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Dieses Buch wurde klimaneutral hergestellt. CO -Emissionen vermeiden, reduzieren, kompensieren – nach diesem Grundsatz handelt der oekom verlag. Unvermeidbare Emissionen kompensiert der Verlag durch Investitionen in ein Gold-Standard-Projekt. Mehr Informationen finden Sie unter: www.oekom.de 2 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 oekom, München oekom verlag, Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH Waltherstraße 29, 80337 München Layout: oekom verlag Satz: Volker Eidems, greentext Umschlaggestaltung: Elisabeth Fu ̈rnstein, oekom verlag Umschlagabbildung: XXX Druck: AZ Druck- und Datentechnik, Kempten Dieses Buch wurde auf 100%igem Recyclingpapier gedruckt. Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-86581-700-6 Sächsische Hans Carl von Carlowitz Gesellschaft (Hrsg.) Carlowitz weiter denken Menschen gestalten Nachhaltigkeit Jahresschriften der Hans Carl von Carlowitz Gesellschaft e.V. Band 2014 Inhaltsverzeichnis Vorwort des Herausgebers Dieter Füsslein 9 Teil I – Reden anlässlich der Sächsischen Nachhaltigkeitskonferenz am 6. November 2013 im Opernhaus Chemnitz Klaus Töpfer Vergangenheit und Zukunft eines Begriffs, des Begriffs der Nachhaltigkeit 13 Fritz Jaeckel »Manchmal hat man den Eindruck, dass ohne Nachhaltigkeit gar nichts mehr geht.« 25 Dieter Füsslein »Gegensätze komplementär denken: Wissenschaftsentwicklung ohne Erkenntnisgrenzen einerseits und Ressourcengrenzen des ›blauen Planeten‹ andererseits« 29 Stanislaw Tillich »Wer es mit Nachhaltigkeit ernst meint, der denkt in Generationen, nicht im Rhythmus von Quartalsberichten oder Legislaturperioden.« 33 Jochen Bohl »Das Prinzip des nachhaltigen Umgangs mit der Natur ist bereits in den Schöpfungserzählungen biblisch angelegt.« 41 Teil II – Vorträge anlässlich verschiedener Veranstaltungen der Sächsischen Hans-Carl-von-Carlowitz-Gesellschaft Ulrich Grober Nachhaltigkeit – Kind der Krise, Schlu ̈ssel zum Überleben 6 Inhaltsverzeichnis 49 Stefan Brunnhuber Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit 63 Markus Vogt Carlowitz weiterdenken. Nachhaltigkeit als Basis fu ̈r eine »Große Transformation« heute 91 K.-H. Hu ̈bler Was hat der »Erfinder der Nachhaltigkeit« von Carlowitz der Raumplanung von heute zu sagen? 123 Ilja Kogan, Sebastian Liebold Sächsische Humanisten als Ideengeber nachhaltiger Ressourcennutzung. Georgius Agricola und Hans Carl von Carlowitz 133 Inhaltsverzeichnis Vorname ausschreiben? 7 Vorwort des Herausgebers Hans Carl von Carlowitz (1645–1714) ist der Begründer des Nachhaltigkeitsbegriffes, und er gilt als Vordenker des prägenden Anliegens des 21. Jahrhunderts, des übergeordneten Prinzips, kurz des neuen Paradigmas »nachhaltig«. Anlässlich seines 300. Todestages schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 1. März dieses Jahres unter dem Titel »Eine Idee setzt sich nachhaltig durch«: »Carlowitz schrieb Geschichte, ohne dass er Krieg führen oder Revolutionen anzetteln musste.« Die weltweite Suchbewegung für eine nachhaltige Entwicklung nutzt sein Standardwerk »Sylvicultura oeconomica« (1713) als Navigationsgerät für die in Angriff genommene Transformation der Weltgesellschaft. Hans Carl von Carlowitz wird auch im UN-Global Sustainable Development Report – einem zentralen programmatischen Dokument der UN – als Urheber von »sustainable development« genannt: »… The origins of the concept of sustainable development has a very long history in science. For example, already in 1713 Hans Carl von Carlowitz referred to ›sustainable yield‹ (nachhaltiger Ertrag) in the context of sustainable forestry management …« Carlowitz hat uns einen Kompass für das Wachstum heilender Kräfte und gegen zerstörerisches Wachstum hinterlassen, und er hilft uns, ein Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen der Menschen und der Tragfähigkeit des Planeten Erde zu finden. Vorwort 9 Das Carlowitz’sche Postulat lautet: Nur wer als höchste Wertschöpfung seiner Arbeit größtmögliche Humanität, Umweltgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit anstrebt, erreicht langfristig in jeder Hinsicht den höchsten Wirkungsgrad. Bereits der Untertitel des Carlowitz’schen Buches »Anweisung zur wilden Baumzucht« hebt den Bildungsaspekt stark hervor. Die einfache Einsicht, dass neues und verbreitetes Wissen zur Nachhaltigkeit neue Fähigkeiten in ebendiesem Sinne erzeugt, neue Fähigkeiten bei entsprechender Einsicht nachhaltige Leistungen ermöglichen und nachhaltige Leistungen die erweiterte Basis einer nachhaltig sich fortentwickelnden Welt schaffen, was seinerseits wieder nachhaltigeren Fortschritt garantiert, ist der eigentliche Grund für die Herausgabe einer Buchreihe unter dem Leitbild des Namensgebers Hans Carl von Carlowitz. Die Jahresausgaben beinhalten die Druckfassungen der CarlowitzVorlesungen der Carlowitz-Gesellschaft sowie die Reden der Preisträger und Laudatoren anlässlich der jährlichen Preisverleihung des HansCarl-von-Carlowitz-Nachhaltigkeitspreises der Carlowitz-Gesellschaft. Begleiten Sie mit uns die aktuelle Debatte um eine nachhaltige Entwicklung im 21. Jahrhundert. Ihre Weggefährten im 1. Band sind renommierte Politiker und Wissenschaftler ganz unterschiedlicher Wissenschaftsgebiete, die den transdisziplinären Ansatz des Nachhaltigkeitsstrebens abbilden. Ein herzlicher Dank gilt den Autoren dieses Bandes für ihre Mitarbeit; wir bedanken uns beim oekom Verlag, der uns die Herausgabe ermöglichte. Wir verstehen den »Band 2014« als Beitrag zur weltweiten Suchbewegung nach einer nachhaltigen Entwicklung und wünschen Ihnen eine anregende Lektüre. Glück auf! Dr. oec. habil. Dieter Füsslein Vorstandsvorsitzender der Sächsischen Hans-Carl-von-Carlowitz-Gesellschaft e.V. zur Förderung der Nachhaltigkeit 10 Vorwort 11 Teil I Reden anlässlich der Sächsischen Nachhaltigkeitskonferenz am 6. November 2013 im Opernhaus Chemnitz Klaus Töpfer Vergangenheit und Zukunft eines Begriffs, des Begriffs der Nachhaltigkeit* was? Meine sehr verehrten Damen und Herren, Frau Oberbürgermeisterin, Herr Staatssekretär, alle anderen hoch zu ehrenden Ehrengäste, lieber Günther Bachmann. Ich möchte mich erst einmal ganz herzlich dafür bedanken, dass Sie mich eingeladen haben, auf dieser Bühne zu stehen. Da wird man ja wirklich schauspielerisch gefordert, ich blicke in etwas Schwarzes hinein und kann nur vermuten, dass da Menschen sitzen. Eines der in besonderer Weise nichtnachhaltigen Arrangements, mit denen wir uns abzugeben haben. Herzlichen Dank, dass Sie gekommen sind, und ich freue mich natürlich, dass die Nachhaltigkeit im Publikum belegt ist. Es sind die Carlowitzens da, über 300 Jahre eine Familie Carlowitz zusammenzuhalten, und in diesen Bereich zu halten, Respekt der Familie, die das 300 Jahre durchgehalten hat. Ich weiß, wovon ich rede, bei mir sind es wesentlich weniger Jahre in meiner Familie. Gut, dass Sie da sind. Genauso freue ich mich darüber, dass wir einen Nach-Nach-Nachfolger von Carl von Carlowitz auch hier haben. Den Oberberghauptmann Herrn Schmidt. Er sitzt und saß im alten Dienstzimmer von Carl von Carlowitz und wird uns heute Nachmittag nach Freiberg führen. Denn das kennzeichnet ja die gesamte Region. * Mitschrift der Rede von Prof. Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister a.D. anlässlich der Sächsischen Nachhaltigkeitskonferenz am 6. November 2013 in Chemnitz 14 Klaus Töpfer Die älteste Bergakademie nicht nur in Deutschland, in Europa, sondern weltweit ist in Freiberg, in Sachsen. Sie ist bis zum heutigen Tag ein wissenschaftliches Zentrum bergbaulicher Forschung in dem heute weiten Sinne des Wortes. Es ist großartig, Herr Schmidt, dass Sie gekommen sind und dieses Erinnern an Ihren Vorgänger mittragen. Es ist auch deswegen wichtig, dass wir die Ausgangssituation noch einmal genau aufgreifen. Sehen Sie, wenn man durch die Welt zieht, dann ist die vordergründige Meinung immer: Nachhaltigkeit, das ist etwas Ökologisches, das hat was mit Umwelt zu tun. Wenn man dann 3oo Jahre Carl von Carlowitz bedenkt, dann ist man auf einmal aus dieser Überlegung etwas herausgerissen. Denn wie gesagt, er war Oberberghauptmann, er war nicht Oberförster. Und was ihn zum Schreiben dieses Buches gebracht hat, das war die Rohstoffenergiekrise seiner Zeit, war Holz. Also, er hat zunächst mal nicht gefragt, ob wir stabile Ökosysteme brauchen in den Wäldern, sondern er hat schlicht und einfach die Frage gestellt, was können wir tun, damit wir auch auf Dauer weiter Bergbau in Sachsen und im Erzgebirge betreiben können als Grundlage für Arbeitsplätze, für Wohlstand in dieser Region, auch für die Bedeutung seines obersten Dienstherrn, des Großfürsten und Königs von vielen Regionen. Also, er war ökonomisch gefordert, und er musste eine Antwort darauf geben, wie gehen wir mit dieser Rohstoff- und Energiekrise um. Das hört sich dann schon sehr, sehr bekannt an, denn mit solchen Krisen sind wir auch konfrontiert, und er hat in seiner Überlegung in diesem Buch, das jetzt auch für uns heute hier gut lesbar vorliegt… Herr Hamberger, Gratulation Ihnen, dass Sie dieses Werk, ich will mal sagen, übersetzt haben. Damit wir es alle wirklich jetzt auch lesen können, denn es ist ja eine der tragischen Erkenntnisse solcher Werke, dass sie mehr zitiert als gelesen werden. Das hat nicht nur dieses Buch, sondern das haben auch andere zu ertragen, jetzt können wir es wirklich weiterlesen. Vergangenheit und Zukunft eines Begriffs, des Begriffs der Nachhaltigkeit 15 Diese Neufassung ist bei der letzten Buchmesse in Leipzig vorgestellt worden, und ich glaube, es ist wichtig, das immer und immer wieder zu unterstreichen. Nicht um Werbung zu machen für das Buch, sondern welum deutlich zu machen, lesen wir mehr als nur das eine Zitat. Deswegen ches Zitat ist war es auch gut, dass nicht nur dieses eine Zitat vorgetragen wurde, sondern etwas breiter aus diesem Werk gelesen wurde. gemeint? Und dann sollen diese Hinweise daran erinnern, dass die entscheidende Frage für Hans Carl von Carlowitz war, das Wesentliche zu tun, um die wirtschaftliche Basis dieser Region auf Dauer zu erhalten. Seine Überlegungen da drinnen, man muss es immer und immer wieder unterstreichen, gehen genau in die Richtung, mit denen wir gegenwärtig auf Krisen zu antworten und zu reagieren haben, ebendie Energie- und Rohstoffkrisen. Er fragt sich in diesem Buch sehr intensiv, was können wir denn tun, um effizienter, sparsamer mit diesen Rohstoffen umzugehen, und macht sehr detaillierte Vorschläge dafür bis hin zur Nutzung von Holz durch Hausfrauen zum Kochen von Mittagessen und Abendessen, bis hin zu vielen anderen Dingen. Effizienz als eine seiner Überlegungen zur Überwindung dieser Rohstoffkrise. Genauso fragt er sich, wenn mir das Holz ausgeht, kann ich die gleichen Zwecke nicht mit anderen Mitteln erreichen? Also, er fragt nach Substitution, kann man das ersetzen, und er macht das auch sehr, sehr konkret. Schon auf dem Titelblatt steht, dass er sich Gedanken gemacht hat, wie geht man mit Torf um, können wir Torf nicht nutzen, um Energie zu erzeugen? Günther Bachmann hat vor nicht allzu langer Zeit in diesem Zusammenhang gesagt: Dieser Torf bei Hans Carl von Carlowitz ist das Schema von heute. Darüber nachzudenken, wie können wir substituieren, wie können wir ersetzen und welche Konsequenzen hat das Ersetzen denn für andere Zielsetzungen? Das galt für Torf damals genauso wie heute für andere Rohstoffe. Also, auch das ist eine klassische Entwicklung, genauso wie er sich fragt, können wir nicht neue Wege gehen, insgesamt Engineering zu betreiben? 16 Klaus Töpfer Interessant zu wissen, dass etwa 200 Jahre später, nach Hans Carl von Carlowitz, man in einer anderen Region von Europa in eine vergleichbare Situation hineingeraten ist, nämlich im südlichen Bereich der Toskana in Italien, wo heißes Wasser aus der Erde herauskam, es war borhaltig, man wollte das Bor gewinnen, dafür brauchte man wiederum Energie, darum hat man wiederum die Bäume abgeschlagen, und so kam man auch wieder auf die Frage, was machen wir denn jetzt, wenn uns die Wälder dahinschwinden? Zu deren Substitution wurde dann die Biothermie erfunden, das ist dort zum ersten Mal genutzt worden. Also, Sie sehen, diese Überlegungen waren immer ökonomisch motiviert. Dass sie darüber hinaus andere Dimensionen hatten, und von Carlowitz schon angesprochen wurden, sollte nicht übersehen werden. Er fragt sich, wenn wir mehr Bäume pflanzen müssen, wen können wir denn in die Verantwortung dafür nehmen, dass sie gepflanzt werden? Und er sagt, offenbar nicht die Landarbeiter oder einfachen Leute, sondern das ist die Verpflichtung derer, die wohlhabend genug sind, um über die Generation hinaus zu denken. Und er nimmt den Adel in die Pflicht, die damalige Oberschicht. Er hat sie also in die Pflicht genommen und gesagt, das sind die wenigen, die eigentlich die Möglichkeiten haben, jetzt zu pflanzen, jetzt zu investieren und die Erträge daraus nicht selbst zu haben, sondern sie in der Zukunft von anderen ernten zu lassen. Wir können nicht darauf warten, dass dies die nicht dafür ökonomisch ausgezeichneten Menschen tun, sondern dies muss in eine ganz offensichtlich soziale Dimension, wenn er darauf hinweist, da sollen nicht mehr nur so viele Paläste gebaut werden, sondern viel eher sollte man in Häuser investieren. »Investieren« steht da nicht drin, ich will es nur in die heutige Sprache übersetzen. Also, Sie sehen, es ist eine ökonomische Inangriffnahme dieser Probleme. Und die Antworten auf eine den Menschen offenbar über alle Generationen hinweg sehr naheliegende Verhaltensweise: dass er immer wieder versucht, die Posten, die seinen gegenwärtigen Wohlstand darstellen, nie gleich zu bezahlen, sondern zu sagen, das machen wir später. Das ist das Verschieben von Posten. Und nur das zu machen, was wir sie meint hier was? Vergangenheit und Zukunft eines Begriffs, des Begriffs der Nachhaltigkeit 17 jetzt kurzfristig brauchen. Wir können dann sagen, das ist noch immer gut gegangen, oder das fällt uns später auch noch ein. Also, der Mensch tendiert offenbar dazu, die kurzfristigen Folgen seiner Entscheidungen alleine zu betrachten und nicht die mittleren und langfristigen Konsequenzen zu sehen. Das ist der entscheidende Veränderungsfaktor bei Hans Carl von Carlowitz. Er bringt die Zeit in die Dimension der Entscheidung hinein. Fragt sich nur, kann ich’s heut noch machen, möglicherweise sogar heute sehr billig, weil ich nicht pflanzen muss? Sondern welche Konsequenzen hat das Abhauen eines Baumes heute für mittel- und langfristige Dinge, die nicht mehr mich betreffen. Die Dimension der Zeit aufzuhalten! Das geht in der Tat in die christliche Verantwortung sehr unmittelbar ein, genau diese Dimension der Zukunft und die damit verbundene Verantwortung für die Folgen des eigenen Tuns. Und das ist zugegebenermaßen schon eine ethisch sehr herausfordernde Tatsache. Wie können wir das machen, und natürlich, Herr Füsslein, bin ich auch mit Ihnen der Meinung, das geht da sehr stark auch um die Frage der ökologischen Dimension. Aber ich möchte hier mal auf diese Dinge hinweisen, die wir heute in besonderer Weise als nicht mehr nachhaltig oder noch nie nachhaltig fast ausgeblendet haben, jedenfalls nicht unmittelbar mit diesem Namen verbinden. Also, es ist angesprochen worden, dass im Jahre 2006 Kurt Biedenkopfs Buch erschienen und zum Bestseller geworden ist, »Die Ausbeutung der Enkel, ein Plädoyer für die Rückkehr zur Vernunft«, das ist der Titel. Die Ausbeutung der Enkel. Da steht das Wort »nachhaltig« nicht drin. Im Titel nicht, und es ist auch nicht unter dem Begriff »Nachhaltigkeit« in besonderer Weise erörtert worden. Aber genau das ist eine Definition der Nachhaltigkeit. Ganz offenbar bedeutet die Ausbeutung der Enkel, dass wir die Kosten unseres Wohlstands gegenwärtig nicht mehr in unseren Zahlungsverpflichtungen aufgreifen, sondern sie auf die Enkel fortschreiben und sie damit indirekt ausbeuten. 18 Klaus Töpfer er macht erstmals auf die zeitliche Dimension jeglicher Entscheidung aufmerksam? Im ökologischen Zusammenhang hab ich das mal gesagt, es gibt so etwas wie eine ökologische Aggression. Das ist die soziale Aggression gegenüber der nachfolgenden Generation. Und das ist ja nicht so was, was wir nur in diesem Teilbereich abgehakt haben. Meine Damen und Herren, bis in die Gegenwart hinein wissen wir, dass dieses Verhalten, Verpflichtung von heute auf die Zukunft vorzutragen, sowohl in der Zukunft der kommenden Generation als auch in der Zukunft der mit uns an anderen Orten Lebenden weitergeht. Und sehen Sie die aktuelle Diskussion in Europa, warum haben wir einen Fiskalpakt in Europa? Was ist zu tun, damit wir die massive Überschuldung abbauen? Und die kommen genauso wieder zu derselben Abwälzungs- und Kurzfristigkeitsdiskussion, von der ich gerade mit Blick auf Carlowitz gesprochen habe, der das in seiner Zeit als Grundlage für Fehlentwicklungen herausgearbeitet und durch dieses Buch versucht hat zu kommunizieren. Ich wage die Behauptung, dass das, was wir gegenwärtig als besonders nichtnachhaltig ansehen, die Finanzarchitektur dieser Welt ist und die Wirtschaftsstrukturarchitektur dieser Welt, die dazu verleiten, Kosten abzuwälzen. Und all die großen Konsequenzen dieses Abwälzens führen dazu, dass sie die wirklichen Knappheiten verdecken. Also, wir sehen, dass wir diese Grundmentalität des Abwälzens als eine Dominanz der Kurzfristigkeit wiederfinden. Was Nachhaltigkeit bei Carlowitz bedeutet, heißt, sich Freiräume zu erhalten für zukünftige Entscheidungen. Und das ist wiederum eine sehr herausfordernde Aufgabe. Wenn ich das in unsere Zeit hineintransportiere, sehe ich, dass wir in eine immer stärkere Kurzfristigkeitsmanie hineinlaufen. Dass wir immer weniger die Möglichkeit haben, Alternativen zu entwickeln und damit Freiräume zu erhalten, wie Hannah Ahrendt das so richtig gesagt hat: dass man Alternativen haben muss. Alternativen, neu anfangen zu können, ist für sie der Kern der Freiheit. Wie kriegen wir es hin, dass wir Nachhaltigkeit so verstehen, dass wir mittel- und langfristig die Konsequenzen unseres Handelns heute aufgreifen und damit Freiräume für andere schaffen, die nach uns kommen? Vergangenheit und Zukunft eines Begriffs, des Begriffs der Nachhaltigkeit 19 Bezug? Satz? Sinn? Zusammenhang? So ist die offizielle Definition von Nachhaltigkeit dann hinterher in den Bericht »Our Common Future, unsere gemeinsame Zukunft« der sogenannten Brundtlandkommission hineingeflossen. Also, handele heute so, dass dein Handeln nicht das Entscheiden und das Handeln kommender Generationen infrage stellt. Genau diese Dimension der Zeit also aufgreifen, um Freiräume zu erhalten. Wir sind sehr besorgt darüber, dass die Vielzahl der Dinge und der Entscheidungssituationen, die uns im Privaten bis in die hohe Politik hinein als alternativlos vorgegeben werden, ein immer deutlicheres Zeichen dafür sind, dass wir nicht nachhaltig sind. Deswegen ist es sinnvoll, so etwas wie einen Stabilitäts- und Wachstumspakt im Ökonomischen zu machen. Aber warum, meine Damen und Herren, machen wir dann nicht auf europäischer Ebene einen Stabilitätspakt für die Umwelt? Wir übernutzen sie jetzt, die Abschreibungen auf diese Nutzung nehmen wir nicht vor: Carlowitz sagt, er pflanzt keine Bäume, aber er nutzt sie nur. Wir sind destabilisierend und so, wie Kurt Biedenkopf sagt, die Ausbeutung der Enkel, die er aber in besonderer Weise im finanziellen Bereich sieht. Kann man denn so ein Buch schreiben über die Ausbeutung der Enkel mit Blick auf die Möglichkeiten, die sie aus der Natur und ihrer Leistung für den Menschen haben? In eine Zeit hinein also, wo die Kenntnisse der Menschen über die Bausteine von Natur und Leben immer tiefgehender werden, wo also die Notwendigkeit, länger zu denken, ansteigt, weil es nicht mehr nur darum geht, welche Konsequenzen hat das für meine Nächsten, sondern auch für meine Fernsten, wie Hans Jonas es richtigerweise gesagt hat. Also, wir sind in einer allgemeinen Entwicklung von Wissenschaft und Technik, die immer weiter fortschreitet in der Entschlüsselung von Natur und die damit immer weitgehendere Konsequenzen haben kann oder haben wird, die wir alle jetzt mitbedenken müssten und dieses nicht mehr mitbedenken können. Hans Jonas, den ich zitierte, dieser große deutschjüdische Philosoph, hat das in seinem Buch »Das Prinzip Verantwortung« mit folgendem 20 Klaus Töpfer Satz? ? Satz formuliert, ich zitiere: »Unser Wissen muss dem kausalen Ausmaß unseres Handelns größengleich sein.« Und er führt fort: »Genau das ist es nicht.« Und deswegen ist eine jede Entscheidung heute vor dem Hintergrund zu stellen: Können wir dies in die Verantwortung der Menschen mit hineinnehmen? Ich sage dies wissend, dass wir dazu tendieren, genau dies auszublenden. Die Bankenkrise, die wir 2008 erlebt haben, ist genau dadurch mitbegründet, dass wir eine Trennung von Haftung und Risiko zugelassen haben. Und wenn Sie die beiden trennen, wenn der, der die Risiken eingeht, nicht dafür haftet, dann werden Sie sich nicht darüber wundern können, dass sie ein sehr optimistisches Bild von möglichen Risiken vorgegaukelt bekommen haben. Und genau das ist eingetreten. Also auch dies zeigt Hans Carl von Carlowitz. Dass eine solche Entscheidung, die nicht mehr die Risiken des heutigen Entscheidens in die Haftung derer bringt, die dann ja gar nicht mehr da sind, offenbar die Wahrscheinlichkeit mit sich tragen, dass sie eine zu optimistische Beurteilung von Risiken haben. Das ist der Inhalt von Hans Jonas. Das führt uns, wie ich meine, in die Perspektive von Nachhaltigkeit, in die wir hineingehen. Und wenn es so ist, dass der Mensch immer stärker durch sein Handeln und durch sein Wissen Natur beeinflusst, dann kommen wir offenbar in eine neue erdgeschichtliche Perspektive. Dies ist nicht eine Sache, die ich mir habe einfallen lassen, sondern der große Nobelpreisträger, der jetzt in diesem Jahr 80 Jahre alt werdende Paul Crutzen, hat den Nobelpreis dafür bekommen, dass er den Zusammenhang zwischen der Nutzung bestimmter Chemikalien heute und der Zerstörung der Ozonschicht morgen hergestellt hat, und zwar nicht nur morgen sondern auch zu unserem Vorteil, gerade dort, wo das, was genutzt worden ist, nie genutzt wurde, nämlich bei anderen. Intergenerativ und interregionale Verteilung von Posten, sauber daraus abzulesen. Dieser Paul Crutzen hat einen Beitrag geschrieben in dem renommierten Journal »Loyal Nature« im Jahr 2001, mit der Überschrift: Vergangenheit und Zukunft eines Begriffs, des Begriffs der Nachhaltigkeit 21 »Idyologie of men, die Ideologie des Menschen«. Und hat darin herausgearbeitet, dass wir eigentlich gar nicht mehr im alten erdgeschichtlichen Zeitalter, also nicht mehr im Holozän, leben, sondern dass wir schon in einem menschengeprägten Zeitalter leben, und hat das »das Antropozän« genannt. Und er hat darauf hingewiesen, dass das, was wir gegenwärtig tun, eigentlich das ingenieurmäßige Bewältigen der negativen Konsequenzen vorangegangenen Tuns ist. Das ist Nachhaltigkeit im Antropozän. ZusamAuch wenn ein bisschen in den internationalen Diskussionen hinein mender Satz steht »Nature is out«. Was ist denn noch Naturkatastrophe ? hang? Ist ein Tsunami eine Naturkatastrophe? Oder ist es nicht dadurch eine Katastrophe, dass eine der Welt immer immanentere Bewegung dann zu einer Katastrophe führt, weil andere Menschen am Strand des Meeres Kraftwerke gebaut haben? Wird nicht eine Katastrophe gerade daraus, weil vorher Menschen gehandelt haben? Ich glaube, darüber hat Carlowitz noch nicht nachdenken müssen, wie denn das Anpflanzen von Bäumen Auswirkungen hat auf das globale Klima, welche Aufnahmefähigkeiten Wälder für CO2 haben, und damit Antworten darauf zu finden, dass wir massenhaft CO2 freisetzen. Also, das Nachdenken über die Auswirkungen menschlichen Handelns auf Nachhaltigkeit in dem Sinne ist gebotener denn je. Deswegen ist es sehr gut, dass wir uns 300 Jahre nach dem Erscheinen dieses Buches hier treffen. Und darüber nachdenken, was diesen großen Mann motiviert hat, ein solches Buch zu schreiben, wie gesagt, nicht als Oberförster, sondern als Oberberghauptmann, als jemand, der für die Wirtschaft einer Region zuständig war und das sehr ernst genommen hat. So wie wir auch heute noch sehen, dass immer wieder die Notwendigkeit, wirtschaftliche Perspektiven für die heutigen Menschen zu schaffen, an die erste Stelle gestellt wird und eher etwas zufällig danach gefragt wird, welche sozialen und ökologischen Konsequenzen unser Handeln hat. Ich freue mich, dass man vor dem Hintergrund dieser historischen und zukunftsorientierten Perspektive mir die Ehre erweist, einen solchen Preis zu bekommen. 22 Klaus Töpfer Es ist sicherlich richtig, dass man in seinem Lebenslauf relativ einfallslos war. Ich habe immer »Umwelt« gemacht. Andere Minister werden wenigstens zwei- oder dreimal andere Minister, manche sogar noch mehr. Aber man muss dann auch sagen, dass nicht zuletzt ein Hans Carl von Carlowitz zeigt, dass, wenn der Schuster bei seinen Leisten bleibt, ihn aber immer wieder auf die Notwendigkeiten seiner Zeit hin verändert, er eine großartige Persönlichkeit sein kann. Dass dies hier in Freiberg, in Sachsen, im Erzgebirge der Fall ist, beeindruckt mich ganz persönlich auch deswegen sehr, weil Freiberg, wie vielleicht auch die Freiberger hier im Saal wissen, eine Städtepartnerschaft mit Balschik in Schlesien hat. Balschik, das war Waldenburg, und in Waldenburg bin ich geboren. Dass immer wieder, wenn man da hinkommt, sich zeigt, wie Europa eben nicht nur unter dem Gesichtspunkt ökonomisch-ökologischer Notwendigkeiten zusammenwächst, sondern dass die Menschen zusammenkommen und dass dies auch eine Herausforderung für Nachhaltigkeit ist, alles daranzusetzen, dass wir durch unsere Entscheidungen heute nicht Ausgangspunkt von Spannungen und von täglichen nur noch militärisch zu bewerkstelligenden Problemen sind. Dies also herauszuarbeiten war mir eine Freude. Vergangenheit und Zukunft eines Begriffs, des Begriffs der Nachhaltigkeit 23 Fritz Jaeckel »Manchmal hat man den Eindruck, dass ohne Nachhaltigkeit gar nichts mehr geht.