Erziehungsprozessen bewirkte Anpassung und Eingliederung in die Gesellschaft nicht nur nicht länger verteufelt, sondern können als unverzichtbare Basisarbeit wertgeschätzt werden. Als »humaner Zwang« (Bernhard, 2011: 151 ff.) betrachtet, kann man Erziehung in ihrer Rolle als Vermittlerin – »Mediatorin« (ebd.: 157) – von gesellschaftlichen Reproduktionsanforderungen und kindlichen Entwicklungsbedürfnissen gutheißen. Über diese Vermittlungsarbeit lässt sich in Siemsens »Gesellschaftlichen Grundlagen der Erziehung« einiges nachlesen. Wenn Bernhard die Bestrebungen, »den Zwang aus der Subjektwerdung wegzuzaubern«, als »pädagogische Illusion« entlarvt (ebd.: 155), dann könnte Anna Siemsens Einschätzung hierfür Pate stehen, dass »bei jeder direkten Erziehung eine gewollte Formung von außen her ein(tritt), damit ein Zwang und eine Vergewaltigung dessen, was wir als Individualität zu bezeichnen gewohnt sind.« (Siemsen, 1926: 10) Die Legitimation für den Zwang liegt in der Erziehungsbedürftigkeit des Menschen und der Förderung seiner Gesellschaftstüchtigkeit. Die Gesellschaft kann nur von gesellschaftstüchtigen Menschen gestaltet werden wie auch nur gesellschaftstüchtige Menschen zur Entwicklung von Autonomie in den konkreten sozialen Verhältnissen und Räumen fähig sind. Zwang muss allerdings an den Maßstab der Subjektwerdung und Persönlichkeitsbildung gebunden sein und darf nie Selbstzweck werden oder ausschließliches Erziehungsmittel. Von manchen antiautoritären Wunschträumen und Schlachtrufen der emanzipatorischen Pädagogik der 1970er Jahre wird sich Kritische Pädagogik in Anschluss an Siemsen bzw. Rühle-Gerstel daher emanzipieren müssen, etwa von der ,antiautoritären‹ Forderung nach möglichst wenig Triebunterdrückung und Ritualisierung. Mit Anna Siemsen oder Alice Rühle-Gerstel wäre das nicht passiert – eine an beiden orientierte Pädagogik wäre gar nicht in den Genuss bzw. die Verlegenheit gekommen, sich in die Komfortzone Bildung zurückzuziehen, von der aus sich leicht jede gesellschaftliche und erzieherische Wirklichkeit als defizitär abschreiben lässt. Ihr Credo lautet, das Handgemenge mit dem erzieherischen Alltag zu suchen, ohne die Zielperspektive humanen Fortschritts durch Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft aus den Augen zu verlieren. Was das heute heißen kann, sei an einem Beispiel angedeutet. Heft 73/2016 Essays 145 SLR 73.indb 145 29.11.2016 15:48:42 Heft 73/2016 SLR Siemsen hat in ihren Schriften das Ideal lustbetonten Lernens und anstrengungsloser Bildung konsequent zurückgewiesen. Bildung bedeute Selbstüberwindung, die nicht mühelos erworben werden könne. Bewusstsein in Auseinandersetzung mit z.B. anspruchsvoller Dichtung zu entwickeln, sei eine anstrengende Tätigkeit, was Freude bereiten könne, aber nicht zu verwechseln sei mit bloßem Vergnügen, wie es den Menschen von den Massenmedien aufgedrängt werde. Siemsens Kritik richtete sich hiermit gegen die moderne Massengesellschaft als einer »immer sensationsgierigeren Welt« (Siemsen, 1943: 241) mit einer auf Vergnügen und Ablenkung fixierten Lebensweise. Ihr Lieblingsfeind war die amerikanische Illustriertenunkultur, die die Konsumenten passiv werden lasse bis hin zur »Gehirnerweichung« (Siemsen, 1948c: 45). Die wahllose Vermischung von Information, Kulturgütern, Werbung und die Überflutung der Massen unterlaufe die Konzentrationsfähigkeit des Einzelnen: »Solche unglückseligen Geschöpfe, die vor lauter Gefühl gefühllos geworden sind und jedes ›Erlebnis‹ nur noch als Nervenreiz genießen, sind in unserer heutigen, von ›Kulturgut‹ jeder Art erdrückten Gesellschaft gar nicht selten« (ebd.: 18). Als Gegenmittel wurden Innehalten und Stärkung der Aufmerksamkeit, auch durch den Bruch mit dem allgemeinen Betrieb, empfohlen, literaturpädagogisch sollten z.B. gegen den »Wahnsinnsrausch« und die »macht- und erfolgverblendete Welt« der 1930/40er Jahre die Kraft der »stillen Bücher« aus dem 19. Jahrhundert oder Dichtungen aus »den kleinen Staaten« jenseits der Machtzentren helfen (Siemsen, 1943: 127, 214). Als besondere Gabe der Dichterin Katharine Mansfield hob Siemsen hervor, in den Zeiten der Not, des Kampfes und der »lärmenden Heere« das »Zarte«, »Reine«, »Stille« zu bewahren (ebd.: 314). Für viele Menschen komme es darauf an, »wieder (zu) lernen, auf leise Stimmen und selbst auf das Verstummen zu hören, das jedem ganz tiefen Gefühl zu eigen ist« (Siemsen, 1948b: 45). Siemsen hat diese Forderungen in den 1940er Jahren aufgestellt, als Reaktion auf die von ihr beobachteten »Vergiftungen« durch den nationalsozialistischen Agitationskitsch und den o.g. amerikanischen Reklamekitsch (ebd.: 44-46). Sie erweist sich damit als hellsichtige Analytikerin der Gefahren der modernen Erlebnis-Gesellschaft. Ihre Beobachtung, dass die Begegnung mit Kulturgütern zum bloßen »Erlebnis« und auf den »Genuss« von »Nervenreizen« reduziert werde, was zu Gefühlsverlusten, Abstumpfung, Oberflächlichkeit und Verblendung führe, wird in den heutigen Debatten um Aufmerksamkeitsdefizite oder die Sensationsgesellschaft weiter ausgeführt. Ch. Türcke hat der Gegenwartsgesellschaft eine »Aufmerksamkeitsdefizitkultur« bescheinigt (Türcke, 2012) mit einem durch Computer und Handy bedingten Ausmaß an Aufmerksamkeitsverlusten, das für Siemsen noch unvorstellbar war. Das bereits von ihr festgestellte Ausgeliefertsein an eine Serie von Reizen hat sich heute dramatisch zugespitzt, wie Türcke feststellt: »Eine technisch perfektionierte audiovisuelle Maschinerie läuft rund um die Uhr, wiederholt unablässig die Ausstrahlung ihrer aufmerksamkeitsheischenden Impulse« (ebd.: 72). Dadurch gelinge es einer wachsenden Zahl von Kindern nicht mehr, »Reize und Impulse so ineinanderzuschieben, dass sie sich zu inneren beharrlichen Gestalten verbinden, statt bloß Unruhe stiftend durch das Nervensystem zu vagabundieren.« (ebd.: 69) Denken im Sinne der Entfaltung einer inneren Vorstellungswelt werde somit zusehends schwerer, eine durch die Konkurrenz der neuen Medien verstärkte Entwicklung: »Nur wer mehr Aufsehen erregt als andere, hat in der Flut aufmerksamkeitsheischender Impulse, die mit der Hochtechnologie uns umgibt, eine Chance, wahrgenommen zu werden.« (ebd.: 71) Bei der Suche nach Antworten auf die drohende Vorherrschaft des »Aufmerksamkeitsregimes« trifft man bei Türcke auf einige von Siemsen her Bekannte, er schätzt Märchen als »unersetzliche Wegbahner kindlichen Lernens« (ebd.: 89), fordert Ritualisierung, das Einführen von Wiederholungsabläufen und die Etablierung von Besinnungsstunden (ebd.: 79 ff.). Wenn Türcke Märchen als »Widerstandskräfte gegen den High-Tech-Alltag« wiederbeleben will (ebd.: 93), um der Reizüberflutung zu wehren, wenn er auf die deeskalierende und beruhigende Wirkung von Märchen verweist, die bei den Kindern ein »Grundgespür« für soziale Zusammenhänge und geschichtliche Entwicklung kultivierten 146 SLR 73.indb 146 29.11.2016 15:48:42 SLR (ebd.: 89 f.), dann argumentiert er im Sinne einer Tradition kritischer Bildungstheorie, zu der auch beispielsweise Siemsen gehört. Siemsen hat in den 1940er Jahren die Bedeutung von Märchen als ernsthaften, verständlichen, ehrlichen und ordnungsstiftenden Erzählungen betont, von unschätzbarem Wert in einer »Übergangszeit«, die »zwiespältig und unsicher schwankend« sei (Siemsen, 1943: 25-27). Märchen gelten Türcke bzw. Siemsen als eine eigentümliche Mischung aus Kindlichkeit und Ernsthaftigkeit, die Kindern helfen kann, starke Personen zu werden. Das drohte in Hochzeiten emanzipatorischer Pädagogik in Vergessenheit zu geraten. Türckes Rehabilitierung von Märchen und anderen »naturwüchsig-kindlichen Ausdrucksformen« (Türcke, 2012: 92) – genannt werden Reime, Lieder, Verse, Spiele u. a. – verdankt sich auch der Selbstkritik einer Generation von Lehrern und wissenschaftlichen Pädagogen, die ab den 1960er Jahren »Volksgut« aus den Schulen und Universitäten verbannte, zumal es oft mit der Last des Auswendiglernenmüssens verbunden war und vermeintlich kritisches Denken verhinderte (ebd.: 91 f.). Als Kronzeuge eines – gegen die mögliche »Häme der Coolen und allzu Aufgeklärten« – zu erneuernden Respekts vor dem Volksgut Märchen nennt Türcke den kritischen Theoretiker Adorno (ebd.). Siemsen mit ihrer Wertschätzung der Volksdichtung hätte auch gepasst. Beide vereint die Sensibilität und Vorsicht gegenüber alles plattmachenden Aufklärungsprogrammen. Solche Versuche, von Siemsen über Adorno bis Türcke, einen Fuß in die Kommunikations- und Lernverhältnisse heutiger Heranwachsender und Erwachsener zu bekommen, mögen von besonders radikal daherkommenden Marxisten als bieder, harmlos und betulich abgetan werden, sie mögen von selbsternannten Arbeiterkinderführern als hausmeisterhaft und Reihenhauspädagogik belächelt werden, sie dürften von Fortschrittsjüngern kaum als letzter Schrei emanzipatorischer Pädagogik verstanden werden, sind aber ein unverzichtbarer Ansatz für lebendigen Marxismus und lebensnahe Pädagogik, die mehr als Anhäufung von totem Buchwissen und schönklingenden Forderungen sein wollen. Auch sind gewisse konservative Töne nicht zu vermeiden. Auf das Einfordern von Anstrengungsbereitschaft und das Festhalten an guter – klassischer – Literatur stößt man übrigens nicht nur bei Siemsen oder Adorno, sondern auch bei Heydorn, nicht zu Unrecht von prominenter Seite als »konservativer Revolutionär« (Blankertz) bezeichnet. Heydorn hat trotz der oben angesprochenen Problemstellen einer kritischen Pädagogik viel zu sagen. Eines seiner Schreckensbilder war der »Anbruch des postliterarischen Zeitalters, der brave new world des paralysierten Bewußtseins« (ebd.: 23). Bewusstseinsbildung ist für Heydorn nicht mit links zu haben: »Humanistische Bildung ist Freisetzung des Menschen in seine Wirklichkeit. Diese Freisetzung wird nicht an der Straßenecke verschenkt; sie will mühselig erarbeitet sein.« (Heydorn, 1995, Bd. 4: 17) Mit der Erinnerung an die Tradition des Humanismus sollten weder bürgerliche Kulturfrömmigkeit reaktiviert noch ein altbackener Wertehimmel restituiert, sondern die Impulse der ursprünglich bürgerlichen Aufklärung ernst genommen und fortgeführt werden. Ganz im Sinne von Anna Siemsen, die die sozialistische Bewegung als Spross der Aufklärung und Erbin des Bürgertums verstand: »Der Kampf des Proletariats hat nur deswegen eine geschichtliche Bedeutung, weil in ihm allgemein menschliche Forderungen zum Bewusstsein gelangt sind, genau wie in einer früheren geschichtlichen Lage die Forderungen des aufsteigenden Bürgertums solche Menschheitsforderungen waren« (Siemsen, 1948a: 161). Zeit, zum Schluss zu kommen, mit Heydorn und Adorno sind ja zwei Gewährsmänner von Heinz Sünker ins Spiel gebracht. Auf sie wird von ihm immer wieder zurückgegriffen, um die Irrationalität des Kapitalismus zu analysieren und Ansätze für die Hervorbringung von Bildungsfähigkeit aller zu entwickeln: »Denn nur gebildete Bürger und Bürgerinnen – im Sinne von Citoyens – können und werden öffentliche, d.h. politische Angelegenheiten als ihre eigenen erkennen und anerkennen.« (Sünker, 2006: 91) Solche Bildung anzuleiten bedeutet ein hartes Stück Arbeit für Lehrer, wie Sünker unter Berufung auf Heydorn betont (Sünker, 2003: 132 f.). Den Lehrern wird eine Vorreiterrolle in pädagogischen (Befreiungs)Prozessen zugewiesen, Heft 73/2016 Essays 147 SLR 73.indb 147 29.11.2016 15:48:42 Heft 73/2016 SLR durchaus verblüffend, wie Sünker selber sagt, für marxistisch argumentierende Theoretiker, als wollte man nach all den Studien über die Macht und Zwänge der Verhältnisse und Strukturen nun doch wieder den Einzelnen hervorkramen. Siemsen und Rühle-Gerstel würde es freuen. Die Wertschätzung »der personalen Dimension von und in Bildungsprozessen« (ebd.: 133) knüpft an das an, was beide vertreten. Apropos Person: Als Hochschullehrer hat Heinz Sünker einen Homepage-Eintrag bei der Bergischen Universität Wuppertal, den langezeit ein Foto aus seiner 68er-Zeit zierte, inzwischen musste es einem Portrait des 68jährigen weichen. Vielleicht ein gelungenes Beispiel für »Dialektik«: der Wechsel könnte zeigen, dass Sünker sich nicht als erbitterter Veteran der marxistischen Bewegung versteht, der starr an alten Idealen (und Jugendsünden) festhält, sondern als – gereifter, leicht ergrauter – Jünger des Sozialismus, der älter werdend den Marxismus jung und lebendig hält. Wie er heute zur eingangs erwähnten Formel »Die Tiger des Zorns sind weiser als die Rosse der Belehrung« von William Blake steht, kann man sich leicht denken. Literatur Bauer, A., 2012: Das Leben der Sozialistin Anna Siemsen und ihr pädagogisch-politisches Wirken, Frankfurt Bernhard, A., 2011: Allgemeine Pädagogik, Baltmannsweiler Bernhard, A., 2015: Bewusstseinsbildung. Einführung in die kritische Bildungstheorie und Befreiungspädagogik Heinz-Joachim Heydorns, Baltmannsweiler, 2. Aufl. Friedrich, J., 1999: Alice Rühle-Gerstel (1894-1943). Eine in Vergessenheit geratene Individualpsychologin, Würzburg Hansen-Schaberg, I., 1999: Anna Siemsen (1882-1951). Leben und Werk einer sozialistischen Pädagogin, in: Die Töchter der Alma mater Jenensis, hg. v. Gisela Horn, Jena 1999: 113-136 Heydorn, H. J., 1995: Werke. Bildungstheoretische Schriften, Bd. 4, Vaduz Hoernle, E., 1969: Grundfragen proletarischer Erziehung, hg. v. Lutz von Werder u. 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Oder: Über die Geltung von Kritikansprüchen »kritischer Erziehungswissenschaft«, in: Kritische Erziehungswissenschaft SLR am Neubeginn?!, hrg. v. Heinz Sünker u. HansHermann Krüger, Frankfurt: 135-161 Türcke, C., 2012: Hyperaktiv!, München Weiß, E., 2001: Erziehung für eine »werdende Gesellschaft als »Gemeinschaft« – Anna Siemsen und ihr Konzept sozialistischer Gesellschaftstheorie und Pädagogik, in: Archiv für Reformpädagogik, 6. Jg.: 3-25 Heft 73/2016 Essays Abstract Against the background of the forgotten history of the debates in the 1990s about ›abolitionism‹in penal systems and the punishment of perpetrators, Ulfried Kleinert uses the publication of a whole set of books on the penal system and experiences with the penal system in Germany as the basis for a foundational analysis of punishment and crime. Focusing in particular on the books and studies of those working with and in the penal system, he shows the ineffectiveness of the ›normal‹ ways of punishing perpetrators. Given this, he then argues for the value of work done by ›practitioner-chaplains‹ in prison, exploring what possibilities are available within this system for dealing with the spiritual and religious welfare of prison inmates as an alternative source of reform and rehabilitation for offenders. 