«* Wenn Sie, verehrter Herr von Carlowitz, sich zwischenzeitlich in Sachsen etwas umgesehen haben, werden Sie mir zustimmen, dass wir uns schon lang nicht mehr damit trösten, dass »Holtz und Unglück über Nacht wachsen«. Wir haben uns Ihre »Sylvicultura oeconomica« zu Herzen genommen, sowohl, was die »nachhaltende« Nutzung unserer Wälder angeht, also auch Ihre sonstigen Vorschläge, um das Holz effizienter zu nutzen. So gibt es heute bei uns beispielsweise sehr moderne Öfen, die mit weniger »Holze mehr Wärme geben«, und auch beim Kochen geht an modernen »Platten« »keine Hitze mehr umsonst weg«. Wir nennen das Energieeffizienz, denn nach wie vor haben wir das Problem, dass fossile Energieträger endlich und die erneuerbaren Energien noch nicht grundlastfähig sind. Energie besser zu nutzen ist daher für mich eines der wichtigsten Themen, wenn die Energiewende gelingen soll. Doch Energieeffizienz ist nur ein Beispiel, wie wir die von Ihnen empfohlene »nachhaltende« Nutzung verinnerlicht haben. Das Prinzip, das einst in den sächsischen Wäldern heranwuchs und für die Förster seit 300 Jahren modern ist, hat zwischenzeitlich einen sagenhaften Aufstieg erlebt. Manchmal hat man den Eindruck, dass ohne Nachhaltigkeit gar nichts mehr geht. Und doch hat die seit Ende des 20. Jahrhunderts begonnene Karriere der Nachhaltigkeit vielen Menschen ins Bewusstsein gerufen, wie wichtig es ist, sorgsam mit unserer Schöpfung umzugehen. Der Freistaat Sachsen hat dazu Anfang des Jahres eine eigene Nachhaltigkeitsstrategie erstellt, die als politische Leit- * Rede von Herrn Staatssekretär Dr. Fritz Jaeckel zur Eröffnung des Forums »Menschen gestalten Nachhaltigkeit« am 6. November 2013 in Chemnitz 26 Fritz Jaeckel linie langfristig eine positive, nachhaltige Entwicklung unseres Freistaates sicherstellen soll. Sie umfasst Bildung, Finanzen, Klima und Energie, Natur und Umwelt, Stadt und Land, Wirtschaft und Fachkräfte sowie Gesundheit und Lebensqualität. Dass wir dabei erfolgreich sind, hat erst kürzlich wieder der bundesweite Schulleistungsvergleich gezeigt. Ob Mathe, Chemie, Bio oder Physik – Sachsens Schüler sind am schlauesten. Oder nehmen Sie unsere Finanzpolitik. Schon seit 2006 handeln wir danach, nicht mehr auszugeben, als wir einnehmen. Verankert haben wir das jetzt sogar in unserer Verfassung. Auch in anderen Bereichen brauchen wir uns nicht zu verstecken. Aus sauren Böden, fast toten Flüssen und auf Verschleiß gefahrenen Betrieben wurde das dynamischste deutsche Bundesland mit einer intakten Umwelt und einer lebenswerten Kulturlandschaft – und das scheinbar für viele. So wurde erst kürzlich nach über 100 Jahren der erste Lachs in der Mulde gefangen – für mich als Umweltstaatssekretär eine kleine Sensation! Natürlich gibt es nicht nur Sensationen. Angesichts von weltweitem Hunger, Armut, Umweltzerstörung, Klimawandel und politischer Instabilität ist Nachhaltigkeit aktueller und notwendiger denn je. Obwohl wir hier im weltweiten Vergleich auf einem sehr hohen Niveau agieren und bei uns andere Probleme anstehen, als Herr Prof. Töpfer aus Asien, Lateinamerika oder Afrika kennt, so stehen doch auch bei uns neue Aufgaben an, die es für eine weiterhin positive Entwicklung unseres Freistaates zu lösen gilt. Ich nenne hier nur die Stichpunkte Demografie, Klimawandel, Hochwasserschutz, Flächenverbrauch, Energiesicherheit und Artenschwund. Zusammen mit der Hans-Carl-von-Carlowitz-Gesellschaft wollen wir Sie daher mit dieser Veranstaltung unter dem Motto »Menschen gestalten Nachhaltigkeit« informieren und gleichzeitig anregen, darüber nachzudenken, auch in Ihrem Verantwortungs- und Lebensbereich den einen oder anderen Schritt zum nachhaltigen Handeln zu unternehmen. Nachhaltigkeit funktioniert nur, wenn alle daran teilnehmen. Viele Sachsen haben gerade in diesem Jahr gezeigt, dass wir das Carlowitz’sche Erbe angenommen und weiterentwickelt haben. Wir würden uns freuen, wenn wir über diese Veranstaltung weitere Mitstreiter finden. Ohne Nachhaltigkeit geht nichts mehr 27 Dieter Füsslein »Gegensätze komplementär denken: Wissenschaftsentwicklung ohne Erkenntnisgrenzen einerseits und Ressourcengrenzen des ›blauen Planeten‹ andererseits«* Die ökologische Dimension 29 Wer sich heute für Nachhaltigkeit engagiert (und es werden immer mehr – weil Nachhaltigkeit Lust macht auf ein Leben, das weit ausgreift), ist nicht nur Teil einer großen globalen Suchbewegung, er ist auch Teil einer reichen Geschichte (U. Grober). Diese Geschichte begann mit einem Buch. Darin hat uns Carlowitz einen Kompass für das Wachstum heilender Kräfte und gegen zerstörerisches Wachstum mitgegeben. Er hilft uns, ein Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen der Menschen und der Leistungsfähigkeit des Planeten Erde zu finden. Oft bedrückt uns heute die Diskrepanz, ja der oft schreiende Widerspruch zwischen dem, was wir wissen, und vielen noch immer destabilisierenden Tendenzen wie der Kontaminierung und der Plünderung unseres Blauen Planeten oder dem leichtfertigen Umgang mit Nahrungsmitteln. Viele destabilisierende Prozesse zielen auf Kollision. Ein Verdrängen oder eine Marginalisierung der Nachhaltigkeit führt geradewegs ins Aus! So wie von Carlowitz glauben auch wir an die Kreativität und das Potenzial, um umzusteuern. Aus den Quellen des von Carlowitz können wir dafür Impulse, Anregungen und Weisheit für Gegenwart und Zukunft schöpfen. Nachhaltigkeit ist nur mithilfe der Zivilgesellschaft zu bewirken, Regierungen und Parlamente benötigen die Unterstützung der Zivilgesellschaft, und umgekehrt ist es ebenso, und deshalb ist es ein starkes Zeichen dieser gemeinsamen Verantwortung, dass der heutige Nachhal- * Rede von Dr. oec. habil. Dieter Füsslein, Vorstandsvorsitzender der Sächsischen Hans-Carl-von-Carlowitz-Gesellschaft e.V., am 6. November 2013 30 Dieter Füsslein tigkeitstag von der Staatsregierung und der Carlowitz-Gesellschaft und auch mit Unterstützung der Agenda-Beiräte getragen wird. Am heutigen Nachmittag zeigt der Exkursionsteil wie sächsische Bürger mit großem Engagement und großer Verantwortung in verschiedenen Bereichen Nachhaltigkeitsprojekte realisieren, die zur Nachahmung einladen. Der von Carlowitz 1713 erstmals beschriebene Dreiklang der Nachhaltigkeit – ökologisches Gleichgewicht, ökonomische Sicherheit und soziale Gerechtigkeit –, die Carlowitz’sche Verknüpfung der Faktoren der Nachhaltigkeit gibt uns einen ganzheitlichen Handlungsansatz und schützt unser Denken vor subjektiver Schwerpunktwahl. Das Carlowitz’sche Postulat des nachhaltigen Wirtschaftens lautet deshalb: Nur wer als höchste Wertschöpfung seiner Arbeit größtmögliche Humanität, Umweltgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit anstrebt, erreicht langfristig in jeder Hinsicht den höchsten Wirkungsgrad. Kein Mensch kann an dem rasanten Wissenszuwachs der Naturwissenschaft (zum Beispiel der Nano-, Bio- und Informationstechnologie) und dem ebenso rasanten Wachstum der technischen Möglichkeiten vorbeisehen; es ist in vielen Ingenieurdisziplinen überwältigend, wenn ich daran denke, was von dem heute Gewussten und Gekannten noch unbekannt war oder unmöglich schien, als ich zum Beispiel mein Universitätsstudium abschloss. Heute lernen wir, zwei Gegensätze komplementär – also zusammen, als »Sowohl-als-auch« und nicht als »Entweder-oder« – zu denken: Wissenschaftsentwicklung ohne Erkenntnisgrenzen einerseits (Effizienz, Substitution, Engineering, Suffizienz) und räumliche und Ressourcengrenzen des Blauen Planeten andererseits. Mit der treffenden Metapher »Raumschiff Erde« wird die Begrenztheit unseres Planeten in zwei Worten deutlich. Erst die erwähnte Komplementarität führt zur begründeten Zuversicht für die Lösungskompetenz der Menschheit und zur Maxime: »Global denken – lokal handeln«. Dank Prof. Klaus Töpfer wissen wir Nachhaltigkeitspolitik als Teil weltweiter Konfliktprophylaxe, als Friedenspolitik (Wasserkriege) zu Gegensätze komplementär denken 31 verstehen, und Prof. Kurt Biedenkopf hat uns das Thema Enkelgerechtigkeit über Jahrzehnte quasi eingebläut. Mit dem deutschen Terminus »Nachhaltigkeit« (nachhaltend) begründete Carlowitz also einen ethischen Trend, ein Leitbild von universeller Geltung – und einen Exportschlager »made in Sachsen/made in Germany« erster Güte. Die sogenannte Grüne Technik hat einen wachsenden Anteil am BIP des Freistaates und ist auf dem Weg zu einer führenden Branche. Das Standardwerk des Hans Carl von Carlowitz ist wie eine Partitur, quasi für ein weltweites Orchester, die das Tonale, Rhythmische und Melodische einer nachhaltigen Entwicklung beeindruckend ausdrückt. So wie die 9. Sinfonie von Beethoven zur Europahymne avancierte, so sollte das Carlowitz’sche Leitbild die ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Leitplanken, also die Kultur Europas, prägen. Die Carlowitz-Gesellschaft versteht das Carlowitz’sche Leitbild Nachhaltigkeit aber auch als rigorose Verantwortung des Einzelnen gegenüber seiner Mitwelt und gegenüber künftigen Generationen, aber auch als Schutzschild gegen Hohlheit und Phrasenhaftigkeit im Umgang mit dem Begriff »Nachhaltigkeit« (vgl. Johannes der Täufer, Lukas 3, Vers 10-14). In Abwandlung eines Buchtitels von Ernst Ulrich von Weizsäcker »Jahrhundert der Nachhaltigkeit« möchte ich heute abschließend sagen: Wir sind im Jahrhundert der Nachhaltigkeit. 32 Dieter Füsslein Stanislaw Tillich »Wer es mit Nachhaltigkeit ernst meint, der denkt in Generationen, nicht im Rhythmus von Quartalsberichten oder Legislaturperioden.«* Die wirtschaftliche Dimension 33 hier würden wir gern »Es gilt das gesprochene Wort« streichen Es gilt das gesprochene Wort. Sehr geehrter Herr Professor Dr. Klaus Töpfer, die Carlowitz-Gesellschaft ehrt Sie heute für Ihr jahrzehntelanges Engagement für Nachhaltigkeit. Das ist freilich nicht die einzige Parallele zwischen Ihnen und dem Namensgeber des Preises. Sie sind – das ist die erste Verbindung zu Hans Carl von Carlowitz – nicht als klassischer Naturschützer zu diesem Ihrem Lebensthema gekommen. Sie sind von Haus aus Volkswirt und haben Ihre akademische Karriere mit einer ökonomischen Fragestellung begonnen: wie regionalpolitische Prämissen die Standortentscheidung von Unternehmen beeinflussen. Sie können heute noch aus dem Stegreif einen Vortrag darüber halten, wie die Höhe des Benzinpreises oder die Pendlerpauschale den Siedlungscharakter einer Region bestimmt. Auch Hans Carl von Carlowitz war Ökonom und hat durch eine ökonomische Fragestellung zum Thema Nachhaltigkeit gefunden. Vor 300 Jahren drohte eine Wirtschaftskrise. Holzknappheit machte Bergbau und Hüttenwesen, aber auch die Versorgung mit Bau- und Feuerholz teuer. Der Holzmangel gefährdete Arbeitsplätze und verringerte die Kaufkraft der Einkommen. Für Carlowitz war die Lösung klar: konsequente Aufforstung, effizientere Öfen und eben nachhaltige Nutzung der Wälder – nur so viel * Laudatio des Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich auf Prof. Dr. Klaus Töpfer zur Verleihung des Carlowitz-Preises der Sächsischen Hans-Carlvon-Carlowitz-Gesellschaft am 6. November 2013 in Chemnitz 34 Stanislaw Tillich Holz entnehmen, wie dank Aufforstung wieder nachwächst. Allerdings: Heute meint Nachhaltigkeit viel mehr als nur den Wald. Das kann man zum einen daran sehen, dass es in Dresden ein neues Forschungsinstitut der Universität der Vereinten Nationen gibt, das sich mit dem Zusammenhang von Wasser, Boden und Müll beschäftigt. Es hat den schönen Namen UNU-Flores. Noch weiter gefasst: Nachhaltigkeit beschreibt einen Zustand der Mensch-Umwelt-Beziehungen, in dem wir Menschen nur so viele Ökosystemleistungen verbrauchen, wie die Umwelt wieder bereitstellen kann, und nur so viel Müll an die Umwelt abgeben, dass die uns am Leben haltenden Ökosysteme selbst am Leben bleiben. Das ist Umweltschutz aus ökonomischen Erwägungen heraus – denn es geht darum, die Grundlagen für unser Wirtschaften und Überleben langfristig zu sichern. Damit bin ich bei der zweiten Parallele zwischen Klaus Töpfer und Carlowitz. Wer es mit der Nachhaltigkeit ernst meint, also mit der langfristigen Sicherung unserer natürlichen Lebensgrundlage, der denkt in Generationen, nicht im Rhythmus von Quartalsberichten oder Legislaturperioden. So wie Carlowitz, der mit der Aufforstung und nachhaltigen Bewirtschaftung der sächsischen Wälder ein Generationenprojekt plante. Wer sich heute wie Klaus Töpfer für Nachhaltigkeit engagiert, dem ist klar: Es geht darum, unsere Umwelt und ihre lebenserhaltenden Funktionen für künftige Generationen zu bewahren oder sogar zu verbessern. Nun ist die Betonung der langen Frist unbequem. Denn unser Wirtschaftsmodell beruht bisher darauf, kurzfristig den Ressourcenfluss von der Umwelt durch die menschliche Gesellschaft hindurch zu maximieren. Das war schon im Jahre 1713 problematisch, als die menschliche Wirtschaft in Relation zur sie umgebenden Umwelt ein nur geringes Ausmaß hatte – sonst hätte Carlowitz ja nicht sein Buch geschrieben. Jetzt, 300 Jahre später aber, haben die Menschheit und ihre Wirtschaft ein Ausmaß erreicht, bei dem bereits 60 Prozent der Ökosysteme degeneriert, übernutzt oder zerstört sind und deshalb ihre lebenserhaltenden Dienste für die Menschen und andere Arten nicht mehr erbringen können. Nachhaltigkeit ernst meinen – in Generationen denken 35 Anders ausgedrückt: Die Menschheit hat schon heute einen Umweltverbrauch, der die Tragfähigkeit der Erde übersteigt. Es gibt Berechnungen, wonach wir derzeit 1,8 Planeten pro Jahr verbrauchen. Und wenn alle sieben Milliarden Menschen so viel verbrauchten wie die Amerikaner, bräuchten wir heut schon die Ressourcen und Ökosystemleistungen von vier Erden. Klaus Töpfer ist jemand, der auch solche unbequemen Gedanken zu Ende denkt. Und er sagt: Wir in den reichen Ländern müssen dramatisch weniger verbrauchen und produzieren, damit die Menschen in den armen Ländern es zu nachhaltigem Wohlstand bringen können. Ich meine: Carlowitz würde heute die gleiche Schlussfolgerung ziehen. Ein Hinweis darauf ist, dass er sich auch Gedanken machte über die Verringerung des Holzverbrauchs durch effizientere Öfen. Modern ausgedrückt: Wenn die Ressourcenproduktivität wächst, kann der Ressourcenverbrauch sinken. Allerdings: Klaus Töpfers Nachhaltigkeitsbegriff ist im Vergleich zu dem von Carlowitz ganzheitlich. Er denkt ökonomische, ökologische und soziale Gesichtspunkte zusammen. Das kommt unter anderem daher, dass Sie, lieber Herr Töpfer, am Anfang Ihrer politischen Karriere Staatssekretär im Ministerium für Soziales, Gesundheit und Umwelt in Rheinland-Pfalz waren. Das war genau in dem Jahr, 1979, als der König des Himalayastaats Bhutan auf die Frage eines ausländischen Journalisten nach dem Bruttoinlandsprodukt antwortete, ihn interessiere das Bruttoglücksprodukt seiner Untertanen mehr. Glück, das weiß man aus vielen Studien seither, wächst ab einem bestimmten Niveau von Produktion und Konsum nicht mehr. Wohl aber nehmen dann Dinge zu, die unser Glück verringern, wie Krankheiten durch zu viel Essen, eine verschmutzte Umwelt oder der psychische Druck, den das Streben nach immer mehr auslöst. Das ist, im Sinne einer Maximierung des Bruttoglücksprodukts, eben nicht nachhaltig. Im Hinblick darauf ist es bezeichnend, dass damals, Ende der 1970er-Jahre, in Ihrem Mainzer Ministerium Gesundheit, Soziales und Umwelt unter einem Dach vereinigt waren. Das ist eine wesentliche Quelle Ihres ganzheitlichen Verständnisses von Nachhaltigkeit. 36 Stanislaw Tillich Ein Drittes verbindet Sie mit Carlowitz. Er hat die Idee zu seinem Buch lange mit sich herumgetragen. Auch Sie hatten in Ihrem Leben Ideen, deren Realisierung sehr lange dauerte. Als Sie Bundesumweltminister wurden, war die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl erst ein Jahr her. Damals, 1988, gab es einen CDU-Parteitag in Bremen. Auf dem wollten Sie einen Leitantrag einbringen, in dem es hieß, ich zitiere: »Wir müssen eine Zukunft ohne Kernenergie, aber auch mit weniger fossilen Energieträgern erfinden.« Der Leitantrag kam nie zur Abstimmung. Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima wurden Sie von Kanzlerin Merkel zum Vorsitzenden der Ethikkommission »Sichere Energieversorgung« berufen. Das Votum der Kommission war jenes, welches beim Bremer Parteitag 1988 nicht mal zur Abstimmung kam: der Ausstieg aus der Kernenergie. So schloss sich nach 23 Jahren ein Kreis. Und zwischendrin gab es eine steile Lernkurve. 1991 verabschiedete der Bundestag das Energie-Einspeisungsgesetz, den Vorläufer des ErneuerbareEnergie-Gesetzes. Damit begann die Deutsche Energiewende in Ihrer Zeit als Bundesumweltminister. Heute decken wir mehr als ein Fünftel unseres Stromverbrauchs aus erneuerbaren Quellen. Und der Anteil steigt weiter. Und für die sieben Jahre Ihrer Amtszeit als Bundesumweltminister stehen noch mehr Erfolge zu Buche. Sie haben das Bundesamt für Strahlenschutz gegründet, für saubere Flüsse gesorgt, das Duale System eingeführt, das Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz und das FCKW-Verbot zum Schutz der Ozonschicht durchgesetzt, das Programm »Ökologischer Aufbau« in Ostdeutschland vorangetrieben und waren nicht zuletzt 1992 der Retter des Erdgipfels von Rio. Sie haben damit Deutschlands Image als Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit geprägt. 1998 wurden Sie Leiter der UNO-Umweltbehörde UNEP. Sie zogen für acht Jahre nach Nairobi. Sie haben dabei viel über Nachhaltigkeit gelernt. Vor allem, dass es oft nicht Technik, sondern eine simple Verhaltensänderung ist, die Nachhaltigkeit schafft. Ein Beispiel ist die kenianische Friedensnobelpreisträgerin Wangari Muta Maathai, die Sie in Nairobi kennenlernten. Sie hatte eine Lösung Nachhaltigkeit ernst meinen – in Generationen denken 37 für die Trockenheit und Bodenerosion in Kenia gesucht – und gefunden. Feigenbäume erreichen mit ihren tiefen, starken Wurzeln Wasserquellen und bringen das kostbare Nass an die Oberfläche. Wangari Maathai gründete 1977 die Grüngürtel-Bewegung. In den folgenden Jahrzehnten wurden in Afrika Millionen Feigenbäume gepflanzt. Bis dahin waren diese Bäume gefällt worden, um Platz für große, intensiv bewirtschaftete Felder zu schaffen, damit die Lebensmittelproduktion wachsen kann. Das hatte zur Folge, dass die Böden austrockneten, vom Wind weggeblasen, vom Regen fortgespült wurden. Hunger und Armut waren die Folge. Die Lösung dieses Problems war nicht Wirtschaftswachstum, sondern das Wachstum der Natur, das Pflanzen neuer Bäume. Carlowitz lässt grüßen. Meine Damen und Herren, für Klaus Töpfer haben solche Einsichten eine tiefere Bedeutung. Er spricht davon, dass die fortgesetzte Aggression gegen die Umwelt auf der Jagd nach Wachstum den Frieden auf der Welt gefährdet – Stichwort: Konflikte ums Wasser. Und er zieht daraus den Schluss: Frieden mit der Natur, also nachhaltige Entwicklung, dient dem Weltfrieden. In diesem Sinne berät er die Regierungen von Entwicklungs- und Schwellenländern. Vor allem aber redet er immer wieder uns in den entwickelten Industrieländern ins Gewissen. Wir hier müssen es schaffen, unseren Wohlstand zu sichern und gleichzeitig den Umweltverbrauch so stark zu reduzieren, dass mehr Umwelt für die armen Länder und deren Entwicklung übrig bleibt. Wie Klaus Töpfer nicht müde wird zu betonen, ist auch Deutschland nicht durchweg ein Vorbild für nachhaltige Entwicklung. Oder, in Carlowitz’ Perspektive ausgedrückt: Wir verbrauchen immer noch viel mehr Holz, als nachwächst. Meine Damen und Herren, heute gibt Klaus Töpfer seine Erfahrungen mit nachhaltiger Entwicklung als Hochschullehrer und Forscher weiter. Er hat das Nachhaltigkeitsinstitut in Potsdam mitbegründet und ist Professor für nachhaltige Entwicklung an der chinesischen TongjiUniversität. Und an Ruhestand ist für ihn nicht zu denken. Denn die 38 Stanislaw Tillich Welt, in der seine Enkelkinder aufwachsen, ist noch lange nicht nachhaltig. Die Carlowitz-Gesellschaft vergibt heute also einen Preis für ein Lebenswerk, das noch lange nicht vollendet ist. Lieber Klaus Töpfer, ich gratuliere Ihnen sehr herzlich zur Verleihung des Carlowitz-Preises und wünsche Ihnen für Ihr Engagement weiterhin alles Gute und viel Erfolg. Nachhaltigkeit ernst meinen – in Generationen denken 39 Jochen Bohl »Das Prinzip des nachhaltigen Umgangs mit der Natur ist bereits in den Schöpfungserzählungen biblisch angelegt.«* 41 Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrter Herr Staatsminister, sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin, sehr geehrter Herr Professor Töpfer, sehr geehrte Damen und Herren, gestatten Sie mir eine Vorbemerkung: Als ehemaliger Student an der Ruhruniversität Bochum ist es mir eine Ehre, heute die Laudatio auf den ehemaligen Rektor der seinerzeit noch sehr jungen Alma Mater halten zu dürfen. Sehr geehrter, lieber Herr Professor Biedenkopf, nachdem wir uns nun schon viele Jahre kennen und viele anregende Gespräche führen konnten, wird es mindestens für Sie nicht unerwartet kommen, wenn ich heute meine Ausführungen mit einem Bezug auf die Bibel beginne und einleitend feststelle, dass sich das Prinzip der Nachhaltigkeit bereits in der Bibel findet. Das mag überraschen, denn es hat ja im ökologischen Diskurs eine Argumentationslinie gegeben, die den exzessiven Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen auf die christliche Religion zurückgeführt hat. Damit wird aber der Schöpfungsauftrag der Bibel, wie wir ihn im ersten Buch Mose, Kapitel 1, Vers 28 finden, missverstanden. Da heißt es bekanntlich: »Und Gott segnete sie und sprach: ›Seid fruchtbar und mehret Euch und füllet die * Laudatio des Landesbischofs der evangelisch-lutherischen Landeskirche Jochen Bohl für Ministerpräsident a.D. Dr. Kurt Biedenkopf zur Verleihung des Hans-Carl-von-Carlowitz-Nachhaltigkeitspreises der Sächsischen Hans-Carl-von-Carlowitz-Gesellschaft e.V. am 6. November 2013 in Chemnitz 42 Jochen Bohl Erde und machet sie euch untertan‹…« Es wäre eine grobe Verzeichnung, dies im Sinne von »versklaven, knechten und ausbeuten« zu deuten, wie es leider auch geschehen ist. Der Sinn des Schöpfungsauftrages ist ein anderer. Gott eröffnet den Menschen durchaus die Möglichkeit, die reichen Gaben der Natur zu nutzen – aber damit ist nicht gemeint, es stehe ihr Gebrauch im Belieben der Menschen, und schon gar nicht in gieriger, exzessiver, selbstsüchtiger Weise. Der Auftrag des Schöpfers richtet sich vielmehr darauf, Verantwortung für den Zusammenhang der lebensdienlichen Prozesse zu übernehmen. Das wird spätestens in dem älteren Schöpfungsbericht im Ersten Buch Mose, Kapitel 2 Vers 15 erkennbar, wo es heißt: »Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte.« Bebauen und bewahren, so kann man in der Verbform das Nachhaltigkeitsprinzip beschreiben, und insofern ist das Prinzip des nachhaltigen Umgangs mit der Natur biblisch bereits in den Schöpfungserzählungen angelegt. Der Gedanke zieht sich dann durch das Alte Testament hindurch – beispielsweise in der Bedeutung des siebenten Tages, an dem Mensch und Natur ruhen sollen, oder dann in der (umstrittenen) kultischen Vorschrift des Sabbatjahres. Dabei handelt es sich um eine Regelung, die bestimmt, dass in jedem siebten Jahr die Äcker liegen bleiben sollen, um sich von der Nutzung erholen zu können: Ausdruck der Bestimmung, dass die Menschen das Land bebauen und bewahren sollen. Das Sabbatjahr will aber auch einen Beitrag in Bezug auf die elementare Frage nach der Gerechtigkeit unter den Menschen leisten – Schulden sollen alle sieben Jahre komplett erlassen, Landverkäufe zu diesem Zeitpunkt rückabgewickelt werden. Es sind geradezu revolutionäre Ansätze, um die stets gefährdeten Güter Gerechtigkeit und Frieden zu schützen. Nachhaltigkeit als Prinzip wird in der Bibel in einem umfassenden Sinn verstanden, durchaus nicht auf die Natur beschränkt; in der ganzen Schöpfung gilt der Glaubenssatz »Die Erde ist des Herrn« (Psalm 24,1); sie darf nicht als Besitz der Menschen missverstanden werden. Es geht um das Prinzip Verantwortung, um den wertgebundenen Gebrauch der Freiheit entsprechend dem Maßstab der Nachhaltigkeit. Prinzip Nachhaltigkeit und Schöpfungserzählung 43 Lieber Herr Professor Biedenkopf, Sie haben sich insbesondere um die Nachhaltigkeit im Sinne der Generationengerechtigkeit verdient gemacht. 2006 haben Sie ein Buch geschrieben, das den bezeichnenden Titel »Die Ausbeutung der Enkel« trägt. Darin haben Sie unter anderem gefordert, Gesetze nicht nur auf ihre finanziellen Konsequenzen zu untersuchen, sondern insbesondere auf die Auswirkungen auf die kommenden Generationen, also auf die Bürgerinnen und Bürger, die entweder als Kinder noch nicht stimmberechtigt oder noch nicht einmal geboren sind – die Folgen unseres Handelns aber werden tragen müssen. In diesem Zusammenhang sehe ich auch Ihre bereits vor mehr als drei Jahrzehnten einsetzenden Bestrebungen, unsere Sozialversicherungssysteme und vor allem die Rentenversicherung so zu organisieren, dass sie den Kriterien der Nachhaltigkeit entspricht. Interessant, dass das Prinzip der Generationengerechtigkeit bereits in der Bibel zu finden ist, und zwar an zentraler Stelle. In der Abfolge der zehn Gebote ist das vierte das erste der sieben, die sich auf das Zusammenleben der Menschen richten. Bevor das Tötungsverbot ausgesprochen wird, geht es um das Leben in der Generationenfolge. Die Menschen sollen nicht nur die Gegenwart gestalten und darin das Ergehen der eigenen Generation verantworten, sondern die Eltern fürsorgend ehren – und damit ist in einer Zeit, die keine Geburtenkontrolle kannte, zugleich die Weitergabe des Lebens angesprochen. Das Menschenleben gibt es nur in der Abfolge der Generationen – und darüber bestehen gegenwärtig leider viele Illusionen. Die Umstellung auf eine nachhaltige Lebensweise ist ein großes, hoffentlich nicht zu großes Projekt, weil es um tief sitzende Einstellungen und Verhaltensweisen in allen Lebensbereichen geht, von denen nahezu jeder und jede betroffen ist. Die Energiewende, so komplex und schwierig zu realisieren sie sich darstellt, ist ja nur ein Teil der Aufgabenstellung. Nachhaltigkeit ist aber ein umfassendes Geschehen, zu dem insbesondere das Wirtschaften gehört. Inzwischen zeigen die Bemühungen um einen nachhaltigen Umgang mit den natürlichen Ressourcen erste bescheidene Erfolge; in Deutsch44 Jochen Bohl land ist der Energieverbrauch seit einigen Jahren in etwa gleichbleibend und vom Wachstum der Wirtschaft abgekoppelt – im Weltmaßstab allerdings hat es in den zurückliegenden 40 Jahren ein geradezu ungebremstes Wirtschaftswachstum gegeben, und der weltweite Energieverbrauch hat sich seither verdoppelt, steigt auch weiter stark an. Darüber treten die Grenzen unseres auf Verbrauch ausgerichteten Lebensstils immer deutlicher vor Augen, dessen Übertragung auf die Völker des globalen Südens schlechterdings nicht vorstellbar ist. Umso wichtiger ist eine Diskussion der Frage, was denn gemeint ist, wenn von Wachstum gesprochen wird; und auch für diese Debatte haben Sie wichtige Impulse gegeben und darauf hingewiesen, dass schon nach den Gesetzen der Logik ein ständiges Wachstum der Volkswirtschaften in eine unbegrenzte Zukunft hinein gar nicht denkbar ist; oder dass es begrenzende Faktoren wie z.B. »gesättigte« Märkte gibt, auf denen nur ein Verdrängungswettbewerb inszeniert werden kann, der dann höchst schädliche Folgen hat in Bezug auf das soziale Leben und auch auf die Wirtschaft. In einem Interview mit Deutschlandradio Kultur zu Ihrem erwähnten Buch haben Sie damals schon das letzte, nahezu unhinterfragt geltende Dogma des Wirtschaftswachstums hinterfragt. Sie sagten damals: »Ich befasse mich mit der Frage, ob die Gesellschaft ihre Dinge intelligent genug organisiert, ob es nicht besser wäre, jetzt nicht quantitatives Wachstum anzustreben, sondern eine Verbesserung der Intelligenz, mit der wir unsere Dinge organisieren und damit auch mehr Sparsamkeit, mehr Effizienz, mehr Wirtschaftlichkeit im Land. All das wird in Zukunft eine dominierende Rolle haben.« Auch hier wird deutlich, wie Sie Ihrer Zeit immer weit voraus waren. Dementsprechend, lieber Herr Professor, haben Sie als Ministerpräsident die Grundlagen für eine nachhaltige Finanzwirtschaft im Freistaat Sachsen gelegt. Andernorts hat man sich verlocken lassen, den großen Rückstand zu den Ländern der früheren Bundesrepublik durch eine großzügige Schuldenpolitik aufzuholen. Sie haben schon zu Zeiten, als Verschuldung noch ein selbstverständlicher und unhinterfragter Teil der Finanzpolitik war, gesehen, dass damit den folgenden Generationen Prinzip Nachhaltigkeit und Schöpfungserzählung 45 der Spielraum für eine eigenständige Politik genommen wird. Es ist durchaus ein moralisches Gebot, den nachkommenden Generationen nicht Belastungen aufzuerlegen, die sie nicht tragen können – das sollte man vielleicht auch in die aktuellen Koalitionsverhandlungen eintragen. Wir in Sachsen profitieren gegenwärtig von der soliden Finanzierung des Staatshaushalts, und so werden die kommenden Generationen in der Lage sein, den Herausforderungen der Zukunft zu begegnen. Die Schuldenkrise in Europa hat gezeigt, wie weitsichtig diese Vorgehensweise war und wie sehr Ihre Politik zum Wohl und Nutzen der Bürgerinnen und Bürger Sachsens in Gegenwart und Zukunft beiträgt. Erfreulicherweise scheint mir doch allmählich die Zustimmung zu Ihren Impulsen stärker zu werden, und ich darf in diesem Zusammenhang auf die Initiative »anders wachsen« verweisen, die vor relativ kurzer Zeit in unserer Landeskirche entstanden ist. Sie erfreut sich inzwischen Übergabe der Originalschrift der »Sylvicultura oeconomica« an Dr. D. Füsslein 46 Jochen Bohl eines großen Zuspruchs und großer Unterstützung weit über die sächsischen Grenzen hinaus. Und so möchte ich diese Laudatio mit einem ausdrücklichen Dank dafür schließen, dass Sie den Gedanken der Nachhaltigkeit besonders in Ihrem Amt als Ministerpräsident des Freistaates Sachsen in eine konkrete Politik umgesetzt haben. Bleibt mir nur, Ihnen weiterhin Tatkraft und Schaffensfreude zu wünschen – ad multos annos! Verleihung des Hans-Carl-von-Carlowitz-Nachhaltigkeitspreises an Prof. Dr. Kurt Biedenkopf und Prof. Dr. Klaus Töpfer Prinzip Nachhaltigkeit und Schöpfungserzählung 47 Teil II Vorträge anlässlich von Veranstaltungen der Sächsischen Hans Carl von Carlowitz Gesellschaft 48 Ulrich Grober Nachhaltigkeit – Kind der Krise, Schlüssel zum Überleben Vortrag bei der Abschlussveranstaltung »300 Jahre Nachhaltigkeit« des Deutschen Forstwirtschaftsrates, Freiberg/Sachsen, 6. Februar 2014 49 Glück auf! Apropos »Stolz«. Das Wort und das Gefühl sind ja leitmotivisch für Ihre Veranstaltung. Als ich in diesem Gedenkjahr in Sachen Carlowitz unterwegs war, habe ich ein nettes Bonmot aufgeschnappt: »Waldbau ist wie Raketenwissenschaft. Nur wesentlich komplexer.« Ursprünglich stammt es von dem kanadischen Forstmann Fred Bunnell. »Forestry is not rocket science. It is much more complex.« Patrick Jansen von Probos, Prowald Niederlande, von dem ich den Spruch hörte, interpretierte das so: »Nur ein stolzer Förster ist ein guter Förster.« Ihr Stolz, denke ich, ist genau in dieser Komplexität begründet. Er speist sich heute aus dem Bewusstsein, Teil einer globalen Suchbewegung zu sein. Einer Suchbewegung, die nach dem Prinzip Versuch und Irrtum fortschreitet. Die Fähigkeit, Irrtümer zu korrigieren, gehört untrennbar dazu. Ich komme auf diese Zusammenhänge zurück. Vielen Dank, Herr Schirmbeck, für die Einladung. Für mich schließt sich heute ein Kreis. Im April vorigen Jahres hatte ich die Ehre, zum Auftakt des Carlowitz-Jahres hier in Freiberg sprechen zu dürfen. Damals auf Einladung des Rektors der TU, Prof. Meyer. Für mich eine Sternstunde. Nun geht das Gedenkjahr »300 Jahre Nachhaltigkeit« zu Ende. Eine Bilanz zu ziehen steht mir nicht zu. Vielmehr möchte ich versuchen, ein paar lange Linien aufzuzeigen, ausgehend von Eindrücken und Denkanstößen, die ich im Laufe dieses Gedenkjahres gewonnen habe. Ich möchte Sie also einladen, mit Carlowitz in die Zukunft zu denken. Ich berühre drei Fragen, die bereits Carlowitz vor 300 Jahren bewegten und 50 Ulrich Grober die, wie mir scheint, jetzt und in der nahen Zukunft mit aller Macht zurückkommen. 1) Wie ist es um unsere Fähigkeit zum langfristigen Denken bestellt? Müssen wir nicht vor allem unseren »Sinn für Zeit« neu schärfen? 2) Was ist eigentlich die »green economy«, von der die UN spricht? Und was meinen wir, wenn wir von »Wachstum« reden? 3) Hat die Globalisierung in ihrer jetzigen Form Zukunft? Oder wird die »Lokalisierung« der nächste große Trend? I. Zu meinem ersten Punkt, dem Sinn für Zeit: ein ganz frischer Eindruck, gerade erst ein paar Tage alt. Ich sah diese Tür in der Domschatzkammer in Aachen. Sie besteht aus vier schlichten Brettern. Durch Holzdübel und Eisenbeschlägen zusammengefügt. Zwei Meter hoch, einen Meter breit, aus Eichenholz. Am Rand zerbröselt es an einigen Stellen. Man kann verschiedene Brauntöne sehen, ein paar Stockflecken, hier und da Reste eines Lederbezuges. Nach einer kürzlich durchgeführten dendrologischen Untersuchung hat man die Eiche, die für diese Tür das Holz lieferte, um das Jahr 800 gefällt, vielleicht schon 766. Für den damals im Bau befindlichen Aachener Dom, das spirituelle Zentrum des karolingischen Reiches. Sie sehen »Karls Tür«. Durch diese Tür, so vermutet man, betrat Karl der Große jeden Morgen die achteckige Basilika seiner kaiserlichen Pfalz. Bis 1902 war die Tür in Gebrauch. Dann stellte man sie in einer Rumpelkammer ab und vergaß sie. Nun hat man sie hervorgeholt, untersucht und zum Publikumsmagneten der gerade eröffneten großen Jubiläumsausstellung über Karl den Großen gemacht. Was ist ihre »Aura«? Als ich sie in Augenschein nahm, wurde diese Holztür für mich zum Medium einer rasanten Zeitreise: Da wird vor zwölf Jahrhunderten ein Baum gefällt und zu einem Artefakt verarbeitet. Um die Tiefe der Zeit zu veranschaulichen: Damals stand die Irminsul noch, das sagenhafte hölzerne Heiligtum der heidnischen Angeln und Sachsen. Diese Tür diente beinahe bis heute ununterbrochen an ein und derselben Stelle ein und demselben Zweck. Mein spontaner Gedankenblitz: Aus einer Nachhaltigkeit – Kind der Krise, Schlüssel zum Überleben 51 Eiche, die heute, im Jahre 2014, gefällt wird, kann potenziell ein Gebrauchsgegenstand werden, der im Jahre 3214 noch von Nutzen ist. Was für ein Vorstellung! Aber der Gedanke geht weiter: Das Holz stammt mit Sicherheit aus den Wäldern in der Umgebung von Aachen. Wie ist es eigentlich um die Wälder dieser Region heute bestellt? Wer von Ihnen 2012 bei der Forstvereinstagung in Aachen dabei war, konnte sich ein Bild machen. Die Exkursionen führten in den Stadtwald, durch den Hürtgenwald, ins Hohe Venn. Wir sahen einen Flickenteppich aus Nutzwald, Erholungswald, Nationalparkareal. Da war der Hürtgenwald, der sich am Ende des 2. Weltkriegs in ein blutgetränktes Schlachtfeld verwandelt hatte. Da war Pionierwald der Renaturierungsphase aufgelassener Braunkohletagebaue. Das ganze Spektrum also. Die Wälder rings um Aachen haben sich seit der Herstellung von Karls Tür sicherlich stark verändert. Ihre Fläche ist massiv geschrumpft. Das restliche Waldland ist von Verkehrstrassen und Siedlungen durchschnitten. Andere Baumarten dominieren. Aber die Wälder sind auch in der vielleicht fünften oder sechsten Waldgeneration nach Karl dem Großen noch da. Es ist, könnte man sagen, der real existierende »ewige Wald«, an den die karolingischen Beamten dachten, als sie ihre Kapitularien über die Waldnutzung entwarfen, von dem die Forstleute der Reichenhaller Salinen zur Zeit von Carlowitz sprachen, den noch Georg Ludwig Hartig so bezeichnete. Der »ewige Wald« und damit die »Stetigkeit der Holzversorgung« – das ist ja die alte Vision der forstlichen Nachhaltigkeit. Daran anknüpfend, etablierte sich um 1900 das Wort »Dauerwald«. Doch der Anblick von Karls Tür und dieses spirituell angehauchte Wort vom »ewigen Wald« provozieren heute die Frage: Wird es im Jahr 3214 noch möglich sein, in unseren Wäldern Holz zu ernten, Waldluft zu atmen, aus Quellen zu trinken? Großes Fragezeichen. Die Menschen des frühen Mittelalters kannten unsere Bedürfnisse nicht. Ebenso wenig kennen wir die Bedürfnisse kommender Generationen. Doch wir haben die Pflicht, für sie alle Optionen offenzuhalten. In diesem Fall die Option, Holz einschlagen, frische Luft atmen und Süßwasser trinken zu können. 52 Ulrich Grober »Keep the options open«: So hat das der Brundtland-Bericht über »sustainable development« 1987 formuliert. Das ist die Aufgabe, die sich jeder Generation neu stellt. Um sie zu lösen, bedarf es freilich der Fähigkeit, in langen Zeiträumen zu denken. Aber ist nicht genau diese Fähigkeit heute in eine existenzielle Krise geraten? Jedenfalls in unserer westlichen, technisch und industriell geprägten Kultur. Es könnte durchaus sein, dass ein solcher »Sinn für Zukunft« in den noch stärker traditionell gesprägten Kulturen der Welt besser aufgehoben ist. In Afrika zum Beispiel sagt man, die menschliche Gemeinschaft bestehe aus denen, die vor uns waren, denen, die hier und heute leben, und denen, die nach uns kommen. So hat es der südafrikanische Bischof Tutu einmal formuliert. Verantwortung für die Zukunft wird damit potenziell zu einer Konstanten des Denkens. An diesem Punkt habe ich noch mal in der »Sylvicultura oeconomica« geblättert. Welche Vorstellung von Zeit liegt eigentlich zugrunde, wenn Carlowitz sich seinem Begriff »Nachhaltigkeit« nähert? Er spricht von der »immerwährenden, beständigen Holzung«. Von der »perpetuierlichen und stets wirkenden Kraft des Erdbodens«, von der »unendlichen Fruchtbarkeit«. Er spricht von den »Nachkommen«, den »Nachfahren«, der »Nachwelt«, der »lieben Posterität«. Es ist die Rede von »zukünftigen Zeiten« und von Dingen, die »in perpetuum oder auf viele Zeiten hinaus« dauern. Schließlich spricht Carlowitz über Dinge, die »von Anbeginn der Welt« da sind, und solchen, die »am Ende der Welt« da sein werden. Da ist der Bezug zum biblischen »von Ewigkeit zu Ewigkeit«. Das ist das sprachliche Umfeld, in dem Carlowitz seine Forderung nach einer »continuierlichen, beständigen und nachhaltenden Nutzung« formuliert. Welche Philosophie verbirgt sich dahinter? Meine These: Sein Zeitgenosse, der niederländische Philosoph Baruch Spinoza, hat Carlowitz »nachhaltig« beeinflusst. Ich vermute, dieser Einfluss wurde vermittelt durch den sächsischen Naturforscher und Philosophen Ehrenfried Walter von Tschirnhaus. Dieser arbeitete im Umkreis des Oberbergamts, z. B. an der Nacherfindung des Porzellans. Als junger Mann hatte er zum engsten Kreis um Spinoza gehört und galt auch später noch als Spinozist. Nachhaltigkeit – Kind der Krise, Schlüssel zum Überleben 53 Spinoza hatte drei verschiedene Konzepte von Zeit: duratio, die Dauer. Das ist die Zeitspanne des Daseins eines Dinges. Tempus, die messbare und einteilbare Zeitdauer. Und aeternitas, Ewigkeit. Spinoza forderte dazu auf, die Dinge »sub specie aeternitatis« zu betrachten, unter dem Aspekt der Ewigkeit. So gesehen, werden die Dinge der Zukunft gleichermaßen real und relevant wie die Dinge der Vergangenheit und Gegenwart. Ja, es erhalten Dinge, die erst in der Zukunft hervortreten, bereits im Hier und Heute eine Präsenz und ihren Sitz im Leben. In den Fokus kommt der Zusammenhang zwischen gegenwärtigen Phänomenen, vergangenen Ur-Sachen und künftigen Wirkungen und Folgen. Diese Sichtweise führt in den inneren Bezirk des Nachhaltigkeitsdenkens. Ist das nicht genau die Logik des forstlichen Denkens? Ich habe mich früher immer gewundert, dass bei Waldführungen Förster bei ihren Erläuterungen erst mal bei der Eiszeit anfangen. Ich habe gestaunt, wie sie beim Anblick eines spezifischen Waldbildes die potenziell natürliche Vegetation, den Ur-Wald, mit imaginieren und gleichzeitig die künftige Sukzession über lange Zeiträume mit bedenken. Nun verstehe ich, dass sich hier die Komplexität des forstlichen Denkens ausdrückt, die den Vergleich mit der Raketenwissenschaft nicht zu scheuen braucht. Doch hat nicht unsere moderne Industrie-Konsum-Zivilisation, die sich mit der Globalisierung gerade weltweit ausbreitet, trotz ihrer technischen Wunderwerke genau an dieser Stelle einen »Filmriss«? Und wenn ja, wie ließe sich die Erweiterung des Zeithorizonts neu entdecken und einüben? Hier liegt aus meiner Sicht eine wichtige Aufgabe einer jeden Bildung für nachhaltige Entwicklung. »Karls Tür« ist dafür nur ein kleines, aber feines Medium. II. Ein zweites Erlebnis im Carlowitz-Jahr möchte ich Ihnen erzählen. Im November 2013 hörte ich Kofi Annan zu. Der frühere UN-Generalsekretär war ins westfälische Gütersloh gekommen, um den ReinhardMohn-Preis der Bertelsmann-Stiftung in Empfang zu nehmen. Diese Veranstaltung samt dem vorausgegangenen Symposium stand deutlich sichtbar im Zeichen des Carlowitz-Jahres. Das Bedeutsame daran: Sie 54 Ulrich Grober hob in einem international zusammengesetzten Teilnehmerkreis mit Nachdruck den fundamentalen Rang des Nachhaltigkeitskonzepts hervor. Nämlich als globales »overriding concept«, also als übergeordnetes Prinzip, als »shared vision«, »geteilte Vision«, als »emerging narrative«, »aufstrebendes Narrativ« – kurz als »das neue Paradigma«. Kofi Annan hat das folgendermaßen auf den Punkt gebracht. Zitat: »Es gibt nichts Dringlicheres als das Bestreben nach nachhaltiger Entwicklung – es ist das prägende Anliegen des 21. Jahrhunderts.« Sein Satz wiegt schwer. Er rückt Prioritäten zurecht, die sich in den letzten Jahren zu verschieben drohten. In der Rede des Friedensnobelpreisträgers wurde wieder die Überzeugung spürbar: Nachhaltigkeit ist der Schlüssel zum Überleben der Menschheit. Ich empfand es als einen Befreiungsschlag. Denn in den letzten Jahren war alles auf die Krise fokussiert. Die Welt starrte in den Abgrund. In Europa und global ging es in Politik und Wirtschaft fast ausschließlich um ein möglichst schnell wirkendes und effizientes Krisenmanagement. Getrieben von der Angst vor dem Kollaps, herrschte ein Kult um die »aufstrebenden Märkte«, die Ankurbelung der Wirtschaft und die Rückkehr auf den Wachstumspfad. Mitten in der Krise verblasste das Leitbild Nachhaltigkeit. Es wurde nicht als Denkrichtung, als Paradigma wahrgenommen, das Auswege aus der Krise freimacht. Also als Navigationsgerät, als Kompass für die große Transformation. Vielmehr galt Nachhaltigkeit als eine Art angenehmer Luxus, den man sich dann wieder leistet, wenn die Krise erst mal ausgestanden ist. Gesucht wurde gleichsam nach einer Reset-Taste. Wir wollen es wieder so haben wie vorher. Wir wollen den Zustand wiederherstellen, wie er vor Beginn der Krise war. Wir wollen wieder business as usual machen. Man vergaß, dass man nicht mit denselben Strategien aus der Krise herauskommen kann, welche die Krise verursacht haben. Man vergaß das Wesen einer Krise: dass sie nämlich die Phase der Zuspitzung einer gefährlichen Entwicklung darstellt, in der diese auf einen entscheidenden Wendepunkt zusteuert. Entweder führt sie zum Kollaps des alten Zustands oder zum Durchbruch eines neuen Paradigmas. Man kurierte an Symptomen und nicht an den Ursachen der Krankheit, den nichtNachhaltigkeit – Kind der Krise, Schlüssel zum Überleben 55 nachhaltigen Mustern von Produktion, Konsum und Lebensstil. So entwickelte sich die Krise unter der Hand zu einem Dauerzustand. Doch da stand – Ende 2013 – Kofi Annan auf dem Podium und skizzierte gelassen eine Zukunftsagenda, die sich um Armutsbekämpfung, Inklusion von Frauen, Korruptionsbekämpfung und »the rule of law«, Rechtsstaatlichkeit, drehte. Und er sprach von der »green economy«. Wieder ein Stichwort, das bei mir eine Kette von Assoziationen auslöste. Was ist eigentlich eine »green economy«? Wir verstehen darunter zunächst einmal die Einführung neuer Technologien, die dabei helfen, die drängendsten Umweltprobleme zu lösen, so gleichzeitig neue Geschäftsfelder erschließen, neue Arbeitsplätze schaffen, also einen umfassenden Modernisierungsschub und damit Wachstumsimpulse auslösen. Das – auch von Kofi Annan gelobte – Paradebeispiel ist die deutsche Energiewende: Windräder statt Kohlekraftwerken. Elektroautos statt Spritschluckern. Das ist zweifellos immens wichtig. Ich verkenne keineswegs die Bedeutung angepasster Technologien. Doch ist das alles, was die »green economy« ausmacht? Lassen Sie mich mit diesem Zauberwort aus den Thinktanks der UN ein wenig spielen. »Grün« ist die Farbe der Blätter – und der Nadeln, also der Bäume. Genau genommen ist Grün die Farbe des Chlorophylls. Als Forstleute wissen Sie das besser als ich. Chlorophyll ist der Farbstoff, der von Organismen gebildet wird, die Photosynthese betreiben. Er absorbiert das Sonnenlicht und leitet es weiter zu den Zentren, in denen sich die anschließenden Stufen der Photosynthese vollziehen und die Energie für Leben, Wachstum und Fortpflanzung von pflanzlichen Organismen erzeugt und bereitgestellt wird. Und jetzt kommt mein Punkt: Eine nachhaltige »green economy« setzt auf die Potenziale der Sonne und die Kraft des Chlorophylls statt auf die Energie fossiler Brennstoffe. Sie nimmt wieder das naturale Wachstum in den Fokus statt das Wirtschaftswachstum. In den Worten Indira Gandhis, der damaligen indischen Ministerpräsidentin, auf der UN-Umweltkonferenz 1972 in Stockholm: »Der moderne Mensch muss neu lernen, sich der Energie wachsender Dinge anzuvertrauen.« Der Begriff »green economy« macht nach meinem Dafürhalten nur dann wirk56 Ulrich Grober lich Sinn, wenn er das Primat der nachwachsenden Ressourcen und erneuerbaren Energien benennt und einfordert und so den Ausblick auf eine solare Zivilisation öffnet. Bei der »green economy« geht es primär um die Naturbindung der Ökonomie. Sich der Energie wachsender Dinge anvertrauen. Was für ein großes Wort! Doch »wachsende Dinge« und »nachwachsende Ressourcen« sind immer lebendige Ressourcen, lebende Organismen, also Lebewesen. Das ist der Unterschied zu der Ökonomie, die wir in den letzten 200 Jahren betrieben haben. Diese basierte auf fossilen Brennstoffen, also auf längst abgestorbener, toter Materie. Diesen Unterschied zu verstehen ist von entscheidender Bedeutung. An dieser Stelle möchte ich noch einmal Carlowitz im O-Ton einblenden. Nehmen wir einfach mal seine »Sylvicultura oeconomica« als Handbuch der »green economy«, als Flaschenpost aus uralten Zeiten für unseren Aufbruch in die Zukunft. Das Chlorophyll kennt er noch nicht. Doch könnte es sein, dass in seinem Buch ein Wissen, eine Weisheit steckt, die uns verloren gegangen ist? Hören Sie mal auf seine Sprache: »Wie angenehm«, so schreibt er, »die grüne Farbe von denen Blättern sey, ist nicht zu sagen.« Carlowitz spricht vom Wunder der Vegetation, von der lebendig machenden Krafft der Sonnen, von dem wundernswürdigen ernährenden Lebens=Geist, den das Erdreich enthalte. Die Pflanze ist corpus animatum, belebter Cörper, welcher aus der Erde aufwächset, von selbiger seine Nahrung an sich zeucht, sich vergrößert und vermehret. Wir sprechen heute von »Biomasse«. Merken Sie den Unterschied? So ebnen wir den Unterschied zwischen »nachwachsenden« Ressourcen und toter Materie ein. Der Bäume äußerliche Gestalt steht für Carlowitz in einem Zusammenhang mit der innerlichen Form, Signatur, Constellation des Himmels, darunter sie grünen und mit der Matrix, der Mutter Erde und deren natürlicher Wirkung. Matrix ist die Gebärmutter. Wir sprechen heute vom »Standort« und von »Güteklassen«. Die Natur ist unsagbar schön. Sie ist nimmermehr zu ergründen. Sie hält den Menschen noch viele Dinge verborgen. Aber wir können im Buch der Natur lesen und im Experiment erforschen, wie die Natur spielet und dann »mit ihr agiren«. Nachhaltigkeit – Kind der Krise, Schlüssel zum Überleben 57 Mit der Natur agieren. Das ist aus meiner Sicht die übergeordnete Idee einer »green economy«, die wirklich diesen Namen verdient. Wir sprechen von dem Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit. Und in diesem Modell ist die »Ökonomie« natürlich eine tragende Struktur. Aber gemeint ist nicht die »Ökonomie«, die wir bisher betreiben, nicht die fossile Ökonomie, der Raubbaukapitalismus, die verschwenderische Konsumgesellschaft. Nachhaltigkeit ist ein ganzheitlicher Entwurf. Er verbindet die drei Dimensionen Ökologie, Ökonomie und sozialer Zusammenhalt organisch. Und zwar so eng, dass neue Muster des Produzierens und Konsumierens sichtbar und wirksam werden. Muster, die mit der Tragfähigkeit der Ökoysteme und dem Zusammenhalt der Gesellschaft kompatibel sind, also unseren ökologischen Fußabdruck und die Ungleichheit in den Gemeinwesen drastisch reduzieren. Im Prisma der Nachhaltigkeit erscheint eine andere Ökonomie. Nicht eine, die sich auf die Parole »let’s make money« reduziert. Sondern eine ressourcenleichtere, naturgebundene, sozialethisch fundierte »green economy«. III. Warum bekommt das alte Wort »Nachhaltigkeit« im globalen Vokabular des 21. Jahrhunderts einen so machtvollen Status? Um das zu verstehen, möchte ich Ihnen einen archimedischen Punkt vorschlagen: Die Fachleute nennen ihn »Peak Oil«. Gemeint ist das Fördermaximum des Erdöls. Wir haben diesen Punkt möglicherweise bereits überschritten. Voraussichtlich werden in wenigen Jahrzehnten – trotz der hektischen Suche nach »marginalen« Lagerstätten – die Ölquellen versiegen. Akut wird ebenfalls der Klimawandel als Folge des fossilen Zeitalters. Innerhalb weniger Generationen haben wir die »unterirdischen Wälder«, also die fossilen Lagerstätten, geplündert und mit ihrer Verbrennung gleichzeitig unsere Lebensgrundlage, das Klima, zerrüttet. Die fossilen Ressourcen haben uns in den letzten 200 Jahren eine ungeheuer dynamische Entwicklung ermöglicht. Sie haben immense Vorzüge. Sie lagern in der Erde. Man braucht sie nur zu »erschließen«, also aus der Erde zu holen. Wo eine Ölquelle versiegt, braucht man nur tiefer zu bohren. Oder woanders zu schürfen. Aber fossile Ressourcen haben einen entscheidenden Nachteil. Man kann sie nur einmal nutzen. 58 Ulrich Grober Sie wachsen nicht nach. Mit der Erschöpfung der fossilen Lagerstätten ist ein »business as usual« nicht mehr möglich. Unsere bisherige Art, zu produzieren und zu konsumieren, ist nicht länger fortsetzbar. Nachhaltigkeit ist jetzt nicht mehr das Sahnehäubchen auf dem Kuchen einer fossil angetriebenen Lebensweise, sondern eine Überlebensstrategie und ein neuer zivilisatorischer Entwurf. Wir haben die notwendigen geistigen Ressourcen. Wir haben die sanften Technologien. Wir haben auch eine – wenn auch immer wieder bedrohte – Sensibilisierung für die Werte von Menschenrecht und Menschenwürde. Der Zwang zu einer epochalen Wende birgt zugleich eine große Chance. Der Übergang zu genuin nachhaltigen Mustern des Produzierens und Konsumierens ist möglich. Wenn nachwachsende Rohstoffe, erneuerbare Energien und angepasste Technologien weltweit in den Mittelpunkt der Ökonomie rücken, hat das weitreichende Konsequenzen. Dann werden das Wissen über das »Nachwachsen« lebendiger Ressourcen und der Respekt vor den langfristigen Prozessen in der Natur – wiederum – zur entscheidenden geistigen Ressource. Das darauf ausgerichtete spezifische Wissen und Ethos werden in einer zukunftsfähigen Ökonomie eine Schlüsselrolle spielen. Eine neue Bedeutung bekommen nach meiner Überzeugung die Träger dieses Wissens. Diese Zweige der Lebenswissenschaften – Biologie, Agrarwissenschaft und nicht zuletzt die Forstwissenschaft – rücken ins Zentrum einer »Forschungswende«. Das nachhaltige Forstwesen, die Agrikultur, die Solarindustrie, ein »sanfter« Bergbau samt Recyclingtechnologie, auch die Bildung für nachhaltige Entwicklung werden den Kern einer neuen »green economy« bilden. IV. Ein dritter und letzter Gedankengang. Er berührt das große Mantra der aktuellen Politik: Globalisierung und Wettbewerbsfähigkeit. Diese »Erzählung« – und mehr ist es nicht – handelt von den »emerging markets«, den aufstrebenden Schwellenländern. Sie handelt andererseits von den abstiegsbedrohten Weltregionen, hier vor allem von dem vermeintlich erschöpften, überalterten und in die Bedeutungslosigkeit absinkenden »alten Europa«. Im Prisma der Nachhaltigkeitsidee betrachtet, halte Nachhaltigkeit – Kind der Krise, Schlüssel zum Überleben 59 ich dieses Narrativ für grundfalsch. Es ist »geopolitisch«, also auf Machtstrukturen, ausgerichtet und nicht auf »Erdpolitik«, also auf die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Es reduziert die Kulturen der Welt – darunter so alte wie China, Indien, Russland, Brasilien – auf ihre Fähigkeit, den Weltmarkt mit Massengütern zu überschwemmen und selber die verschwenderischen westlichen Konsummuster zu übernehmen. Und nicht zuletzt unterschätzt diese Erzählung auf fatale Weise die Potenziale Europas als Ideenspeicher und Ideengeberin. In China hat man vor einigen Monaten eine große Kampagne begonnen: die Suche nach dem »chinesischen Traum«. Was hindert uns eigentlich daran, uns auf die Umrisse eines »europäischen Traums« zu verständigen? Ich wage die Prognose, dass in einem solchen Prozess der Selbstverständigung die Idee der Nachhaltigkeit samt ihren tiefen Wurzeln im kulturellen Erbe Europas als ein wesentliches Leitmotiv hervortritt. Könnten wir nicht auf diesem Weg in einen produktiven Dialog der Kulturen der Welt – auf Augenhöhe – eintreten? Ein Beispiel für einen solchen Dialog erlebte ich bei dem besagten Symposium der Bertelsmann-Stiftung im November 2013. Dort kritisierte der indische Regierungsvertreter Arun Maira die vorherrschenden Muster des globalen Wachstums. Sie seien nicht inklusiv, nicht fair, nicht nachhaltig. Die »local people« in seinem Land verlören das Vertrauen in die Wirtschaft und die staatlichen Einrichtungen. Und dann entwarf Maira die Vision von den »four hills«, den vier Hügeln einer nachhaltigen Entwicklung: 1) Localization – also die Wiederentdeckung der Nahräume, der regionalen und lokalen Kreisläufe, der Nachbarschaften; 2) Greening – die Ökologisierung der Prozesse; 3) Learning – Bildung 4) Conscious listening – den Leuten bewusst zuhören und auf die Signale aus den sozialen Medien achten. Sollten wir nicht diese »vier Hügel« in unseren europäischen Horizont aufnehmen, um unser Nachhaltigkeitsdenken zu vitalisieren? 60 Ulrich Grober »Nachhaltigkeit ist der Schlüssel zum Überleben der Menschheit«: so der srilankische Jurist Christopher G. Weeramantry, ehemaliger Vizepräsident am Internationalen Gerichtshof. Aber es ging niemals nur um das nackte Überleben, um ein »survivalism« nach dem atavistischen Motto »Rette sich, wer kann«. Carlowitz sprach 1713 vom »Flor« des Landes, also vom »Aufblühen«, von, wenn Sie so wollen, »blühenden Landschaften«. Spinoza verfolgte das Ziel der »beatitudo«, der Glückseligkeit, heute würde man sagen, der Lebensqualität für alle. Im Januar 2014 feierte man in der großen TV-Gala zum chinesischen Neujahrsfest mit 700 Millionen Zuschauern den »chinesischen Traum«. Ein Massenchor inonierte kurz vor Mitternacht das Lied »Nach vorn, nach vorn, dem Traum des Wiederaufblühens folgen«. Die Sprache ist vielleicht für unseren Geschmack etwas zu »blumig«. Doch wenn wir bewusst hinhören, lassen sich möglicherweise Berührungspunkte für einen globalen Dialog über eine geteilte Vision von nachhaltiger Entwicklung entdecken. Eines scheint mir jedenfalls gewiss: Nachhaltigkeit ist wie Raketenwissenschaft – nur wesentlich komplexer. Glück auf! Zum Weiterlesen: Ulrich Grober, »Die Entdeckung der Nachhaltigkeit – Kulturgeschichte eines Begriffs«. Antje Kunstmann Verlag, München 2010. Erweiterte Paperback-Ausgabe 2013 Nachhaltigkeit – Kind der Krise, Schlüssel zum Überleben 61 Stefan Brunnhuber Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit Rede am Reformationstag 2013 in der St.