149 SLR 73.indb 149 29.11.2016 15:48:42 Heft 73/2016 SLR Reinhart Wolff Moderner Kinderschutz in der Unsicherheitsgesellschaft – ganzheitliche Hilfe oder autoritäres Risikomanagement – Entwicklungstrends und aktuelle Herausforderungen 1 Überall Fachleute Es ist ein wesentlicher Zug der Moderne, dass überall Fachleute auftreten, die ihr Wissen und Können in sich entwickelnden Berufssystemen anbieten und deren Dienste von Bürgerinnen und Bürgern und von Institutionen und Organisationen mehr oder weniger genutzt werden. Einige dieser Professionellen – wie z. B. die Religions-, Wissenschafts- und Rechtsexperten – haben sich bereits seit Hunderten von Jahren als berufliche Fachkräfte etabliert; anderen – wie den medizinischen, technischen, pädagogischen und sozialen Fachkräften – gelang erst mit der Entwicklung der modernen Gesellschaft die Durchsetzung einer besonderen Professionalität mit den dazu gehörigen Berufssystemen, die nicht nur »Phänomene des Übergangs von der ständischen Gesellschaft des alten Europa zur funktional differenzierten Gesellschaft der Moderne« darstellten (wie R. Stichweh in seinem berühmt gewordenen Beitrag 1996 betont)1, sondern auch in funktional differenzierter Gesellschaft fortbestehen, ja sogar noch wichtiger werden, nicht zuletzt, weil sie in wachsendem Maße intersystemisch vernetzt sind und über organisationale Grenzen hinweg operieren. Trotz ihrer wachsenden Bedeutung ist aber immer wieder unklar, was professionelle Experten eigentlich auszeichnet und was ihre Aufgabe ist.2 Demgegenüber hat der amerikanische Soziologe Andrew Abbott in organisations-, arbeits- und wissenssoziologischer Perspektive herausgestellt, dass für professionelle Experten und ihre Berufsorganisationen in erster Linie von Bedeutung sei, für welches Arbeitsgebiet sie Zuständigkeit und Kontrolle erlangen. In jeder Profession müsse geklärt werden: Was macht ihre Arbeit tatsächlich aus? Wer macht was für wen bzw. mit wem, auf welcher Wissensbasis und in welchem organisationalen Kontext? Professionen, die immer ein soziales System darstellen und in den Arenen der inter-organisationellen und öffentlichen Auseinandersetzung um Platz und Anerkennung kämpfen, müssten jedenfalls, um bestehen zu können, die Zuständigkeit für ihre eigene professionelle Praxis reklamieren und behaupten. Ursula Rabe-Kleberg hat diesen Anspruch auf Zuständigkeit – mit Rückgriff auf Abbott3 – so erläutert: »Zuständigkeit (›jurisdiction‹) wird in diesem Zusammenhang aber nicht als Zumutung von außen verstanden, sondern als ein Recht, das auf der Basis von Wissen und Fähigkeiten beansprucht 1 Stichweh, R. (1996). Professionen in einer funktional differenzierten Gesellschaft. In: A. Combe, R. Helsper (Hrsg.), Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. (S. 49 – 69). Frankfurt a. M. 2 Für die Soziale Arbeit als Profession siehe insbesondere: Thole, W. (2005) 2. Soziale Arbeit als Profession und Disziplin. Das sozialpädagogische Projekt in Praxis, Theorie, Forschung und Ausbildung – Versuch einer Standortbestimmung. In: W. Thole (Hrsg.), Grundriss Soziale Arbeit. (S. 15 – 60). Wiesbaden: und: Müller, B. (2005)2. Professionalisierung. In: W. Thole (Hrsg.), Grundriss Soziale Arbeit. (S. 731 –750). Wiesbaden. Zur Frage nach dem gesellschaftlichen Verhältnis von Organisation und Profession siehe vor allem den wichtigen Beitrag: T. Klatetzki, V. Tacke (Hrsg.) (2005), Organisation und Profession. Wiesbaden. 3 Abbott, A. (1988). The System of Professions. An Essay on the Division of Expert Labor. Chicago and London. 150 SLR 73.indb 150 29.11.2016 15:48:42 SLR wird, das Recht nämlich, abstraktes das heißt professionelles Wissen auf bestimmte Probleme anzuwenden. Verschiedene Professionen konkurrieren um ihren Anteil an der Zuständigkeit für ein Problem. Sie müssen plausibel machen, daß ihr Wissen, ihr Typ von Wissen für die Lösung des anstehenden Problems in einem bestimmten Feld das richtige ist. Voraussetzung für eine erfolgreiche Auseinandersetzung um die Zuständigkeit für die Problemlösung in einem Feld ist in jedem Fall die professionelle Kontrolle des eigenen Wissens, das heißt über seine Produktion und Vermittlung und über seine Anwendung und Evaluation in der Praxis.«4 Ein solches Professionsverständnis aufgreifend, kann man herausstellen: Wenn Kinderschutzfachkräfte in ihrer professionellen Praxis als fachlich kompetente Akteure anerkannt werden wollen, müssen sie jedenfalls drei Hauptaufgaben anpacken: Sie müssen die Problemlagen bestimmen bzw. diagnostizieren, auf die sie professionell reagieren wollen (Erarbeitung von Problemkonstruktionen – »diagnosis«). Sie müssen daraus bestimmte fachliche Schlussfolgerungen ziehen, was zu tun ist (»inferences«). Sie müssen schließlich eine dazu passende fachliche Praxis ins Werk setzen (»treatment« oder Behandlung / Hilfe). Sowohl im Hinblick auf die Eigenständigkeit und Sicherheit bei der Erarbeitung von Problemkonstruktionen/Diagnosen (Was ist Kindeswohlgefährdung bzw. Kindesmisshandlung und Vernachlässigung? Welche gewichtigen Anzeichen und welche Hintergründe, Situationen und Ursachenfaktoren lassen sich erkennen?) als auch im Hinblick auf die Eigenständigkeit und Sicherheit bei den zu ziehenden Schlussfolgerungen/Inferenzen (Was ist fachlich zu tun?) und bei ihrer Umsetzung in professionelle Praxis (Hilfe, Behandlung), ist die professionelle Kinderschutzarbeit – und insbesondere soweit sie von der Kinder- und Jugendhilfe verantwortet wird – in Schwierigkeiten geraten. Es hat sich nämlich gezeigt, dass vor allem Soziale Arbeit / Sozialpädagogik ihre professionellen Aufgaben als Leitprofession im Kinderschutz nicht hinreichend hat wahrnehmen können. Sie ist nämlich im Zuge der wachsenden medialen Aufrüstung von Kindesmisshandlung und Kinderschutz zu einem nationalen und internationalen Top-Thema – in der Form einer zahlreiche gesellschaftlich beunruhigende Kernthemen bündelnden Konstruktion (wie Kindheit und Familie, Geschlechter- und Generationenverhältnisse, Gewalt und Sexualität) – erheblich unter Außendruck von Gesellschaft und Politik und nicht zuletzt von konkurrierenden Berufssystemen geraten. Damit haben sich die Inferenzrisiken (mit Eingriffen in die Zuständigkeit und Aufgabenbestimmung der Kinder- und Jugendhilfe) erhöht, wurden die mit der demokratischen Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes seit 1990/91 gegebene »Professionalisierungschance« zu wenig genutzt. Der Soziologe und Familientherapeut Bruno Hildenbrand spricht sogar von einer »verpassten Professionalisierungschance«, von der »Ortlosigkeit« der Sozialpädagogik, einer »mangelnde(n) Präsenz im interdisziplinären Austausch.5 Seine Mitarbeiter K.F. Bohler und T. Franzheld im Sonderforschungsbereich 580 Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch. Diskontinuität, Tradition, Strukturbildung – Teilprojekt C3 Erforschung des Sozialen Sektors, in dem insbesondere das Vorgehen der Jugendämter bei Kindeswohlgefährdungen in den Jahren 2001 bis 2012 untersucht wurde, markieren mit Bezug auf die erhobenen Fallgeschichten eine »professionelle Schwäche der Sozialarbeit« und ein »Zu- Heft 73/2016 Essays 4 Rabe-Kleberg, U. (1996). Professionalität und Geschlechterverhältnis. Oder: Was ist »semi« – an traditionellen Frauenberufen? In: A. Combe, W. Helsper (Hrsg.), Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. (S. 276-302). Frankfurt a.M. 5 Hildenbrand, B. (2014). Das KJHG und der Kinderschutz: Eine verpasste Professionalisierungschance der Sozialpädagogik. In: B. Bütow, M. Pomey, M. Rutschmann, C. Schär & T. Studer (Hrsg.), Sozialpädagogik zwischen Staat und Familie. (S. 175-202). Wiesbaden. 151 SLR 73.indb 151 29.11.2016 15:48:42 Heft 73/2016 SLR rückdrängen der Zuständigkeit des Jugendamtes, insbesondere durch die alten Professionen« oder »eine uneindeutige Zuständigkeit im Kinderschutz«6. Eine solche professionelle Uneindeutigkeit in der Arena der professionellen Auseinandersetzungen und Behauptungskämpfe ist aber für die Kinderschutzarbeit besonders problematisch, weil Not- und Krisensituationen von Kindern, Jugendlichen, Eltern und Familien in hoch differenzierten sozialen Systemen moderner Gesellschaften immer auf Problemlagen, Themen und Fragestellungen verweisen, die an den Grenzen von sozialen Welten lokalisiert sind. Kindeswohlgefährdungen und Kinderschutzbemühungen können insofern als »Grenzobjekte« verstanden werden, d.h. als ein »gemeinsamer Bezugspunkt« unterschiedlicher Akteure verschiedener sozialer Welten (nämlich des familialen Mikrosystems, des näheren Umgebungs- oder Meso-Systems und des gesellschaftlichen, politisch-ökonomischen Exo- und Makro-Systems). »Grenzobjekte« werden in einem Prozess kommunikativer Wissensproduktion hervorgebracht und die dabei aufgrund der unterschiedlichen strategischen, programmatischen und methodischen Orientierungen (der besonderen Verstehensmuster, Handlungsregister und Handlungslogiken der beteiligten Akteure) entstehenden Kontroversen müssen auf dem Wege inter-organisationaler Verständigungsprozesse geklärt werden, wobei wechselseitige Übersetzungen wesentlich sind.7 Dass dies nicht immer gelingt, ist eine Erfahrung, die Kinderschutzfachleute gegenwärtig allerdings alltäglich machen. Kindeswohlwohlgefährdung und Kinderschutz bleiben nämlich als »Grenzobjekte« oft strittig, sind heftige Auseinandersetzungen, worum es eigentlich geht und was zu tun wäre, häufig. Und dennoch müssen die unterschiedlichen Akteure mit ihren unterschiedlichen Wissenssystemen, Handlungsinteressen, moralischen Orientierungen und Verantwortungen einen gemeinsamen Nenner, eine kohärente system-übergreifende Problemund Aufgabenidentität, eine »common identity across sites« (Star/Griesemer, 1989) herstellen und aufrecht erhalten, um Kindeswohlgefährdungen, Misshandlungen und Vernachlässigungen von Kindern und Jugendlichen vorzubeugen, sie zu stoppen und erfolgreich Hilfe zu leisten. Das ist jedoch gerade in Anbetracht sich verschärfender gesellschaftlicher Konfliktstrukturen, regelrechter Dilemmata, d.h. nicht auflösbarer Widersprüche, nicht einfach. 2 Gesellschaftliche Konfliktstrukturen Moderne Kinderschutzarbeit hat es allerdings nicht nur mit diesen hier angedeuteten, eine eigenständige und selbstbewusste Fachpraxis erheblich gefährdenden, Inferenzrisiken zu tun.8 Sie ist vielmehr zugleich mit einer Reihe sich verschärfender gesellschaftlicher Widersprüche konfrontiert, die zu neuen fachlichen Herausforderungen geführt haben, die in der Kinderschutzdiskussion aber leider zu wenig im Blick sind. Im Wesentlichen handelt es sich um drei strukturelle paradoxale Konfliktlagen, die zu strategischen Herausforderungen in der modernen Kinderschutzarbeit geworden sind und mit denen sie sich auseinandersetzen muss: 6 Bohler, K.F., & Franzheld ,T. (2015). Problematische Professionalität der Sozialen Arbeit im Kinderschutz. In: R. Becker-Lenz, S. Busse, G. Ehlert & S. Müller-Hermann (Hrsg.). Bedrohte Professionalität. Einschränkungen und aktuelle Herausforderungen für die Soziale Arbeit. (S.189-209, hier S. 209). Wiesbade. S. auch: Klatetzki, T. (2013). Die Fallgeschichte als Grenzobjekt. In: R. Hörster et al. (Hrsg.). Grenzobjekte. Soziale Welten und ihre Übergänge. (S. 117-135). Wiesbaden. 7 S. insbesondere: Star, S. L., Griesemer, J. (1989): Institutional Ecology, ›Translations‹, and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology.1907–1939. In: Social Studies in Science 19 (3), 387–420. Vgl. auch: R. Hörster, R., Köngeter, S., Müller, B. (Hrsg.) (2013): Grenzobjekte. Soziale Welten und ihre Übergänge. Wiesbaden. 8 S. in diesem Zusammenhang insbesondere auch: Becker-Lenz, R., Busse, S., Ehlert, G., Müller-Hermann, S. (Hrsg.) (2015). Bedrohte Professionalität. Einschränkungen und aktuelle Herausforderungen für die Soziale Arbeit. Wiesbaden. 152 SLR 73.indb 152 29.11.2016 15:48:42 SLR das Gleichheits- und Gerechtigkeitsdilemma, das familiale Entwicklungsdilemma, das professionelle Expansions- und Anspruchsenttäuschungsdilemma. Diese Konfliktlagen potenzieren einander in ihren Wirkungen und konturieren zusammen als Spannungsverhältnisse den sozio-kulturellen und politisch-ökonomischen Hintergrund moderner Kinderschutzarbeit. Man kann sie als Dilemmata allerdings nicht einfach in ein EntwederOder auflösen. Man muss vielmehr lernen, sie zu balancieren. Sie lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: (1) Das Gleichheits- und Gerechtigkeitsdilemma besteht darin, dass die nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts durch große sozio-kulturelle, politisch-ökonomische Transformationen und Umbrüche errungene verfassungsmäßige und rechtliche Verankerung von Menschen-, Gleichheits- und Freiheitsrechten und die gleichzeitige enorme Steigerung der Produktivität mit der Folge eines erheblich gewachsenen Lebensstandards nunmehr konterkariert werden durch gesellschaftliche Veränderungen, die in den letzten Jahrzehnten in den modernen Gesellschaften erneut zu wachsender Ungleichheit und Armut sowie zu zunehmenden Tendenzen des sozialen Separatismus und Isolationismus geführt haben – mit der Folge einer regelrechten sozialen Entbettung ganzer Bevölkerungsgruppen, einem »Anwachsen der Unsicherheiten« (Robert Castel, 2009)9. Wie Robert Castel deutlich gemacht hat, genüge es nicht, darauf hinzuweisen, dass die soziale Unsicherheit »soziale Ausschließung« zeitigt. Man müsse vielmehr die transversale Qualität des Phänomens in Rechnung stellen: »Es berührt die verschiedenen Sphären des Sozialen. Wenngleich die Bereiche der Bevölkerung am Sockel der Gesellschaftspyramide am schwersten betroffen sind, geraten auch Teile des Mittelstands in eine Situation der Verwundbarkeit, und neben Arbeitslosen sind es Hochschulabsolventen, die abqualifiziert und prekarisiert dastehen...Tatsächlich lässt sich Prekarität heute nicht länger als ein vorübergehender Zustand denken, als schwere Zeit, durch die man hindurch muss, bis man wieder eine feste Stelle gefunden hat. Eine steigende Zahl von Menschen gerät dauerhaft in die Prekarität. Für sie fügen sich diskontinuierliche Beschäftigung, Jobs, Gelegenheitsarbeiten, Zeiten der Arbeitslosigkeit und der Umschulung aneinander, und all das führt selten zu einem stabilen Arbeitsverhältnis.«10 In Armutssituationen und prekären Lebensverhältnissen zu leben, ist nun allerdings eine wesentliche Voraussetzung für familiale Konfliktzuspitzungen, in deren Folge es häufig zu Misshandlungen und Vernachlässigungen von Kindern kommt.11 Mit wachsender Prekarität, mit Abstieg und Ausgrenzung wächst darum auch der Problemdruck, der auf den Kinderschutzfachkräften lastet und auf den sie reagieren müssen, ohne immer über die notwendigen Mittel und Methoden zu verfügen, die man braucht, um gegen die wachsenden Ungleichheitsverhältnisse Heft 73/2016 Essays 9 Castel, R. (2009). La montée des incertitudes. Travail. Protections. Statut de l’Individu. Paris: Éditions du Seuil. 10 Castel, R. (2009). Die Wiederkehr der sozialen Unsicherheit. In: R. Castel u. K. Dörre (Hrsg.), Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. (S. 21-34, hier S. 30 f.). Frankfurt a. M., New York. 11 Auch wenn es keinen direkten kausalen Zusammenhang zwischen Armut und Kindesmisshandlung und Vernachlässigung gibt, ist Armut dennoch als Kontext von Kindeswohlgefährdungen von großer Bedeutung. Siehe dazu vor allem: Pelton, L. H. (1978). Child abuse and neglect: The myth of classlessness. In: American Journal of Orthopsychiatry, 48, 608–617. Dt.: Pelton, L. H. (1979). Kindesmisshandlung und –vernachlässigung: Der Mythos der Schichtunabhängigkeit. In: Familiendynamik. 1979/4. Pelton, L. H. (1989). For reasons of poverty: A critical analysis of the public child welfare system in the United States. Westport, CT: Praeger. Pelton, L. H. (1994). The role of material factors in child abuse and neglect. In G. B. Melton, & F. D. Barry (Eds.), Protecting children from abuse and neglect: Foundations for a new national strategy (pp. 131–181). New York, NY: Guilford Press. Pelton, L.H. (2015). The continuing role of material factors in child maltreatment and placement. In: Child Abuse and Neglect. 41, 30-39. 153 SLR 73.indb 153 29.11.2016 15:48:42 Heft 73/2016 SLR mit dem Interesse der Förderung sozialer Gerechtigkeit angehen zu können. Stattdessen wird mit der Fokussierung auf Sicherheit in der modernen Unsicherheitsgesellschaft »ein verdecktes Programm für die Umstellung der Gesellschaft auf Risiken« attraktiv. Damit gerät das Kinderschutzsystem jedoch in die Gefahr – wie Bettina Hünersdorf scharf heraus gestellt hat – »dass sich innerhalb des Funktionssystem der Hilfe ein neues soziales System herausbildet, das durch Bedrohungskommunikation gekennzeichnet ist und sich nach dem Code sicher – bedroht reproduziert. Je mehr Kinder in Armutslagen geraten, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass von Hilfe auf den Sicherheitscode umgeschwenkt wird, vor allem dann, wenn nicht genügend Ressourcen zur Verfügung gestellt werden können, um im Vorfeld auf Bedarfslagen zu reagieren. Damit besteht aber die Gefahr, dass trotz gegenteiliger Rhetorik früher Hilfen zunehmend später, d.h. bei höherer Problemkumulation, eingegriffen wird. Prävention bedeutet dann nur noch in der frühen Kindheit einzugreifen, wobei die Möglichkeiten zunehmend reaktiv statt aktiv gestaltet werden. Damit legt sich das Hilfesystem aber potenziell selbst lahm.