-Georg-Kirche in Rabenstein anlässlich des 300. Geburtstags von Carl von Carlowitz Einen schönen Abend, vielen Dank für die Einladung nach Chemnitz in die St.-Georg-Kirche und vielen Dank für die Einladung der HansCarl-von-Carlowitz-Gesellschaft zum 300. Geburtstag. Mit Carl von Carlowitz beginnt, wie wir bereits gehört haben, die Geburtsstunde des Nachhaltigkeitsbegriffs vor 300 Jahren. Wir feiern dieses Jahr sozusagen den 300. Geburtstag, und ich darf Ihnen den neuen Clubof-Rome-Bericht zum Thema »Geld und Nachhaltigkeit« vorstellen. Wenn man zu diesem Thema etwas schreibt, schreibt und spricht man in eine laufende Diskussion hinein. Dabei ist man mit der Herausforderung konfrontiert, einmal Gemeinplätze zu vermeiden und zum anderen auf eine ständige Entwicklung zu reagieren. Ich möchte Ihnen im Rahmen der nächsten 60 Minuten das Thema des neuen Club-of-Rome-Berichts vorstellen. Dabei ist es nicht ganz zu vermeiden, dass ich Ihnen einige Zahlen zumuten muss. Das Thema »Geld und Nachhaltigkeit« wird hier gewissermaßen quer zum Wissenschaftsbetrieb und dessen Diskussion und auch quer zu dem, was wir in der politischen Diskussion registrieren dargestellt. Der Originaluntertitel heißt »Von einem überholten Finanzsystem zu einem monetären Ökosystem«. Ich habe für diese Veranstaltung einen anderen Untertitel gewählt, weil ich vermeiden möchte, dass die Veranstaltung einen Talkshowcharakter bekommt, in dem Sie gewissermaßen nach Hause gehen und nur das hören, was Sie sowieso schon wissen. Ich werde Ihnen folglich nichts erzählen über Exit-Strategien (ES), also über den Austritt von Volkswirtschaften oder Nationen aus dem Euro-Raum. Ich werde Ihnen auch nichts erzählen über Quantitatives Easing (QE) als einer spezifischen Form der Geldpolitik der EZB bei Nullzins, um gewissermaßen die Wirtschaft zu stimulieren. Ich werde Ihnen auch nichts er64 Stefan Brunnhuber zählen über Euro-Bonds (EB) und auch nicht über die aktuelle Stellungnahme der Bundesregierung zum Thema European Stability Mechanism (ESM). Nicht weil es dazu nicht auch eine differenzierte Meinung von Club of Rome und Europäischer Akademie der Wissenschaften gäbe, sondern weil wir in dem Bericht eine zu dieser aktuellen Diskussion quer liegende Position haben. Bevor es richtig losgeht, möchte ich Ihnen zunächst zwei Fragen stellen. Was glauben Sie, woher das meiste Geld (95 %) dieser Welt kommt? A: Zentralbanken (ECB, FED) B: Privat- und Geschäftsbanken C: Parlamenten D: Internationalen Finanzmärkten Antwort B. Zweite Frage. Was war wohl die Ursache der Finanzkrise 2008? A: Staatsschuldenkrise B: Immobilienblase C: Rating-Agenturen D: Bankenkrise E: Marktversagen F: keines von A-E Antwort E: Ein System, das in sich instabil ist, kann durch unterschiedliche Seiten zum Einsturz gebracht werden, wie ein Kartenhaus. Aber dazu gleich mehr. In der folgenden Abbildung sehen Sie eine kurze Formel. Nach. Dem. Tech. Wert. Instit. N= DxTxWxI Wenn wir über Nachhaltigkeit sprechen, können wir in einer ersten Näherung die Definition von Brundtland verwenden. Das N steht hier Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit 65 für Nachhaltigkeit, und im Brundtland-Report steht: »Nachhaltigkeit ist eine Entwicklung, die aktuelle Bedürfnisse befriedigt und dabei zukünftige Generationen nicht einschränkt.« Es gibt eine umfangreiche Diskussion darüber, ob die Definition selbst sinnvoll ist oder nicht. Carl von Carlowitz hat es genannt: »… wenn nicht eine Gleichheit von Zuwachs und Nutzen erfolgt, dann entsteht Schaden.« Wenn Sie nun Nachhaltigkeit zu einem zentralen Begriff in Ihrer persönlichen oder auch gesellschaftlichen Weiterentwicklung betrachten, dann werden Sie früher oder später auf vier Faktoren treffen, die in unterschiedlichen Modellierungen in der wissenschaftlichen und parteipolitischen Diskussion eine Rolle spielen. Der erste wichtige Faktor steht für »D«, das heißt Demografie. Das war, historisch betrachtet, die Diskussion der 70er- und 80er-Jahre (Malthusianer), bei der es vor allem um den Zusammenhang von exponentieller Bevölkerungsentwicklung und Ressourcenverbrauch ging. Dabei spielt eine aktive Bevölkerungspolitik (Immigration, Alterung, demografischer Faktor und soziale Absicherung) eine wichtige Rolle. Aber es geht in diesem Ansatz auch um Fragen der Bildung für die weibliche Bevölkerung und etwa um Fragen der Empfängnisverhütung. All das sind Betrachtungen, die darauf abzielen, dass der entscheidende Faktor für eine nachhaltige Gesamtentwicklung letztlich in der demografischen Entwicklung liegt. In der Folge wurde dieser wichtige Punkt schwerpunktmäßig durch eine zweite Variable abgelöst, und jene steht für die Abkürzung »T«, das heißt die Technologie-Variable. Das war die Diskussion vor allem der 80er-und 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts, die bis heute andauert: Dabei geht es weniger um die Frage, wie viel Menschen leben in einer Gesellschaft oder auf unserem Planeten, sondern viel wichtiger ist, welche Technologie diese Gesellschaft verwendet? Wie sparen wir ein? Wie effizient sind wir, wie verändern wir unsere Energiebasis? Wir Deutschen sind stark, wenn es um diese Frage geht, weil es eine ingenieurwissenschaftliche Frage ist. Ernst Ulrich von Weizsäcker hat in »Faktor 4« mit vielen anderen Forschern wichtige Impulse für diese Schwerpunktsetzung geleistet. Bei der Steigerung von Effizienz und Entkopplung von der Ressourcenbasis geht es vor allem um die eingesetzte Technologie. 66 Stefan Brunnhuber Gleichzeitig ist in den letzten 15 bis 20 Jahren deutlich geworden, dass alle Technologien und Erneuerungen in diesem Bereich mit ReboundEffekten versehen sind: Passivhäuser, IT, E-Mails, Nullemissionsautos gehören eben nicht automatisch zu den nachhaltigen Technologien. Sie lösen entweder eine Forward-Rebound aus, in dem die jeweilige Technologie überproportional genutzt wird und dann im Nettoeffekt eine höhere Belastung für das System entsteht. Oder aber es entstehen andere Rebound-Effekte: additive Effekte beim Hausbau, materieller Rebound bei Seltenen Erden, räumliche oder zeitliche Verlagerungen, IT-Schrott und vieles mehr. Auch wenn es bei einzelnen Produkten zu einer relativen Entkoppelung von Technologie und Resourcenverbrauch kommt, wird es durch den Mengeneffekt wieder neutralisiert. Und selbst eine absolute Entkoppelung hat das Problem der Entsorgung noch nicht gelöst. Sie sehen, ein komplexes Thema, für das es keine eindimensionalen Lösungen gibt. Um die Jahrtausendwende gab es einen weiteren wichtigen Beitrag, der mit der Abkürzung »W« beschrieben ist, und W steht für »Werte«. Auch hierzu gibt es eine umfangreiche empirisch robuste Datenlage, die sich mit der Frage beschäftigt, was eigentlich im Kopf der Menschen passiert. Welche Bedürfnisse, Wünsche haben Menschen? Und ändert sich das? Was man empirisch feststellen kann, ist, dass Menschen auf globaler Ebene einen Bewusstseinswandel durchlaufen. Solche Veränderungen im »Bewusstseinsschwerpunkt« jedes Einzelnen werden sichtbar, wenn nicht mehr materielle und grobstoffliche Güter, ständige Wachstumsphantasien und Karriere, sondern qualitative Werte wichtiger werden. So hat die Generation Y beispielsweise einen anderen Wertekanon. Dabei geht es um Spiritualität, Nachhaltigkeit, Öko-Food, Work-LifeBalance, also um eine andere Wertestruktur. Faktor »W« ist unbestreitbar zentral für jede nachhaltige Entwicklung. Die Herausforderung liegt jedoch darin, dass, wenn wir alle Vegetarier wären und den ganzen Tag über meditieren würden, dann dieser Lebensstil auf die Grenzen der vierten Variable treffen würde: »I«, und jene steht für »Institutionen«. Gemeint ist damit, wie wir unser Gemeinwesen organisieren oder regeln. »I« steht, wie man im Englischen sagt, für die Governance-StrukDer neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit 67 tur einer Gesellschaft, also die Anreizstrukturen, über die hinweg wir Wohlfahrts- und Verteilungseffekte organisieren, unser Staatswesen verwalten. Beispielsweise macht es eben einen riesigen Unterschied, ob wir Nachhaltigkeitsfragen über eine Planwirtschaft, einen freien Markt, den dritten Sektor oder über ein demokratisches Mandat zu organisieren versuchen. Die Forschung der letzten 15 Jahre hat gezeigt, dass diese Variable »I« mit die entscheidende Variable ist, die alle drei anderen übersteuert. Und was ich Ihnen im Folgen zeigen will, ist, dass nämlich eine, wenn Sie so wollen, Untervariable von I, nämlich das Geld- und Finanzsystem, alles andere mehr oder weniger übersteuert. Das ist ein Grund, weshalb Dennis Meadows, der 1972 den Bericht verfasst hat, der hier im Vortrag auch erwähnt wird (»Grenzen des Wachstums«) im Vorwort zu unserem Buch schreibt: »Seit 40 Jahren beschäftige ich mich mit Nachhaltigkeit. Ich hatte eigentlich nie über das Finanzsystem nachgedacht, und ich habe es als selbstverständlich und neutral für alle menschlichen Gesellschaften angesehen. Aber jetzt verstehe ich es besser, unser vorherrschendes Finanzsystem ist mit einer nachhaltigen Entwicklung unverträglich.« Aber nun zu unserem Thema. Im Folgenden darf ich Ihnen zunächst einige Zahlen zumuten. Instabilität der Finanzmärkte historisch (1970–2010): 145 Banken-, 208 Währungs- und 72 Staatsschuldenkrisen Number of systemic crises, with distinctions between the three types: sovereign-debt, monetary and banking crises (1970-2010). IMF, WB DATA 68 Stefan Brunnhuber Seit 1950 gab es 186 Schuldenkrisen, 96 Staatsbankenkrisen, 180 Austritte aus Währungsunionen. Wenn Sie sich die letzten 40 Jahre genauer ansehen, können Sie 425 Banken- und Währungskrisen aufaddieren; das macht global die letzten 40 Jahre mehr als zehn Ereignisse im Jahr. Das heißt, die 2008er-Krise war keine Ausnahme, sondern eigentlich der Normalfall. Die Ausnahme war nur, dass diesmal erstmals drei Viertel aller IWF-Mitglieder betroffen waren und die finanzkapitalintensiveren Volkswirtschaften stärker betroffen waren als die Peripherie. Währungsmarkt und Derivatmarkt – global Instabilität: Währungsmarkt: $4 Trill/d Derivative: $100 Trill in 2000 auf $600 Trill in 2010 (IMF) Die Grafik oben zeigt Ihnen im historischen Verlauf (1980–2013) – rot gezeichnet und gemessen in Billionen US $ – die Entwicklung des Währungsmarktes. Der Währungsmarkt ist der größte Einzelmarkt. Auf einem Währungsmarkt werden Währungen gehandelt. Also US-$, Renminbi, Euro und alle möglichen Währungen. Und am Währungsmarkt werden am Tag vier Trillionen US-$ umgesetzt. Jeden Tag. Warum zeige ich Ihnen diese Grafik? Eigentlich nicht wegen dieser roten Linie des Währungsmarktes, sondern wegen der grünen, die darunter liegt. Sie brauchen für die Umsetzung realer Dienstleistungs- und Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit 69 Gütertransfers auf der Welt, wo immer Sie irgendetwas hinschicken, nur ungefähr zwei Prozent von dem, was auf den Währungsmärkten gehandelt wird, das heißt 98 Prozent dabei sind spekulativ. Die zweite Zahl, die Sie hier sehen, ist die Entwicklung des Derivatehandels. Im Jahr 2000 lag der Derivatehandel bei ca. 100 Trillionen; er ist mittlerweile auf über 600 Trillionen gestiegen. Sie gilt als Anhaltspunkt: Wir erwirtschaften auf der Welt jedes Jahr ungefähr ein globales Bruttosozialprodukt von 50 bis 60 Trillionen US-$-Äquivalenten. Allein auf dem Derivatmarkt wird das 12- bis 15-Fache umgesetzt. Ist das alles Zufall, Ausdruck einer spezifischen nationalen Wirtschaftspolitik, ist es zyklisch, indem wir uns einfach darauf einstellen, dass solche Krisen kommen und gehen, gleichsam schicksalhaft und endogen? Oder ist es systemisch? Das heißt: Hat es etwas zu tun mit dem Design unseres Geldsystems? Wenn Sie heute mit dem Auto hierher gefahren sind, würden Sie wahrscheinlich, wenn Ihr Auto zehnmal im Jahr einen Motorschaden hätte, wie unser Geldsystem weltweit, vielleicht zu dem Schluss kommen, dass das nicht an Ihnen liegt, am Fahrer, sondern am Design des Autos. Kosten und Auswirkungen von Finanzkrisen ••!! Output-Verluste Output-Ve erluste ••!! Transferkosten Tr Transferkosten ••!! Indirekte Indirekte Kosten Kosten ---------------25 % GDP •!!Pe Pensionslücke •Pe nsionslücke ((prä-post) prä-post) 13 26 3%–2 6% 1 Gorton 2012, Liikainen-report 12/2012, BIS 2012, Stern 2008, OECD 2012, ILO 2012, GFC 2013 Das ist übrigens alles nicht billig (siehe Abbildung oben). Bis vor einigen Jahren konnte man das nicht so richtig messen, mittlerweile kann man die einzelnen Faktoren auch auseinanderhalten, und die empirische Da70 Stefan Brunnhuber tenlage ist robuster. Wir wissen heute, dass Finanzkrisen für eine Volkswirtschaft extrem teuer sind. Und vor allem an vier Stellen wird das sichtbar. Der erste Kostenfaktor nennt man einen Output-Loss, das heißt, welche Auswirkungen hat diese Finanzkrise auf den Nichtfinanzsektor? Dabei sind ungefähr zehn bis 15 Prozent des Sozialprodukts betroffen. Der zweite Kostenfaktor, den Sie hier gut auseinanderhalten können, beantwortet die Frage der Transferkosten. Also, es passiert eine Banken- oder Währungskrise, und die Frage ist jetzt, wer zahlt das dann? Und ich kann Ihnen sagen, in den letzten 300 Jahren war es immer eine Bevölkerungsgruppe, die das gezahlt hat. Es war immer der Steuerzahler, früher oder später. Das können Sie zurückverfolgen bis zur Tulpenkrise in Holland 1650. Der dritte Kostenfaktor, mit dem eine Volkswirtschaft zu rechnen hat, wenn es zu einer Banken- und Währungskrise kommt, sind indirekte Kosten. Dieser Faktor wird in der Regel in den Medien, im Wissenschaftsbetrieb, auch in der parteipolitischen Diskussion mit der Krise assoziiert, weil jene nicht innerhalb von einigen Monaten – postcrisis – passieren, sondern im Nachgang, vielleicht vier bis sechs Jahre später. Auch das können Sie messen z. B. an der Zunahme an Armut, Arbeitslosigkeit, Zunahme der Gesundheitskosten etc. Weltweit gab es etwa eine Zunahme von Armut um 76 Millionen im Vergleich zur Situation vor der Krise. Wenn man die Zunahme an Arbeitslosen, die Auswirkungen einer Finanzkrise auf die sozialen Sicherungssysteme und die Kosten für Gesundheitssysteme zusammennimmt, kommt man schnell auf eine zusätzliche Belastung von bis zu zwei Prozent des Sozialproduktes über mehrere Jahre hinweg. Da sind dann nicht mitgerechnet die Auswirkungen auf die Pensionslücke, die den Unterschied zwischen den anstehenden Verbindlichkeiten und dem faktischen Wert dieses Assets beschreibt. Die letzte Krise hat diese Lücke doppelt so groß werden lassen. Diese Diskrepanz betrifft vor allem Länder wie Deutschland oder auch Frankreich am stärksten, weil sie dort Pensionsansprüche haben, die von einem hohen Pre-retirement-Einkommen ausgehen. Nun sind wir jetzt 2013 – sozusagen 300 Jahre nach dem Buch von Carlowitz – in der eigenartigen Situation, dass mit ganz großer WahrDer neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit 71 scheinlichkeit innerhalb dieser Dekade mit zwei weiteren Ereignissen zu rechnen ist. Und zwar unabhängig davon, welches Parteibuch Sie haben, und auch unabhängig davon, was Sie studieren, und auch unabhängig davon, wie alt Sie sind. Das erste Ereignis ist die Transformation unserer Gesellschaft hin zu einem nicht-fossilen Energieträger. In Deutschland steht dies unter dem Stichwort »Energiewende«. Wir wissen heute, dass die Prävention der Kosten einer Energiewende ungefähr ein Prozent des Sozialproduktes ausmacht, das heißt, wenn wir uns entscheiden, unsere Gesellschaft auf regenerative Energien umzustellen, kostet es uns ein Prozent. Wenn wir warten, bis die ganzen Kosten dann aufgelaufen sind, kostet es ungefähr zehnmal so viel. Das zweite Ereignis, das in den nächsten zehn Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit auf uns alle zukommt, ist von ganz anderer Qualität, nämlich die Pensionseingänge der Babyboomer. In den USA gehen jeden Tag etwa 10.000 Menschen in Pension. Was haben wir bisher alles gemacht, um diese Entwicklungen aufzufangen und zu kompensieren? Das Thema des heutigen Abends: Wir wollen nicht über Demografie, nicht über Technologie und nicht über Wertewandel reden. Wir wollen heute über »Geld und Nachhaltigkeit« reden. Und Sie werden, je nachdem, aus welchem Land Sie kommen, welcher Partei Sie zugehören, im Wesentlichen einen Mix aus vier Variablen wiederfinden, wenn es um konkrete Lösungen geht. Konventionelle Lösungen: Eine Liste mit eingeschränktem Erfolg onus, T Regulation: B ff-Sheet, O ff-Shore, Basel III Regulation: Bonus, Tobin-Steuer, obin-Steuer, O Off-Sheet, Off-Shore, PP) rivate-Public-Partnership (P Privatisierungen: P Privatisierungen: Private-Public-Partnership (PPP) euererhöhungen udgetkürzungen, St Austeritätsprogramme: B Austeritätsprogramme: Budgetkürzungen, Steuererhöhungen DP iin nG -2 0 rozent G imulus: 2 P Keynes´ St Keynes´ Stimulus: Prozent GDP G-20 eniger N achhaltigkeit hulden, w ehr G eld, m ehr Sc ettoeffekt: m N Nettoeffekt: mehr Geld, mehr Schulden, weniger Nachhaltigkeit IMF 2012, Sinn 2012, WB 2012, Koo 2013 72 Stefan Brunnhuber Die erste ist, dass wir angefangen haben, auf europäischer Ebene oder auch auf der Ebene der Bundesregierung die Systeme stärker zu regulieren. Es gibt eine umfangreiche Diskussion der Bankenregulierung, der Einführung von Bonusprogrammen, der Regulierung über eine sogenannte Transaktionssteuer, die jetzt auch im Koalitionsvertrag stehen soll, und vieles mehr. Die vorläufig letzte Maßnahme in diesem Zusammenhang ist die Einführung einer Euro-Derivat-Clearingstelle. Der zweite Bereich betrifft die Privatisierung. Die Franzosen haben ihr Autobahnsystem privatisiert, die Italiener über 10.000 öffentliche Grundstücke, in der Regel über sogenannte Private-Public-Partnership(PPP-)Programme; die Griechen haben ihren Hafen an die Chinesen verkauft usw. Diese PPP-Programme, die Sie vielleicht auch aus Sachsen kennen, sind zunächst mal ein toller technischer Begriff: Dahinter steckt natürlich, dass der Steuerzahler immer zweimal zahlen muss. Einmal, wenn er beispielsweise als französischer Steuerzahler die Steuer bereithält, damit die Autobahn gebaut wird, und dann ein zweites Mal, wenn er sie dann privatisiert bekommen hat und dann eine Gebühr bezahlt, um sie zu benutzen. Der dritte Aspekt betrifft die Austeritätsprogramme, in der Regel eine Kombination aus Steuererhöhungen und Abgabenkürzungen. Am stärksten hat das in den letzten Jahren die mediterranen Länder getroffen, vorrangig Griechenland. Die Griechen müssen teilweise mit einem verfügbaren Einkommen auskommen, das bis zu 42 Prozent unterhalb von dem liegt, was sie vor der Krise hatten. Die letzte Maßnahme ist das, was die Ökonomen Quantitative Easing nennen, das heißt, es wird zusätzliches Geld zur Verfügung gestellt, um eine deflationäre Depression zu verhindern. Der Nettoeffekt bisher war, dass mehr Geld im System war, immer noch mehr Schulden entstanden sind, weniger Wohlfahrts- und Nachhaltigkeitseffekte entstanden sind. Und warum? Das sehen Sie in der nächsten Grafik. Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit 73 Liquiditätsfalle IMF 2012, Sinn 2012, WB 2012, Koo 2013 Hier sehen Sie eine Zeitreihe der letzten Jahre – relativ und saisonbereinigt, bezogen auf das Jahr 2009. Die Zahlenreihe zeigt Ihnen, wie viel die Zentralbanken in Europa, in Großbritannien und in den USA an zusätzlichem Geld (Quantitative Easing) geschaffen haben, um es der Wirtschaft zur Verfügung zu stellen. In Europa um den Faktor 1,5, in den anderen Regionen um den Faktor 3,0 bzw. 4,5. Das heißt über viermal so viel wie vor der Krise. Das bedeutet es, wenn Sie in den Nachrichten lesen, die Zentralbanken stellen viel Geld, viel Liquidität zur Verfügung. Jetzt kommt der zweite Teil der Grafik. Der zeigt Ihnen, wie viel die Geschäftsbanken der Realwirtschaft von diesem Geld wirklich als Kredite zur Verfügung gestellt haben. Wie Sie sehen, ist der Wert mehr oder weniger null im Vergleich zur Ausgangssituation. Man nennt das in der Ökonomie eine Liquiditätsfalle. Auf der einen Seite wird viel Geld, viel Liquidität zur Verfügung gestellt, auf der anderen Seite steht es in der Realwirtschaft für notwendige Investitionen und für nötige Aufbaumaßnahmen gar nicht zur Verfügung. 74 Stefan Brunnhuber Schuldenfalle Kumulative Zunahme der Öffentlichen Verschuldung über drei Jahre nach einer Krise Rogoff & Reinhardt 2011 Das hat etwas mit der obigen Grafik zu tun. Wir können davon ausgehen, dass über einen Zeitraum von drei Jahren die öffentliche Verschuldung um ungefähr 80 Prozent steigt (post-crisis). Manche Länder weniger, manche Länder mehr, das sind historische Zahlen aus den letzten zehn Jahren. Und das Interessante ist, dass bei einem Schuldenstand von ungefähr 90 Prozent zum BSP es zu Auswirkungen auf das Wachstum einer Volkswirtschaft kommt. Immer dann, wenn also das Geld- und Finanzsystem für eine Gesellschaft für eine Nachhaltigkeitsentwicklung irgendwie relevant wird, immer dann, wenn sich in den letzten 300 Jahren Krisen ereignet haben, haben Wissenschaftler, Vertreter der Presse oder auch Vertreter der Politik versucht, eine Geschichte zu erzählen, wer schuld ist und wer sozusagen die Verantwortung trägt. Es ist immer ein spezifisches Narrativ, von den Tulpenzwiebelspekulationen 1650 bis zur letzten Krise 2008 geht’s immer im Nachhinein – ex post – darum, wer schuld ist. Im Augenblick stehen die Banker ganz oben auf der Liste dieses Narrativs. Wir haben aber vorhin gesagt, wir gehen nicht diesen Weg. Uns interessiert weniger die Frage, ob diese Entwicklung links oder rechts der Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit 75 politischen Mitte ausfällt. Uns interessiert weniger die Frage einer isolierten Expertenmeinung, auch nicht, ob das jetzt einem neoliberalen oder einem sozialdemokratischen Argument folgt. Uns interessiert auch nicht, welche konkrete wirtschaftspolitische Maßnahme eine Rolle gespielt hat, sondern uns interessiert das Thema »Geld und Nachhaltigkeit« unter einem systemtheoretischen Zusammenhang. Der gemeinsame Attraktor Einkommensdisparität Einkommensdisparität Immo Immobilienmarkt bilienmarkt Wachstumszwang Wa chstumszwang fehlende Quelle Financial Financial iinnovations nnovations ((ABS) ABS) Insider-Trading Ins ider-T Trading Collateral Collateral Debth Obligations CDO) Obligations ((CDO) Credit Default Default Sw a ps Swaps ((CDS) CDS) Staatsschuldenkrise Staatsschuldenkrise Geldsystem O ff-Sheet Off-Sheet Chines. Merkantilismus Leverage L everage bei ui ti e s Private Equities Pr ivate Eq Bonusprogramme Bonusprogramme OffShore Off-Shore US-Doppel-Defizit U S-Doppel-Defizit Rating-Agenturen Kurzzeitbetrachtung Ku rzzeitbetrachtung Rating-Agenturen Pr ozyklische IInterventionen ntervventionen Prozyklische FED/ECB von FED /ECB Ba sel III Basel Wissen Sie, was das ist? (Gezeigt wird ein Trichter.) Für einen Systemtheoretiker ist das ein Attraktor. Die Ingenieurwissenschaftler wissen das, die Physiker ohnehin: Ein Attraktor ist eine Variable, bei der nahezu alle Parameter eines Systems früher oder später auf diesen Punkt zulaufen. Es ist auch völlig egal, ob es dafür einen kausalen Zusammenhang gibt oder nur eine statistische Korrelation oder eine zeitliche Koinzidenz. Attraktoren übersteuern in einem System jede andere Dynamik. Und wenn Sie sich dieses Bild ansehen, dann sehen Sie, dass es zu allen einzelnen Faktoren eine umfangreiche Studienlage und Medienpräsenz gibt. Von Wachstumszwang und Staatsschuldenkrise über das Bonusprogramm oder Basel III oder über Off-Shore-Regulierungen und chinesischem Merkantilismus etc. Und all diese Stellungnahmen sind natürlich nicht falsch. Aber sie laufen alle früher oder später auf diesen einen Attraktor zu, nämlich auf unser Geldsystem. Aber das beschreibt leider noch nicht die ganze Tragweite des Geldattraktors. 76 Stefan Brunnhuber Die Nichtneutralitätsfalle Prozyklisch: rains pours urs ins it po rozyklisch: When it ra 1.!! P 2.!! K Kurzzeitbetrachtung: future discounted 2. urzzeitbetrachtung: Why the fu ture is d iscounted rate 3.!! W Wachstumszwang: 3. achstumszwang: On debt and compound compound interest interest rate verrsus super ich 4.!! W Wohlstandskonzentration: Poor 4. ohlstandskonzentration: Po or versus super rrich ior ove rpowers cooperation cooperation 5.!! N Negatives Sozialkapital: Competitive behavior overpowers 5. egatives So zialkapital: Co mpetitive behav Denn selbst wenn wir keine Finanzkrise gehabt hätten, würden wir jedes Mal, wenn wir einen Euro, einen Dollar oder einen Renminbi oder irgendeine andere Währung in die Hand nehmen, um irgendeine Transaktion durchzuführen, eine nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft konterkarieren. Und das hat etwas mit dem Design des Geldsystems zu tun. Es hat primär nichts mit der Wirtschaftspolitik und nichts mit isolierten Expertenmeinungen links oder rechts der Mitte zu tun. Es ist die Dynamik in der Mitte des Attraktors, die darüber entscheidet, wie wir unsere komplette Realwirtschaft, vom internationalen Handeln bis zur Regionalwirtschaft, unser nationales Bildungssystem, von Kindergärten bis zum Max-Plank-Institut, von Hochtechnologie bis Handwerk, von Forstwirtschaft bis zur Rohstoffextraktion, vom Flug auf den Mars bis hin zur Nachbarschaftshilfe, über ein Geldsystem organisieren, welches einmal einen Zins trägt, von einer Zentralbank monopolistisch herausgegeben wird, spekulativ ist, welches einem Knappheitskriterium folgt und dabei über einen Kreditschöpfungsmechanismus der Geschäftsbanken (entlang der Eigenkapitalvorschriften nach Basel III) herausgegeben wird, ständig Schulden generiert und schließlich auf einem Glaubenssystem basiert. Für ein solches Geldsystem haben wir uns entschieden. 1667, wenn Sie es genau wissen wollen, war nämlich der Zeitpunkt der Einführung des europäischen Bankensystems. Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit 77 Es gibt eine umfangreiche, recht robuste empirische Datenlage, die wir auch im Bericht erwähnen, sowie eine historische und theoretische Evidenz, dass dieses System, über das wir unsere komplette Gesellschaft – mehr oder weniger – organisieren, an mindestens fünf Stellen menschliches Verhalten zuungunsten der Nachhaltigkeit fehlsteuert: Das Erste ist, dass dieses Geldsystem immer eine prozyklische Tendenz hat. Das heißt, in der Kreditvergabe wie auch in der Geldschöpfung werden die gegenwärtigen realökonomischen Zyklen immer verstärkt (»When it rains it pours«). Das Zweite ist, dass dieses Geldsystem immer eine Kurzzeitbetrachtung favorisiert. Wenn man die 500 Vorstandsvorsitzenden der wichtigsten Weltkonzern fragt, wie ihr Zeithorizont im privaten Bereich ist, dann werden Ihnen fast alle sagen, 25 bis 30 Jahre. Denn dabei werden im Wesentlichen die Ausbildung der nächsten Generation sowie die eigene Pensionen integriert. Wenn Sie die gleiche Frage stellen und dann sagen, wie ist der Zeithorizont im Unternehmen, werden Ihnen alle 500 Vorstände sagen: 30 Tage. Das hat viele Gründe, aber eine liegt auch im Finanzsystem. Das hat etwas zu tun mit dem sogenannten Discounted cash flow. Die Zukunft wird über den Zins zur Gegenwart hin ständig abdiskontiert, und diesen Effekt kennen Sie auch aus der Forstwirtschaft. Das führt zu einer Myopie, eben zu einer Kurzzeitbetrachtung von Entscheidungen. Ich erwähne dies deshalb, weil es historische Gesellschaften gab, die hatten keinen positiven Zins zum Abdiskontieren der Zukunft, sondern das Gegenteil. Dann würde sich nämlich das komplette Investitionsverhalten verändern. Der dritte Punkt ist, dass unser Geldsystem eine Auswirkung auf die Wachstumsdynamik hat. Die Ingenieurwissenschaftler und die Biologen unter Ihnen wissen, dass jedes System nur dann nachhaltig ist, wenn es früher oder später eine Wachstumsdynamik hat, die s-förmig ist. Unser Geldsystem hat mit dem Zinseszinsmechanismus eine exponentielle oder hyperexponentielle Variable eingebaut, die nie nachhaltig ist. Das ist ein Grund – es gibt verschiedene –, weshalb wir in allen OECD-Ländern höhere öffentliche Zinslasten haben, als wir Geld fürs 78 Stefan Brunnhuber Gesundheitssystem ausgeben. Das ist ein Grund, weshalb die Kapitalflüsse vom Süden an den Norden ungefähr 150 Billionen US-$ im Jahr höher liegen als die Transferzahlungen der Hilfeleistungen vom Norden an den Süden – was in wesentlichen Teilen den Wachstumszwang von Volkswirtschaften auf Kosten von Sozial- und Umweltstandards erklärt. Der vierte Bereich, weshalb unser Geldsystem nicht neutral ist, liegt an der Unterstützung einer zunehmenden Einkommensdisparität. Sie kennen die Diskussion vielleicht aus Ihrem Umfeld. Die Reichen werden immer reicher, die Mittelschicht immer dünner, und die Armen werden immer ärmer. Diese Unterschiede in der Vermögens- und Einkommenszusammensetzung haben viele Gründe, und die kann man auch sozialwissenschaftlich untersuchen. Dabei spielen die Wirtschafts- und Steuerpolitik, Globalisierungseffekte, Ausbildungsstand usw. eine wichtige Rolle. Aber ein Punkt liegt auch im Finanzsystem. Jedes Mal, wenn es eine Staatsschuldenkrise gibt und sich die Staaten zusätzlich verschulden müssen, tun sie das natürlich bei privaten Menschen, die vermögend sind, und verstärken damit die Einkommensschere. Auch dafür gibt es einige empirische Zahlen, die diesen Zusammenhang nicht nur theoretisch stützen. Der letzte Punkt, weshalb unser Geldsystem nicht nachhaltig ist im Hinblick auf menschliches Verhalten, hat mit dem zu tun, was Sozialwissenschaftler Sozialkapital nennen. Die Frage, die hinter dieser Diskussion steht, ist: Was hält eine Gesellschaft zusammen? Es ist die zentrale Frage all der Forscher und Menschen, die sich mit dem Thema Sozialkapital beschäftigen. Und zwei Forscher, F. Fukuyama und F. Putnam, haben das im Besonderen für Märkte und Demokratien gezeigt. Gesellschaften funktionieren nicht dann am besten, wenn ihre Mitglieder die gleiche Religion haben, die gleiche Sprache sprechen oder nahe beieinander leben, sondern wenn in der Gesellschaft die Vertrauens-, Verantwortungs- und Solidaritätsquotienten hoch sind. Gesellschaften, die dies ausbilden können, sind Gesellschaften, die relativ stabil sind. Warum ist die Diskussion für unsere Fragestellung wichtig? Weil unser Geldsystem genau das Gegenteil tut. Unser Geldsystem favorisiert Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit 79 nicht Vertrauen, Solidarität, Verantwortung, sondern Angst und Gier und Wettbewerbsverhalten. Es gibt erstrangige Publikationen, die Ihnen zeigen können, dass immer dann, wenn Menschen anfangen, sich mit Geld zu beschäftigen, Hirnregionen aktiv werden, die dem eines Patienten, der schwer suchtkrank ist oder schwere Ängste hat, ähneln. Geld ist also kein neutraler Schleier, der sich einfach über die Realwirtschaft legt, und wir machen dann in der Realwirtschaft irgendetwas. Unser Geldsystem produziert nicht nur ständig eine Liquiditätsfalle, nicht nur eine Schuldenfalle, sondern auch eine Neutralitätsfalle: Also jedes Mal, wenn wir einen Euro in die Hand nehmen, werden nichtnachhaltige Prozesse unterstützt. Das heißt, die Idee, dass wir unsere komplette Realwirtschaft, unser komplettes gesellschaftliches Handeln durch ein Geldsystem organisieren, ist nicht nur, wenn Sie so wollen, unvorteilhaft für das Geldsystem selbst, weil es instabil ist, nicht nur unvorteilhaft für die Gesellschaft, weil es extrem teuer ist, sondern auch noch unvorteilhaft, weil es nicht nachhaltig ist. Also, wenn wir uns für ein Design entschieden haben, das Wachstumszwang, Kurzfristigkeit, Einkommensdisparität, reduziertes Sozialkapital produziert, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn das dann auch am Ende heraus kommt. Wir haben vonseiten der Autorenschaft Wert darauf gelegt, dass wir nicht parteipolitisch Stellung beziehen, sondern dass uns eine systemische Betrachtung wichtig ist und dass wir uns dabei auf die Ergebnisse aus der Systemtheorie beziehen wollen. Auf dem Bild (siehe S. 81) sehen Sie auf der linken Seite den Panamakanal und unten eine Monokultur der Holzwirtschaft. Und auf Ihrer rechten Seite sehen Sie oben das Hindu-Delta und unten den Regenwald. Die Frage, die einen Systemtheoretiker interessiert, ist, warum halten manche Systeme nicht nur zehn oder 15 Jahre, sondern Millionen Jahre. Die auf der rechten Seite des Bildes verhalten sich in diesem Sinne nachhaltig, und die Frage ist: Warum ist das so? Was sind die Parameter, und kann man diese Diskussion gewissermaßen für unsere Fragestellung, nämlich für die Fragestellung »Geld und Nachhaltigkeit«, nutzen. Das hat uns an der Stelle des Berichts interessiert. Das Interessante ist, dass es letztlich nur zwei 80 Stefan Brunnhuber Monokultur versus Ökosystem fehlende Quelle Variablen sind, die ein System nachhaltiger gestalten lassen. Das gilt für das Immunsystem, für biologische Systeme, für das Stromnetz und letztlich auch für das Finanzsystem. Und in der folgenden Abbildung (siehe Folgeseite) sehen Sie eine hochaggregierte Grafik, die den Zusammenhang der beiden Variablen deutlich macht. Einmal das Ausmaß an Effizienz in einem System. Effizienz beschreibt dabei den Durchfluss oder den Through-put pro Zeit. Und der zweite Parameter ist das Ausmaß an Resilienz eines Systems. Der Begriff »Resilienz« kommt aus der Materialsystemforschung und beschreibt die Fähigkeit eines Systems, auf einen äußeren Schock zu reagieren. Und Resilienz wird hier gemessen im Umfang des Vernetzungsgrads. Und was man empirisch findet, ist, dass das Ausmaß an Nachhaltigkeit aus einer richtigen Balance zwischen Effizienz und Resilienz entsteht, und zwar bei allen Systemen. Diejenigen, die in der Stromwirtschaft tätig sind oder bei der Flugsicherung, können das bestätigen, diejenigen unter Ihnen, die Biologen sind oder mit dem Immunsystem sich beschäftigen, auch und diejenigen, die in der Landwirtschaft tätig sind, sowieso. Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit 81 Effizienz und Resilienz in Systemen fehlende Quelle So sind Monokulturen beispielsweise extrem effizient, aber eben instabil. Das Gegenteil einer Monokultur wäre völlige Vernetzung von allem und jedem. Während das System an der Stelle nicht nachhaltig ist, weil es sozusagen instabil wird, ist das System an der anderen Stelle ebenfalls nicht nachhaltig, weil es sozusagen abstirbt. Und die richtige Balance zwischen diesen beiden Extremen findet an diesem »Window of Viability«, diesem Fenster der Nachhaltigkeit, statt. Und immer dann, wenn ein System beispielsweise auf zu hohe Effizienz getrimmt wird, wie wir es in der Forstwirtschaft bei den Monokulturen kennen, geht es früher oder später in den Kollaps über, und es kommt dann wieder zu erneuten recovery. Nun kann man sich fragen, ob man das auch auf unser Geldsystem übertragen kann. Das kann man natürlich, denn für unser Geldsystem gilt die gleiche Systemdynamik wie beim Immunsystem oder bei biologischen Systemen oder bei der Flugsicherung. Unser System, wie etwa am Beispiel der Derivate und des Währungssystems gezeigt, ist extrem effizient. Und all die Maßnahmen, die wir in den Medien hören, die wir in der Politik diskutieren und die wir wahrscheinlich auch im Koalitionsvertrag in Deutschland niedergeschrieben bekommen, bewegen sich 82 Stefan Brunnhuber Effizienz und Resilienz im Finanzsystem fehlende Quelle auf dieser Ebene, indem die Effizienz des Systems erhöht wird, weil wir all unsere wirtschaftlichen Aktivitäten durch eine Monokultur organisieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses System nicht hält, was es verspricht, ist – wenn nun die Systemtheorie richtig ist – fast 100 Prozent. Die Natur selektioniert eben nicht nach einem Maximum an Effizienz, sondern einem Maximum an Balance zwischen Resilienz und Effizienz. Und das ist beim Geld- und Finanzsystem nicht anders. Die Fähigkeit, auf einen äußeren Schock zu reagieren, trifft nicht nur beim Menschen zu, sondern auch bei biologischen Systemen, wie z. B. bei Extremwetterlagen, in der Forstwirtschaft, in der Flugsicherung, und wird gemessen als Ausmaß an systemimmanenter Vernetzung. Diese Vernetzbarkeit eines System, das heißt ein hoher Anteil an Parallelverschaltungen (Hindu-Deltas und nicht Panamakanal), garantiert eine hohe Resilienz. Und die Frage ist, wenn mehr oder weniger alle Systeme nach dieser Systemdynamik funktionieren, nach der richtigen Balance zwischen Effizienz und Resilienz, was heißt das für das Geld- und Finanzsystem? Wie sähe denn ein monetäres Ökosystem aus? Passiert das vielleicht schon? Und wenn ja, wie müsste das geschaffen sein, damit wir nachDer neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit 83 haltiger, billiger, resilienter und menschengerechter wirtschaften können? Es geht im Bericht um den Zusammenhang von Geld und Nachhaltigkeit. Allgemein betrachtet, geht’s also jetzt um die Frage eines komplementären monetären Ökosystems. Was meint man damit eigentlich? 1980 gab es zwei solcher Systeme weltweit. Im Jahr 1990 gab es um 200 und im Jahr 2010 gab es 4000 solcher komplementären monetären Systeme. Aber was ist damit eigentlich gemeint? Konzept des monetären Ökosystems ährungen ((CC) CC ) omplementäre W M onetäres Ö kosystem: K Monetäres Ökosystem: Komplementäre Währungen fehlende Quelle essourcen, e D iversifikation: u ngenutzte R nd Re rhöht d en V ernetzungsgrad u Diversifikation: ungenutzte Ressourcen, erhöht den Vernetzungsgrad und Resilienz silienz um kkonventionellen P arallel: vverlaufen erlaufen kkomplementär omplementär zzum Parallel: System onventionellen Sy stem Balance: optionaler Einsatz, antizyklisch, Re-regionalisierung, tabilisierend, R ntizyklisch, sstabilisierend, e-regionalisierung, B alance: o ptionaler E insatz, a Ökonomie der Nähe: Preise Qualität ualität ssteigt teigt ähe: P reise ssinken, inken, Q Ö konomie d er N Einsatz: (Furia-Kippu, WIR, WIR, TimeDollars, TimeDollars, Im E insatz: > 4000 CC weltweit im Einsatz Einsatz (Furia-Kippu, Regio, Frequent-Flyer, egio, Fre quent-Flyer yerr, Barter Barter C-3 etc.) LLETS, ETS, R In jeder Region dieser Welt, auch hier in Chemnitz, gibt es ungenutzte Ressourcen, die vor dem Hintergrund des gegebenen Geld- und Finanzsystems nicht hinreichend umsetzbar sind. Weltweit gibt es 200 Millionen Arbeitslose. Weltweit gibt es 200 Millionen Kinder, die nicht in die Schule gehen, sondern arbeiten. Oder denken Sie an die lokale kommunale Infrastruktur, Frühförderung, Bildungs- und Kulturangebote. Ein monetäres Ökosystem bedeutet sozusagen, dass die Kanäle, über die wir unsere Realwirtschaft organisieren, nach unterschiedlichem monetären Design organisiert werden und damit den Vernetzungsgrad in einer Region erhöhen. Solche Komplementärwährungen laufen eben parallel. Und sie laufen optional zum konventionellen System. Bleiben wir beim Bild mit dem Hindu-Delta. Da gibt’s eben nicht nur einen Fluss in das Delta hinein, sondern da gibt’s verschiedene. Im konventionellen System geht es immer darum, aus Geld mehr Geld zu machen, und es fließt dann dorthin, wo die Rendite am höchs84 Stefan Brunnhuber Monetäres Ökosystem: Eine Win-win-Situation Investoren Risikobewertung, stabile Wertentwicklung, geringere Volatilität Banken Kundenbindung, Branding, neue Geschäftsmodelle Zentralbank antizyklisch, antiinflationär, Geldmengensteuerung Politik Besteuerung, Schulden, kommunale Infrastruktur, indirekte Kosten, Rating, Dominanz der Politik über die Wirtschaft Industrie/KMU Arbeitsplätze, regionale Nachfrage Bürger Sozialkapital, Nachbarschaft, Einkommen, Inklusion, Regionalisierung der Wertschöpfungskette Brunnhuber 2006 – Stodder 2009 – Lietaer 2012 ten ist, nicht aber dorthin, wo es am dringendsten gebraucht wird, nämlich für soziale, ökologische und kulturelle Projekte. Warum müssen wir mit dem gleichen System, mit dem wir in Japan einen Taxifahrer zahlen und in China CDs hergestellt werden, unseren Biobäcker um die Ecke bezahlen oder auch kommunale Infrastruktur (Bibliotheken, Schwimmbäder, Stadtparks, Kindergärten und Kulturzentren) und dabei zusätzlich all die negativen Effekte, die wir hier beschrieben haben, ständig in Kauf nehmen? Die Standardantwort ist: »Weil es so am effizientesten ist.« Das ist nicht ganz falsch, aber unvollständig, denn es ist gleichzeitig eben auch extrem instabil und daher teurer und sicherlich nicht nachhaltiger. Komplementärwährungen ersetzen das gegenwärtige Geldsystem nicht, sondern ergänzen es, laufen parallel und versuchen ungenutzte Ressourcen auf sektoraler oder/und regionaler Ebene zusammenzubringen. In der Regel haben sie eine eingebaute Zielsetzung (built-in target), haben eine optionale Anreizstruktur mit einer standardisierten Verrechnungseinheit, erhöhen damit die Robustheit des Systems und die regionale Liquidität, auch wenn sie aus der hier beschriebenen Systemdynamik die Effizienz zugunsten der Resilienz verringern. Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit 85 Hier einige Beispiele für private monetäre Lösungen (Einzelheiten haben wir im Bericht dann ausführlicher dargestellt): • Doraland in Litauen: Wechselseitiges Lernen und Lehren wird über ein komplementäres Anreizsystem verstärkt und belohnt, welches über eine NGO organisiert ist. • Wellness Token unterstützen präventives Verhalten. Bei einem üblichen ROI von 3:1 rentieren sich diese Parallelwährungen für die Versicherungsbranche. Ein Umlauf in der Region verstärkt die Nachfrage von gesundheitsförderlichen Produkten und Dienstleistungen. • Natural Savings: eine natürliche Sparanlage, welche vollständig durch Bäume abgedeckt ist, zudem inflationssicher; darüber hinaus werden Regionen wieder bewaldet und CO2-Senken geschaffen, kombinierbar mit Mikrosparprogrammen. • C3: ein B2B zur Reduktion von Arbeitslosigkeit in der Region, abgedeckt durch die Lagerhaltung, verbessert zudem die kurzfristige Kreditklemme der KMU. • TRC: ein globaler B2B als Handelsreferenzwährung, für multinationale Firmen mit Langzeiteffekt, inflationssicher mit einem Warenkorb, unabhängig von geopolitischen Verwerfungen. Beispiele für staatliche Initiativen: • Torekes: eine kommunale Komplementärwährung zur Verbesserung der Begrünung sowie der sozialen Kohäsion in einer Stadt (seit 2010 in Ghent, BE). • Biwa Kippu: verbindet den ökologischen Wiederaufbau des Biwasees (größter See in Japan) mit der hohen Arbeitslosigkeit in der Region. • CIVICS: unterstützt zivilgesellschaftliche Aktivitäten ohne weitere Budgetbelastung im Bereich kommunaler Umweltprojekte, Kinderbetreuung, Aufbau von kommunalen Strukturen, basiert auf Stundenbasis. • ECOS: zinsfreie Währungseinheit, die von Regierungsseite an 86 Stefan Brunnhuber Unternehmen (KMU), die sich sozialen und ökologischen Projekten widmen und in ECO bezahlt werden, herausgegeben werden. Dies sind Beispiele, einige hundert weitere sind bereits im Einsatz. Viele werden scheitern, die erfolgreichsten werden sich durchsetzen. Welche dann wo nachhaltig umgesetzt werden, wird von den Menschen abhängen mit ihren spezifischen Bedürfnissen, Wünschen und Visionen vor Ort. Es ist ein bisschen so wie vor 100 Jahren mit den Gebrüdern Wright und ihren ersten Flugversuchen. Damals haben viele gelacht, und heute ist es undenkbar, dass wir auf das Flugzeug verzichten. Monetäres Ökosystem und Beispiele Monetäres Mo netäres Ö Ökosystem: kosystem: E Euro, uro, Y, Y, U USD SD B eispiele Beispiele Inter national International Währungskorb, T erra, Ba rter Währungskorb, Terra, Barter Trans(-nationale) W ährungen Trans(-nationale) Währungen E uro, Y, Y, U SD Euro, USD Öffe ntlich-rechtlich Öffentlich-rechtlich CIVIC, Curitiba, Torekes, Saber, Saberr,, Br B istol Pound Pound Torekes, Bristol Pr ivatwirtschaft Privatwirtschaft C3, Miles and Mo re More TimeBanking, P 2P, W IR TimeBanking, P2P, WIR No n-Profit Non-Profit Ti medollars, L ETS, Timedollars, LETS, IthakaHo urs, Fureia Fureia Kippu, Kippu, IthakaHours, W örgl, Wäda GIOs Wörgl, Wäda,, RE REGIOs Lo kale Initiativen Initiativen Lokale Barter Barter www w..elbtaler..de www.elbtaler.de fehlende Quelle So entsteht eine »Ökonomie der Nähe« als Ausgleich zur Ökonomie der Globalisierung: Transportkosten fallen, aus Wegwerfartikeln wird Dauernutzung, kollektive Nutzung, Reparatur und Nachbarschaftshilfe. Eine Ökonomie der Nähe unter Berücksichtigung dieses monetären Aspekts bedeutet so viel regional wie möglich und so viel global wie nötig, nicht umgekehrt. Wir gehen immer noch davon aus, dass wir für die Umsetzungen von ökologischen, sozialen Fragestellungen in der Region zuerst auf dem Wettbewerbsmarkt einen Profit erwirtschaften müssen, den wir dann über Steuertransferleistungen, über Stiftungen an soziale oder karitative Einrichtungen freigeben. Ich habe Ihnen vorhin erzählt, dass Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit 87 es 1980 zwei solcher Systeme weltweit gab, eines in Bali und das andere in der Schweiz, welches dort seit über 60 Jahren im Einsatz ist. Es ist das WIR-System. Ein WIR ist äquivalent zu einem Schweizer Franken. Und das Interessante ist, der WIR ist abgedeckt durch die Lagerhaltung der kleinen und mittelständischen Unternehmen. Immer dann, wenn es der Schweizer Wirtschaft schlecht geht, gemessen in Schweizer Franken, die Arbeitslosigkeit zunimmt oder die Wachstumsquote nach unten geht, dann nimmt die Anzahl der Wirtschaftsaktivitäten im WIR antizyklisch zu. Das ist kein marginaler Effekt, wir sprechen von circa 1,5 Milliarden Schweizer Franken Äquivalenten und einer Beteiligung von ungefähr 60.000 kleinen und mittelständischen Unternehmen. Ich komme gerade aus Istanbul, wo ich die Möglichkeit hatte, den Zumbara kennenzulernen, in dem bereits über 20.000 Menschen landesweit organisiert sind. Es sind regionale Wirtschaftskreisläufe, die parallel zur Landeswährung funktionieren und über ein Timedollar-System abgerechnet werden. Das heißt die Werteinheit, die ausgetauscht wird, sind nicht Euro, Dollar oder die Landeswährung, sondern Stunden. Der Wert eines Menschen lässt sich über eine Zeiteinheit, über eine Stunde, die zur Verfügung steht, eher abbilden als über den Preis, den er für eine Stunde bekommt. Ein solches Anreizsystem verändert unser Sozialkapital und damit auch unser Zusammenleben. So gibt es weltweit über 4000 Systeme, die alle auf niedrigem Niveau zeigen, dass es geht. In Dresden habe ich den Elbtaler kennengelernt, eine von 80 Regionalwährungsinitiativen in Deutschland. Lassen Sie mich drei Dinge zusammenfassen: Ich habe versucht Ihnen zu zeigen, dass unser konventionelles System teuer, instabil und nicht nachhaltig ist. Wir denken, dass wir alles über ein System organisieren müssen. Wir haben in dem Bericht gezeigt, dass der Versuch, unsere komplette Realwirtschaft und unser komplettes Zusammenleben über eine monetäre Monokultur zu organisieren, zwar extrem effizient, aber eben nicht resilient und nicht nachhaltig ist. Ich habe Ihnen hier einige Beispiele genannt, die wir im Buch auch erwähnen und deutlich machen, wie ein monetäres Ökosystem aussehen kann. 88 Stefan Brunnhuber Zusammenfassung Konventionelles System: !"#"$%&'()!*+',&#(-&('./!0(*.//*,12& & Systemtheorie: 345'"(5&#(-&6")','"(5& & Monetäres Ökosystem: 7817(*,%&*(159:,')./%&)!*+',')'"$"(-%&& 6"0$"2'7(*,')'"$#(2%&;:7(7<'"&-"$&=>/"& & Ich habe Ihnen zweitens versucht zu zeigen, dass die Systemtheorie deutlich macht, dass Systeme dann nachhaltig sind, wenn es ihnen gelingt, die Balance zwischen Effizienz und Resilienz herzustellen. Und ich habe Ihnen drittens gezeigt, dass, wenn man diesen Gedanken in die Geld-, und Finanzwirtschaft übersetzt, man zu dem Konzept eines monetären Ökosystems kommt. Und solche komplementären – oder Parallelwährungen – sind optional, je nachdem, an welcher Stelle des Konjunkturzyklus sie zur Anwendung kommen. Sie wirken antizyklisch, stabilisierend auf die Ökonomie, fördern die Re-Regionalisierung und schaffen die institutionellen Voraussetzungen für eine Ökonomie der Nähe. Von H.G. Wells stammt die Einsicht, dass sich die Geschichte als ein Wettrennen zwischen Erziehung und Katastrophe darstellt. Für die Eliten eines Landes bedeutet dies in Anlehnung an die Arbeiten von A. Toynbee: Über 21 Zivilisationen gingen aus zwei Gründen unter: eine zu hohe Wohlstandskonzentration und eine Elite, die nicht willens war, sich an die geänderten ökologischen Bedingungen anzupassen. Für Studenten der Wirtschaftswissenschaft bedeutet dies, dass es darum gehen muss, das Paradigma der Ökonomie und des Geldsystems offenzulegen und kritisch zu diskutieren. Und für uns alle gilt, dass wir ein Verständnis für nichtlineare Prozesse insbesondere von exponentiellen Vorgängen entwickeln müssen und dass unser Geldsystem auf einer Verhaltensebene nicht neutral ist. Ein monetäres Ökosystem ist sicherlich kein Allheilmittel, aber es ist eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für ein nachhaltiges Zusammenleben. Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit 89 Wir werden es uns bald nicht mehr leisten können, diese Zusammenhänge zu ignorieren. Ich habe immer wieder die Möglichkeit, mit Akademikern und Politikern dieses Thema zu diskutieren, und dann entsteht häufig die Einschätzung, dass wir uns an einer Weggabelung befinden. Einer Weggabelung, an der der eine Weg in mehr Armut, mehr militärische Auseinandersetzungen, mehr Angst, mehr Gier, mehr soziale Unruhen, mehr Ungleichheit und mehr Umweltzerstörung und in weniger Chancen für unsere Kinder führt. Und an der ein anderer Weg in die Nachhaltigkeit führt. Auf diesem Weg werden wir ein monetäres Ökosystem wieder treffen, vielleicht als eine der wichtigsten Einzelmaßnahmen. Vielen Dank 90 Markus Vogt Carlowitz weiterdenken. Nachhaltigkeit als Basis für eine »Große Transformation« heute Vortrag zum 300. Todestag von Hans Carl von Carlowitz in der St.-Georgs-Kirche Chemnitz am 3. März 2014 Manche Philosophen, Künstler oder Erfinder werden in ihrer Bedeutung erst posthum entdeckt. Hans Carl von Carlowitz fand zwar schon zu Lebzeiten große Anerkennung. Dennoch wird seine wegweisende Bedeutung in ihrer grundsätzlichen und globalen Dimension erst heute allmählich erkennbar. Der vor 300 Jahren gestorbene Chemnitzer Forstwissenschaftler und Praktiker ist im 21. Jahrhundert aktueller denn je: Die »Große Transformation« unserer Gesellschaft zu einer dauerhaft natur-, klima- und schöpfungsverträglichen Entwicklung ist heute eine der zentralen Schicksalsfragen unserer Zivilisation. Carlowitz hat hierfür wegweisende Gedanken und Maßstäbe formuliert. Es wäre viel zu wenig, nur das Schlagwort der Nachhaltigkeit, das mit seinem Namen verbunden ist, in den Blick zu nehmen. Erst wenn man seine begriffliche Innovation in ihrem Kontext würdigt, der durch eine humanistische und christliche Bildung geprägt ist, gewinnt der von Anfang an weit über die Forstwirtschaft hinausweisende Fachbegriff seine wegweisenden Konturen. Er ist Teil eines auf das Gemeinwohl ausgerichteten Denkens, das den Staat in besonderer Weise für Zukunftsverantwortung in die Pflicht nimmt. Er ist bei Carlowitz eng mit seinem Glauben an die göttliche Vorsehung und ihre Erkennbarkeit in der Schöpfung sowie einer tiefromantischen Einfühlung in die geheimnisvolle Schönheit der Naturordnung verbunden. Nachhaltigkeit ist bei Carlowitz kein theoretisches Konzept, sondern durch einen praktischen Sinn für Fragen des Managements von Problemen der Holzknappheit und der Ressourcenbeschaffung »geerdet«. All das ist aber nicht genug für heute. Die Transformation des Mensch-Natur-Verhältnisses hat globale Dimensionen angenommen und ist so eng mit den technischen und ökonomischen Entwicklungen 92 Markus Vogt sowie mit dem Klimawandel verknüpft, dass sie heute nicht ohne deren Analyse verstanden und gestaltet werden kann. All diese Zusammenhänge müssen in den Blick genommen werden, um Nachhaltigkeit wirksam in die Gegenwart zu übersetzen. Deshalb habe ich meinem Vortrag den Titel gegeben »Carlowitz weiterdenken. Nachhaltigkeit als Basis für eine ›Große Transformation‹ heute«. Ich möchte acht Aspekte herausgreifen, an denen wir das von Carlowitz begründete Konzept der Nachhaltigkeit weiterdenken müssen, damit es nicht zu einer Leerformel wird. Carlowitz hatte sehr konkrete Probleme vor Augen, die es damals zu lösen galt. Heute lassen sich die Herausforderung einer zukunftsfähigen Entwicklung mit dem Begriff der »Großen Transformation« umschreiben. Diesen 1944 von Karl Ponany eingeführten Begriff hat der »Wissenschaftliche Beirat für globale Umweltveränderungen der Bundesregierung« (WBGU) 2011 in seinem Hauptgutachten aufgegriffen: Während der deutsche Titel nur von der Großen Transformation spricht, nennt der englische Titel des WBGU-Gutachtens den Begriff der Nachhaltigkeit: »World in Transition – A Social Contract for Sustainability«. Die Herausforderungen der Nachhaltigkeit bündeln sich in der Suche nach einem neuen Gesellschaftsvertrag hinsichtlich der Ziele, Regeln, Verantwortlichkeiten und Chancenverteilungen unseres Sozialgefüges und seiner Naturbeziehung. Nachhaltigkeit wird hier weitergedacht von der (oft etwas idealistischen) Fokussierung auf wünschenswerte Ziele hin zur kritischen Reflexion derjenigen Kräfte und Hindernisse, die einen Transformationsprozess der Gesellschaft ermöglichen bzw. verhindern. Aus Sicht der WBGU ist dafür die Abkehr von fossilen Energien, extensivem Ressourcenverbrauch, materialistischer Konsumfixierung und zivilgesellschaftlicher Passivität entscheidend. Jede Generation muss eine je eigene Antwort auf die spezifischen Chancen und Hindernisse für Nachhaltigkeit in ihrer Epoche neu finden. Deshalb genügt es nicht, Carlowitz für heute zu kopieren und nachzuahmen. Wir ehren sein Andenken am besten, wenn wir seinen Mut zum Wandel und zu einer radikalen Kritik kurzfristiger und nachlässiger Naturbewirtschaftung im Blick auf unsere heutigen Herausforderungen und Chancen weiterdenken. Carlowitz weiterdenken 93 Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf Fragen des normativen Gehaltes von Nachhaltigkeit und benennen die aus meiner Sicht notwendigen Klärungen für ein tragfähiges Verständnis der Nachhaltigkeit anhand von acht Dimensionen: 1. ökologisch/forstwirtschaftlich, 2. politisch, 3. gerechtigkeitstheoretisch, 4. sozioökonomisch, 5. demokratisch, 6. kulturell, 7. zeitpolitisch, 8. theologisch. Zwei Leitthesen dieser Skizze zu den Dimensionen der Nachhaltigkeit lauten, dass alle acht Perspektiven substanziell sind für ein volles Verständnis des Konzeptes, dass es jedoch gegenwärtig in allen Dimensionen fundamentale Missverständnisse gibt. Diese sind mitverantwortlich dafür, dass der Umwelt- und Entwicklungsdiskurs in den letzten Jahren häufig in Sackgassen geraten ist und Nachhaltigkeit als vermeintlich inhaltsleeren »Gummibegriff« und unverbindlichen »Alleskleber« in Misskredit gebracht hat. Das Ziel meines Vortrags ist ein Beitrag zur »Rettung des Begriffs« durch die Abgrenzung gegen seine Verflachung im undifferenzierten Gebrauch. 