«12 Eine solche reaktive Selbstblockade hängt aber auch damit zusammen, dass das moderne Kinder- und Jugendhilfesystem bei der Wahrnehmung von Kinderschutzaufgaben mit einem strukturellen Entwicklungsdilemma der modernen Familie konfrontiert ist, das den Fachkräften erheblich zu schaffen macht. (2) Das familiale Entwicklungsdilemma der modernen Familie ist für die Kinder- und Jugendhilfe und vor allem für die Kinderschutzarbeit eine besondere – allerdings wenig verstandene – Herausforderung. Sie besteht darin, dass bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts (und dies wurde bereits im Code Napoléon, dem ersten bürgerlichen Gesetzbuch nach der frz. Revolution, deutlich) und dann aber verstärkt in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Prozess durchgreifender Autonomisierung, Individualisierung sowie Pluralisierung des Familienlebens (mit einer dramatischen Veränderung der Generationen- und Geschlechterverhältnisse) in Gang kam, dem aber gleichzeitig eine wachsende Vergesellschaftung primärer Lebenszusammenhänge einherging. Damit hat sich regelrecht eine paradoxalen Entwicklungsdynamik zwischen dem Schutz der familialen Privatsphäre und den wachsenden Ansprüchen und Eingriffen professioneller Umgebungssysteme, nicht zuletzt des Staates, in den Familienzusammenhang ergeben. Familie wurde auf diese Weise unabhängiger (privater) und zugleich abhängiger (öffentlicher).13 Für ein gutes Aufwachsen von Kindern sind daher vor allem (»zuvörderst«, wie es im Grundgesetzt heißt) die Eltern verantwortlich, aber bereits mit Beginn der Schwangerschaft, rund um die Geburt und dann weiterhin in der Kindheit und Jugend werden in wachsendem Maße professionelle Systeme (von der Geburtsklinik. den kinderärztlichen Praxen über die Kindertageseinrichtungen, die Jugendämter, die Schulen, die Eltern- und Familienberatungsstellen bis hin zu den KinderschutzZentren und kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken) wichtig, die die Familie unterstützen und begleiten, die sie aber zugleich überwachen und kontrollieren und in die sie mit Macht eingreifen. Beide Seiten haben dabei Rechte und Pflichten. Dennoch haben sich historisch im Prozess der Vergesellschaftung familialer Sozialisation immer wieder Asymmetrien im Verhältnis von Familie und staatlichen und professionellen Einrichtungen ergeben, wuchs die Eingriffsmacht der Akteure 12 Hünersdorf, B. (2011). Soziale Arbeit in der (Un-)Sicherheitsgesellschaft. Eine Theorie von Sozialer Arbeit braucht eine Sozialtheorie von Gesellschaft. In: BAG der Kinderschutz-Zentren (Hrsg.), Hilfe ...! Über Wirkungen, Risiken und Nebenwirkungen im Kinderschutz. (S.15-36). Köln: Die Kinderschutz-Zentren. Siehe auch: Singelnstein, T., Stolle, P. (2008)2. Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert. Wiesbaden: VS Verlag. Schirmer, W. (2008). Bedrohungskommunikation: Eine gesellschaftstheoretische Studie zu Sicherheit und Unsicherheit. Wiesbaden: VS Verlag. Münkler, H. (2010): Strategien der Sicherheit. Welten der Sicherheit und Kulturen des Risikos. Theoretische Perspektiven. (S.11-35) In: Münkler, H., Bohlender,M., Meurer, S. (Hrsg.). Sicherheit und Risiko: Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert. Bielefeld. 13 S. auch: Bütow, B., Pomey, M., Rutschmann, M, Schär, C., Studer, T. (Hrsg.) (2014). Sozialpädagogik zwischen Staat und Familie. Alte und neue Politiken des Eingreifens. Wiesbaden. 154 SLR 73.indb 154 29.11.2016 15:48:42 SLR von außen, wurde Familie ein Objekt gesellschaftlicher und staatlicher »Ordnung«, indem sie einem »Vormundschaftskomplex« unterworfen wurde, wie in der berühmten Untersuchung des französischen Sozialforschers Jaques Donzelot kritisch heraus gestellt wurde: »Die Prozeduren, die die Transformationen der Familie bewerkstelligen, schaffen zugleich auch die modernen Integrationsformen, die unseren Gesellschaften ihren eigentümlichen Polizeicharakter geben. Und die berühmte Krise der Familie, in die sie mit ihrer Befreiung gerät, erschiene damit nicht so sehr als ein der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung zuwiderlaufendes Moment denn als eine ihrer Entstehungsbedingungen. Die Familie ist eine Instanz, die weder zerstört noch fromm bewahrt zu werden braucht, sondern deren Heterogenität gegenüber sozialen Anforderungen reduziert oder funktionalisiert werden kann, indem man ein Flottierungsverfahren zwischen sozialen Normen und den Werten der Familie in Gang setzt. Genauso wie sich zur gleichen Zeit ein funktionaler Kreislauf zwischen Sozialem und Ökonomischem ausbildet.«14 Dabei wirken die Öffentlichkeit, die Berufssysteme, Politik und Staat auf die Familien ein: »Der Staat überwacht die demografischen Entwicklungen sowie die Verbreitungen von Krankheiten und Todesfällen, er sanktioniert eine normalistische Lebensweise und unterwirft die physischen und psychischen Abweichungen der Überwachung und Ausgrenzung. Die Öffentlichkeit entwickelt ein Interesse an der medizinischen Reinheit und Gesundheit des Blutes oder des Genmaterials, am Gebär- und Zeigungsverhalten der Frau und der Ehepartner wie an den familialen Gesundheitspraktiken, die nicht nur zur Zerstörung der Familien führen, sondern auch zu einer Belastung für das Gemeinwesen werden können. Die Kulturindustrie entwirft weltweit verbreitete Modelle heterosexueller Intimität vom ersten Flirt bis zur Kindererziehung. Diese Modelle schaffen nicht nur eine Bilderwelt, sondern stellen eine kollektive kulturelle Praxis dar, die aus so verschiedenen Elementen wie Kosmetika, Kleidung, Illustrierten, Schönheitswettbewerben, Ernährungsgewohnheiten, Kommunikationsmustern und Sexualpraktiken besteht. Die Paarbeziehung und die Familie sind also bis in die intimsten Praktiken hinein nicht privat, sondern eine öffentlich kontrollierte, überwachte und regulierte Einrichtung.«15 Kinderschutzfachkräfte müssen dieses vielgestaltige und oft widersprüchliche Ineinander von familialen, gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und professionellen Kontexten balancierend im Blick haben, ohne die Lebenswelt nurmehr zu kolonialisieren und zu manipulieren. Sie müssen sich vielmehr als intersystemische Brückenbauer bewähren, indem sie sowohl die Selbständigkeit, die Freiheit und das Wohl der Eltern und Kinder als auch die Ansprüche und Interessen des demokratischen Gemeinwesens im Blick haben, um Gemeinwohl und soziale Gerechtigkeit zu fördern und zu sichern. Flexible Balance statt Spaltungen in komplexen Konfliktlagen und vor allem Mehrseitigkeit statt Einseitigkeit in der Begegnung und im Dialog von Lebenswelt und Institutionen sind darum Eckpfeiler guter Fachpraxis. (3) Es hat sich schließlich ein drittes wesentliches Dilemma ergeben: das Entwicklungsdilemma der modernen Professionssysteme selbst. Den wachsenden Erwartungen an die Professionssysteme geht nämlich eine wachsende Enttäuschung gegenüber den Leistungen der expandierenden modernen Berufssysteme einher, zumal, worauf oben bereits hingewiesen wurde, wenn sie es in ihrer Praxis – wie generell in der Kinder- u. Jugendhilfe und vor allem im Kinderschutz – als transdisziplinäre professionelle Zwischensysteme strukturell mit »Grenzobjekten« und mit strukturellen Unsicherheitsbedingungen und hoher Kontingenz zu tun haben, die sich zwar Heft 73/2016 Essays 14 Donzelot, J. (1979). Die Ordnung der Familie. Frankfurt a.M.: 21 f. 15 Demirovic, A. (2004): Hegemonie und das Paradox von privat und öffentlich. In: http://www.republicart.net/disc/ publicum/demirovic01_de.pdf (Zugriff: 02.07.2015). S. auch: Hünersdorf, B. (2015). (Un)sichtbar kindgerecht. Privatheit und Öffentlichkeit von Familie. 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Ganz abgesehen davon, ob solche Ansprüche überhaupt sinnvoll wären oder sogar als totalitär abzulehnen sind, muss man zur Kenntnis nehmen, dass sie bei den heute begrenzten verfügbaren Mitteln und Möglichkeiten (an Personal und Ressourcen) von den Kinderschutzeinrichtungen gar nicht erfüllt werden können. Das wird von den modernen Kinderschutzpropagandisten und den tatsächlichen Kinderschutzklientinnen und –klienten aber nicht zur Kenntnis genommen. Kein Wunder, dass die Unzufriedenheit und Kritik gegenüber den Kinderschutzeinrichtungen wächst. Nicht zuletzt hat allerdings auch der von Juristen und Politikern propagierte »Mythos von der Garantenpflicht«17, die von Kinderschutzfachkräften und insbesondere von Jugendämtern zu erfüllen sei, nicht nur zu einem Stress und Angst machenden strafrechtlichen Bedrohungsszenarium geführt sondern auch zu wachsender Skepsis und Enttäuschung gegenüber den Kinderschutzeinrichtungen selbst. Das deutlich ausgeprägte Negativimage von Kinderschutzeinrichtungen ist jedenfalls dadurch noch verstärkt worden. Alle drei Entwicklungsdilemmata (das soziale, das familiale und das professionelle) machen dem modernen Kinderschutzsystem zu schaffen. Sie prägen als wesentliche Konfliktstrukturen das hintergründige Bedingungsgefüge der aktuellen Entwicklungslinien und Belastungen, die im Praxisfeld des Kinderschutzes zu beobachten sind. 3 Entwicklungslinien und Belastungen im Praxisfeld Wenn wir aktuelle Entwicklungen und Belastungen im Praxisfeld des modernen Kinderschutzes einschätzen wollen, sind wir inzwischen glücklicherweise nicht mehr nur auf die eigenen, notwendigerweise begrenzten Felderfahrungen angewiesen. Denn gerade seit der Wende zum 21. Jahrhundert sind in Deutschland, wie auch in anderen europäischen Ländern und nicht zuletzt in den USA, wichtige empirische Forschungen zum Stand und zur Entwicklung der Kinderschutzsysteme in Gang gekommen, die – wenn sie i.d.R. auch keine empirische Langzeitstudien darstellen – doch materialreiche Analysen von Strukturen und Dynamiken im Kinderschutz erbracht haben. So ist einmal von I. Gissel-Palkovich und H. Schubert der Wandel des Allgemeinen Sozialen Dienstes der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe als Kernorganisation des modernen Kinderschutzes in den Blick genommen worden.18 16 Vgl. Hirschman, A. O. (1984). Engagement und Enttäuschung. Über das Schwanken der Bürger zwischen Privatwohl und Gemeinwohl. Frankfurt am Main. 17 Mit Recht fordert Thomas Mörsberger darum einen Richtungswechsel im Kinderschutz. Vgl. Mörsberger, T. (2015). »Wir brauchen einen Richtungswechsel!«. Thesen und Anmerkungen zur Entwicklung des Kinderschutzes ausgehend von schwierigen und insbesondere von besonders spektakulären Kinderschutzfällen (S.39-49). In: BAG der Kinderschutz-Zentren (Hrsg.), KINDGERECHT. Verändertes Aufwachsen in einer modernen Gesellschaft. Köln: Die Kinderschutz-Zentren. 18 Gissel-Palkovich, I., Schubert, H. (2015). Der Allgemeine Soziale Dienst unter Reformdruck. Interaktions- und Organisationssysteme des ASD im Wandel. Baden-Baden. 156 SLR 73.indb 156 29.11.2016 15:48:42 SLR Weiter wurde im Sonderforschungsbereich 580 der DFG mit dem Teilprojekt C3 – Jugendhilfe in Transformationsprozessen von Bruno Hildenbrand und seinen Mitarbeitern die Organisationsstruktur und das professionelle Handeln sozialer Dienste bei Kindeswohlgefährdung feldanalytisch untersucht und gefragt, welche Handlungsstile oder Handlungsmuster und welche Handlungslogiken im Kinderschutz eine Rolle spielen. Dabei konnte gezeigt werden, dass die Handlungsmuster der »maximalen Reaktion (mit Reingehen, Rausholen, stationärer Unterbringung« oder der »wachsamen / vigilanten Aufmerksamkeit« bzw. einer »minimalen Reaktion aus der Distanz: mit Abwarten oder einem Klienten ignorierenden Aktivismus« und dass die Logiken »des Verdachts, der Anerkennung, der Ignoranz und des organisatorischen Aktivismus« eine Rolle spielen. Kritisch wurde allerdings heraus gearbeitet, dass »eine die eigene Professionalität zur Geltung bringende und die spezifische Lösungskompetenz sichtbar machende ‚Routine’ der Krisenbewältigung bei einer Kindeswohlgefährdung im Jugendamt bzw. in der Bezirkssozialarbeit nur rudimentär erkennbar ist.«19 Das Kasselaner Forschungsprojekt »Usoprax« um Werner Thole hat die Handlungsmuster im Feld des Kinderschutzes, vor allem die Brüche und Unsicherheiten in der sozialpädagogischen Praxis in den Blick genommen und hat seine Ergebnisse im November 2010 auf einer Tagung »Helfen, aber wie? Professionelle Praxen in Fällen der Kindeswohlgefährdung« vorgestellt. Die Beiträge, die auf dieser Tagung gehalten wurden, sind inzwischen 2012 als Buch mit dem Titel »Sorgende Arrangements« veröffentlicht worden, der abschließende Forschungsbericht allerdings noch nicht.20 Eine weitere Arbeitsgruppe mit dem Thema »Kindeswohl und Sozialintervention« an der Universität Kassel um den Soziologen Ingo Bode hat im gleichen Jahr die Ergebnisse ihres multidisziplinären Dialogs vorgelegt, der sich auf Kinderschutz »erstens als ein normatives, rechtlich kodifiziertes Postulat, zweitens als Prozess der Intervention (durch organisierte bzw. beruflich involvierte Akteure), drittens als Ensemble praxisorientierter Konzepte, welches auf das Postulat und die Methode dieser Intervention bezogen ist«, richtete und der untersuchte, welche Rationalitäten im diesem Feld am Werk sind.21 Empirisch gehaltvoller ist allerdings der darauf folgende Beitrag von Bode und Turba, der die Kasselaner Ergebnisse des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (2010 bis 2013) geförderten »Skippi-Projekts« (Sozialsystem, Kindeswohlgefährdung und Prozesse professioneller Interventionen) mit soziologischer Fokussierung auf eine Felduntersuchung der Realität des organisierten Kinderschutzes (mit der Frage nach den »Systemzuständen« des Kinderschutzes und deren dynamische Entwicklung) ausführlich erläutert.22 Die Ergebnisse der Wuppertaler Arbeitsgruppe des Skippi-Projekts zum Schwerpunkt »Professioneller Zugriff auf den privaten Kindes-Raum – Bedingungen, Dynamiken, Barrieren« um Doris Bühler-Niederberger sind noch nicht veröffentlicht, Teilergebnisse allerdings schon.23 Heft 73/2016 Essays 19 Vgl. zusammenfassend: Hildenbrand, B. (2011). Hilfe zwischen Kontrollauftrag und Hilfebeziehung. Wirkungen, Nebenwirkungen und Perspektiven. In: BAG der Kinderschutz-Zentren (Hrsg.), Hilfe...! Über Wirkungen, Risiken und Nebenwirkungen im Kinderschutz. (S. 45-66, hier S. 53). Köln: Die Kinderschutz-Zentren. 20 Thole, W, Retkowski, A., Schäuble, B. (Hrsg.) (2012). Sorgende Arrangements. Kinderschutz zwischen Organisation und Familie. Wiesbaden. 21 Daher auch der Titel des Beitrages: T. Marthaler, P. Bastian, I. Bode & M. Schrödter (Hrsg.) (2012): Rationalitäten des Kinderschutzes. Kindeswohl und soziale Interventionen aus pluraler Perspektive. Wiesbaden. 22 Vgl. Bode, I., Turba, H. (2015). Organisierter Kinderschutz in Deutschland. Strukturdynamiken und Modernisierungsparadoxien. Wiesbaden. 23 Z. B.: Bühler-Niederberger, D., Alberth, L. & Eisentraut, S. (2014). Das Wissen vom Kind – generationale Ordnung und professionelle Logik im Kinderschutz. In: B. Bütow et al. (Hrsg.), Sozialpädagogik zwischen Staat und Familie. Alte und neue Politiken des Eingreifens. (S. 111-131). Wiesbaden. 