1. Ökologisch: Forstwirtschaftliche Impulse für das Gemeinwohl Das Regulationsprinzip der Nachhaltigkeit, das zuerst 1713 von dem sächsischen Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz formuliert wurde (vgl. Carlowitz 1713/2013; Schanz 1996; Diefenbacher 2001, S. 58– 72; Grober 2010; Sächsische Hans-Carl-von-Carlowitz-Gesellschaft 2013), ist ein Produkt der Frühaufklärung. Die Herausbildung steht im Kontext des Kameralismus, durch den er die bis heute prägende Orientierung auf das Staats- und Gemeinwohl übernahm (Münk 1999, S. 228). Carlowitz verwendet »nachhaltig« als Gegenbegriff zu »nachlässig« (Hamberger 2013)). Nachhaltigkeit ist von daher nicht ein passives Begrenzungsprinzip, sondern zielt auf eine optimale Anpflanzung und Pflege der zum jeweiligen Boden und Bedarf passenden Bäume in robusten Kulturen. Es geht um aktive und innovative Zukunftsgestaltung, nicht bloß um Grenzen dessen, was erlaubt bzw. verboten ist. Für den von der Naturphilosophie Spinozas tief beeindruckten Carlowitz steht dahinter die Vorstellung der »natura naturans«, also der Natur als einer schaffenden, sich stets weiterentwickelnden Macht (Carlowitz 2013, bes. 94 Markus Vogt 45f., 114–126; Grober 2010, S. 108f.f). Es geht von daher nicht primär um die Konservierung des Bestehenden, sondern darum, den Leben schaffenden Kräften der Natur Raum zu geben. Verallgemeinert man das Prinzip der Nachhaltigkeit als Regel für den Umgang mit natürlichen Ressourcen insgesamt, bedeutet es: Das Ressourceneigentumsrecht einer Generation ist nie unbeschränkt, sondern trägt immer den Charakter eines usus fructus, eines Rechts, sich die Erträge anzueignen, solange die Ertragskraft als solche erhalten bleibt. Weil der Mensch die Natur nicht geschaffen hat, kann er auch nicht in einem emphatischen Sinn ihr Eigentümer sein (Weikard 2001, S. 41; Höffe 1993, S. 185, mit Verweis auf Pufendorf, Descartes und Marx). So formulierte es bereits der liberale Philosoph John Locke im 17. Jahrhundert. Bekannt ist diese Denkfigur heute insbesondere durch die monotheistischen Religionen mit ihrem Hinweis auf Gott als den eigentlichen Eigentümer der Schöpfung. Nachhaltigkeit braucht eine kritische Reflexion des Eigentumsbegriffs. Nachhaltigkeit ist also von Anfang an weit mehr als eine forstwissenschaftliche Erhaltungsregel. Dennoch ist die Kurzformel der forstlichen Nachhaltigkeit sehr einprägsam und für einen ersten Zugang zum Begriffsverständnis gut geeignet: »Nicht mehr Bäume schlagen als nachwachsen« oder allgemeiner: »Nicht mehr Ressourcen verbrauchen als sich im gleichen Zeitraum neu bilden.« Hierzu kann man in zahlreichen Feldern anschauliche Analogien bilden. So beispielsweise in der Finanzwirtschaft: »Von den Zinsen und nicht vom Kapital leben« ist ein Maßstab finanzieller Nachhaltigkeit, der in Zeiten der Schuldenkrise zunehmend postuliert wird (beispielsweise in den »Goldenen Regeln zur Haushaltsstabilisierung«; Bundesregierung 2008, S. 24–27). Bei aller Begeisterung für die vielseitige Verwendbarkeit der Nachhaltigkeitsformel sollte man sich jedoch bewusst bleiben, dass es sich dabei meist um metaphorische Übertragungen einer in dieser Abstraktheit recht banalen bäuerlich-forstwirtschaftlichen Erhaltungsregel handelt. Der Impuls zu langfristigem Denken wird zwar von der Forstwirtschaft durch den Umgang mit Bäumen besonders anschaulich inspiriert, ist aber, wissenschaftlich gesehen, nichts spezifisch ForstwissenschaftCarlowitz weiterdenken 95 liches. Wenn man vom Naturbezug sowie von der Komponente aktiver Gestaltungspflicht abstrahiert, verliert das Konzept seine Substanz. Kern der Nachhaltigkeit ist die planend vorausschauende und umsichtige Einbindung der Wirtschaft in ökologische Stoffkreisläufe und Zeitrhythmen (Ott/Döring 2004; Vogt 2013, S. 134–214, Sächsische CarlowitzGesellschaft 2013, 144–153). Viele verbinden mit der forstlichen Nachhaltigkeit eine Rechtfertigung des zeitlich erweiterten Nutzentheorems. Dies bedarf jedoch einer Differenzierung: Der Nutzen des Waldes wird gegenwärtig neu entdeckt. Der Wald ist im Erdsystem unverzichtbar als CO2-Senke und als Wasserspeicher; er ist der entscheidende Rückzugs- und Erhaltungsort für Biodiversität. Der vielfältige Nutzen des Waldes kann sich teilweise nur dann entfalten, wenn er nicht direkt vom Menschen genutzt wird. In dieser Paradoxie muss uns der Wald zu denken geben. Wer auf Einzelobjekte des Nutzens fixiert ist, sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht und verliert das Ganze aus dem Blick. Den Menschen, der ökologischen Dingen gegenüber offen ist, lehrt der Wald vernetztes, systemisches und langfristiges Denken. Nachhaltigkeit im Anspruch von Carlowitz ist mehr als eine bloße zeitliche Erweiterung des Nutzentheorems. Carlowitz greift das Nützlichkeitsdenken positiv auf und weist es doch zugleich in seine Grenzen. Dieser feine und nur scheinbar kleine Unterschied ist auch heute entscheidend: Nur wenn sich die Forstwissenschaft als Teil einer umfassenden Landnutzungs- und Erdsystemforschung versteht, kann sie zur notwendigen Perspektivenumkehr, die mit Nachhaltigkeit gemeint ist, beitragen. Eine isolierte Übertragung und Generalisierung einzelner Theorieelemente der Forstwissenschaft auf ökosoziale Gesamtzusammenhänge verstärkt möglicherweise eine – auf den messbaren menschlichen Nutzen bezogene (platt anthropozentrische) – verengte Interpretation von Nachhaltigkeit (zur komplexen Diskussion um Anthropozentrik vgl. Vogt 2013, S. 216–262). Die anthropozentrische Nutzenperspektive ist bei Carlowitz in ein erweitertes Verständnis von Gemeinwohl, das auch den Eigenwert der Schöpfung im Blick hat, eingebettet. Ich bin mir nicht sicher, ob er den ersten Grundsatz der Rio-Deklaration für 96 Markus Vogt Nachhaltigkeit der Vereinten Nationen »Human beings are at the center of sustainable development« unterschrieben hätte. 2. Politisch: Nachhaltigkeit als Querschnittspolitik Bei der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro 1992 hat sich die Völkergemeinschaft auf das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung verständigt und dieses in weit ausgreifender Hoffnung und Selbstverpflichtung als »Handlungsprogramm für das 21. Jahrhundert« (Agenda 21) definiert. Im Kontext der UN fand eine Neuprägung des Verständnisses von Nachhaltigkeit statt. Innovativ waren vor allem die Verknüpfung der Themen Umwelt und Entwicklung sowie ihre Integration in alle Politikfelder. »Sustainable development« wurde so zu einem umfassenden Leitbild globaler Partnerschaft (Heins 1997, S. 37; BMU 1992, S. 9–17; Sächsische Carlowitz-Gesellschaft 2013, 141–171, 257–265). Die systematische Akzentuierung der vielschichtigen Zusammenhänge von ökologischen, sozialen und ökonomischen Faktoren ist der Kern dieses Zugangs zu Nachhaltigkeit (BMU 1992, bes. S. 58–67). Die übliche Bezeichnung als »Dreisäulenkonzept« ist irreführend, da es nicht um ein gleichberechtigtes Nebeneinander der drei Zugänge geht, sondern um deren Integration und Vernetzung. »Retinität« (Gesamtvernetzung) nennt der Sachverständigenrat für Umweltfragen in seinem Gutachten von 1994 von daher die konzeptionelle umweltethische Grundidee von Nachhaltigkeit und stellt einen Bezug zu Steuerungsproblemen vernetzter komplexer Systeme her (SRU 1994, Nr. 36–38; Vogt 2013, S. 142–146). In der Planungspraxis ist als Pendant hierzu oft von Querschnittspolitik die Rede. Hinter dem Dreisäulenkonzept stecken zugleich eine tiefe Wahrheit und eine grundlegende Gefahr: Richtig ist, dass aus ethisch-politischer Sicht der entscheidende strategische Punkt von Nachhaltigkeit darin besteht, die ökologische Perspektive um soziale und ökonomische Zugänge zu erweitern. Erst dies befreit die Umweltpolitik aus ihrer Isolierung und vermag das nachsorgende Reparaturverhalten in eine zielorientierte Programmatik zu wandeln, also in sozioökonomische EntwicklungsCarlowitz weiterdenken 97 konzepte zu integrieren. Der defensive Schutz von Naturreservaten ist zu wenig als konzeptionelle Grundlage von Nachhaltigkeit. Missverstanden wird das Dreisäulenkonzept jedoch, wenn man damit eine Gleichwertigkeit von Ökologie, Ökonomie und Sozialem behaupten will. Das sind völlig unterschiedliche Bereiche, die man nicht eins zu eins vergleichen kann. Man vergleicht Äpfel mit Birnen und kommt in der Wertung zu willkürlichen Aussagen (zur Kritik am Dreisäulenkonzept SRU 2002, Nr. 9–19; Ott/Döring 2004; Eckard 2011; Vogt 2013, S. 134–153). Wer Nachhaltigkeit als Summe aus sozialen, ökologischen und ökonomischen Zielen definiert, verfällt dem maximalistischen Fehlschluss. Da es kaum etwas gibt, was sich nicht unter diese drei Begriffe subsummieren lässt, wird der Umfang des Begriffs nahezu unendlich – und nach dem Gesetz der Logik sein Inhalt folglich nahezu null, da er ja nichts begrenzt, nichts definiert und inhaltlich somit völlig leer ist. Soll der Begriff der Nachhaltigkeit überhaupt einen Sinn machen, dann ist er nicht als die Summe, sondern als die Wechselwirkung zwischen ökologischen, sozialen und ökonomischen Faktoren zu definieren. Es geht nicht um die Gesamtheit aller ökosozialen und wirtschaftlichen Probleme, sondern um systemisches Denken angesichts der »Vergesellschaftung von Umweltproblemen« (Beck 1986, 107; Vogt 2013, 347–372). Carlowitz war ein Generalist, der nicht additiv, sondern systemisch gedacht hat. Diese Analyse hat erhebliche Konsequenzen für die konzeptionelle Ausrichtung von Nachhaltigkeitsprozessen. Wer sie als Summe ökologischer, sozialer und ökonomischer Aspekte versteht, gerät in das Fahrwasser einer konturlosen und letztlich beliebigen Ausweitung. Diese Problematik lässt sich deutlich auch in deutschen Nachhaltigkeitsdiskursen beobachten, sowohl auf Länderebene wie auf Bundesebene. In der Regel reagiert man auf das Unbehagen gegenüber der beobachteten Folgenlosigkeit mit dem Ruf nach Indikatoren, um die behaupteten Erfolge kontrollierbar und messbar zu machen. Dies greift jedoch zu kurz, da auf einer viel grundlegenderen Ebene Unklarheit besteht. Der zugrunde liegende Begriff von Nachhaltigkeit ist häufig zu weit, deshalb 98 Markus Vogt werden die Konzepte diffus und fassadenhaft. Indikatoren sind sinnvoll, ersetzen aber nicht die konzeptionelle Basis. Mit anderen Worten: Der Anspruch von Nachhaltigkeit als Querschnittskonzept muss im Blick auf die politische und gesellschaftliche Gestaltung von Transformationsprozessen operationalisiert werden. Eine aktuelle Herausforderung für Sachsen ist hier beispielsweise die teilweise Verödung ländlicher Räume durch die Abwanderung der wirtschaftlich und kulturell aktiven Bevölkerungsteile sowie besonders vieler junger Frauen (Vogt/Zimmermann 2013, bes. 29–44). Ich bin mir nicht sicher, ob die sehr positiven Ergebnisse hinsichtlich der Bevölkerungszufriedenheit der forsa-Studie des Sächsischen Umweltministeriums von Januar 2014 hier die ganze Wirklichkeit widerspiegeln (vgl. Sächsisches Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie 2014, bes. S. 8). In jedem Fall sind die tief greifenden und höchst komplexen Wirkungen des demografischen Wandels auf gesellschaftliche Transformationsprozesse eine typische Querschnittsherausforderung, ohne deren Beachtung auch umweltpolitischer Gestaltungswille oft ins Leere läuft. Nachhaltigkeit muss heute im Blick auf die sehr komplexen Herausforderungen des demografischen Wandels weitergedacht werden (Vogt 2012). 3. Gerechtigkeitstheoretisch: Intergenerationelle und globale Verantwortung Das Nachhaltigkeitskonzept von Rio setzt in seiner Argumentationslogik nicht spezifisch ökologisch an. Stattdessen gründet es in der Erweiterung des Verständnisses von Gerechtigkeit auf weltweite und generationenübergreifende Dimensionen (globale und intergenerationelle Gerechtigkeit). Dies ist eine logische Konsequenz der Globalisierung, deren räumliche und zeitliche Entgrenzung wirtschaftlicher und sozialer Interaktionen eine entsprechende Erweiterung der Ethik erfordert (Höffe 1993, S. 179–195; Ekardt 2011). Der wissenschaftliche Streit beginnt mit der Frage, ob »Gerechtigkeit« egalitaristisch als »Gleichheit« interpretiert werden soll. Wenn man es befürwortet (wie z. B. die Studie »Zukunftsfähiges Deutschland«, die 1996 vom Wuppertal Institut erstellt wurde), ergeben sich zwei ethische Carlowitz weiterdenken 99 Grundpostulate: 1. gleiche Lebenschancen für künftige Generationen, 2. gleiches Recht auf global zugängliche Ressourcen. Angesichts der tiefen Unterschiede hinsichtlich der geografischen, kulturellen und historischen Voraussetzungen, unter denen Menschen leben, sind solche Gleichheitspostulate jedoch höchst problematisch. Sloterdijk spricht von einem »Natursozialismus« pauschaler Gleichheitspostulate (Sloterdijk 2009, S. 695f.). Für die ethische Diskussion ihrer Differenzierung und Eingrenzung sind die Begriffe »equity« und »fairness« hilfreich (vgl. Diefenbacher 2001, S. 41–57 und 72–91; Wulsdorf 2005). Diese Begriffsvarianten lösen jedoch keineswegs die philosophischen Grundlagenprobleme (Vogt 2013, S. 386–426). Nach nonegalitaristischen Ansätzen (z. B. Krebs 2000; Pauer-Studer 2000) kann Gleichheit nicht als eigenständiges Ziel von Gerechtigkeit aufgefasst werden. Weil sich Zukunft oft nicht ausrechnen lässt und die Bedürfnisse und Fähigkeiten künftiger Menschen nur unvollständig bekannt sind, sollte man der Freiheit einen hohen Stellenwert einräumen. Deshalb hilft die Idee einer Gleichverteilung der Ressourcen zwischen den Generationen in vielen Bereichen nicht weiter. Zielgröße sollte vielmehr sein, den Nachkommen eine Welt zu hinterlassen, die ihnen genügend Freiheitsräume und Mittel bietet, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen (Weikard 2001, S. 42f.). Welche Konsequenzen sich daraus für das Verhältnis zwischen Postulaten der Bestandserhaltung und solchen der Entwicklungsfähigkeit von Naturräumen sowie sozioökonomischen und kulturellen Systeme ergeben, muss orts- und problemspezifisch ausgehandelt werden. Carlowitz hat sich dabei für seine Zeit zu Recht auf den Wald als zentrale Grundlage von Gemeinwohl konzentriert. Heute müssen wird dies weiterdenken in Bezug auf die gegenwärtig vorrangig kritischen Umweltgüter wie z. B. Biodiversität, Zugang zu sauberem Süßwasser oder Klimastabilität. Zentrale Bewährungsprobe für intergenerationelle Verantwortung ist heute die CO2-Gerechtigkeit. Auf der Basis eines menschenrechtlichen Ansatzes ergibt sich, dass Armutsbekämpfung systematisch integriert und ethisch vorrangig behandelt werden muss (Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung et al. 2010; Vogt 2010). Für die führenden In100 Markus Vogt dustrienationen heißt CO2-Gerechtigkeit, dass sie ihren CO2-Ausstoß bis 2050 um mindestens 80 Prozent reduzieren müssen. Für Deutschland bedeutet das eine Reduktion von ca. zehn auf zwei Tonnen pro Person und Jahr. Der scheinbare Erfolg in der Annäherung an diese Ziele hat allerdings erhebliche blinde Flecken. Er beruht primär darauf, dass wir die klima- und umweltbelastende Produktion in andere Länder ausgelagert haben und somit geschickt verstecken. Wissenschaftlich gesehen, braucht Klimagerechtigkeit vor allem eine Verbesserung der Informations- und Berechnungsbasis für die CO2Kreisläufe (z. B. Einbeziehung von Flugbenzin sowie der Senkenfunktion von Wäldern und Boden) sowie belastbare Analysen zu den Funktionsbedingungen von Märkten zum Emissionshandel, auf dem viele Hoffnungen auf einen Kurswechsel zu nachhaltiger Energieversorgung ruhen. Faktisch hat Deutschland bei den Verhandlungen in Brüssel jedoch dazu beigetragen, dass die Wirksamkeit des europäischen Zertifikatehandels zerstört wurde, weil zu viele billige Zertifikate ausgegeben wurden und werden. Eine der größten Schwächen des ethischen Zugangs zu Nachhaltigkeit ist, dass es häufig ohne jede differenzierte Gerechtigkeitstheorie entweder mit pauschalen Gleichheitspostulaten oder mit einem blinden Vertrauen auf die Effektivität und Fairness von Marktprozessen verbunden wird. Der Mangel an innovativer gerechtigkeitstheoretischer Reflexion ist eine der Sackgassen des bisherigen Konzepts von Nachhaltigkeit, das aus meiner Sicht mitverantwortlich ist für das Scheitern der bisherigen Klimakonferenzen. Eine Spur, auf der man hier Carlowitz in der nötigen Weise weiterdenken könnte, ist sein umfassendes Konzept des Gemeinwohls, das heute jedoch nicht national-kameralistisch, sondern global und in Bezug auf die ökologischen Kollektivgüter wie Klima oder Wasserhaushalt zu entfalten wäre. 4. Sozioökonomisch: Operationalisierungen des Nachhaltigkeitsprinzips Nachhaltigkeit konkretisiert sich im Bemühen um die Erhaltung des »natürlichen Kapitalstocks«. Die konzeptionelle Diskussion um das Theorem des natürlichen Kapitalstocks läuft entlang der beiden Begriffe Carlowitz weiterdenken 101 »starke Nachhaltigkeit« und »schwache Nachhaltigkeit«, wobei das Zweite Substitutionen von Naturkapital durch ökologische, soziale oder ökonomische Wertschöpfung zulässt, die erste Interpretation dagegen nicht (Münk 1999; Ott/Döring 2004). Das Postulat der »starken Nachhaltigkeit«, dem sich auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung angeschlossen hat (SRU 2002, S. 9–19), ist insofern für das Verständnis des Konzeptes von entscheidender Bedeutung, als es dem lange vorherrschenden Missverständnis des Dreisäulenmodells entgegentritt. Das vermeintlich gleichberechtigte Nebeneinander der drei Dimensionen führte fast zwangsläufig zur Aushöhlung der ökologischen Postulate. Die Regel, dass unterschiedliche Kapitalformen von Ökologie, Ökonomie und Sozialem sich wechselseitig substituieren dürfen, birgt die Gefahr, dass ökonomische Maßstäbe, die in der Form monetarisierter Bewertungen als Vergleichsgröße dienen, einseitig dominieren und man die komplexe Sensibilität der ökologischen Funktionen unterschätzt. Die Erhaltung des natürlichen Kapitalstocks darf gemäß dem Konzept der starken Nachhaltigkeit nur sehr eingeschränkt als etwas betrachtet werden, das durch ökonomische Wertschöpfung kompensiert werden kann. Nach den Erfahrungen der Finanzkrise ist eine solche Vorsicht in verstärkter Weise geboten, da diese unabweisbar gezeigt hat, wie fragwürdig die Messgrößen für wirtschaftlichen Wohlstand und Fortschritt in Zeiten der virtuellen Geldschöpfung sind. Allerdings gibt es ein methodisches Problem. Der Begriff »Ressource« wird im Modell der starken Nachhaltigkeit als vorsoziale Tatsache vorausgesetzt. Aber etwas ist erst dann als Ressource definierbar, wenn dafür eine Nutzungsperspektive gegeben ist. Wenn man beispielsweise Wasserstoffmotoren erfindet, wird Wasserstoff zur Ressource. Für eine Gesellschaft, die mit Öl nichts anzufangen wüsste, wäre Öl auch keine Ressource. Der Begriff ist aufgrund seiner Nutzenrelation eine abhängige Variable von technischen und sozialen Innovationen. Durch die Erfindung von neuen und effizienteren Nutzungsmöglichkeiten werden Ressourcen gemehrt. Wenn man dies unterschlägt, degeneriert Nachhaltigkeit zum passiven Begrenzungsprinzip. Aufgrund dieser Zusam102 Markus Vogt menhänge ist nach meiner Überzeugung die bisher diskutierte Alternative von starker oder schwacher Nachhaltigkeit unterkomplex, weil sie Differenzierungen, auf die es ankommt, nicht benennt und damit keine sinnvoll entscheidbaren Alternativen formuliert. Bei dem Bemühen um eine Ökologisierung der Ökonomie ist zu beachten, dass das Nachhaltigkeitsprinzip im rein bioökologischen Sinn kaum auf das moderne Wirtschaftssystem übertragbar ist. So wäre beispielsweise die urbane Siedlungsweise weitgehend unzulässig, weil sich die Städte nicht selbst ernähren und insofern auch nicht nachhaltig sein können. Das in der Natur vorfindliche Modell taugt hier nur begrenzt als normativer Maßstab. »Letztlich müssen wir anerkennen, dass die kulturelle Entwicklung der Menschheit, insbesondere im industrielltechnischen Stadium, sich über die nachhaltige Organisation der Natur hinweggesetzt hat, und zwar irreversibel« (Haber 1994, S. 13). Gemessen an ökologischen Gleichgewichtsmodellen, wäre der gesamte Zivilisationsprozess im Grunde ein Störfaktor, den es zu eliminieren gilt. Auch evolutionär gesehen, ist die Lebensentwicklung ein offener Prozess in der Spannung zwischen Gleichgewicht und Ungleichgewicht, ohne die es keine Sukzessionen und damit auch keine Entwicklung gäbe. Es wäre also weder möglich noch sinnvoll, alle sozioökonomischen Prozesse der Gesellschaft nach einem naturalistischen Modell von Nachhaltigkeit umzugestalten. Ohne den Bezug auf gesellschaftliche Zielsetzungen und Interessen, die erst die Betrachtungsebene mit ihrer räumlichen und zeitlichen Struktur festlegen, wird Nachhaltigkeit inhaltsleer (Haber 2010, S. 48–65). Die umweltgeschichtlichen Untersuchungen von Frank Uekötter können das Misstrauen dagegen schulen, ideologisch aufgeladene Autarkievorstellungen, die in Deutschland besonders in der Zeit des Nationalsozialismus Konjunktur hatten, vorschnell auf das Nachhaltigkeitskonzept zu übertragen (Uekötter 2009, S. 18f.). Nachhaltigkeit ist ein normatives Konzept, das weder aus ökologischen noch aus ökonomischen Gleichgewichtsmodellen einfach funktional abgeleitet werden kann. Es bedarf vielmehr einer ethisch-kulturellen Verankerung und, darauf aufbauend, bewusster politischer Entscheidungen, die einen RahCarlowitz weiterdenken 103 men für das erlaubte Maß an Naturbeanspruchung setzen und den sozioökonomischen Innovationsprozessen eine Richtung geben. Auf dieser Basis ist dann freilich die ökonomische und technische Operationalisierung der Nachhaltigkeit im Sinne einer Kreislaufwirtschaft zugunsten eines sparsamen und effizienten Umgangs mit den natürlichen Ressourcen, der Erschließung neuer Nutzungs- und Wiederverwertungsmöglichkeiten sowie zugunsten der Vermeidung schädlicher Reststoffe der dynamische Kern des Konzeptes. »Stark« ist Nachhaltigkeit nicht dann, wenn sie einen naturalistischen Ressourcenbegriff voraussetzt, sondern wenn sie die komplexe Wechselwirkung zwischen der je unterschiedlichen Eigenlogik sozioökonomischer und ökologischer Systeme im Blick behält. Angesichts der sich verdichtenden Krisen von Klimawandel, Finanzsystem, Arbeitslosigkeit, Hunger, regionalspezifischem Süßwassermangel, Verlust von Biodiversität, Aussterben von Fischbeständen, Bodenerosion und Rohstoffknappheiten – um nur einige Aspekte der multiplen Entwicklungskrise des frühen 21. Jahrhunderts zu nennen – sollte sich die Operationalisierung des Nachhaltigkeitskonzeptes künftig stärker auf Resilienz und »Anitfragilität«, also den robusten Umgang mit Wandlungsprozessen, fokussieren (Wolter 2012; Taleb 2013; Welzer 2013, S. 188–198). Die üblichen Win-win-Modelle von Umweltschutz und wirtschaftlichem Gewinn sind oft viel zu optimistisch und führen bisweilen in die falsche Richtung (vgl. hierzu auch die Kritik der rein utilitaristischen Interpretation von Nachhaltigkeit im ersten Abschnitt). Nicht selten verhindert eine biologische Interpretation von Nachhaltigkeit, die dem differenzierten Denken von Carlowitz nicht gerecht wird, dass man die Kräfte wirtschaftlicher Innovation in angemessener Weise würdigt und zugleich für die Lösung der vorrangigen Probleme in die Pflicht nimmt. 5. Demokratisch: Pluralismus, Partizipation und demokratische Innovation Die konstruktive Dynamik einer gesellschaftlichen Anpassung an die Bedingungen der Natur beruht wesentlich auf sozialen Innovationsprozessen sowie einem kulturellen Wertewandel, der die Ziele der Nach104 Markus Vogt haltigkeit von Anfang an in die wissenschaftliche, technische und wirtschaftliche Entwicklung integriert. Sie ist nur im Rahmen eines Konzeptes möglich, das die unterschiedlichen Präferenzen, Weltbilder und Fähigkeiten in einer pluralistischen Gesellschaft anerkennt. Schon aufgrund dieser Offenheit kann das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung keine inhaltlich eindeutig festgelegte Zielbestimmung sein. Es ist vielmehr ein Zielsystem nicht aufeinander zurückführbarer Teilkomponenten, das eine zukunftsorientierte Gesamtperspektive bietet, um in den unterschiedlichen Situationen ethisch begründete und möglichst ausgewogene Zuordnungen auszuhandeln (Diefenbacher 2001, S. 98–105; Vogt 2013, S. 1169–179). Es stellt ein plurales Leitbild dar, das nur durch vielfältige gesellschaftliche Suchprozesse in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur konkretisiert werden kann. Damit passt es hervorragend zur Stadt Chemnitz, die ihr Image als »Stadt der Vielfalt« pflegt. Die Offenheit des Leitbildes der Nachhaltigkeit fordert zur verstärkten zivilgesellschaftlichen Mitgestaltung des öffentlichen Lebens auf. Dies ist die demokratische Leitidee der Agenda 21. Eine »teilhabende Demokratie« (Agenda 21, Kapitel 27 sowie Teil drei [Kapitel 23–32]) ist nicht nur Mittel, sondern zugleich fundamentaler Inhalt des Konzepts nachhaltiger Entwicklung. Die aktive Mitgestaltung des jeweiligen Lebensraumes kann nicht von oben verordnet werden, sondern muss langsam wachsen. Durch Anerkennung und Mitgestaltung gedeiht Verantwortungsbewusstsein. Deshalb ist Partizipation ein ganz wesentliches Element des ethischen Prinzips der Nachhaltigkeit. In Zeiten der politischen Orientierungslosigkeit angesichts der großen Herausforderungen wie Klimawandel und Umweltdegradation, Finanzkrise oder globalem Hunger braucht Nachhaltigkeit einen Aufbruch der deutschen, europäischen und globalen Zivilgesellschaft für eine neue Qualität gesellschaftlicher Mitverantwortung. Aktuelle Bewährungsprobe und Chance hierfür ist die 2011 von der deutschen Bundesregierung beschlossene Energiewende, die nicht ohne aktive Mitwirkung der Konsumenten durch neue Konsum- und Mobilitätsmuster gelingen kann und die im Bereich der erneuerbaren Energien den »Prosumenten« fordert, der zugleich Energie produziert und konsumiert. Carlowitz weiterdenken »Vogt 2013, S. 1169–179« => 169–179 oder 11691179? 105 Eine solche Transformation vom zivilgesellschaftlichen Protest gegen etwas hin zu – auch unternehmerischer – Mitgestaltung ist programmatisch für das Konzept der Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit fordert tief greifende demokratische Innovationen im Sinne eines Mehrebenenansatzes, der Nachhaltigkeitspraxen von Pioniergruppen aufgreift, dem latent vorhandenen Wertewandel zivilgesellschaftlichen Entfaltungsraum gibt und ihn konsequent auch auf der Ebene eines Institutionenwandels strukturell absichert (Ostrom 2005). Eine primär von Expertenwissen gelenkte »Große Transformation« ist demokratietheoretisch nicht zu befürworten. Im Bereich der Risikodiskurse gibt es differenzierte Beteiligungsansätze, die grundlegende Beachtung verdienen (Renn 2008). Man sollte aber das Konfliktpotenzial von nachhaltigen Verhaltensmustern nicht unterschätzen: Harald Welzer charakterisiert sein Buch »selbst denken«, das derzeit zu den scharfsinnigsten Analysen über Nachhaltigkeit gehört, als »Anleitung zum Widerstand« (Welzer 2013). Diese Idee des mündigen Bürgers durch aktive Mitgestaltung von Nachhaltigkeitsinitiativen, die in konkreten lokalen Initiativen ihren Anfang nehmen, ist nicht nur als moralisch-politisches Postulat, sondern in der inzwischen weltweiten »Transitionbewegung« soziale Realität. Allein in Deutschland werden dieser mehr als 120 Gruppen und Initiativen zugerechnet. Rob Hopkins, der Begründer dieser Bewegung, bringt deren Motto in seiner aktuellen Bilanz anschaulich auf den Punkt: »Einfach. Jetzt. Machen. Wie wir unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen« (Hopkins 2014). Auch die Carlowitz-Gesellschaft könnte man als eine solche Transitionbewegung bezeichnen. Aus der Sicht des WBGU ist Bewusstseinsbildung ein Herzstück und Motor nachhaltiger Entwicklung. Er spricht von transformativer Bildung für ein systemisches Verständnis von Handlungsoptionen und Lösungsansätzen (WBGU 2011). Die Bedeutung von »Transformationskompetenz« sei heute vergleichbar mit der grundlegenden Kulturtechnik des Lesen-und-Schreiben-Könnens als einer Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und Mündigkeit in der modernen Welt (»transformative literacy«: Schneidewind 2013, 39f.). Transformationskompetenz muss aber nicht immer akademisch vermittelt werden. So 106 Markus Vogt hat der WBGU auch sein Gutachten zur Großen Transformation in einen Comic übersetzt. Konzeptionell gibt es in der demokratischen Umsetzung von Nachhaltigkeit nach meiner Beobachtung vor allem zwei Grundprobleme: Oft werden Partizipationskonzepte im Rahmen der Nachhaltigkeit vonseiten der Politik primär als Instrumente zur Akzeptanzbeschaffung gedacht und vonseiten der Bürger nach dem NIMBY-Prinzip (»Not in my backyard«) praktiziert und so in kleinkarierten Eigeninteressen zerrieben. Dies macht sich gegenwärtig insbesondere in der Energiewende lähmend bemerkbar (vgl. Vogt/Ostheimer 2014). Alle wollen sie, aber keiner will, dass die dafür nötigen Stromtrassen oder Windräder bei ihm gebaut oder Einschränkungen von ihm erwartet werden. Darüber hinaus dominiert die Angst um Arbeitsplatz und Wohlstandwahrung häufig über den Willen zu demokratischen Partizipations- und Verantwortungskulturen. Die Kurzfristigkeit der wählerwirksamen Interessen ist ein Webfehler der gegenwärtigen Modelle von Demokratie. Dieser sollte im Interesse der künftigen Generationen durch strukturelle Reformen ausgeglichen werden, z. B. durch eine(n) Ombudsmann/-frau für Langfristinteressen. Auch global muss Nachhaltigkeit vor allem institutionell weitergedacht werden, um politisch wirksame Steuerungsmechanismen zu etablieren. 6. Kulturell: Lebensstil und ein neues Wohlstandsmodell Nachhaltigkeit steht nicht nur für ein sozialtechnisches Programm der Ressourcenschonung, sondern darüber hinaus für eine ethisch-kulturelle Neuorientierung. Das neuzeitliche Fortschrittsparadigma des unbegrenzten Wachstums ist durch die Leitvorstellung von in die Stoffkreisläufe und Zeitrhythmen der Natur eingebundenen Entwicklungen abzulösen. Als »Fortschritt« kann künftig nur bezeichnet werden, was von den Bedingungen der Natur mitgetragen wird (Korff 1997). Nachhaltigkeit steht für eine neue Definition der Voraussetzungen, Grenzen und Ziele von Fortschritt. Statt »schneller, höher, weiter« werden die Sicherung der ökologischen, sozialen und ökonomischen Stabilität menschlicher Lebensräume sowie die umsichtige RisikovermeiCarlowitz weiterdenken 107 dung zur zentralen Bezugsgröße gesellschaftlicher Entwicklung und politischer Planung (Renn 2008; Wolter 2012; Taleb 2013). Der dringendste ökologische Handlungsbedarf und die größten finanziellen Einsparpotenziale für ein neues postfossiles und postnukleares Wohlstandsmodell liegen im Bereich der Energie (Bundesregierung 2010). Entscheidend ist hier die Verbindung von innovativer Technik, organisatorischer Optimierung sowie persönlichen Verhaltensänderungen und damit die Verknüpfung von drei Strategien: Suffizienz (Sparsamkeit), Effizienz (technische Optimierung) und Substitution (erneuerbare statt fossile Energie). Nachhaltigkeit kritisiert die Fixierung kultureller Vorstellungen des guten Lebens auf wirtschaftlich bestimmte Lebensziele. Eine »Kultur der Nachhaltigkeit« erkennt Naturschutz als Kulturaufgabe und integriert Umweltqualität als fundamentalen Wert in die kulturelle, soziale, gesundheitspolitische und wirtschaftliche Definition von Wohlstand. Sie sind Ausdruck einer Wiederentdeckung der Ethik des Maßhaltens (Welzer 2013, S. 49–53, 75–82, 204–206; Vogt 2013, 161–169). Auf der gesellschaftlichen Ebene zielen sie auf ein neues ökologisches Wohlstandsmodell. Ein nachhaltiger Lebensstil zielt nicht auf Wohlstandsverzicht, sondern auf intelligente, rohstoff- und umweltschonende Nutzungs- und Verteilungsstrukturen für möglichst viele Menschen, einschließlich kommender Generationen. Langlebige und reparaturfreundliche Produkte, Reparieren statt Wegwerfen, Qualität durch maßgeschneiderte Dienstleistungen, gemeinsame Nutzung von Gütern fördern Arbeitsplätze, schonen Ressourcen und sparen häufig auch Geld. Ein konzeptioneller Fehler vieler Nachhaltigkeitsmodelle ist, dass sie den Bereich des Lebensstiles und Konsums allein der Privatsphäre zuordnen. Es ist zwar richtig, dass dieser Bereich nicht unmittelbar politisch kontrolliert oder gesteuert werden kann und auch nicht soll. Dennoch unterliegen die privaten Entscheidungen der Konsumenten vielfältigen strukturellen Prägungen und Zwängen, die sehr wohl verändert werden können. Deshalb ist das Modell der Ökosozialen Marktwirtschaft (Ostheimer/Vogt 2004, S. 119f.; Weizsäcker u. a. 1995, S. 177– 108 Markus Vogt 225), für das sich beispielsweise die Kirchen bereits 1985 starkgemacht haben, der notwendige ordnungspolitische Ausdruck des Konzepts Nachhaltigkeit. Nur durch ein Wechselspiel von Angebots- und Nachfragewandel lassen sich eingeschliffene Konsummuster ändern. Die Schwierigkeit besteht hier genau darin, dass Konsumenten, Produzenten, Handel und Politik jeweils auf den ersten Schritt der anderen warten, um mit dem Wandel zu beginnen. Nachhaltigkeit braucht deshalb Pioniere, die in der persönlichen oder unternehmerischen Praxis neue Impulse setzen. Ebenso unverzichtbar sind Politiker, die die Rahmenbedingungen verändern, um die Vorleistungen Einzelner strukturell auf Dauer zu etablieren, sowie zivilgesellschaftliche Akteure (z. B. Medien, Verbände, Bildungseinrichtungen und Kirchen), die Bewusstsein fördern und an jeweils ihrem Ort Verantwortung praktizieren. Häufig dient Nachhaltigkeit als grünes Mäntelchen für die Entwicklungs- und Wachstumsmodelle von gestern. Dies ist einer der Hauptgründe, warum die Glaubwürdigkeit des Konzeptes schwer angeschlagen ist. Genügsamkeit und Maßhalten im Lebensstil der reichen Länder sowie der Oberschichten in den Schwellen- und Entwicklungsländern ist ein konzeptionell unverzichtbares Element von Nachhaltigkeit. Das unbequeme Element der Suffizienz ist in den bisherigen Modellen der politischen und ökonomischen Nachhaltigkeitsrhetorik jedoch wenig beachtet. Man spricht lieber von »green economy« und »nachhaltigem Wachstum« (so beispielsweise in der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung 2011 sowie bei der UN-Konferenz für Nachhaltigkeit in Rio 2012). Nachhaltigkeit fordert ein grundlegendes Hinterfragen des Wachstumsparadigmas. Es geht im Kern darum, die Ambivalenzen der auf Gewinnmaximierung und Umsatzsteigerung fixierten gängigen Modelle von Entwicklung im Blick auf Lebensqualität sowie auf manche ökosoziale Auswirkungen deutlicher in den Blick zu nehmen. Nachhaltig ist nicht die Maximierung von Wachstum, sondern die Optimierung von Lebensqualität und Teilhabechancen für möglichst viele. Nur ein ressourcenleichter Wohlstand ist gerechtigkeitsfähig. Als Maß- und Kontrollgröße hierfür kann der »Index of Sustainable Economic Welfare« Carlowitz weiterdenken 109 dienen, der Wohlstand nicht am Bruttosozialprodukt misst, sondern an Kriterien eines umfassenden Konzeptes ökosozialer Entwicklung (Diefenbacher 2001, S. 133–170; Miegel 2010). Wichtiger als solche Modelle ist die persönliche Bereitschaft eines jeden, sich den Verführungen der Konsumversprechen zu entziehen und die Kunst der Reduktion als Weg zu mehr Lebensglück zu entdecken (Paech 2014; Linz 2014). Der nötige Wertewandel für nachhaltige Muster in Konsum, Produktion, Mobilität und Lebensstil wird nicht auf der Basis von Moralappellen für Verzicht gelingen. Er braucht vielmehr eine kulturelle Transformation der Vorstellungen von gutem und gelingendem Leben. Eine wichtige und derzeit viel diskutierte Dimension der kulturellen Transformation für Nachhaltigkeit ist das Wiederentdecken des Wertes von Heimat und der Verwurzelung im je eigenen Lebensraum (Krebs 2011). Dies führt zu einem Aufblühen von Regionalbewegungen und neuen Formen der lokalen Bürgermitverantwortung (Hopkins 2014). Die Hoffnung, dass gestiegener Verantwortungswille der Konsumenten zu einer »Moralisierung der Märkte« (Stehr 2007) führe, scheint jedoch gegenwärtig weitgehend ernüchtert, da dieser Wirkungszusammenhang von der ungebrochenen Jagd nach »Schnäppchen« sowie vom internationalen Wettbewerb mittels Billigprodukten überlagert und verdrängt wird. Das grüne Image von Produkten ist oft nur eine Fassade, deren positive Ökobilanz durch umso eifrigeres Konsumieren kompensiert wird. Der »mündige Konsument« ist weitgehend eine Fiktion und in jedem Fall noch längst kein mündiger Bürger. Zu beobachten ist in unübersichtlichen Zeiten eher das Gegenteil einer »Selbstentmündigung in Grün« (Welzer 2013, S. 86), indem sich die Konsumenten gerne mit grünen Versprechen und wirkungslosen Ersatzhandlungen täuschen lassen. Will man Carlowitz in diesem komplexen Feld der Konsumentenverantwortung für heute weiterdenken, könnte man vermutlich vor allem methodisch von seinem konsequenten Willen zu genauen und umfassenden Bilanzierungen lernen. 110 Markus Vogt 7. Zeitpolitisch: Rhythmen jenseits der Beschleunigungsgesellschaft Die menschliche Zivilisation ist heute so erfolgreich, dass sie durch ihre beschleunigte Expansion ihre eigene ökologische Nische destabilisiert (z. B. Klimaveränderungen, Verlust von fruchtbarem Boden, Reduktion der Süßwasservorräte). Die durch Entgrenzung und damit hohen Konkurrenzdruck erzeugte Beschleunigung lässt der Gesellschaft kaum Zeit für den mühsamen Prozess der öffentlichen Verständigung auf die angestrebten Ziele ihrer Entwicklung (Rosa 2013). Man kann die atemlose Beschleunigung der postmodernen Gesellschaft als Ausdruck und Folge von Orientierungslosigkeit deuten: »Als sie das Ziel aus den Augen verloren, verdoppelten sie ihre Geschwindigkeit.« (Mark Twain) Das Lob der Langsamkeit, das in den Feuilletons bereits zu einem festen Topos geworden ist, bietet allerdings keinen Ausweg. Verlangsamung im Alleingang führt unter den Bedingungen moderner Gesellschaften zu selbstbestimmter Verelendung. Das Vermögen, langsam zu handeln, ist kein Selbstwert wie das, schnell handeln zu können, sondern es erhält seinen Sinn durch den Bezug auf Vorgänge in Natur und Gesellschaft, die nicht nur schnelle Aktivität, sondern auch die Fähigkeit des Wartens und der Synchronisation verschiedener Rhythmen erfordern (Haeffner 2001, S. 85–89). Langsamkeit und Bedachtsamkeit sind Haltungen, in denen der Mensch nicht mit eigenen Kräften als Homo faber agiert, sondern auf das Reifen der Saat wartet, sich sozialen und ökologischen Rhythmen anvertraut. Wer auf den Wellen der Zeit reiten will (Haeffner 2001, S. 87), braucht sowohl die Fähigkeit, sich abwartend an die Langsamkeit und die Eigenzeiten mancher Prozesse anzupassen, als auch die Fähigkeit, gezielt einzugreifen und rasch zu handeln. Letztlich steht hinter dem haltlosen Sturz unserer Beschleunigungsgesellschaft in die Zukunft eine metaphysische Einstellung. Die Kunst, sich Zeit zu lassen, braucht Zustimmung zur zeitlichen Bedingtheit und eine Verabschiedung von der Illusion, dass all unsere Wünsche in der Zukunft erfüllt werden könnten. Wer das Leben als »letzte Gelegenheit« ansieht, verfällt fast unweigerlich den Imperativen der Maximierung und Beschleunigung (Höhn 2011; Rosa 2013). Carlowitz weiterdenken 111 Im Horizont des reinen Zweckdenkens ergibt sich automatisch eine Konzeption der Zeit als bloßer, für sich sinnleerer Zwischenraum (Haeffner 2001, S. 92). Es geht darum, der zeitlichen Bedingtheit selbst einen Sinn abzugewinnen, die Eigengeschwindigkeiten und Rhythmen des Lebens, der Natur, aber auch der Verläufe und Ereignisse unseres Lebens und des sozialen Zusammenlebens als Bestandteil ihrer Identität und Dignität zu erkennen und zu achten. Nachhaltigkeit braucht eine »Ökologie der Zeit« (Held). Im Blick auf das Zeitdenken kann der Wald ein Lehrmeister für Nachhaltigkeit sein. Bäume gehören zu den ältesten Lebewesen der Erde und geben uns schon allein durch ihre bloße Existenz langfristig zu denken auf. Die Jahresringe eines Baumes repräsentieren den Rhythmus der Jahreszeiten, nie exakt gleich, aber ähnlich. Erst durch solche variable Ähnlichkeit, also einen Rhythmus im Unterschied zum bloßen Takt, entsteht Zeitbewusstsein. Zeit ist also mehr als Dauer. Zeit ist Prozess im Rhythmus von Werden und Vergehen. Das durch die Beobachtung des Waldes geschulte Zeitdenken ist ein Grundimpuls des Nachhaltigkeitskonzeptes von Carlowitz. Zeitpolitik ist eine Querschnittsaufgabe, die in allen Politikfeldern soziale und ökologische Eigenzeiten berücksichtigt und schützt und sich der Entrhythmisierung der Industriekultur entgegenstellt (Held 1995). Die Achtung und Wiederentdeckung natürlicher und sozialer Rhythmen sind ein zentrales Entwicklungsprinzip der Nachhaltigkeit (Geißler 1995, S. 9). Denn Rhythmen sind das entscheidende Medium der Bindung, durch das Gesellschaften zusammenhalten und das es den Individuen ermöglicht, sich im sozialen Raum zu lokalisieren (Geißler 1995, S. 16). Unter sozialen Aspekten zielt Zeitpolitik auf Zeitwohlstand als Erhöhung der individuellen Zeitsouveränität durch selbstbestimmte Zeitgestaltung, auf eine Kultur der Zeitvielfalt, die zeitliche Monokulturen durch Vielfalt ersetzt, und auf ein Finden der rechten Zeitmaße im Umgang mit der Natur. Die zentrale Bedeutung des Zeitaspektes für eine nachhaltige Gesellschaft fehlt in den meisten der bisherigen Analysen und Konzepte. 112 Markus Vogt 8. Theologisch: Schöpfungsglaube und Nachhaltigkeit Das Worldwatch Institute in Washington geht davon aus, dass der »Kurswechsel« der Weltgesellschaft zu einer nachhaltigen Entwicklung gelingen kann, wenn die Religionen intensiv Mitverantwortung übernehmen. Die spezifisch religiösen Potenziale liegen in der spirituellen Orientierung, der langfristigen Ethik, der globalen Gemeinschaftsbildung, der rituellen Sinnstiftung und ihrer institutionellen Verankerung (Gardner 2003, S. 291–327). Diese werden bisher nur eingeschränkt aktiviert (Vogt 2013, S. 482–494). Mit anderen Worten: Der Nachhaltigkeitsdiskurs ist »religionsproduktiv«, insofern er grundlegende Fragen nach langfristiger Zukunft und globaler Verantwortung stellt und von daher auch die Religionen kritisch nach ihrem Beitrag zur Problembewältigung befragt (Sloterdijk 2009). Als älteste globale Institution auf unserem Planeten ist die Kirche in besonderer Weise beauftragt, für globale und intergenerationelle Gerechtigkeit einzutreten. Der Brückenschlag zwischen Schöpfungsverantwortung und Nachhaltigkeit ist jedoch auch für die Kirchen ein mühsamer Lernprozess. So wie der christliche Gedanke der Caritas jahrhundertelang nur tugendethisch verstanden und erst in der Verbindung mit dem Solidaritätsprinzip politisch wirksam wurde, so braucht der Schöpfungsglaube eine Übersetzung in ordnungsethische Kategorien, um politikfähig und justiziabel zu werden und die konkreten Konsequenzen in den organisatorischen Strukturen und wirtschaftlichen Entscheidungen deutlich zu machen. Deshalb sollte Nachhaltigkeit heute als viertes Sozialprinzip in der christlichen Ethik verankert werden (Vogt 2009, S. 456–481). Die freiheitliche Demokratie beruht nicht nur auf den Werten bzw. Sozialprinzipien der Personalität, Solidarität und Subsidiarität, sondern ebenso auf dem Prinzip der Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit ist der kategorische Imperativ zeitgemäßer Schöpfungsverantwortung. Für die Christen kann und muss das Konzept dazu dienen, die ethischen Impulse des Glaubens in die Handlungsfelder der gesellschaftlichen Zukunftsgestaltung zu übersetzen. Carlowitz weiterdenken 113 Zur politischen Bedeutung der religiösen Dimension von Nachhaltigkeit gab es bei der Nachhaltigkeitskonferenz 2012 in Rio einen interessanten Impuls einiger lateinamerikanischer Länder. So hat u. a. Peru unter dem Rückgriff auf präkolumbianische Naturbegriffe den Schutz der »Mutter Erde« in der Verfassung verankert und eine entsprechende ethische Neuorientierung auch in der internationalen Politik eingeforkorrekter dert. Das »Institute for Advanced Sustainability Studies« (IASS; www. Link? berlin-institut.org/index.php?id=39), das unter der Leitung von Klaus Töpfer in Potsdam gegründet wurde, setzt sich in der wissenschaftlichen und politischen Debatte für eine Stärkung solcher religiös konnotierten Naturvorstellungen – gerade auch im Kontext der pluralistischen Kultur der Weltgesellschaft – ein, um einen weniger ressourcenintensiven Weg der Moderne zu ermöglichen. Ein Schöpfungsglaube, der mit einer gewissen Demut und Bescheidenheit auf die Grenzen des Menschen verweist, ist ein entscheidendes Korrektiv zu manchen Interpretationen des Konzeptes der Nachhaltigkeit, die daraus die Leitutopie des 21. Jahrhunderts für ein globales ökosoziales und ökonomisches Management machen. Oft dient das ökologische Wissen im Rahmen der Nachhaltigkeit nur dazu, den Anspruch auf Naturbeherrschung auszuweiten, statt zugleich auch kritisch nach den ethisch-politischen und kulturellen Bedingungen für eine langfristige Beherrschbarkeit dieses Wissens zu fragen. Ohne die Tiefendimension einer Anthropologie und Naturphilosophie bleibt der Nachhaltigkeitsdiskurs unkritisch und degeneriert oft zum bloßen Anpassungsdiskurs. Manches, was gegenwärtig unter dem Stichwort »Geoengineering« diskutiert wird, ist nicht nur in hohem Maße riskant, sondern auch missbrauchbar. Aus Sicht aller Weltreligionen braucht die Fähigkeit zu Verantwortung intelligente Selbstbeschränkung. Die mentalen Barrieren einer Abkehr vom Modell des grenzenlosen Wachstums haben auch theologische Ursachen. Der Mensch hat das Bedürfnis nach einem offenen, Sinn stiftenden Horizont. Da viele diesen heute nicht mehr in einer – wie auch immer gearteten – religiösen Vorstellung von Transzendenz finden, projizieren sie ihn in die Zukunft als Raum vermeintlich unbegrenzter Möglichkeiten. So hat das »Prinzip 114 Markus Vogt Hoffnung« (Bloch) eine auch sozialpsychologisch tiefe Funktion und kann trotz aller kognitiven Einwände kaum verabschiedet werden. Darüber hinaus hat das neuzeitliche Fortschritts- und Wachstumsmodell auch eine naturphilosophische Basis von hoher Evidenz: die Newton’sche Mechanik, die Zeit und Raum als leere Behälter auffasst, also als etwas, das von sich her keine Richtung und keine Struktur hat, keinen Anfang und kein Ende kennt. Zeit und Raum sind demnach lediglich Hindernisse, die es zu überwinden gilt. Die Beschleunigungsgesellschaft, die in atemlosem Tempo die Energieressourcen aus Jahrmillionen verbraucht und unser Lebenstempo durch den Imperativ »Jederzeit immer alles« bestimmt, ist eine Konsequenz dieser Naturdeutung. Der christliche Schöpfungsglaube sucht nach Alternativen hierzu und kann in der Prozesstheologie auf der Basis eines Gesprächs mit Quantenphysik, Relativitätstheorie sowie den Theorien komplexer adaptiver Systeme neue naturphilosophische Anknüpfungspunkte finden (Faber 2003; Vogt 2009, S. 323–330). Die Grenzen von Raum und Zeit sowie das Denken in Beziehungsgefügen und konkreten Kontexten gewinnen hier neue Bedeutsamkeit und widersprechen den Zeit- und Raumvorstellungen der neoliberalen Ökonomie. Das Wissen um die begrenzte Möglichkeit des Menschen, komplexe historische Prozesse zu steuern, kann zu Gelassenheit führen. Religiöse Sprache drückt dies metaphorisch aus: »Die Zukunft liegt in den Händen Gottes.« Eine solche Haltung des Gottvertrauens ist strikt von Passivität zu unterscheiden und eher als ein aufmerksames Erwarten zu charakterisieren. Bei der Herausbildung einer Haltung aufmerksamer Gelassenheit, die für Nachhaltigkeit eine Schlüsselbedeutung hat, kann der christliche Glaube eine substanzielle Rolle spielen. Man kann diese Haltung der Zuversicht auch anhand einer philosophischen Waldmetapher veranschaulichen: »Ein wachsender Wald macht weniger Lärm als fallende Bäume.« (Laotse) Der Wald wächst still, unentwegt. In ihm steckt eine Lebenskraft, der es sich anzuvertrauen lohnt. Häufig nimmt der Umweltdiskurs jedoch gerade in umgekehrter Weise auf die verbliebenen Reste religiöser Vorstellungen Bezug. Sie werden benutzt, um moralische Schuldvorwürfe und apokalyptische ZuCarlowitz weiterdenken 115 kunftsängste zu untermauern. Das passt zwar zur medial geprägten Kultur, wo nur bad news Aufmerksamkeit finden, widerspricht aber dem christlichen Grundimpuls als »Evangelium«, also einer Frohbotschaft, die sowohl gegenüber den Verheißungen des neuzeitlichen Fortschrittsoptimismus als auch gegenüber dessen apokalyptischer Umkehrung kritische Distanz wahrt. Eine solche höchst sensible Balance ist ein entscheidendes Element des Nachhaltigkeitskonzeptes. Sie lebt von dem Vertrauen in den Sinn und die Möglichkeit der Zukunftsgestaltung, jedoch ohne die utopische Verheißung einer zivilisatorischen Emanzipation von der Natur. Sie ist Zukunftshoffnung jenseits von Fortschrittsoptimismus. Ohne eine transzendente, religiös-spirituelle Dimension – ob christlich oder nicht christlich – droht das Zukunftsversprechen der Nachhaltigkeit zur gefährlichen Ideologie zu werden (Reis 2003; Vogt/Uekötter/Davis 2009, S. 38–41). Für den tiefreligiös empfindenden Forstpraktiker Carlowitz, dessen Denken christlich-lutherische, teilweise auch von der Naturphilosophie Spinozas geprägte Wurzeln hat, geht es bei Nachhaltigkeit nicht nur um eine Managementregel, sondern um eine Geisteshaltung, die er als Ehrfurcht vor der Schöpfung sowie als Teilhabe an deren kreativ-schöpferischer Macht beschreibt (Carlowitz 2013, bes. 45f., 114–126, Hamberger 2013, 136; Grober 2010, S. 108ff.). Von Carlowitz her gedacht, zielt Nachhaltigkeit auf eine Haltung, in der das Wissen um die eigenen Grenzen nicht in Resignation mündet, sondern in Demut im Sinne des Mutes zu Verantwortung. Deren Quelle ist Dankbarkeit für die Schöpfung und Freude an ihrer Schönheit, aus der die Bereitschaft wächst, sie als Lebensraum mit allen Geschöpfen gerecht zu teilen. 116 Markus Vogt Literatur Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Berlin. BMU [Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit] (Hg.) 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Es ist vermessen, rund 300 Jahre nach dem Tod von Hans Carl von Carlowitz seine Ideen und Konzepte so auszulegen, wie wir es heute brauchen könnten. Seine Grundideen, die er 1713 in dem über 450 Seiten umfassenden Folioband »Sylvicultura oeconomica« in dem Leipziger Verlag J. F. Braun veröffentlicht hat, müssten erst einmal in den Kontext der damaligen politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Situation in Sachsen gestellt werden, um eine Bewertung der Relevanz für heute und morgen vornehmen zu können. In Deutschland herrschten nach dem Dreißigjährigen Krieg Armut, Hunger, Verwüstungen, die Pest und niedergebrannte Städte und Dörfer waren kennzeichnend. Diskussionen über Nachhaltigkeit fanden überwiegend in Krisenzeiten statt. Heute herrschen in Europa Wohlstand, eine früher nicht vorstellbare Mobilität und eine »kulturelle Übersättigung«. In dem von Dieter Füsslein edierten Sammelband »Die Erfindung der Nachhaltigkeit« ist versucht worden, diesen Zustand von damals in Bezug zu heute zu setzen. Raumplanung im heutigen Verständnis, also Raumordnungspolitik, Landes- und Regionalplanung oder Territorialplanung gab es damals nicht, und so ist die Beantwortung der Frage, die in der Überschrift meines heutigen Referates steckt, ziemlich hypothetisch. Allerdings: die Organisation der Raumnutzung ist schon seit alters Gegenstand staatlicher oder herrschaftlicher (oder genossenschaftlicher) Tätigkeit gewesen, wie David Blackbourn es für Deutschland beschreibt. Ich erinnere an viele Beispiele aus der jüngeren Geschichte wie die Melioration des Oderbruchs durch Friedrich I., die Regulierung des Oberrheins durch Tulla, die Tätigkeit des Ritterordens oder die Implementation des Reichssiedlungsgesetzes in den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts durch die sogenannte Innere Kolonisation. In dem Buch von Carlowitz 124 K.-H. Hübler sind unmittelbare räumliche Bezüge im Sinne von Raumordnung nicht enthalten; natürlich ist Forstwirtschaft immer räumlich determiniert. Wohl sind aus Carlowitz’ Beschreibungen Hinweise auf kleinräumige Nutzungskonzepte für die Böden im Erzgebirge abzuleiten. Die neuere Diskussion in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts über den alten neuen Begriff »Nachhaltigkeit« hatte auch ihre Ursachen in der Erkenntnis, dass die »Philosophien« des wirtschaftlichen Wachstums von Gesellschaften (gemessen an den Steigerungsraten des Bruttosozialproduktes) keine Zukunft haben können. Dieses Wachstum bedeutet vor allem eine Mehrung von Gütern zulasten der natürlichen Lebensgrundlagen. Freilich hatte dieses Wachstum auch vor allem in den Industrieländern eine ungeahnte Steigerung des Wohlstandes (wie auch immer definiert) zur Folge. In den vormals sozialistischen Ländern hatte die Steigerung der Produktivkräfte oberste Priorität und alle anderen Ziele – vielleicht außer der militärischen Aufrüstung und der inneren Sicherheit – mussten sich dem unterordnen. Sogenannte Weltmodelle von Meadows (Grenzen des Wachstums) oder Bariloche (Grenzen des Elends) oder die Ergebnisse der BrundtlandKommission bestimmten damals die Diskussion (Hauff, 1987) in Westeuropa und auch in Ländern der Dritten Welt. Sie wurden intensiv diskutiert, und eine neue Nachdenklichkeit setzte vieler Orts ein. Ehe ich mich an die Beantwortung der dem Referat zugrunde liegenden Frage wage, noch eine zweite Vorbemerkung: Ich finde es großartig , dass neben den berühmten Sachsen wie der Neuberin, R. Schumann, G. E. Lessing, R. Wagner, Karl May oder dem sächsischen »Lokomotivenkönig« Hartmann aus Chemnitz ein anderer Sachse, nämlich Hans Carl von Carlowitz, in das Blickfeld öffentlichen Interesses gerückt und seine zukunftsweisenden Ideen als kulturelles Erbe dokumentiert werden, nicht zuletzt dank der rührigen Chemnitzer Carlowitz-Gesellschaft. U. Grober schreibt in dem Buch über die Erfindung der Nachhaltigkeit: »Nachhaltigkeit ist ein Geschenk der deutschen Sprache an die globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts. In dem Wort ist alles enthalten, worauf es ankommt. Es hat die nötige Gravität, also die Was hat von Carlowitz der Raumplanung von heute zu sagen? 