157 SLR 73.indb 157 29.11.2016 15:48:42 Heft 73/2016 SLR Ich selbst habe zusammen mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von 2009 – 2011 im Forschungs- und Qualitätsentwicklungsprojekt »Aus Fehlern lernen – Qualitätsmanagement im Kinderschutz« unter der Beteiligung von 41 kommunalen Kinderschutzsystemen mit dem Jugendamt als ihrer Kernorganisation im Auftrag des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen eine umfangreiche qualitative Untersuchung durchgeführt, die Programme Dialogischer Qualitätsentwicklung und Qualitativer Sozialforschung im Feld kommunalen Kinderschutzes miteinander verband, deren Ergebnisse wir 2013 vorlegten.24 Dabei gingen wir von der Grundannahme aus, dass es sich in der Kinderschutzarbeit um eine Praxis handelt, die strukturell von »Ungewissheitsbedingungen« und »multikomplexer Kontingenz« charakterisiert ist, an der zahlreiche Akteure mit unterschiedlichen Interessen, Haltungen und Einstellungen, Wissensstrukturen und Kompetenzen, Handlungsmustern und Handlungslogiken sowie unterschiedlicher Ausprägung von Kooperationsbereitschaft und Kooperationswiderstand beteiligt sind. Darum wollten wir klären: Wie können Kinderschutzeinrichtungen in einer dergestalt risikogefährdeten Praxissituation mit zu erwartenden Entscheidungsfehlern umgehen und wie kann eine fortwährende Reflexion von Kontexten, Situationen und kommunikativen Prozessen im Hilfeprozess gewährleistet werden, um Qualität weiterzuentwickeln und zu sichern, d.h. wie lassen sich latente Fehler erkennen und vermeiden? Welche Ansätze des Qualitäts- und Fehlermanagements werden überhaupt entwickelt, umgesetzt und angewandt? Insbesondere hat uns interessiert: •฀฀ Was฀sind฀die฀Rahmenbedingungen฀der฀Kinderschutzarbeit฀vor฀Ort฀insbesondere฀beim฀Träger฀ der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe? •฀฀ Welche฀Konzepte฀und฀Verständnisse฀von฀Kinderschutz฀sowie฀von฀Qualitäts-฀und฀Fehlermanagement spielen in der kommunalen Kinderschutzarbeit eine Rolle? •฀฀ Wie฀werden฀die฀entwickelten฀Konzepte฀von฀den฀Beteiligten฀realisiert,฀angewandt฀und฀in฀ihrer฀ Relevanz eingeschätzt? •฀฀ Welche฀Probleme,฀Schwierigkeiten,฀Belastungen฀und฀Fehler,฀aber฀auch฀Chancen฀und฀Erfolge฀ werden bei der Umsetzung der kommunalen Kinderschutzaufgaben erkennbar und wie gehen die Beteiligten mit den daraus entstehenden Herausforderungen um? •฀฀ Welche฀Hinweise฀lassen฀sich฀im฀Hinblick฀auf฀die฀Umsetzung฀dieser฀Konzepte฀und฀Verfahren,฀ ihrer Relevanz und ihrer Anwendung in der kommunalen Kinderschutzarbeit herausstellen? •฀฀ Welche฀Qualitätsindikatoren฀ergeben฀sich฀daraus฀für฀die฀kommunale฀Kinderschutzarbeit? •฀฀ Welche฀Vorschläge฀für฀die฀Weiterentwicklung฀und฀Qualitätssicherung฀der฀Kinderschutzarbeit฀ in Deutschland lassen sich daraus ableiten? (Wolff u.a., 2013: 60) Ich bündele wesentliche Entwicklungstrends und Belastungen in der Kinderschutzarbeit: In der modernen Kinderschutzarbeit ist eine regelrechte Zwickmühle zwischen der Anspruchserhöhung und Expansion und den Prozessen wachsender Enttäuschung über ihre Leistungen entstanden, muss sie sich eingestehen, dass sie – vor allem mit ihrem überzogenen ›Universalanspruch‹, alle »als kritisch geltende, mit Gewalt und Vernachlässigung einhergehende Sozialisationsprozesse auszuschalten« – an »Wirkungsgrenzen« stößt und immer wider strukturell überfordert ist. (Bode u. Turba, 2014: 2) Bei wachsender Anspruchserhöhung und trotz wachsender Kosten und weiterer Personalvergrößerung ist die fachliche Qualität der Kinderschutzarbeit nicht entsprechend mitgewachsen oder sie sinkt sogar – vor allem im öffentlichen Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Das Kinderschutzsystem soll immer mehr Aufgaben bei wachsender Armut und verschärften sozio-kulturellen Ausgrenzungen in moderner Gesellschaft übernehmen (die Frühen Hilfen stark machen, rund um die Uhr erreichbar sein, gefährdete Kinder und 24 Wolff, R., Flick, U., Ackermann, T., Biesel, K., Brandhorst, F., Heinitz, S., Patschke, M. u. Röhnsch, G. (2013). Aus Fehlern lernen – Qualitätsmanagement im Kinderschutz. Konzepte, Bedingungen, Ergebnisse, hg. vom NZFH. Opladen, Berlin, Toronto. 158 SLR 73.indb 158 29.11.2016 15:48:42 SLR Jugendlichen unverzüglich schützen, die Wiederholung von Gefährdungen verhüten, ambulante Hilfemaßnahmen und Kriseninterventionen, wie z. B. Inobhutnahmen und außerfamiliale Unterbringungen in Gang setzen und tödliche Kindesmisshandlungs- und Vernachlässigungsfälle zuverlässig ausschließen) und zugleich ein Anwachsen der Kosten vermeiden. Das kann nicht gelingen. Insofern sieht sich die Kinderschutzarbeit vor (über)große Herausforderungen gestellt: strategisch und programmatisch, methodisch und organisationell. Dabei ist sie in ein Fahrwasser geradezu »paradoxer wie prekärer Modernisierungsprozesse« geraten, in denen ein »Drang zu perfektionierter Weltbeherrschung« und »Risikokontrolle« ebenso eine Rolle spielen wie manageriale bürokratische und instrumentell technische Steuerungskonzepte (mit der Einführung von Checklisten zur devianzklassifikatorischen Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen, IT-gestützten Dokumentationssystemen und grün, grau und roten Verfahrensablaufschemata) und nicht zuletzt eine normative »Aufwertung von Menschenrechtsdiskursen« (vgl. auch: Bode u.Turba, 2014: 8) mit deutlicher Betonung von Kinderrechten und Kinderinteressen.25 Jedenfalls ist das Kinderschutzsystem – massenmedial und politisch – stark unter Außendruck geraten, wobei sich erhöhte und nicht selten überzogene Ansprüche mit scharfen Vorwürfen mischen. Vor allem ist die Kinderschutzarbeit der Kinder- und Jugendhilfe – vor allem des Jugendamtes – ins Visier medialer, politischer und professioneller Entwertungskampagnen geraten,26 denen die Kinderschutzfachkräfte aufgrund der Schwäche an programmatischer Selbststeuerung und einer Infragestellung ihrer professionellen Deutungshoheit über ihre Praxis wenig entgegensetzen konnten. Was den Praxisalltag des modernen Kinderschutzes betrifft, beobachten die dort tätigen Akteure ebenso wie Außenbeobachter, dass es sich beim aktuellen Kinderschutz faktisch um eine »Dauerbaustelle«, um »Improvisation als Normalzustand«27 handelt und dass sehr unterschiedliche sozialstrukturelle Bedingungen in den einzelnen Regionen, bei der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe wie bei den Freien Trägern, und unterschiedliche organisationale Handlungsbedingungen eine Rolle spielen (mit altersheterogenen Teams mit unterschiedlichen Erfahrungen, fachlichen Orientierungen und Kompetenzen, vielen neuen Mitarbeiter/innen und einer starken Personalfluktuation in einzelnen Teams, jedenfalls aber mit hoher zeitlicher, fachlicher und emotionaler Belastung, mit Press und Stress durch die Fallarbeit, was zu nicht unerheblichen Krankheitsausfällen und zu vordergründigen Strategien des Umgangs mit Belastungen führe). Überhaupt fällt auf: Anstatt im Kinderschutz eine Handlungslogik der Anerkennung stark zu machen (in der gilt, einander wertzuschätzen, nachzudenken und aufmerksam und wachend abzuwarten und unterstützend einzugreifen und zu helfen), haben sich andere Handlungslogiken bei den Kinderschutzfachkräften breit gemacht, wie z. B. die Handlungslogik des Verdachts (mit Ermitteln, autoritärem Eingreifen, Herausnehmen, um Kinder und sich selbst zu schützen) bzw. die Handlungslogik der Ignoranz (mit einer minimalen Reaktion aus der Distanz / ratlosem u. gedankenlosem Rumwerkeln, Laufenlassen, nur mit sich selbst beschäftigt zu sein, technologisch aufzurüsten bzw. eine reflektierte professionelle Beziehung zu verweigern).28 Heft 73/2016 Essays 25 S. insbesondere die beiden in diesem Zusammenhang wichtigen Beiträge: Liebel, M. (2013). Kinder und Gerechtigkeit. Über Kinderrechte neu nachdenken. Weinheim u. Basel. Liebel, M. (2015). Kinderinteressen. Zwischen Paternalismus und Partizipation. Weinheim u. Basel. 26 S. insbesondere die Ghostwriterschrift der Berliner Mediziner: Tsokos, M., Guddat, S. (2014). Deutschland misshandelt seine Kinder. München. 27 Bode & Turba, 2014, a.a.O.: 352. 28 Vgl.: Hildenbrand, B. (2011). Hilfe zwischen Kontrollauftrag und Hilfebeziehung. Wirkungen, Nebenwirkungen und Perspektiven. In: BAG der Kinderschutz-Zentren (Hrsg.), Hilfe ...! Über Wirkungen, Risiken und Nebenwirkungen im Kinderschutz. (S. 45-66) 159 SLR 73.indb 159 29.11.2016 15:48:42 Heft 73/2016 SLR 4 Chancen dialogischer Qualitätsentwicklung Hierzulande wie auch in anderen Ländern steht der moderne Kinderschutz offensichtlich an einem Kreuzweg und die Kinderschutzfachkräfte müssen sich fragen: (1) Wie bestimmen sie ihre fachliche organisationale und persönliche Rolle und Aufgabe, Hilfe u. Unterstützung von Kindern, Jugendlichen u. Eltern in großer Not zu leisten, die diese Hilfe in der Regel nicht freiwillig suchen, die sie oft ablehnen und häufig als weitere Problemzuspitzung erleben? (2) Wie schaffen sie die dafür nötigen Unterstützungssysteme (im Team, in der Einrichtung, im inter-organisationalen Feld) und entwickeln erfolgreiche Programm und Methoden? (3) Wie untersuchen sie ihre Praxis, wie lernen sie weiter und entwickeln ihre Kompetenzen, wie fördern sie ihre Zufriedenheit und Gesundheit und wie steigern sie Qualität und Erfolg in ihrer Arbeit? An einem Kreuzweg zu stehen, ist aber auch eine Chance. Man ist noch nicht in einer Sackgasse gelandet, sondern man hat die Wahl zu entscheiden, in welche Richtung man gehen will. Insofern kann und muss der moderne Kinderschutz entscheiden, in welche Richtung er sich weiterentwickeln will. Zwei Entwicklungsrichtungen stehen dabei zur Wahl: Die Richtung der Stärkung eines ganzheitlichen demokratischen Hilfesystems, mit gut qualifizierten Fachkräften, die im Bündnis mit den Hilfeteilnehmern ein multi-disziplinäres soziales Netzwerk bauen, das die Rechte, Pflichten und Verantwortungen aller Akteure achtet und fördert. Die Richtung des weiterer Ausbaus eines autoritären, ent-demokratisierten, in Bildungsförderung und Risikocontainment gespaltenen, sozialen Hilfesystems, das die Fachkräfte in neomangeriale bürokratische Steuerungsverfahren einbindet und die Partizipation aller Akteure gering achtet und verfehlt und das zu repressiven Verhaltensmanipulationen neigt. Als dialogischer demokratischer Qualitätsentwickler kann eine Entscheidung nicht schwerfallen, in welche Richtung zu gehen chancenreich wäre, wie ich in mehreren Beiträgen deutlich gemacht habe.29 Erfahrungen im Kontext des »neuen« Kinderschutzes, wie sie in den vergangenen Jahren im multidisziplinären Dialog immer wieder auf den alle 2 Jahre stattfindenden Kinderschutz-Foren vorgestellt und erörtert wurden, können dabei ebenso genutzt werden wie kritische Ansätze aus dem Ausland.30 Und gern wiederhole ich, wie man dabei ansetzen kann: (1) Wir können uns selbst als Akteure erkennen und aufhören, uns in passive Opferrollen drängen zu lassen und stattdessen selbst als verantwortlich Handelnde aktiv werden. 29 S. insbesondere: Wolff, R. (2010). Von der Konfrontation zum Dialog. Kindesmisshandlung – Kinderschutz – Qualitätsentwicklung, hg. von Georg Kohaupt. Köln: Die Kinderschutz-Zentren. Biesel, Kay / Wolff, Reinhart Wolff (2014). Aus Kinderschutzfehlern lernen. Eine dialogisch-systemische Rekonstruktion des Falles Lea-Sophie. Bielefeld: transcript Verlag. Wolff, R. / Ackermann, T. / Biesel, K. / Brandhorst, F. / Heinitz, S./ Patschke, M. (2013). Dialogische Qualitätsentwicklung im kommunalen Kinderschutz. Praxisleitfaden, hg. vom NZFH. (Beiträge zur Qualitätsentwicklung im Kinderschutz 5.). Köln: NZFH. Wolff, R. /Flick, U. / Ackermann, T. / Biesel, K. / Brandhorst, F. / Heinitz, S./ Patschke, M. / Robin, P. (2013). Kinder im Kinderschutz – Zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen im Hilfeprozess – Eine explorative Studie, hg. vom NZFH. (Beiträge zur Qualitätsentwicklung im Kinderschutz 2). Köln: NZFH. Wolff, R. (2014). Kinderschutz. In: Düring, D. /Kraus, H.U. /Peters, F. /Rätz, R. /Rosenbauer, N. / Vollhase, M. (Hrsg.): Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. (S. 184-192). Frankfurt a. M. 30 S. insbesondere: Lonne, B., Parton, N., Thomson, J., Harries, M. (2009). Reforming Child Perotection. London, New York: Routledge. Renoux, M.-C. (2008). Réussir la protection de l’enfance. Avec les familles en précarité. Paris: Les Éditions de l’Atelier/Éditions Ouvrières. S. auch die Sondernummer der Zeitschrift Child Abuse and Neglect: McLeigh, J.D. (Ed.) (2013). Beyond Formal Systems of Care: Broadening the Ressources for Child Protection. In: Child Abuse and Neglect. Special Supplement Issue. Vol. 37 (Supplement, Dec. 2013). 160 SLR 73.indb 160 29.11.2016 15:48:42 SLR (2) Wir können Andere (vor allem Eltern, Kinder und Jugendliche, aber auch andere Fachkräfte in den Berufssystemen und in der Öffentlichkeit, Bürgerinnen und Bürger und politisch Verantwortliche) als Akteure erkennen und als Partner/innen und Koproduzenten wertschätzen, sie nicht auf Opfer- oder Täterrollen festlegen, sie auf Augenhöhe einbeziehen und mit ihnen zusammen arbeiten. (3) Wir können lernen, unsere Teams und die eigene Organisation, vor allem aber die Fälle und die Fallprozessgestaltungen gemeinsam besser zu verstehen und kritisch zu untersuchen und achtsam umzugestalten. (4) Wir können aus Fehlern und Erfolgen lernen. (5) Wir können eine Dialogische Qualitätsentwicklung im kommunalen Kinderschutzsystem /mit einem Jugendamt und seinen Kooperationspartnern, mit den Hilfeteilnehmern und nicht zuletzt mit Akteuren im Gemeinwesen planen, ins Werk setzen und kritisch evaluieren, um neue Wege erfolgreicher Kinderschutzpraxis zu ermöglichen. (6) So können wir zu »Handwerkern der Demokratie«31 werden, die tri-polar das Kindeswohl, das Eltern- und Familienwohl und das Gemeinwohl fördern und schützen. Heft 73/2016 Essays Abstract Insecurity and risk are central catchwords to characterize globalized capitalist societies where at the same time child abuse and child protection have become medialized and scandalized top issues that have changed child welfare world-wide. In the analysis of these trends the author can show that social work has arrived at a cross-road where the involved professional systems must decide where to go: towards a punitive risk containing programmatic perspective or towards choosing a democratic dialogical orientation that is committed to support a comprehensive service approach to further the well-being of families, children and young people. 31 Rosenfeld, J.M., Tardieu, B. (2000). Artisans of Democracy. How Ordinary People in Extreme Poverty and Social Institutions Become Allies to Overcome Social Exclusion. Lanham, New York, London. 161 SLR 73.indb 161 29.11.2016 15:48:42 Heft 73/2016 SLR Rezensionsaufsätze Einzelbesprechungen Einzelbesprechungen Peter Hammerschmidt/Ute Kötter/Juliane Sagebiel (Hrsg.): Die Europäische Union und die Soziale Arbeit (Schriftenreihe Soziale Arbeit der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München, Band 7). Neu-Ulm: AG SPAK Bücher 2016. 178 S., 16,- € jeweils historisch ausgreifend und fundiert, was auch in kurzen Beiträgen möglich ist. Mit Europa ist gegenwärtig kein Staat zu machen. Der erstarkende Nationalismus als Reaktion auf die sozialen und kulturellen Verwüstungen durch den Neo-Liberalismus weht nicht nur im »Brexit« dem »vereinten« Europa ins Gesicht. Schon lange war in kritischen Analysen erwartet worden, dass die radikale Dominanz des Ökonomischen in der Europäischen Integration und Erweiterung auf Dauer nicht gut gehen kann. War schon in den Gründungsverträgen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die Bildung des Binnenmarkts das zentrale Ziel, so war das Leitbild »Europa« in den Nachkriegszeiten mit Vorstellungen der politischen Friedensförderung amalgamiert und wurde im Antikommunismus mit Freiheitsvorstellungen aufgeladen. Und in der Systemkonkurrenz des gespaltenen Europas wurden sozialpolitische Fortschritte mit der europäischen Integration verbunden. Fortschreitend und nicht durch eine Teildemokratisierung aufzuhalten entwickelten sich die Staaten gegeneinander als reine Wettbewerbsstaaten in der Konkurrenz als Investitionsstandorte und als Steueroasen. Dass beispielsweise Irland seinen wirtschaftlichen Aufstieg einem Steuersatz von 0,005 % (im Fall von Apple) verdankte, hat selbst die EU-Kommission unter Jean-Claude Juncker, der früher Luxemburg zur Steueroase ausgebaut hatte, erschreckt. Doch die aktuellen Debatten und politischen Verschrecktheiten täuschen darüber hinweg, dass die Europäische Union institutionell Europa tiefgreifend verändert hat. Dies hat sich in einem stetigen Prozess in Jahrzehnten herausgebildet und die Lebenslage der Europäer mehr verändert als sie es selbst wahrnehmen. Wie steht es in diesem Prozess mit der Sozialen Arbeit? Dieser Frage stellt sich der vorliegende Sammelband auf der Grundlage großer Sachkenntnis der Autor*innen. Sie analysieren den Prozess der Institutionalisierung Europas Die Herausgeber*innen geben im ersten Beitrag einen guten Überblick zur Entwicklung der Sozialpolitik in der Europäischen Union. Der juristische und institutionelle Schwerpunkt der Darstellung verdeutlicht die Dynamiken, die zunächst einen durchaus ambivalenten Effekt der Förderung und Begrenzung des Sozialen hervorgebracht haben, in neuester Zeit aber, insbesondere unter dem Einfluss der Kommission Barroso, das europäische Wettbewerbs- und Vergaberecht eine radikale Marktlogik durchgesetzt hat. Ingeborg Tömmel greift in ihrem Beitrag den institutionellen Aspekt auf und analysiert die EU als eine »Kreatur mit zwei Köpfen«, nämlich einer zugleich supranationalen Macht und intergouvernementalen Aushandlungsarena. Gleichzeitig erweitern die Regierungschefs im Europäischen Rat ihre Zuständigkeiten und die Kommission profiliert ihre operative Macht. Die EU bräuchte für ein gutes Funktionieren eine Balance zwischen diesen »Köpfen«, doch blockiert die aufwendige Aushandlung im Europäischen Rat Manches. Zugleich sind die Ungleichgewichte im Europäischen Rat angesichts der besonderen Dominanz Deutschlands konfliktgenerierend. Die Analyse der politischen Institution EU zeigt, dass weniger spezifische Eingriffe für die Soziale Arbeit relevant sind, sondern sich erhebliche restringierende Rückwirkungen aus der Dominanz der Wirtschaftsund Währungsunion, der Austeritätsstrategie unter Führung Deutschlands und dem marktradikalen Wettbewerbsrecht ergeben. Hans-Jürgen Bieling betrachtet die Europäische Union mit den Mitteln einer politökonomischen Analyse und bezeichnet sie als »postmodernes Imperium«. Dieses Imperium hat in den unvollständigen Integrationsformen zugleich die Desintegrationsprozesse hervorgebracht, die heute zu einer Krise der Europäischen Integration geführt haben. Der europäische Finanzmarktkapitalismus ist krisenanfällig, funktioniert nach den Gesetzen des Marktes und kann nur bei Unterwerfung unter dessen Bedingun- 162 SLR 73.indb 162 29.11.2016 15:48:43 gen »gesteuert« werden. Zwar sind gleichzeitig teilstaatliche Regierungsinstitutionen und im Ansatz eine europäische Zivilgesellschaft entstanden, doch kann die Steuerungsfähigkeit des früheren Nationalstaats nicht erreicht werden. In der Finanzkrise Europas hat sich das Zentrum Europas besonders herauskristallisiert und begonnen, die Peripherie demonstrativ zu beherrschen. Davon kann Griechenland ein Lied singen. Die gegenwärtige Krisenkonstellation enthält sowohl die Möglichkeit einer ausgeglicheneren Entwicklung als auch die eines verschärften Zentralismus mit seiner ihm eigenen Widersprüchlichkeit und zentrifugalen Dynamiken. Der Begriff des »Imperiums« scheint nicht nur deswegen angemessen zu sein, weil die innere Struktur der EU von regionalen Disparitäten bestimmt wird und das Versprechen der EWGGründungsverträge, einen »Fortschritt auf dem Wege der Angleichung« bewirken zu können, destruiert ist, sondern auch deshalb, weil die wirtschaftlichen Außenbeziehungen, beispielsweise zu Afrika hin, imperialen Charakter angenommen haben. Eine Grundsatzfrage mit hochaktuellem Bezug behandelt Ute Kötter unter dem Titel »Hartz IV für alle EuropäerInnen?«. Es geht um die sozialpolitischen Konsequenzen der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Insbesondere der Europäische Gerichtshof hat die schwachen sozialpolitischen Impulse in den Gründungsverträgen aufgegriffen und erheblich ausgeweitet. Schon in den Gründungsverträgen war die Absicht festgehalten worden, dass Wanderarbeitnehmer, die ja für die wirtschaftliche Dynamik wichtig waren und immer wichtiger wurden, nicht benachteiligt werden dürften. Dieser Grundsatz wurde ausgeweitet und hat die Freizügigkeit für Arbeitnehmer ausgedehnt. Zuletzt aber haben die Nationalstaaten, dabei hat Großbritannien eine starke Rolle gespielt und Deutschland hat seine nationale Fürsorgepolitik restriktiv definiert, die Inanspruchnahme von Sozialleistungen bei Arbeitssuche und anderen prekären Situationen genau abgegrenzt. Dadurch wurde die expansive Rechtsauslegung des Europäischen Gerichtshofs gestoppt. Die detaillierte Darlegung der rechtlichen Argumente in diesem Beitrag zeigt SLR erneut, wie tief man in die europäisch-nationalstaatliche Gesetzesentwicklung einsteigen muss, um die Bedingungen der Sozialen Arbeit einschätzen zu können. Heft 73/2016 Einzelbesprechungen Ein Instrument, den »Fortschritt auf dem Wege der Angleichung« auf dem Gebiet der Sozialpolitik herbeizuführen, ist die »Offene Methode der Koordinierung, OMK«. Mit ihr befasst sich Aysel Yollu-Tok in ihrem Beitrag. Die vorgeblich sanfte Methode, zunächst als Instrument der Beschäftigungsstrategie entwickelt, dann auf andere Politikbereiche, in denen die EU keine originäre Zuständigkeit für sich reklamieren kann, ausgedehnt, erweist sich als raffiniertes Vorgehen zur Harmonisierung. Dabei setzt die EU-Kommission die entscheidenden Wegmarken und steigert ihre operative Macht. Zunächst auf dem Gebiet der »Sozialen Eingliederung« entwickelt und in der Lissabon Strategie 2000 verankert, wurde die OMK zu einem wichtigen sozialpolitischen Instrument auf den Gebieten der Alterssicherung und der Gesundheit und Langzeitpflege. Doch haben die Mitgliedsstaaten das Verfahren teilweise sehr lax gehandhabt und alles Mögliche in ihre Berichte geschrieben. Darin kommt einerseits ein strategischer Widerstand gegen die Einflussnahme der EU und andererseits eine Unmöglichkeit, heterogene Traditionen systemisch vereinfachen zu können, zum Ausdruck. Nach der Finanzkrise 2008/2009 verlagerte sich der Schwerpunkt auf die Frage der Armutsbekämpfung (schon in den 1970er Jahren als Folge der europäischen Marktintegration weitsichtig von der Kommission als sozialpolitisches Problem wahrgenommen), hat diese aber der Wirtschaftspolitik untergeordnet. Der Einfluss der EU auf die nationale Sozialpolitik lässt sich, wie auch die anderen Autor*innen festhalten, schwer einschätzen, denn endogene und exogene Prozesse laufen parallel, nachdem sie auf beiden Ebenen angestoßen wurden. Die neo-liberale Modernisierung wurde auch in Deutschland vorangetrieben, vor allem unter dem eindrücklichen Etikett der »Bürgerfreundlichkeit« und »Effektivität« der Verwaltung. Die Wachstums- und Wettbewerbspolitik der EU bildet den Rahmen und vielfach 163 SLR 73.indb 163 29.11.2016 15:48:43 Heft 73/2016 SLR Einzelbesprechungen auch den Legitimationsbezug für nationale Strategien. an, das Soziale im Ökonomischen aufzulösen. Den Rest besorgen die »Tafeln«. Für die nationale Tradition der Sozialpolitik wurden und werden in Deutschland vor allem gegenüber der Ausdehnung des ökonomisierten Dienstleistungsdenken Abwehrstrategien entwickelt. Zu einem »echten Binnenmarkt«, den die EU erreichen will, gehört auch die Freiheit der Dienstleistungen – neben den Freiheiten für Arbeitnehmer, Kapital und Waren. Die EU hat dazu eine eindeutige Politik der Durchsetzung eines »freien« Dienstleistungsmarktes betrieben. Vor allem die Dienstleistungen in »allgemeinem Interesse« und in »allgemeinem wirtschaftlichen Interesse« wurden expansiv definiert und haben besonders das deutsche korporatistische Modell der Daseinsvorsorge bedroht. Die Auseinandersetzung ist auch keineswegs abgeschlossen. Thematisch wird der Band mit einem Beitrag von Peter Buttner über »Europäische Zwangsjacken« für die Ausbildung der Sozialen Arbeit abgerundet. Dabei geht es zunächst um den »Bologna-Prozess«, dessen Raffinement darin besteht, ohne demokratische und rechtliche Legitimation eine Vereinheitlichungsdynamik in Gang gesetzt zu haben. Die Europäische Union hat zu diesem Thema offiziell kein Mandat, wurde aber über »Bologna« in eine vielversprechende Programmatik der wechselseitigen Anerkennung von Bildungszertifikaten befördert. Dies wird als Teil der Beschäftigungsstrategie verstanden. Komplementär zu »Bologna« wurde ein Europäischer Qualifikationsrahmen für Bildungsabschlüsse erarbeitet, auf den sich auch der Nationale Qualifikationsrahmen positiv bezieht. Die streng hierarchische Ordnung des Bildungs- als eines Berechtigungswesens wird hier nicht neu erfunden, aber in eine scheinbar besser legitimierte Ordnung gebracht. Um deren Ausgestaltung kämpfen viele Interessen und Interessenten, für manche bringt der Rahmen Vorteile mit sich (z.B. für die berufliche Bildung im Verhältnis zur allgemeinen Bildung), was wiederum Abwehrkämpfe anderer Akteure hervorruft. In Deutschland hat der Qualifikationsrahmen für die Soziale Arbeit auf dem Papier eine gewisse Einheit hergestellt, in der Praxis der Ausbildungsinstitutionen aber zu einer bunten Vielfalt mit Unübersichtlichkeit geführt, denn die Akkreditierungsverfahren werden auf dem Niveau ganz allgemeiner Leitlinien durchgeführt. Der Beitrag von Anne Hans untersucht dieses Politikfeld sehr sorgfältig und strukturiert den Gedankengang auch anschaulich und differenziert. Die verschiedenen Etappen der Entwicklung werden nachgezeichnet und am Ende kommt die Verfasserin zu einer Beurteilung, die auch für die anderen Themen des Bandes Gültigkeit hat: Sozialpolitisch lässt sich eine »weitere Verschiebung der Daseinsvorsorge in den marktwirtschaftlichen Sektor und damit die Ausdehnung der Kompetenzen der EU« (S. 137) diagnostizieren. Der grundsätzliche Beitrag von Norbert Wohlfahrt »Soziale Arbeit als Opfer der EUBürokratie?« liest sich im vorletzten Teil des Buches dann als Zusammenfassung der bisherigen Analysen. Er bestätigt die analytischen Konzepte der anderen Autor*innen im Hinblick auf die zentrale Wirkung der Europäischen Integration, nämlich Sozialarbeit und ihre Bedingungen aus ihren traditionalen Pfaden herauszulösen und sie einem unmittelbaren Wettbewerbsmechanismus zu unterwerfen. Er geht außerdem auf die neuere Entwicklung eines »Sozialunternehmertums« ein. Mit diesem Programm wird scheinbar etwas »Soziales« zur Gestaltung sozialer Dienstleistungen beibehalten, der Form nach aber vollständig dem Profitinteresse eines Unternehmens unterworfen. Damit zeichnet sich eine Tendenz Damit zeigt sich auch auf diesem Gebiet die Konsequenz einer Regierung durch »soft law«, wie sie Norbert Wohlfahrt beschreibt. Es werden nicht mehr bestimmte Inhalte und normative Festlegungen vereinbart, sondern lediglich die Verfahren werden festgelegt und der »output«. Im Falle der Bildung und des Studiums der Sozialen Arbeit heißt dies, dass »Kompetenzen« definiert und geprüft werden. Dass damit die Freiheit eines jeglichen Bildungsprozesses, nämlich subjektiv die Aneignung eines Inhaltes betreiben zu können, aufgelöst wird, weil 164 SLR 73.indb 164 29.11.2016 15:48:43 nicht mehr Wissen geprüft wird, und stattdessen eine lückenlose Kontrolle des Individuums und seiner Kompetenzen an die Stelle der Wissensprüfung tritt, wurde von den meisten Akteuren übersehen. Das Individuum wird in der Konsequenz nur noch nach seiner funktionalen Marktpassung (»employability«) beurteilt. Dies passt dann reibungslos in die europäische Marktprogrammatik. Es scheint insgesamt so, dass mit den in diesem Band untersuchten Entwicklungen die Europäische Integration eine gewisse »Reife« erreicht hat, was die Möglichkeiten eines Binnenmarktes betrifft. Auf dem Höhepunkt der europäischen Integrationsdynamik scheint sie gekippt zu sein, weil der jeweilige europäische Mehrwert national nicht mehr sichtbar ist. Die starken Akteure, die mächtigen Nationalstaaten, haben in solchen historischen Situationen die Marktausdehnung aggressiv und imperial ausgeweitet und Kriege vom Zaun gebrochen. Möglicherweise steht die EU mit der Lissabon-Strategie, die EU binnen 10 Jahren zum »wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt« zu machen, genau vor dieser Schwelle. In Arbeitsteilung mit der NATO, unter Führung der amerikanischen Außenpolitik, betreibt sie mit Wirtschaftssanktionen und Freihandelsabkommen einen kalten Krieg der Dominanz, Unterwerfung und Bedrohung. Der Titel des Buches geht über seinen Inhalt weit hinaus. Die Beiträge konzentrieren sich auf die Konsequenzen für die Soziale Arbeit in Deutschland. Deshalb können die Folgen der Europäisierung insgesamt nicht erfasst werden. Auch wird das dargestellte Wissen im Wesentlichen aus der Sozialpolitikforschung übernommen. Eigenständige Wissensgenerierung einer Wissenschaft der Sozialen Arbeit zum Thema Europa liegt nur sehr weit verstreut vor und ist häufig recht punktuell erarbeitet. Die notwendige ländervergleichende Forschung und Debatte geht über individuelle Arbeitsschwerpunkte von einzelnen Hochschullehrern kaum hinaus. Lediglich ein Netzwerk wie das von ECCE (www. ecce-net.eu) hat in 30 Jahren ein gewisses Volumen an europäischem Wissen über die Soziale Arbeit in Europa erbracht. Da es noch kein Lehrbuch zum Thema gibt, soll abschließend empfohlen sein, die Beiträge des Bandes auch für Lehrveranstaltungen grundzulegen. Es handelt sich um komprimierte Texte, mit denen man die Studierenden nicht allein lassen soll. Heft 73/2016 SLR Einzelbesprechungen Franz Hamburger Amanda von Koppenfels Klekowski: Migrants or Expatriates? Americans in Europe. Basingstoke: Palgrave-Macmillan. 2014. S. 330, 115 US $ Lars Meier (Hrsg.): Migrant Professionals in the City: Local Encounters, Identities, and Inequalities. Routledge Advances in Sociology Series. Routledge: New York 2014, S.262, 90 £ Seit die Anthropologin Vered Amit (2007) in der von ihr herausgegeben Essaysammlung auf das Phänomen der privilegierten ›Bewegung‹ (Movement im Gegensatz zu Migration) aufmerksam machte und zwei Jahre später die Soziologinnen Michaela Benson und Karen O’Reilly (2009) das Idiom Life-Style Migration schufen, etablierte sich in den Sozialwissenschaften die Forschung im Bereich der privilegierten, professionellen Migration von hochqualifizierten Menschen sowie Menschen, die innerhalb des globalen Nordens migrierten. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde diese Art Migration vor allem im Bereich Management, für spezifische Berufsgruppen, oder etwa Experten aus westlichen Ländern in weniger entwickelte Länder (Fechter, 2007) abgedeckt. Im Rahmen der Süd-Nord-Migration standen (hoch)qualifizierte Menschen aus dem globalen Süden, die in den globalen Norden migrierten unter dem Idiom Brain Drain, später Brain Circulation, im Mittelpunkt. Die beiden Bücher Migrant Professionals in the City, ein Essayband herausgegeben von Lars Meier und die Monographie Migrants or Expatriates: Americans in Europe von Amanda Klekowski von Koppenfels erweitern dieses 165 SLR 73.indb 165 29.11.2016 15:48:43 Heft 73/2016 SLR Forschungsfeld um maßgebliche Bereiche. Die 2014 erschienene Monographie basiert auf der Analyse von quantitativen und qualitativen Forschungsergebnissen europäischer und nationaler Daten und spezifischer, lokaler Daten, die die Politikwissenschaftlerin von Koppenfels in Brüssel, London, Paris und Berlin zusammengetragen hatte. Von Koppenfels beschreibt die Migration von US Amerikanern in der Gegenwart und bewegt sich damit weg von historischen Untersuchungen zu Amerikanern im Zwischenkriegseuropa, Forschung über Amerikaner in beliebten Rentnerdestinationen oder US Expatriates in diversen, exotischen Destinationen. Konsequenterweise hinterfragt die Autorin die Migrationsmotive der in Europa Lebenden. Was bringt sie dazu, eines der reichsten Ländern der Welt zu verlassen, das für EU Europäer nach wie vor eine beliebte Immigrationsdestination darstellt? Die Gründe, die sie entdeckt, sind vielschichtig, allerdings gibt es kaum US amerikanische Migranten, die mit dem festen Ziel, den USA für immer den Rücken zu kehren, emigrierten, sondern sehr viele sind Accidental Migrants (Zufallsmigranten). Die Dauerhaftigkeit ihrer Migration ergab sich aus ihren jeweiligen Lebensumständen, die eine Fülle von Intersektionen im Positiven, wie im Negativen darstellen. So fand von Koppenfels Migranten, die zwar in die USA zurückwollten, aber auf Grund ihrer Familienverhältnisse nicht zurückkonnten, während andere rundherum mit ihrem Leben außerhalb der USA zufrieden waren und ihr zu Hause im Emigrationsland gefunden hatten. In beiden (Extrem)Fällen bedeutet dieses nicht, dass sie ihre Verbindung zu den USA abbrachen, sich nicht bemühten, ihre US Amerikanische Kultur, Staatsbürgerschaft und Sprache an Kinder zu tradieren, auch wenn sie selbst teilweise keinen Kontakt zu anderen Amerikanern suchten. Nach dieser Rahmung analysiert von Koppenfell die sozio-ökonomischen Profile der Emigranten, und im Anschluss daran untersucht sie die Bereiche Identität, politischer Transnationalismus und migrantische Selbstorganisation, bevor sie in der Schlussbetrachtung das Verhältnis der Zufallsmigranten mit den USA und die Zukunft der US Amerikaner im Ausland unter Einzelbesprechungen die Lupe nimmt. Vor allem gilt ihr Augenmerk potentiellen Zukunftsszenarien im Bezug auf die Kinder der Emigranten, die sie hoffentlich in einer weiteren Studie untersuchen wird. Diese Szenarienbildung ist ihr möglich, da sie sich vorher im Detail der Selbstdefinition und den Lebenswelten der Immigranten gewidmet hatte und somit mit der Vorstellung aufgeräumt hatte, dass die Emigranten per se privilegiert seien, in einer migrantischen Blase leben oder eben nur für kurze Zeit außerhalb der USA leben würden. Gerade die Analyse der Intersektion dieser Faktoren macht ihr Buch so lesenswert, da sie das Spannungsfeld von Integration, Exklusion und das weiterbestehende Verhältnis zu den USA klar herausstellt und eben beschreibt, wie zufällig die Migration dieser, bisher übersehenen, Migrantengruppe in Europa ist. Im Bereich der professionell gewollten, aber dann doch oft dauerhaft zufällig werdenden Migration bietet der Band von Lars Meier differenzierte und nuancierte Einsichten. Ebenso wie die US Amerikaner war die Dauerhaftigkeit der Migration bei den meisten der Betroffenen nicht geplant. Um der Agenda zu folgen, ist das Buch in drei Teile aufgebrochen: Überlegungen zur Stadt, Inklusion durch Arbeit und lokale Identitätsentwicklungen, wobei die ersten beiden Teile jeweils drei Kapitel umfassen, der letzte Teil dagegen doppelt so viele Essays enthält. Die schiere Diversität der Beispiele der Beiträge ist bestechend. Diese reicht schon im ersten Teil von Türkischen Migranten in drei europäischen Städten über die Kinder von berufsbedingten Migranten in Melbourne zu deutschen Finanzspezialisten in London und Singapur. Der Essay über die Kinder ist einer der herausstechenden in dem Buch – er behandelt den noch seltenen Schwerpunkt von erwachsenen Drittkulturkindern, die darüber hinaus mit diversen Privilegien aufgewachsen sind und teilweise erst als Erwachsene mit harscheren Realitäten konfrontiert wurden. Weitere Perlen bilden die beiden ersten Kapitel des zweiten Teils, die wiederum seltene Themen aufgreifen: Selbstorganisationen von qualifizierten Migranten in Oslo und russische Professionelle in einer deutschen Kleinstadt – wobei die Migrantenor- 166 SLR 73.indb 166 29.11.2016 15:48:43 ganisationen in Oslo von daher sehr interessant sind, da sie Einsichten in die Gruppenbildung in einer Migrationssituation geben, die nicht ethnisch basiert sind. Die russischen Immigranten stellten in den ersten Interviews dar, wie gut ihr Arbeitsleben in Deutschland im Vergleich zu Russland sei, aber sagten nur sehr wenig über die Stadt, in der sie lebten. Bei den Reinterviews zwei Jahre später hatte sich diese Gewichtung sehr geändert. Innerhalb dieses Zeitrahmen hatte ein Settlement stattgefunden, die Migranten erwähnten nun in Interviews ihr professionelles, ebenso wie ihr lokales Umfeld als sehr vorteilhaft. Dass sich eine Art Bindung an ihren neuen Wohnort ergeben würde und sie nun doch vielleicht länger dort bleiben würden, hatte sich so ergeben – ebenso wie das Niederlassen der US Migranten in Klekowskis Buch. Der dritte und letzte Teil des Buches umfasst eine Fülle von Kapiteln, die von Jakarta, über London bis nach Dubai reichen, wobei thematisch immer eine spezifische Gruppe (Puerto Ricanische Software Ingenieure in Boston, beispielsweise) im Vordergrund steht, was dann wiederum ein Gegengewicht zu qualifikations-homophilen Gruppen wie in Oslo darstellt, da hier Ethnie oder nationale Herkunft als gruppenbildendes Merkmal attestiert wird. Ein weiterer Unterschied zwischen der Essaysammlung und der Monographie besteht auch darin, dass alle Migranten in den einzelnen Kapiteln Professionals sind, Migranten aus Identitäts- oder Familiengründen deckt das Buch nicht ab. Was es aber genauso zwingend aufzeigt, dass professionelle Migration ebenso zu Wurzeln führen kann wie Migration, die eher im Privatbereich der Migranten liegt. In diesem Sinne ergänzen sich die beiden Bücher, da sie die Diversität von qualifizierter Migration und bei der Nord-Nord Migranten aufzeigen. Dani Kranz SLR Stefan Gillich/ Rolf Keicher (Hrsg.): Suppe, Beratung, Politik – Anforderungen an eine moderne Wohnungsnotfallhilfe. Wiesbaden. Springer Fachmedien 2016, S. 305, 19,99 € Heft 73/2016 Einzelbesprechungen Kann man noch etwas Neues über die Wohnungsnotfallhilfe erfahren? Dieses Buch ist eine Mischung aus Beiträgen über Grenzen des Handelns, dem Aufzeigen von Entwicklungen und der Suche nach Antworten auf aktuelle Herausforderungen. Bereits der Titel des Buches »Suppe, Beratung, Politik« macht neugierig und lässt ein breites Spektrum der Thematik vermuten. Warum sollte sich die Wohnungsnotfallhilfe mit diesen Themen befassen? Schließlich ist bekannt, welche Kompetenzen in der Hilfe gebündelt sind und wie passende Programme aussehen können. Mir erscheint die Einführung wichtig als Grundverständnis für die folgenden Fachbeiträge. Die einzelnen unterschiedlichen Beiträge spiegeln die aktuelle wirtschaftliche Krisensituation und deren politische und sozialpolitische Folgerungen für Menschen in Armut und Wohnungslosigkeit. Sie reichen von Aspekten der Existenzsicherung und privater Wohltätigkeit über Unterstützung in Wohnungsnotlagen und strukturellen Rahmenbedingungen sowie soziale Rechte und die Durchsetzung dieser Rechte. Im Fokus stehen nicht Fragen nach der Verteilungsgerechtigkeit, sondern die Grundlagen und methodische Hilfeansätze, Deutungen der sozialen Rechte und Rechtsdurchsetzung sowie Bilder von Praxisfeldern der Wohnungslosenhilfe. Im Vordergrund der jeweils ins Detail gehenden Darstellungen stehen die Diskussionen um die zentralen sozialpolitischen Strategien. Gehören am Ende Suppe, Beratung und Politik als »Gemeinschaf« zur Verwirklichung eines sozialen Auftrags doch zusammen und in welchem Wechselspiel zueinander stehen sie? Die Autoren sind erfahrene Praktiker der Sozialen Arbeit, Lehrende an Hochschulen mit Schwerpunkt Politik-, Sozial- und Erziehungs- 167 SLR 73.indb 167 29.11.2016 15:48:43 Heft 73/2016 SLR wissenschaften und Funktionsträger der Wohlfahrtspflege sowie Vertreter der kommunalen Sozialverwaltung. Ziele dieses Fachbuches sind, zur aktuellen Diskussion über erprobte Ansätze der sozialen Integrationsarbeit beizutragen, ein menschenwürdiges Leben wohnungsloser Menschen zu organisieren und berechtigte Forderungen an Staat und Politik zu richten, um Sicherung der individuellen Existenz durch Wohnung und Erwerbseinkommen sowie gerechte Grundlagen des gemeinsamen Zusammenlebens zu schaffen. Ein weiteres Ziel ist das Bewusstsein für die Situation der von Armut und Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen zu schärfen. Der Leser soll für die Wohnungslosenproblematik sensibilisiert werden, nicht zuletzt soll es Beiträge zur Beseitigung von Stereotypen leisten und die kollektiven Wahrnehmungen von Armut und Wohnungslosigkeit hinterfragen. Aufgrund der verschiedenen Beiträge von unterschiedlichen Autoren stehen Theorie und Empirie eher unverbunden nebeneinander. Dennoch wird das Anliegen den Buches eingelöst. Das vorliegende Buch wendet sich im Besonderen wiederum an Praktikerinnen und Praktiker der Sozialen Arbeit, Studierende sowie Lehrende der Sozialen Arbeit, der Politik- und Erziehungswissenschaften ebenso wie an Vertreterinnen und Vertreter der Träger, an Verbände und die öffentlichen Verwaltungen, an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Hierbei handelt es sich nicht um ein Nachschlage-, sondern ein Studienwerk besonderer Qualität. Der interessierte Leser sollte trotz ausführlicher Beschreibungen Vorkenntnisse zum Thema Institutionelle Wohnungsnotfallhilfe haben. Die Herausgeber: Stefan Gillich ist stellvertretender Vorsitzender des Evangelischen Bundesfachverbandes Existenzsicherung und Teilhabe e.V. und Bereichsleiter für Existenzsicherung, Armutspolitik, Gemeinwesendiakonie bei der Diakonie Hessen. Rolf Keicher arbeitet bei der Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesfachver- Einzelbesprechungen band als Referent für Hilfen in besonderen Lebenslagen und Wohnungspolitik, Berlin. Georg Bastian Holger Brandes, Markus Andrä, Wenke Röseler, Petra Schneider-Anrich: Macht das Geschlecht einen Unterschied? Ergebnisse der Tandemstudie zu professionellem Erziehungsverhalten von Frauen und Männern. Opladen: Verlag Barbara Budrich 2016, S. 197, 28,00 € Macht das Geschlecht einen Unterschied? Die Dresdener Forschungsgruppe um Holger Brandes möchte diese Frage für die Arbeit in Kindertagesstätten beantworten. Dazu legen sie eine Studie vor, bei der Erzieherinnen und Erzieher im Interaktionsverhalten mit Kindergruppen und in Einzelsituationen in der Kita beobachtet werden. Weil in der frühen Kindheit Prägungen für Geschlechterrollen erfolgen, interessiert die Forschenden, ob sich im Erziehungsverhalten Unterschiede bei Männern und Frauen zeigen und ob das Geschlecht der ErzieherIn tatsächlich einen Unterschied ausmacht. Ihre Ergebnisse sollen zugleich die Forderung nach mehr Männern in den Kitas auf ihre Sinnhaftigkeit überprüfen. Die Studie ist breit angelegt, mixt verschiedene Methoden und versucht dennoch übersichtlich und durchführbar zu sein. Sie nutzt ein quasi-experimentelles Setting. Das bedeutet: 41 Erzieherinnen und Erzieher werden in Einzelsituationen jeweils mit einem Kind beobachtet. Die Aufgabe ist dabei für alle Interaktionen dieselbe. Eine Kiste mit verschiedenen Materialien steht bereit und die Aufgabe lautet, daraus etwas herzustellen. Anschließend erfolgt die zweite Beobachtung in Tandemsituationen. Dabei leiten jeweils eine Erzieherin und ein Erzieher eine größere oder kleinere Gruppe drei- bis sechsjähriger Kinder an, zusammen spielen sie das sogenannte Twisterspiel. Eine Matte liegt auf dem Boden, deren Felder sind unterschiedlich mar- 168 SLR 73.indb 168 29.11.2016 15:48:43 kiert. Auf dieser Matte müssen sich die Spieler mit Händen und Füßen auf unterschiedlichen Feldern aufstellen und nach bestimmten Kriterien – zum Beispiel Farben – in eine bestimmte Richtung fortbewegen. Die Aufgabe variiert und kann sowohl konkurrierend oder als »Choreografie« gelöst werden. Mal bewegen sich einzelne, mal ganze Gruppen über das Feld. Sie dient u.a. der Farberkennung und der Rechts- und Linkskoordination. Beide Untersuchungsreihen (Einzelsituation und Tandemsituation) werden mit allen Testpersonen durchgeführt und durch begleitende Interviews ergänzt. Insgesamt wird mit 41 Männern und 65 Frauen das quasi-experimentelle Setting durchlaufen. Als Kontrollgruppe zu den 41 gemischten Tandems werden 12 Frau-Frau-Tandems beobachtet, um festzustellen, ob sich das Verhalten in den gemischten Tandems durch die Geschlechtszugehörigkeit erklären lässt. Folgende ausgewiesene Ziele verfolgt die Studie (Auswahl): – Unterscheiden sich männliche und weibliche Fachkräfte hinsichtlich fachlicher Kriterien und in ihrem konkreten Interaktionsverhalten gegenüber den Kindern? – Lassen sich Annahmen bestätigen, dass Frauen stärker einfühlsam-bindungsorientiert und Männer eher herausfordernd und explorationsorientiert interagieren? – Verhalten sich die Fachkräfte unterschiedlich gegenüber Jungen und Mädchen und bestehen diesbezüglich Unterschiede zwischen Männern und Frauen? – Zeigen sich in Interaktionen »doing gender« Prozesse? – Zeigen sich Hinweise auf geschlechtsabhängige Arrangements und Arbeitsteilungen zwischen den Fachkräften? (S. 59) Die Studie ist in der Exploration ihrer Fragestellung und in der Einbettung in den Forschungskontext erfreulich knapp und prägnant, unaufgeregt, ohne Zuweisung von – wenn man so will - Schuld oder Mitschuld an stereotypem Geschlechterverhalten, wie es sich auch schon bei Kindern in der frühkindlichen Phase zeigt. Ebenso prägnant werden die Ergebnisse frühe- SLR rer Studien und der Stand der bisherigen Forschung dargestellt und daraus das eigene Vorgehen abgeleitet. Heft 73/2016 Einzelbesprechungen In der Dokumentation der Ergebnisse geht man ähnlich sachorientiert vor, arbeitet die einzelnen Fragestellungen immer wunderbar kurz, aber doch gehaltvoll ab. Im ersten Teil des quasi-experimentellen Settings, den Einzelszenen, werden Befunde beschrieben, die bemerkenswert sind, und zwar in zweifacher Hinsicht: Alle Erzieherinnen, alle Erzieher sind in der Lage mit dem jeweiligen Kind, gemeinsam oder zumindest parallel aus den vorhandenen Materialien etwas herzustellen. Die fachlichen Kompetenzen zeigen sich bei allen ErzieherInnen. Es wird festgestellt, dass in der Frauen-Mädchen-Interaktionen mehr »Subjekte« hergestellt werden, also »Figuren, die Augen haben«, wie es im Text heißt, in Mann-Junge-Arbeitsgruppen häufiger Objekte, also Apparate, Kisten, anderes. Männer greifen zu Unterlegscheiben und Frauen eher zu Perlen, um das Material miteinander zu verbinden. Hier wird vermutet, dass dies daran liegen könnte, dass man – je nach Materialwahl, eine Heißklebepistole und Hammer und Nägel nutzen muss. Diese Werkzeuge werden eher von Männern eingesetzt. Interessanter als diese Unterschiede sind aber die sogenannten »Schlüsselszenen«. Als Schlüsselszenen bezeichnen die AutorInnen Sequenzen, in denen sich ›doing-gender‹ zeigt, also das Geschlecht betonende Interaktionssequenzen (ab Seite 97). Da wird beschrieben, wie ein Mann einem Jungen Vorschläge macht: »Man könnte doch hier so etwas wie eine Kanone bauen.« Die Forschenden deuten die Szene so, dass der Mann mit dem Jungen auch auf einer emotionalen Ebene, durch die Stimme hervorgerufen, interagiert, was sie an eine »Verschwörung unter Männern« erinnert. Eine andere Szene (S. 100) ist mit »Ich liebe Rosa und Glitzer« überschrieben. Eine Erzieherin betrachtet mit einem Mädchen die Materialien, beide überlegen, was damit anzufangen sei. Die Erzieherin übergeht zweimal die Vorschläge des Mädchens, die in Richtung Objekt weisen. Den dritten Hinweis des Mädchens »Das sieht aus wie Kuchenstreusel« greift die Erzieherin auf. Mit dem Bekennt- 169 SLR 73.indb 169 29.11.2016 15:48:43 Heft 73/2016 SLR nis der Erzieherin zu ihrer Vorliebe wird die Rosa- und Glitzerwelt betreten und etwas traditionell Mädchentypisches gebastelt. Diese Szenen werden beschrieben und bleiben so stehen. Hätte ich sie analysiert, hätte ich ihnen mehr Gewicht in der Auswertung beigemessen. Sind es doch hier die Erwachsenen, die die Kinder in die stereotypen Richtungen lenken, nicht die Kinder, die solche Vorlieben äußern. Das zweite Setting, das Twisterspiel in gemischten Gruppen, führt zu anderen spannenden Befunden. Es zeigt sich, dass sowohl die Erzieherinnen als auch die Erzieher dominant auftreten, wenn sie mehr Berufserfahrung haben oder in einer Vorgesetztenrolle handeln. Das lässt sich bei Frauen wie bei Männern beobachten. Es gelingt ihnen in gleicher Weise, die Spielsituation herzustellen und zu bewältigen. Die Forscher erkennen, dass die Männer eher zu Wettkampf ermuntern und die Frauen zu etwas neigen, das sie Choreographie nennen, also das gemeinsame Bewältigen der Aufgabe. Es wird gelegentlich von erkennbarer Langeweile bei den spielenden Kindern oder auch von Abwandern berichtet und es wird in der Reflexion des eigenen Vorgehens leider kaum darauf eingegangen, dass dieses Spiel, das für Zehnjährige einwickelt ist, bei den angehenden Schulkindern deutlich besser ankommt als bei den Dreijährigen - für die es eigentlich nicht geeignet und die vermutlich überfordert sind. Die Auswertungsergebnisse werden ab Seite 157 prägnant zusammengefasst. Sie beantworten die im Titel gestellte Frage mit der Feststellung, dass gut ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher sich gleichermaßen professionell verhalten und dass dies dafür spricht, dass männliche und weibliche Fachkräfte jedem Kindergarten gut tun würden. Ein bedeutsamer Unterschied wird erkannt: in dem, was sie tun, sind sie gleich professionell, wie sie dieses Tun umsetzen, darin zeigen sich Unterschiede: Wie Erzieher mit Jungen und Erzieherinnen mit Mädchen umgehen – darin liegen die Besonderheiten. Die AutorInnen trennen deshalb zwischen professionellem und authentischem Handeln. Auf der professionellen Ebene agieren Erzieherinnen und Erzieher gleichermaßen gut, aber es gibt immer wieder Einzelbesprechungen Situationen wie die, die in den Schlüsselszenen dokumentiert sind, in denen den »Fachkräften im direkten Umgang mit den Kindern und insbesondere bei starker Involviertheit in das Geschehen – quasi unter der Hand – vielfach geschlechtsstereotype Konnotationen« unterlaufen, »selbst wenn sie im Interview klischeehafte Geschlechtsmuster kritisch reflektieren« (S.167). Dabei verlieren sie mitunter die professionelle Distanz zu der Situation. Mir fehlt an dieser Stelle die Folgerung, dass in der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern an Fällen wie diesen gearbeitet werden sollte. Solche Szenen könnten genutzt werden, um ein reflexives Verhalten einzuüben. Die Frage, was trage ich dazu bei, dass in meiner Berufspraxis Mädchen und Jungen möglichst viele Rollen ausprobieren können und wenig Festlegung erfahren, könnte als Gedankenexperiment anhand solcher »Schlüsselszenen« für Sensibilisierung sorgen. Ansonsten empfehle ich dieses Buch uneingeschränkt. Es bereichert den wissenschaftlichen Diskurs und ist auch jungen ForscherInnen zu empfehlen, weil Anlage und Methodik der Studie klug angelegt wurden und als Modell für eigene Untersuchungen in der Kindheits- wie in der Geschlechterforschung genutzt werden können. Anna-Maria Kreienbaum Sarah Helm: Ohne Haar und ohne Namen. Im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück. Darmstadt: Theiss Verlag 2016, 802 S., € 38. Wie wissenschaftlich sollte ein Buch sein, das sich mit der Geschichte eines Konzentrationslagers beschäftigt? Die Frage drängt sich bei der Lektüre von Sarah Helms umfangreicher Studie über das Konzentrationslager Ravensbrück geradezu auf. Bereits im Prolog dieser überwiegend chronologisch aufgebauten, 41 Kapitel fas- 170 SLR 73.indb 170 29.11.2016 15:48:43 senden Studie bemängelt die britische Journalistin berechtigterweise, dass dieser Ort, an dem zumeist Frauen Opfer des nationalsozialistischen Terrors wurden, lange Zeit kaum beforscht worden sei. Gleichzeitig schwingt mehr als nur moderate Kritik mit an den seit den 90er Jahren vermehrt publizierten wissenschaftlichen Untersuchungen, wenn Helm schreibt, ebendiese Untersuchungen schienen regelrecht an »Geschichte zu ersticken« (S. XIV). Ihr Ziel sei es daher gewesen, »eine Biographie von Ravensbrück« zu schreiben, »vom Anfang bis zum Ende«. Besonders viel Gewicht sollten die »Stimmen der Gefangenen« bekommen (S. XVIII). Tatsächlich hat Helm in den acht Jahren ihrer Buchrecherche zahlreiche Zeitzeuginnen aufgesucht und interviewt, vor allem weibliche Überlebende des Konzentrationslagers sowie deren Angehörige; aber auch andere historische Akteure wie damalige zivile Anwohner des Konzentrationslagers kommen zu Wort. Das im April 1941 vor Ort eingerichtete Männerlager vernachlässigt die Autorin leider. In der Nähe zu den Zeitzeugenberichten und der Materialfülle liegt die Stärke der Studie: Stilistisch überzeugend, dicht geschrieben und gut nachvollziehbar, skizziert Helm Ereignisse und Entwicklungen des KZ Ravensbrück auf Basis zahlreicher individueller und kollektiver Erinnerungen. Eindrücklich gelungen ist ihr das am Beispiel der im Lagerjargon »Kaninchen« genannten jungen polnischen Frauen, die von August 1942 bis August 1943 von der SS für medizinische Versuchsreihen missbraucht wurden. Um Mittel gegen Wundbrand zu testen, wurden diesen Frauen vom SS-Arzt Prof. Dr. Karl Gebhardt die Beine aufgeschnitten und bakteriell infiziert. Die Auswirkungen der Eingriffe werden in Kapitel 13, »Kaninchen«, derart plastisch beschrieben, dass selbst eingefleischten Fachhistorikern die Lektüre solcher Passagen schwerfallen dürfte: »Die Fensterläden sind wegen der Luftangriffe geschlossen. Es gibt kein Wasser und niemanden, der ihnen hilft. Sie können sich nicht bewegen. Fliegenschwärme umschwirren das verwesende Fleisch. Immer wieder werden sie bewußtlos.« (S. 241) SLR Obwohl Helm nicht nur hier, sondern an vielen weiteren Stellen ausführlich die grausamen Taten der SS und des weiblichen Aufseherinnenpersonals beschreibt, fällt sie doch bisweilen hinter den Forschungsstand über die Rolle von Frauen im Nationalsozialismus zurück. So heißt es im ersten Kapitel, Hitler habe die Macht besessenen, »mit seinen Worten Millionen deutscher Frauen zu verführen« (S. 9). Intrinsische Motivationen, sich der nationalsozialistischen Bewegung anzuschließen, schließt so eine Lesart eher aus. Heft 73/2016 Einzelbesprechungen Im Fall von Johanna Langefeld, Helm zufolge die »wichtigste Frau in Himmlers Lagerimperium« (S. 35), spekuliert sie über deren Motivation einer Tätigkeit als Oberaufseherin im KZ Ravensbrück: »[…] Sie begrüßte überdies die neue Achtung vor dem Familienleben, die Hitler proklamierte. Und Langefeld hatte persönliche Gründe, dem neuen Regime gegenüber dankbar zu sein: Zum ersten Mal hatte sie einen sicheren Arbeitsplatz. Frauen und vor allem unverheirateten Müttern waren die meisten beruflichen Wege versperrt, ausgenommen jener, den Langefeld gewählt hatte.« (S. 9) Richtig ist das nicht: Frauen standen im Nationalsozialismus durchaus verschiedene Karrierewege offen. Auch wenn Langefeld im Laufe ihrer Beschäftigung in den Konzentrationslagern Lichtenburg, Ravensbrück und Auschwitz mit dem männlichen SS-Personal in Konflikt geriet und in einzelnen Fällen gar Häftlinge rettete, ist Helms Behauptung, Langefeld habe bis März 1942 über das KZ Auschwitz anscheinend »nur wenig gewusst« (S. 204), durchaus fragwürdig. Denn Johanna Langefeld wurde von der SS ab März 1942 nach einem kurzen Besuch im KZ Auschwitz dort als Oberaufseherin im Frauenlager eingesetzt und selektierte u. a. weibliche Häftlinge für die Ermordung in den Gaskammern. Offensichtlich beruft Helm sich bei ihrer Beschreibung von Langefeld in erster Linie auf die Aussagen ehemaliger Häftlingsfrauen, die in Ravensbrück für die Oberaufseherin arbeiten mussten. An dieser Stelle wird deutlich, dass Helms intensiver Einbezug von Erinnerungen überlebender Frauen als wesentliche Quelle 171 SLR 73.indb 171 29.11.2016 15:48:43 Heft 73/2016 SLR nicht ganz unproblematisch ist. Zudem versäumt sie es oft, Zitate entsprechend zu kennzeichnen. Meist wird daher nicht deutlich, ob es sich bei den Schilderungen um individuelle Wahrnehmungen ehemaliger Inhaftierter oder um Thesen der Autorin handelt. Besonders heikel ist dieses Vorgehen, wenn Helm auf diese Weise gängige Klischees über einzelne Gruppen reproduziert. So bezeichnet sie lesbische Sexualität im KZ Ravensbrück als »Epidemie« (S. 196), die vor allem unter den als »Asoziale« verfolgten Frauen vorgekommen sei. Helm gibt hier vermutlich eher die Ansichten der ehemaligen polnischen Gefangenen Wanda Wojtasik als eigene Überzeugung wieder – umso wichtiger wäre bei dieser und ähnlichen Passagen ein Quellenbeleg gewesen. Ähnlich heikel ist die Beschreibung jener Häftlinge, die von der SS beauftragt wurden, ihre Kameradinnen in den Unterkünften oder auf den Arbeitskommandos zu überwachen. Hierfür setzte die SS in erster Linie deutsche Häftlinge ein. Neben politischen Schutzhäftlingen befanden sich häufig diejenigen darunter, die als »Asoziale« und/oder »Kriminelle« verfolgt und im KZ-System mit einem schwarzen bzw. grünen Winkel markiert wurden. Es handelte sich bei diesen Personen i. d. Regel um einfach bis mehrfach, nicht selten wegen geringer (Eigentums-)Delikte vorbestrafte Frauen (und Männer), die die Kriminalpolizei ab November 1933 im Rahmen einer angeblich »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« in die Konzentrationslager einwies. Zwar versucht Helm, gängige Vorurteile über diese Frauen zu dekonstruieren. So widmet sie ein ganzes Kapitel (Kapitel 6, »Else Krug«) den als »Kriminelle« und »Asoziale« verfolgten Frauen, deren Schicksale außerhalb der Gedenkstätten bislang weitgehend unbekannt sind und fordert so eine entsprechende Auseinandersetzung mit möglicherweise eher unbequemen Biographien ein. Gleichzeitig finden sich insbesondere in Kapitel 3 (»Blockovas«) klischeehafte Zuschreibungen; die als »Kriminelle« inhaftierte und als Blockälteste eingesetzte Käthe Knoll nennt Helm »Trägerin des gefürchteten grünen Winkels« (S. 59). An anderer Stelle heißt es – wieder ohne Quellenbeleg – »In Block 2 saßen die gefürchteten Einzelbesprechungen »Asozialen« mit schwarzem Winkel« (S. 102). Passagen wie diese sind umso bedauerlicher, als Helms Ansatz, möglichst viele Perspektiven und häufig ignorierte Lebensgeschichten einzubeziehen, unbedingt positiv hervorzuheben ist. Fraglich ist zudem Helms Erklärung für die langewährende Ignoranz gegenüber solchen randständigen Haftgruppen. Dass sie in Vergessenheit gerieten, lag weniger daran, dass »die Rotlichtbezirke, aus denen sie kamen […] von alliierten Bomben dem Erdboden gleichgemacht wurden« und deshalb niemand gewusst habe, »wo sie hingingen« (S. 104). Gründe sind vielmehr die das Kriegsende überdauernden personellen und ideologischen Kontinuitäten innerhalb der Verfolgungsbehörden (Wohlfahrtsorganisationen und Kriminalpolizei) sowie eine unter Überlebenden nach 1945 entstehende Opferkonkurrenz. Gerade weil Helm mehrfach hervorhebt, dass es kaum Selbstzeugnisse von diesen Frauen gebe, wäre ein kritischerer Blick auf negative Zuschreibungen gegenüber den »Asozialen« und »Kriminellen« durch sorgfältige Kennzeichnung entsprechender Aussagen umso wichtiger gewesen. Da sie ihre Studie aber im Wesentlichen auf Berichte ehemaliger Häftlinge stützt, ist es nicht erstaunlich, dass hier ein Ungleichgewicht entsteht. Selbstredend steht die Autorin mit dieser Problematik nicht allein dar. Einerseits stellen die Berichte ehemals Verfolgter für jede Untersuchung der Geschehnisse in den Konzentrationslagern eine unersetzliche Quelle dar, um sich den Ereignissen überhaupt annähern zu können. Andererseits müssen diese Berichte jedoch stets kritisch gelesen werden – sofern sie nicht allein der Illustration individueller Geschichten und Interpretationen dienen, sondern herangezogen werden, grundsätzliche Aussagen über historische Ereignisse zu treffen. Eben darin besteht der Unterschied zwischen einer wissenschaftlichen Studie und einem Erinnerungsbericht, der bei Helm allerdings immer wieder zu verschwimmen droht. Denn während KZ-Überlebende in erster Linie ihre persönliche Geschichte erzählen, besteht die mitunter unangenehme Aufgabe von Historikern nun 172 SLR 73.indb 172 29.11.2016 15:48:43 einmal darin, persönliche Erfahrungen in einen größeren Kontext einzuordnen und sie gegebenenfalls auch zu hinterfragen. Überzeugend gelingt Helm dies im Hinblick auf allgemeine politische Entwicklungen während des Nationalsozialismus, in die sie die Geschichte des KZ Ravensbrück geschickt einbettet (wenngleich ihr hier bisweilen ein paar sachliche Fehler unterlaufen). Die Leser erfahren sozusagen en Passant interessante Details über die Verfolgung sowjetischer KZ-Überlebender durch das stalinistische Regime, das Versagen des Internationalen Roten Kreuzes angesichts der Situation in den Konzentrationslagern sowie über Heinrich Himmlers außereheliche Beziehung, die ihn immer wieder nach Mecklenburg-Vorpommern führte. Die flüssig und spannend geschriebene Studie ist deshalb trotz der genannten Kritikpunkte lesenswert, besonders weil Helm auch solche unbekannteren Themen verhandelt. Indes sollte der Band dem historisch interessierten Leser nicht als Ersatz, sondern als zusätzliche Lektüre zur mittlerweile in großem Umfang vorliegenden Fachliteratur über das KZ Ravensbrück dienen. Dagmar Lieske Hilmar Schäfer: Die Instabilität der Praxis: Reproduktion und Transformation des Sozialen in der Praxistheorie. Weilerswist Velbrück Wissenschaft. Das Buch von Schäfer setzt sich mit vier zentralen praxistheoretischen Angeboten auseinander. Zentral für solche Theorien sind Versuche, die sozialtheoretische Dualität von Struktur und Handlung zu überwinden, indem sie körperlichem Vollzug, Affekten und Objekten einen Vorrang gegenüber Erklärungen durch Einzelhandlungen oder Entscheidungen einräumen. Schäfer wählt für seine Untersuchung exemplarisch die Theorien von Pierre Bourdieu, Michel Foucault, Judith Butler und Bruno Latour aus, SLR um an ihnen der Frage nachzugehen, wie das Verhältnis von Stabilität und Instabilität des Sozialen praxistheoretisch konzipiert werden kann, wie also soziale Ordnung zustande kommt, was ihre Reproduktion gewährleistet und wie es zu Transformation kommt. Heft 73/2016 Einzelbesprechungen Für diese an der Prozesshaftigkeit sozialer Ordnung orientierte Perspektive greift Schäfer auf das Konzept der Wiederholung zurück, das er von Jacques Derrida und Gilles Deleuze übernimmt. Gegenüber dem Begriff der Routine soll der Wiederholungsbegriff nicht nur die Reproduktion des Sozialen sondern auch ihre Transformation erfassen können. Schäfer geht es um eine als post-empiristisch verstandene »Pluralisierung soziologischer Optiken« (S. 58), mit denen das als paradox verstandene Verhältnis von Stabilität und Instabilität in der Wiederholung herausgearbeitet werden soll. Schäfer rekonstruiert dafür die zentralen theoretischen Elemente der vier Positionen. Für den Theorievergleich wendet er zusätzlich drei soziologische Dimensionen an: Körperlichkeit, Materialität und die Funktion von Macht und Norm. Das erste Kapitel stellt die Problemstellung und Untersuchungsanlage vor, bietet einen summarischen Überblick über das kultur-, sozial- und normentheoretische Profil der Praxistheorien und stellt Bezüge zu poststrukturalistischen Konzepten der Wiederholung her. Kapitel zwei bis fünf rekonstruieren die vier Theoriepositionen und werden jeweils von einem Zwischenfazit beschlossen. Das sechste Kapitel ist als eigentlicher Theorievergleich angelegt und schließt mit einer Liste »Methodologischer Prinzipien der Praxistheorie«. Das siebte Kapitel ist ein Fazit. Für Schäfer besteht Bourdieus Leistung darin, explizit eine dynamische Theorie sozialer Praxis entworfen zu haben, die dem Anspruch nach die Dualität von Stabilität und Instabilität überwinden können soll. Bourdieu unterliege aber einem Bias zugunsten der körperlichen Trägheit und Kohärenz sozialer Praktiken, die eine Koinzidenz und Homogenität von Habitus und sozialer Welt unterstellt. Dieser Bias erkläre sich durch das Interesse Bourdieus an der Be- 173 SLR 73.indb 173 29.11.2016 15:48:43 Heft 73/2016 SLR ständigkeit sozialer Ungleichheiten und so bleibe Bourdieu bei einer Theorie einer statischen Reproduktion des Sozialen stehen. Im Anschluss an Bernard Lahire sieht Schäfer jedoch Möglichkeiten, die Transformation des Sozialen mit einem heterogener konzipierten Habitus zu erklären: Analytisch relevant sind dann nicht die Passung von Dispositionen und Positionen der Akteure, sondern die Brüche zwischen ihren Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata und den sozialen Feldern. Schäfer weist die Einschätzung zurück, dass nur das Spätwerk von Foucault als praxistheoretisch zu klassifizieren sei. Auch in den archäologischen und genealogischen Arbeiten lassen sich praxistheoretische Bezüge identifizieren, nämlich in der Ordnungsbildung durch die Wiederholung von Aussagen und Körperbewegungen. Der Fokus auf körperliche Disziplinierung könne aber nicht kaschieren, dass Foucault Widerstand als Moment der Transformation des Sozialen analytisch vernachlässige. Erst die Analyse der wiederholbaren Praktiken der Subjektivierung in Foucaults Spätwerk könne die Transformationen des Sozialen erklären. Bei Butler steht mit dem Konzept der Performativität auch die Instabilität der Praxis im Zentrum, denn Geschlechtszugehörigkeit komme »durch eine stilisierte Wiederholung von Akten zustande« (Butler, zitiert n. Schäfer: 207). In der durch Sprechakte vollzogenen Materialisierung von Körpern realisiere sich zugleich auch die normative Ordnung der heterosexuellen Matrix. Butler erweist sich als attraktiv für eine poststrukturalistisch informierte Praxistheorie, da ihr Performanzbegriff sowohl die stabilisierenden und destabilisierenden Effekte der Wiederholung erfasst. Kritisch seien dagegen die Vorstellung einer universalen, in Sprechakten vollzogenen Materialität und der Fokus auf eine als einheitlich verstandene Norm. Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) von Bruno Latour wird hingegen als äußerst dynamische Gegenposition zu Bourdieu entworfen, die die Stabilität des Sozialen als Sonderfall begreift, der nur durch den Einbezug von Dingen gewährleistet werden kann. In der Regel sei von Einzelbesprechungen der Zirkulation von Elementen und einer Verteilung der Handlungsträgerschaft auf verschiedenste Quellen, und darunter sind Menschen nur eine mögliche Variante, auszugehen. Schäfer hebt die radikale Relationalität von Latours »variabler Ontologie« hervor, während er die Vernachlässigung des Körpers und seiner stabilisierenden Funktion in der ANT kritisiert. Deren praxeologisches Potential könne nur entfaltet werden, wenn sie inkorporiertes Wissen und Kompetenzen als Elemente der Stabilisierung des Sozialen anerkennt. Schäfer nutzt den Theorievergleich im sechsten Kapitel, um sein Verständnis von Wiederholung als praxistheoretisches Konzept zu entfalten, mit dem sich die Stabilität und Instabilität von Praktiken analysieren lasse. Er unterscheidet drei praxistheoretische Dimensionen der Wiederholung: Praktiken können als sich wiederholend im Zeitverlauf, als wiederholte Performanz körperlicher Kompetenz und als wiederholbar, d.h. zitier- und parodierbar begriffen werden. Körper müssen dafür gleichzeitig als ausführende Instanz und Ziel von Praktiken berücksichtigt werden, in denen implizites Wissen stabilisierend wirkt. Da Schäfer Inkorporierung als Lernprozess versteht, bieten Körper zugleich Potentiale für die Transformation des Sozialen. Auch die praktische Hervorbringung von Räumen und Artefakten (Materialiät) zeitigt sowohl stabilisierende als auch irritierende Effekte, während Macht und Norm praxisimmanent als abhängige Variablen konzipiert werden, die stets relational und kontextuell zu fassen sind. Zum Schluss werden einige methodologische Prinzipien einer von Schäfer »transitiv« genannten Methodologie vorgeschlagen, die sich aus Schäfers Konzeption der Wiederholung als Verschränkung von Differenz und Identität ergeben. Betont werden graduelle Differenzen, die Dezentrierung des Subjekts sowie die Relationalität und Zeitlichkeit von Praxis. Das Fazit hebt das analytische Potential des Wiederholungsbegriffs hervor, mit dem der Dualismus von Ordnung und Wandel zugunsten der Analyse lokaler und historischer Formationen von Praktiken überwunden werden könne. 174 SLR 73.indb 174 29.11.2016 15:48:43 Diese sind als Wiederkehr des Ungleichen zu verstehen. Insgesamt bietet das Buch von Schäfer einen gründlich aufgearbeiteten Theorievergleich, der die Autorinnen konsequent auf die Frage des Konzepts der Wiederholung hin auswertet. Außerdem findet man eine ordentliche Einführung in das jeweilige Werk. Mit dem Fokus auf die Dimensionen Körperlichkeit, Materialität, Macht und Norm legt Schäfer einen hinreichenden, aber schlanken Vorschlag für eine praxistheoretische Heuristik vor. Das sehr ausführliche Buch folgt allerdings stärker der Eigenlogik der vier Autoren als der angesetzten Vergleichslogik. Eine schlankere Aufarbeitung hätte hier einige Redundanzen verhindern können. Bemerkenswert ist auch die Absenz der Ethnomethodologie als Referenz der ANT. Das mag an dem starken Routinebegriff der Ethnomethodologie liegen, jedoch könnte das ein Grund für die bislang schwache Position des Wiederholungsbegriffs in der ANT sein. Schließlich fällt eine Ungleichzeitigkeit zwischen dem textorientierten bzw. autorinnenzentrierten Theorievergleich und der praxistheoretischen Position von Schäfer auf. Zwar wird die Vorstellung eines Akteurs mit Interessen zugunsten des Vollzugs in Netzwerken verstreuter Handlungsträger zurückgewiesen, dennoch werden die Theorien einzelner Personen verglichen. Deren Mängel werden durch anders gelagerte Interessen erklärt: Bourdieus statischer Bias verdanke sich seinem Interesse an der Beständigkeit sozialer Ungleichheit und Butlers einheitliches Normverständnis sei eine Folge ihres Fokus auf das Phänomen Geschlecht. Das hier adressierte Problem lässt sich nicht unbedingt dem Autor selbst ankreiden, der mit seiner Qualifikationsarbeit den Konventionen des Wissenschaftsbetriebs Rechnung tragen muss. Die Praxistheorien sind aber aufgefordert, wissenschaftliche Darstellungsformen zu entwickeln, die ihren eigenen sozialtheoretischen Ansprüchen entsprechen. Lars Alberth SLR Wolfdietrich-Schmied Kowarzik: Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk, Verlag Karl Alber, Freiburg/ München 2015, 370 S., 39,90 € Heft 73/2016 Einzelbesprechungen Spätestens – allerspätestens seit Descartes – laboriert das philosophische Denken an dem Problem, ob es die Welt einfach gibt und gleichsam nachträglich vom Menschen erkannt wird oder ob es nicht der erkennende Mensch ist, der die Welt, seine Welt im Erkennen erst konstituiert. Diese Debatte, die derzeit als Kontroverse um »Realismus« oder »Konstruktivismus« ausgetragen wird, hat bereits die Philosophie des sog. »deutschen« Idealismus geprägt, also jener Philosophie, die auf Immanuel Kants »kopernikanische Wende«, gemäß derer nur »Erscheinungen«, nicht aber »Dinge an sich« erkannt werden, reagierte: vor allem Fichte, Hegel und Schelling. Indes: wer wissen will, worin Schellings Denkimpuls besteht, sollte sich besser nicht mit Peter Sloterdijks jüngst publizierten philosophischem Edelporno »Das Schelling Projekt« begnügen, sondern der Sache auf den Grund gehen. Im Werk Schellings – so haben das schon früh Interpreten wie etwa Walter Schulz gesehen – vollendete sich diese Richtung des Denkens? Was aber heißt das genau? In Schellings – er lebte von 1775-1854 – komplexes Werk führt nun, gut lesbar und verständlich eine neue Monographie Wolfdietrich Schmied-Kowarziks – er lehrte von 1971-2007 Philosophie in Kassel und machte von dort aus die interessierte Öffentlichkeit mit dem Werk des in Kassel geborenen Franz Rosenzweig bekannt – ein. Mit Schmied-Kowarziks »Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk« liegt eine auf der Basis von Studienbriefen verfasste Gesamtdarstellung vor, die den ganz und gar eigenständigen Charakter dieses Werks, das sich vor allem in der Auseinandersetzung mit dem radikalen Idealismus/ Subjektivismus von Johann Gottlieb Fichte entwickelte, schlüssig entfaltet. Schelling, der in seiner Jugend bekanntlich gemeinsam mit Höl- 175 SLR 73.indb 175 29.11.2016 15:48:43 Heft 73/2016 SLR derlin und Hegel das renommierte »Tübinger Stift« besuchte, in dem alle drei den Beginn der französischen Revolution feierten und der daher noch immer als möglicher Autor des »Ältesten Systemprogramms des Deutschen Idealismus« infrage kommt, war vor allem darum bemüht, die Bedeutung von Kunst und Natur für das Denken, für das menschliche Selbstverständnis herauszuarbeiten – ein Interesse, das ihn denn doch in scharfen Gegensatz vor allem zu Fichte brachte, der letztlich im menschlichen Denken ein göttliches Absolutes sah. Schelling hingegen, stark von Spinoza und wohl auch vom Neuplatonismus beeinflußt und beeindruckt, wollte die Natur nicht nur als totes Objekt menschlichen Schaffens verstehen, sondern als einen unabschließbaren Prozeß, der sich »thätig« vollzieht – tatsächlich verwendet Schelling schon früh – lange vor Darwin – den Begriff der »Evolution«. »Die Natur« so zitiert Schmied-Kowarzik Schelling »ist schlechthin thätig, wenn in jedem ihrer Produkte der Trieb einer unendlichen Entwicklung liegt.« Während Schelling in früheren Jahren – durchaus noch von Fichte beeinflußt – einer Gleichsetzung, ja von Identität von Subjektivität, also dem «Ich« das Wort spricht; ja, er beinahe wie die jüdische und christliche Mystik die allemal an den Leib gebundene Seele als etwas »Göttliches« ansieht, wird er später eine »Unvordenklichkeit des Seins« postulieren und die Genese der Erkenntnis dieses Seins in bestens belegten Studien zur Geschichte von Religion und Mythologie nachvollziehen. »Der Mensch« so Schelling im Spätwerk »findet sich im Beginn seines Daseyns gleichsam in einen Strom geworfen, dessen Bewegung ein von ihm unabhängige ist, der er unmittelbar nicht widerstehen kann, und die er zunächst bloß leidet; dennoch ist er nicht bestimmt, sich von diesem Strom wie ein todtes Objekt bloß fortziehen oder fortreißen zu lassen, er soll den Sinn dieser Bewegung verstehen lernen, um ihr selbst in diesem Sinn förderlich zu seyn, und nicht etwa mit vergeblicher Anstrengung sich entgegenzustemmen, ferner um genau unterscheiden zu können, was unabhängig von ihm Einzelbesprechungen diesem Sinn gemäß oder zuwider geschieht, nicht um das Letzte immer direkt zu bestreiten, sondern um das Böse wo möglich selbst zum Guten umzulenken, und die Kraft oder Energie, die das nicht sein Sollende entwickelt, selbst für die wahre Bewegung zu benutzen.« Damit ist die Frage nach Gott gestellt, jener Instanz, die das Sein Sollen des Guten verbürgt und damit die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit und Wirklichkeit von Offenbarung. Schmied-Kowarzik zieht aus diesen Überlegungen den Schluß, daß erst durch dieses »ekstatische« Eingeständnis der vor jedem Denken stehenden Existenz ein wahres Verständnis möglich wird. Instruktiv sind Schmied-Kowarziks »abschließende Bemerkungen zur Wirkungsgeschichte«, in denen er vor allem das Nachklingen dieses Denkens im Werk von Heidegger und Bloch erörtert. Bei alledem fällt freilich auf, dass Schmied-Kowarzik der durchaus wechselhaften Geschichte Schellings als politischen Denkers vergleichweise wenig Raum zuweist – eine wechselhafte Geschichte als Revolutionär, als Reaktionär oder gar als Anarchist, schließlich – zuletzt – als skeptischer, wohl aber an den Menschen- und Bürgerrechten orientierter Konservativer. Vor allem aber fällt auf, daß Schmied-Kowarzik zwar des jungen Jürgen Habermas 1954 verfasste Dissertation über Schelling in seinem Literaturverzeichnis aufführt, er jedoch eine Ausseinandersetzung mit desselben Autors wegweisendem Aufsatz »Dialektischer Idealismus im Übergang zum Materialismus – Geschichtsphilosophische Folgerungen aus Schellings Idee einer Contraction Gottes« aus dem Jahr 1963 Aufsatz unterlässt. Das ist deswegen auffällig, weil Habermas Beitrag für eine Schellingrezeption steht, die diesen Denker der »Unvordenklichkeit des Seins« als unmittelbare Vorstufe zum Denken des jungen, einen Materialismus menschlicher Praxis postulierenden Karl Marx versteht. Im Gegenzug wäre zu wünschen, dass Schmied-Kowarzik, der exzellente Kenner des Werks von Franz Rosenzweig in einer nächsten Auflage noch intensiver auf die 176 SLR 73.indb 176 29.11.2016 15:48:43 Schellingschen Grundlagen von Rosenzweigs Hauptwerk, dem »Stern der Erlösung« eingeht. Aber wie dem auch sei – wer sich ebenso gründlich wie gut nachvollziehbar in Schellings Werk einführen lassen will, wird gegenwärtig nichts Besseres finden als Schmied-Kowarziks »Existenz denken.« Heft 73/2016 SLR Einzelbesprechungen Micha Brumlik 177 SLR 73.indb 177 29.11.2016 15:48:43 Heft 73/2016 SLR Rezensionsaufsätze AutorInnenverzeichnis Georg Bastian, Im Storchenhain 18, 60437 Frankfurt Dr. Dani Kranz, Thorrer Straße 32a, 50127 Bergheim Prof. Dr. Anna-Maria Kreienbaum, Universität Wuppertal, Fakultät 2, Gaußstraße 20,42119 Wuppertal Dr. Dagmar Lieske, Graefestr. 18, 10967 Berlin Dr. Christoph Sänger, Am Uellenberg 10, 42119 Wuppertal Prof. Dr. Stephen Mennell, School of Sociology, University College Dublin, Belfield, Dublin D04 F6X4 IRELAND Prof. Dr. Albert Scherr, Pädagogische Hochschule Freiburg, Kunzenweg 21, 79117 Freiburg Prof. Dr. Manfred Liebel, European Master in Childrens’s Rights (EMCR), FU Berlin, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin Prof. Dr. Gyoergy Széll, University of Osnabrueck, School of Cultural & Social Sciences, 49069 Osnabrueck Prof. Dr. Michael Winkler, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Bildung und Kultur, Am Planetarium 4, 07737 Jena Firat Yildrim B.A., Düppeler Straße 14., 42107 Wuppertal. Prof. Dr. Timm Kunstreich, Spliedtring 26, 22119 Hamburg Prof. Dr. Ulfrid Kleinert, Käthe-Kollwitzstr. 17, D 01445 Radebeul Prof. Dr. Reinhart Wolff, Kronberger Kreis f., Dialogische QE e. V., Siegfried-Bernfeld-Institut f. Praxisforschung, Küstriner Strasse 39, 13055 Berlin Dr. Lars Alberth, Leibniz Universität Hannover, Institut für Soziologie, Im Moore 21 (Vorderhaus), 30167 Hannover Prof. Dr. Holger Ziegler, Universität Bielefeld, Fakultät Erziehungswissenschaft, 33501 Bielefeld Prof. Dr. Franz Hamburger, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, und: Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz, Am Stiftswingert 15, 55131 Mainz Prof. Dr. Micha Brumlik, Universität Frankfurt, Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft, Robert Mayerstr. 1, 60054 Frankfurt am Main 178 SLR 73.indb 178 29.11.2016 15:48:44
Published in Human Figurations: Long-term Perspectives on the Human Condition 4: 2 (2015): http://quod.lib.umich.edu/h/humfig/11217607.0004.202/--explaining-americanhypocrisy?rgn=main;view=fulltext Explaining American hypocrisy Stephen Mennell ABSTRACT: America’s power position in the world – although less unchallenged than it once was, or perhaps because of that – has made it especially susceptible to hypocrisy and collective self-delusion, to what the Greeks called hubris; this continues to lead its foreign policy into unanticipated disasters. The syndrome is discussed with special reference to the Ukraine crisis of 2014, although the morass of American policy in the Middle East would yield even more dramatic examples. Norbert Elias’s theory of established–outsider relationships is deployed in understanding how the USA relates to the rest of the world, together with Elias’s idea of the duality of normative codes in nation states. The formation of we-images and associated we-feelings, based on a highly selective ‘minority of the best’, feeds into a collective self-stereotype of unquestioned virtue and self-righteousness on the part of the more powerful party to a conflict. The formation of exaggerated they-images of other players, based on a ‘minority of the worst’, is a complementary part of the process. But the process also leads to a neglect of the corresponding negative they-images of the USA (and its allies) that are formed on the side of the weaker outsider groups – and this neglect becomes especially dangerous as the outsiders gradually become relatively more powerful. KEYWORDS: United States; foreign policy; international relations; hypocrisy; Ukraine; Russia; Norbert Elias; established–outsiders relations; duality of normative codes; hegemonic fever; we-image and they-image; mediatisation; Monroe Doctrine.