125 existentielle Perspektive der umfassenden Daseinsvorsorge. Es hat die nötige Elastizität, also die Fähigkeit, diese Substanz an die jeweiligen konkreten Bedingungen anzupassen. So wird es zum Kompass für die Erkundung eines unbekannten Terrains.« Ich war gestern in Chemnitz und habe an der Festveranstaltung teilgenommen, die von der Carlowitz-Gesellschaft und dem Sächsischen Umweltministerium organisiert war, und in der im Opernhaus Chemnitz den Herren Biedenkopf und Töpfer die Carlowitz-Nachhaltigkeitspreise verliehen wurden. Die Laudatoren, der evangelische sächsische Landesbischof Bohl für Kurt Biedenkopf und der Ministerpräsident von Sachsen Tillich für Klaus Töpfer, haben u. a. versucht, herauszuarbeiten, was beide für die Nachhaltigkeit in ihrer früheren politischen Tätigkeit geleistet haben, und damit den selben Versuch unternommen, Carlowitz von vor 300 Jahren auf heutige Fragestellungen zu transferieren, wie ich das heute hier soll. Dieser Transfer schien gestern – so mein Eindruck – gelungen. Ich will heute in 30 Minuten einen ähnlichen Versuch unternehmen, allerdings bezogen auf eine sehr viel »engere« Angelegenheit, nämlich die Raumplanung in Deutschland. Ich selbst bin erstmals mit dem Begriff des »sustainable development« konfrontiert worden, als ich im Bundesinnenministerium 1971/72 den Auftrag erhielt, Statements für die UN–Umweltkonferenz 1972 in Stockholm vorzubereiten (der Bundesminister des Innern Genscher war in den 70er-Jahren in der Bundesregierung auch für die Raumordnungspolitik und die neu konstituierte Umweltpolitik zuständig). Es war also in einer Zeit, als in Westeuropa die öffentliche Diskussion über Nachhaltigkeit noch nicht im Gange war. Zwar zeigten sich damals die Hilflosigkeit der Industrieländer und ihr Verhältnis zu den früheren Kolonialländern und den massiven Umweltzerstörungen als Folge dieser Historie in vielen Verhandlungen und Diskussionen. Fündig zum Thema Nachhaltigkeit in Deutschland wurde ich u. a. in dem 1961 veröffentlichten SARO-Gutachten (einem Gutachten im Auftrag der Bundesregierung, von zehn Sachverständigen erstattet, die in der Mehrzahl in die frühere Reichsraumordnung involviert gewesen waren), und ent126 K.-H. Hübler sprechend ideologisch verbrämt waren viele Vorstellungen in diesem Gutachten über Ordnung und Unordnung des Raumes (auf 144 Seiten) formuliert. In Kapitel 14 (Landschaftspflege, Landespflege) fanden sich einige allgemeine Aussagen zur Nachhaltigkeit, u. a.: »Nachhaltige Nutzung der von Natur dargebotenen Gaben ist aber Lebensvoraussetzung.« Das SARO-Gutachten hatte jedoch deshalb politische Bedeutung, weil es nach jahrelangen Auseinandersetzungen in Bonn 1965 zum Erlass eines Raumordnungsgesetzes beim Bund führte (die Reichsraumordnung war nach einer Kontrollratsverordnung von den Besatzungsmächten 1947 für die BRD für obsolet erklärt worden). Der Begriff der Nachhaltigkeit aus dem SARO-Gutachten wurde indes nicht in die Grundsätze der Raumordnung im § 2 Abs. 1 des Raumordnungsgesetzes (ROG) aufgenommen, wohl aber die »Philosophie« des Erhalts der »natürlichen Hilfsquellen«. 1997 wurde dann sowohl das ROG und nachhaltige städtebauliche Entwicklung (BbauG) in Gesetzesnovellen durch den Deutschen Bundestag nachgebessert. Es waren jedoch »PlaceboNormen« (Leerformeln), wie ich später noch erläutern will, um die sich die Planungspraxis in der Folgezeit wenig gekümmert hat! Zuzugeben ist indes, dass ich schon zuvor mit den Ideen einer nachhaltigen Entwicklung konfrontiert wurde. Ich erinnere mich an drei Episoden: In einer Vorlesung an der Humboldt-Universität 1952 berichtete der damalige (bürgerliche) Ökonomieprofessor Sennewald über Pachtverträge, die die preußische Domänenverwaltung vor 1914 über jeweils zwölf Jahre abschloss und die Pächter zur nachhaltigen Bewirtschaftung der zu pachtenden Domänen (großen landwirtschaftlichen Betrieben) durch Normierung von Fruchtfolgen, Düngungsvorschriften usw. verpflichteten. Und zweitens an eine Exkursion in das fränkische Fichtelgebirge. Dort berichtete ein Forstmeister, dass nach dem Kahlschlag der Wälder im 17. Jahrhundert zum Zwecke der Verwendung des Holzes im Bergbau eine Wiederaufforstung mit Sämlingen aus der Mark Brandenburg erfolgt ist (weil auf die Schnelle einheimisches Pflanzgut nicht verfügbar war und das Markgrafentum Bayreuth zu Preußen gehörte). Diese dort aufwachsenden Fichtenwälder waren nicht dauerhaft und nachhaltig: Windbruch und andere Schadenereignisse führten zu Was hat von Carlowitz der Raumplanung von heute zu sagen? »1997 wurde ... nachgebessert« => bitte Satz prüfen: was wurde nachgebessert? 127 geringen Erträgen. Nun zur dritten Episode: Ein bekannter und auch erfolgreicher Regionalplaner aus Niederbayern entgegnete mir einmal in einer öffentlichen Veranstaltung in den 90er-Jahren, Raumplanung sei seit Anbeginn nachhaltig gewesen. Um dies festzustellen, brauche man keine Evaluierungen oder spezifische Bewertungsverfahren, sondern dazu reiche das »raumplanerische Hirn« aus. So einfach war das damals! Mit diesen drei Beispielen wollte ich zeigen, dass nachhaltige Elemente schon zuvor in vielen privaten und öffentlichen Bereichen eine auch ökonomisch begründbare Funktion hatten und nicht nur das Gedankengut von »spinnerten Umweltschützern« waren. Das Etikett »nachhaltig« war indes vielseitig interpretierbar, oft nicht werbewirksam, und Herr von Carlowitz war vergessen. Einige Essentials der Nachhaltigkeit in der jetzigen Raumplanung (im Sinne von Carlowitz) Das Werk von Hans Carl von Carlowitz enthält nicht nur den Begriff der Nachhaltigkeit in seiner heutigen Bedeutung. »Entscheidend ist auch, dass in dessen Kontext embryonal, aber mit klaren Konturen das ›Dreieck der Nachhaltigkeit‹ erscheint. Dieses Zusammendenken von Ökologie, Ökonomie und sozialer Gerechtigkeit ist heute grundlegend für eine Theorie der Nachhaltigkeit« (Grober, 2012). Wir haben Ende des vorigen Jahrhunderts in der TU Berlin unter Auswertung der damaligen aktuellen Diskussion einen »Prüfraster« für die Nachhaltigkeit für die Raumplanung in Deutschland zusammengestellt (Umweltbundesamt 1999), das noch heute geeignet scheint, die Arbeitsinstrumente von Landes- und Regionalplanung – das sind im Regelfall Pläne oder Programme – auf ihren Nachhaltigkeitsgehalt zu beurteilen. Ich kann das ernüchternde Ergebnis dieser Studie im Einzelnen aus Zeitgründen nicht referieren. Als »Messlatte« zur Beurteilung haben wir damals die folgenden Kriterien zusammengestellt (ich nenne zur Erläuterung nur wenige Stichworte): • Vernetzung (nicht nur mit administrativen Systemen, sondern auch mit Betroffenen, Initiativen und anderen »Denkschulen«) 128 K.-H. Hübler • Vielfalt im ökologischen Sinne, Wohn- und Lebensformen, auch Nutzungsmischung • Effizienz: Ein Aspekt der Effizienz ist mittlerweile in vielen Plänen als Planungsgegenstand erkennbar; Reduzierung des Flächenverbrauchs (Bodenversiegelung), andere Aspekte von Effizienz sind in der Raumplanung völlig außer Acht geblieben wie Rohstoffverbrauch, verbesserte Lebensbedingungen durch verminderten Ressourceneinsatz (vgl. Haase, 1978, Hofmeister/Hübler, 1990) • Suffizienz: bedeutet Genügsamkeit hinsichtlich der Überversorgung von Teilsystemen, Aufwertung immaterieller Werte gegenüber den materiellen Werten • Konsistenz: bedeutet die dauerhafte Ausrichtung der räumlichen Entwicklung an der Tragekapazität ökologischer Systeme und Anpassung der Zeitmaße der Eingriffe in Systeme an natürliche Prozesse • Risikovorsorge: bedeutet Definition kritischer Konzentrationen, von Eintragsraten, Vermeidung von irreversiblen Prozessen, Entwicklung neuer Bewertungsparameter, Hochwasserschutz durch Ursachenvermeidung, erst dann höhere Dämme • Intergenerative Gerechtigkeit: Verantwortung für künftige Generationen (Dauerhaftigkeit, Langfristorientierung, Verschuldung u. a.), offenhalten von Optionen • Intragenerative Gerechtigkeit: Verteilungsgerechtigkeit, Zugänge und Entwicklungschancen, gerechte Verteilung von Nutzen und Lasten • Partizipation, diskursive und kooperative Planungs- und Entscheidungsverfahren, Koordination mit anderen Planungen und Maßnahmen • Transparenz: Offenlegung aller die Planung determinierenden Parameter (Ressourcenbilanzen, Stoff- und Energiebilanzen, ökologische Fußabtritte oder Rucksäcke u. a.) Durchlässigkeit verschiedener Erfahrungswelten und Bildungsstile als Voraussetzung für Transparenz Sie können sich aus diesen zehn Kriterien, die noch leicht erweiterbar sind, die Kriterien selbst aussuchen, die Sie in Ihren Plänen berücksichtigt haben, und jene, die Sie aus Ihrer regionalen Sicht für untauglich halten. Was hat von Carlowitz der Raumplanung von heute zu sagen? 129 Ergebnis der damaligen Untersuchung, deren Ergebnisse im Jahre 1999 veröffentlicht wurden, war, dass – abgesehen von verbalen Bekundungen zur nachhaltigen Raumentwicklung und von Einzelfällen abgesehen – die Institutionen der Raumplanung bei Bund und Ländern die Mehrzahl dieser Nachhaltigkeitskriterien nicht erfüllten und diese, falls sie nachhaltige Konzepte realisieren wollen, noch einen weiten Weg zu gehen hätten. Und in der Sache hat sich seit zwölf Jahren wenig geändert! Als Beleg für diese Behauptung mag der vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung 2012 veröffentlichte Raumordnungsbericht 2011 dienen, in dem der Begriff »Nachhaltigkeit« sorgfältig vermieden wird. Und auch bei einer Evaluierung der Regionalplanung aus demselben Institut ist der Begriff »nachhaltige Entwicklung« nicht einmal Gegenstand dieses Monitorings (2). Dort sind auch ausgewählte sächsische Regionalpläne untersucht. Zwar sind einige Einzelmaßnahmen als Nachweis der Berücksichtigung von Nachhaltigkeitserfordernissen dargestellt, die aber allesamt in den Bezugsrahmen einer umfassenden Nachhaltigkeitsstrategie nur kleine Einzelbauteile sind! Die verschiedenen Institutionen der Raumplanung in Deutschland haben m.E. die große Chance, die sich in den 90er-Jahren eröffnet hat (auch wegen der Transformation zumeist ungeeigneter Konzepte von den alten Ländern nach Ostdeutschland), nicht genutzt, eine zukunftsweisende neue Konzeption zur Nutzung des Raumes im Sinne einer Nachhaltigkeit zu organisieren und vor allem eine neue Legitimation für diese ehemals bedeutsame staatliche oder kommunale Aufgabe zu begründen. Die Mitwirkung und die Mitgestaltung der Raumplaner/ innen bei der Energiewende ist marginal (Netzausbau, Mix der verschiedenen Formen der Erzeugung und Verwendung u. a.). Ich würde die heutige Situation nach einer etwa 50-jährigen Erfahrung in dem Bereich wie folgt beschreiben: Raumordnung und Landes- und Regionalplanung, so unterschiedlich ihre Aufgaben auf den verschiedenen Ebenen und in den 13 Flächenländern auch sind, »laufen zumeist gesellschaftlichen Veränderungen nach«. Andere Institutionen eignen sich Lösungskompetenzen für die Dinge an, die eigentlich die Raumplaner regeln 130 K.-H. Hübler könnten und sollten! Die Legitimation (und das Interesse der Politik) sowie die Akzeptanz in der öffentlichen Meinung für diese Aufgabe wird zunehmend geringer (wo war Raumplanung in den letzten Jahren bei Bund und Ländern Gegenstand von Koalitionsverhandlungen oder von Regierungserklärungen?). Die mögliche Ansage des Hans Carl von Carlowitz 2013 an die sächsische und deutsche Raumplanung: • Befasst euch mit Zukunft, sonst erledigen andere euren Job (z. B. neuerdings Netzplanungsagentur) und das vielleicht besser, als Ihr das könnt. Sonst werdet ihr eines Tages entbehrlich, und euch geht die Legitimation immer mehr verloren, noch Raumplanung zu betreiben! • Bezieht in eure Planung die Zeitkomponente und die voraussichtlichen ökologischen, sozialen und kulturellen Wirkungen eures Tuns ein – der Wiederaufbau eines Waldes kann 150 bis 300 Jahre dauern, und eine Brücke kann (mit Reparaturen) 50 bis 150 Jahre den Raum prägen. • Nehmt euren Anspruch und Auftrag des Koordinierens (Querschnittsfunktion) ernster als bisher. • Entwickelt neue Methoden der Vorausschau und versucht, sie anzuwenden (der Verhandlungs- und Planungsgegenstand »zentrale Orte« war für Planer/innen vielleicht gestern oder vorgestern aktuell, heute im Zeichen von Internet und Breitband, Amazon- oder Otto-Versand – ist das eine interessante Geschichte für Historiker • Denkt daran, was euer Planen den Steuerzahler kostet, und nehmt die Interessen der Planungsbetroffenen ernst! (1) Kurzfassung eines Referates, das der Verfasser am 7. November 2013 anlässlich der Sächsischen Regionalplanertagung in Freiberg/Sachsen, gehalten hat (2) In dem 250 Druckseiten umfassenden Raumordnungsbericht 2011 erscheint der Begriff »nachhaltige Entwicklung« drei- oder fünfmal und in einer Quellenangabe ist von einem Nachhaltigkeitsbarometer die Rede. Weshalb sich das Bundesinstitut trotz der gesetzlichen Vorgaben der Aufgabe entzieht, sich intensiv mit nachhaltiger Entwicklung auseinanderzusetzen, wird in den Veröffentlichungen nicht erklärt. Was hat von Carlowitz der Raumplanung von heute zu sagen? 131 bei Grober fehlen Ort und Jahr/ was heißt »die Erfindung«? Literatur Sächsische Carlowitz-Gesellschaft (Hrsg.): Die Erfindung der Nachhaltigkeit, Werk und Wirkung des Hans Carl von Carlowitz (editiert von Dr. Füsslein), oekom Verlag, München, im Folgenden »die Erfindung« zitiert. Blackbourn, D.: Die Eroberung der Natur – eine Geschichte der deutschen Landschaft, Pantheon, Deutsche Ausgabe DVA, München, 2008 Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumplanung (Hrsg): Raumordnungsbericht 2011, Bonn 2012 Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumplanung (Hrsg): Evaluation in der Regionalplanung, H. 1 – 2 der Informationen zur Raumentwicklung, Stuttgart 2012 Die Raumordnung der Bundesrepublik Deutschland (SARO-Gutachten), Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1961 Grober, U.: Von Freiberg nach Rio – Carlowitz und die Bildung des Begriffs »Nachhaltigkeit«, in »die Erfindung« Haase, G.: Zur Ableitung und Kennzeichnung von Naturpotentialen, in: PGM Nr. 2/78 (ehemals DDR), Berlin 1978 Hauff, V.: Unsere gemeinsame Zukunft, Greven 1987 Hofmeister, S./Hübler, K.-H.: Stoff- und Energiebilanzen als Instrument räumlicher Planung, Beiträge der ARL Bd. 118, Hannover 1990 Lendi, M./Hübler, K.-H.: Ethik in der Raumplanung – Zugänge und Reflexionen, Bd. 221 der Forschungs- und Sitzungsberichte der ARL, Hannover 2004 Ritter E.-H./Zimmermann, H. (Hrsg): Nachhaltige Raumentwicklung – mehr als eine Worthülse? Forschungs- und Sitzungsberichte der ARL, Hannover 2003 Schneider, M.: Raum – Mensch – Gerechtigkeit, sozialethische Reflexionen zur Kategorie des Raumes, Schöning-Verlag, Paderborn 2012 Umweltbundesamt (Hrsg): Weiterentwicklung und Präzisierung des Leitbildes der nachhaltigen Entwicklung in der Regionalplanung und regionalen Entwicklungskonzepten (Bearbeiter K.-H. Hübler, J. Kather, U. Weiland u. a.), Berlin 1999 132 K.-H. Hübler Ilja Kogan, Sebastian Liebold Sächsische Humanisten als Ideengeber nachhaltiger Ressourcennutzung. Georgius Agricola und Hans Carl von Carlowitz Mit dem ersten »großen« Buch zur Bergkunde ist der Name Georgius Agricola (1494–1555) verbunden. Er war ein Generalist jener Zeit, die nicht umsonst »Renaissance« genannt wird. Dass in seinem Opus magnum »De re metallica libri XII« (Agricola 1556), einer Synthese zu Bergbau, Hüttenwesen und Mineralogie, nicht nur von der Erkundung, der Gewinnung und Verarbeitung aller damals bekannten Erze die Rede ist, von Technologie und Infrastruktur, sondern auch von den natürlichen (Abbildung 1) und gesellschaftlichen Folgen des Bergbaus, blieb kaum in Erinnerung. Sachsen als Land großer Silbervorkommen ist bekannt – wie der Metallverbrauch in der Ära von Reformation, geografischen Entdeckungen, aber auch von gewandelten Lebensgewohnheiten stieg, weniger (Abbildung 2). Die Schattenseiten des Erzreichtums blendete der Bergforscher nicht aus. Wie kam Agricola zu den ungewohnten »Randbemerkungen« über die Nutzung natürlicher Ressourcennutzung, zu gravierenden Umweltproblemen und den besonderen Bedingungen einer ganz auf den Bergbau ausgerichteten Gesellschaft? Bereits die Studienfächer an der Universität Leipzig zeugen von Interesse für interdisziplinäre Zusammenhänge: Er studierte Philologie (Griechisch und Latein), Philosophie, Theologie und Jura. Während eines nahezu dreijährigen Italienaufenthaltes erhielt er den Doktorgrad eines Mediziners, die Grundlage für seinen späteren Hauptberuf: Stadtarzt und Apotheker. In dieser Funktion lebte er in St. Joachimsthal, später in Chemnitz und betrachtete pflanzliche und mineralische Substanzen zunächst hinsichtlich ihrer Verwendung als Arzneien. Bald befasste sich Agricola nicht allein mit Krankheiten und Verletzungen der Bergleute, sondern mit verschiedensten Details des Bergwesens selbst: mit Erzgängen und Klüften, mit den 134 Ilja Kogan, Sebastian Liebold Wasserrädern, mit Gestängen, den Luftverhältnissen und dem Vortrieb. In Chemnitz, wo er mehrfach als Bürgermeister diente, nahm er die überregional bedeutende Kupferhütte in Augenschein, beteiligte sich an dieser und heiratete schließlich in die Besitzerfamilie ein (Kramarczyk 2003). Neben kleineren Veröffentlichungen ist das Wirken Agricolas bis heute mit einer didaktisch überlegten lateinischen Grammatik, mit einer Systematisierung von Maßen und Gewichten, nicht zuletzt mit einer Geschichte der Wettinerfamilie und dem Leben am Hofe verbunden (Agricola 1520, 1533, 1555). Für die Erforschung vergangener Erdzeitalter ist sein Begriff »Fossil« grundlegend – so nannte er Funde, die dem Erdreich entrissen wurden (Agricola 1546). Gemeinsam ist all diesen Studien: Der humanistisch Gebildete suchte Ordnung in seine Umwelt zu bringen – zuweilen machte er mit diesem Anspruch bahnbrechende Entdeckungen, manchmal gleichen die Ausführungen eher einer »Bestandsaufnahme«. Das universale Herangehen an seine Forschungen, die Breite seines Denkens und seiner wissenschaftlichen Interessen ermöglichten es Agricola, die Beschreibung der Ressourcennutzung über die Geowissenschaften hinaus in den Kontext von Natur und Gesellschaft zu stellen. Am Anfang von »De re metallica« notiert er in einer Zusammenschau: »Der Bergmann [muss] vieler Künste und Wissenschaften kundig sein: zuerst der Philosophie, dass er den Ursprung, die Ursachen und die Eigenschaften der unterirdischen Dinge erkenne. Denn er wird dann auf leichterem und bequemerem Wege zum Abbau gelangen und besseren Nutzen von den geförderten Erzen haben. Zweitens der Medizin, dass er für die Häuer und anderen Bergarbeiter sorgen könne, damit sie nicht in Krankheiten verfallen, von denen sie vor anderen bedrängt werden, oder wenn sie in solche verfallen sind, dass er entweder selbst sie kurieren oder dafür sorgen könne, dass Ärzte sie kurieren. Drittens der Astronomie, damit er die Himmelsgegenden kennenlerne und nach ihnen die Ausdehnung der Erzgänge beurteilen könne. Viertens der Lehre von den Maßen, dass er einerseits messen könne, wie tief der Schacht zu graben sei, damit er zu dem Stollen reiche, der darin getrieSächsische Humanisten als Ideengeber nachhaltiger Ressourcennutzung 135 ben wird, und dass er andererseits einer jeden Grube, besonders in der Tiefe, bestimmte Grenzen setze. Sodann soll er auch die Rechenkunst verstehen, damit er die Kosten, die für die Gezeuge und Arbeiten der Häuer aufzubringen sind, zu berechnen vermag. Ferner die Baukunst, damit er die verschiedenen Kunstgezeuge und Grundbauten selbst machen oder wenigstens anderen die Art und Weise angeben könnte, wie sie zu machen seien. Alsdann soll er auch die Zeichenkunst kennen, dass er die Modelle aller Gezeuge abzeichnen könne. Endlich soll er auch des Rechtes, vor allem des Bergrechtes kundig sein, damit er einerseits den anderen nichts wegnehme, andererseits für sich selbst nichts Unbilliges begehre und das Amt übernehme, anderen Rechtsbescheid zu geben.« (Agricola 1556, dt. Übersetzung von Carl Schiffner u. a., 1928: 1–2) Agricola versah das Bergwesen nicht nur mit anwendungsnahen Illustrationen (sein Buch gibt den Nichtlesern 292 technisch ausgefeilte Stiche an die Hand), er beschrieb auch die – oft mühseligen – Bedingungen des Bergbaus und die Folgen für die Umwelt, für den Menschen und die Landschaft. Er sprach den hohen Holzverbrauch nicht nur in den Erzminen, sondern auch bei der Weiterverarbeitung an, betonte dabei zudem den Rückgang der Waldbestände in den angrenzenden Regionen und die Notwendigkeit, Holz aus entfernteren Gegenden herbeizuschaffen. Er ging auf Befürchtungen der Bergbaugegner ein: »Durch das Schürfen nach Erz werden die Felder verwüstet; deshalb ist einst in Italien durch ein Gesetz dafür gesorgt worden, dass niemand um der Erze willen die Erde aufgrabe und jene überaus fruchtbaren Gefilde und die Wein- und Obstbaumpflanzungen verderbe. Wälder und Haine werden umgehauen; denn man bedarf zahlloser Hölzer für die Gebäude und das Gezeug sowie um die Erze zu schmelzen. Durch das Niederlegen der Wälder und Haine aber werden die Vögel und andern Tiere ausgerottet, von denen sehr viele den Menschen als feine und angenehme Speise dienen. Die Erze werden gewaschen; durch dieses Waschen aber werden, weil es die Bäche und Flüsse vergiftet, die Fische entweder aus ihnen vertrieben oder getötet.« (Agricola 1556, dt. Übersetzung von Carl Schiffner u. a., 1928: 6; vgl. Abbildung 1). 136 Ilja Kogan, Sebastian Liebold A Abbildung 1: Drei Darstellungen der Waldnutzung für den Bergbau Mitte des 16. Jahrhunderts. Quelle: Agricola (1556): De re metallica, Basel, S. 135, S. 270, S. 350. Obgleich Agricola die ökonomische Bedeutung des Bergbaus für die Wohlfahrt des Landes hervorhob, vernachlässigte er die negativen Folgen dieses Wirtschaftszweiges etwa für die Gesundheit der Bergleute nicht. Auf seine Ausführungen zur toxischen Wirkung bestimmter Mineralien bezogen sich Mediziner jahrhundertelang – ebenso wie auf Passagen über die heilsame Kraft der zutage geförderten Stoffe. Dass dabei zuweilen seltsame, ja wunderliche Zuschreibungen vorkommen, liegt wohl ebenso in der Zeit begründet wie die an einzelnen Stellen durch das Werk geisternden »Trulli« – auch hier befasst sich Agricola eher mit der Systematisierung als mit dem Wahrheitsgehalt von Berichten über Berggeister. Bis heute wegweisend sind dagegen Agricolas Äußerungen über die schädliche Wirkung von Epidemien und von Kriegen, die seinerzeit ganze Landstriche entvölkerten und so nicht nur die Wirtschaft, sondern das gesamte gesellschaftliche Leben zum Stillstand brachten (Horst 1955). Es brauchte einen umsichtigen Humanisten wie Georgius Agricola, um den Bergbauunternehmern wie den Politikern (Stadträten bzw. den Ratgebern der Dresdner Herzöge) klarzumachen: Nicht kurzfristige Sächsische Humanisten als Ideengeber nachhaltiger Ressourcennutzung 137 Gewinne, vielmehr langfristiges Wachstum sollten Ziel jedes Minengeschäfts sein. Der Bericht über die Chemnitzer Kupfersaigerhütte, eine Art »Handbuch« und »Techniksoziologie« in einem, macht exemplarisch den synoptischen Blick Agricolas nachvollziehbar: Nach der Analyse der Funktionsweise der eigentlichen Saigertechnik, dem Material, der Bauweise der Hütte und den Arbeitsgängen kommt Agricola auf die Risiken des Hüttenwesens zu sprechen, er wägt zwischen Nutzen und Nachteil mit Gespür für die Interessen der Geldgeber wie für die – oft unter miserablen Bedingungen beschäftigten – Arbeiter ab (Kramarczyk 2003). Auch in »De re metallica« zählt Agricola die Probleme im Bergbau auf, ohne die Bedingungen dieses – auch für ihn selbst – einträglichen Wirtschaftszweigs im Ganzen zu hinterfragen. Für ihn existieren die Schwierigkeiten fast schicksalhaft, menschliches Handeln muss sich im Wesentlichen darauf einstellen. In einem zeitgenössischen Berglied heißt es: »Der Bergmann muss viel tragen …« Strukturell verbesserte Arbeitsbedingungen und ein im engeren Sinne kritischer Blick auf die Umweltschäden jener Zeit sind bei Agricola nicht zu finden. Agricola war sich allem Anschein nach der endlichen Natur der Erzvorkommen nicht bewusst. Wer sich vor Augen hält, dass im 16. Jahrhundert viele Bergbaugebiete weltweit ihrer »Entdeckung« harrten, kann ermessen, dass die für Sachsen beschriebenen Probleme wohl insofern nicht als grundlegend erschienen, da der Mensch an vielen anderen Stellen des Globus neu »anfangen« und die bereits erschöpften Minen und abgeholzten Regionen hinter sich lassen konnte. Das Zeitalter der Entdeckungen (man denke an die Goldvorkommen in Lateinamerika) setzte den Schwerpunkt in der Erkundung und – oft mit Waffengewalt – in der Besitzergreifung. Die Zeit der Glaubenskriege tat ihr Übriges, wenig Augenmerk auf kritische Berichte über das – in dieser Periode sowieso im Niedergang befindlichen – Bergwesen zu legen (Abbildung 2). Nicht zuletzt die Nöte der »Edlen Bergwercke« veranlassten den sächsischen Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz (1645– 1714), sich mit dem Problem der nachhaltigen Ressourcennutzung aus138 Ilja Kogan, Sebastian Liebold Abbildung 2: Bevölkerungsdynamik (A), Bergbau (B) und anteilsmäßige Entwicklung der Waldflächen (C) in Sachsen zwischen 900 und 2000 n. Chr. A und C umgezeichnet nach Ueberfuhr & Miethke (2007), B nach Daten von Wagenbreth (1990) für das Sächsische Erzgebirge. Dargestellte Erzausbeute (hellgrau: Silber; grau: Zinn; dunkelgrau: Wismut- und Kobalterz) gilt summarisch für das jeweilige Jahrhundert; die Skaleneinteilung ist für jedes Erz unterschiedlich. einanderzusetzen. Der Bergbau und die verarbeitende Industrie seien rechte »Holtzfresser« (Carlowitz 1713: 97). Da beide für die Einwohner des »Meißnischen Ertz-Gebürgischen Creyses« in jeder Hinsicht »höchstnöthige Wercke« seien, müsse Bedacht auf dem »würcklichen Anflug und Wiederwachs« der Wälder liegen, um die ökonomische Prosperität zu sichern. Jahrhunderte der Übernutzung hatten zu einer spürbaren Abnahme von Waldgegenden nicht nur in Mitteleuropa geSächsische Humanisten als Ideengeber nachhaltiger Ressourcennutzung 139 führt: »Ein dergleichen wahres Exempel wird aus America von Potosi, alwo die reichen Bergwercke sind / geschrieben / dass nehmlich alda von allen Dingen / so der Mensch nöthig habe / ein großer Überfluß sey / und über nichts / als über den Holtzmangel / Klage geführet werde.« (Carlowitz 1713: 44) Wie Agricola hielt von Carlowitz die Erzvorkommen – mit dem Einwand, dass solcherlei Gestein nicht nachwachse – für »unendlich« (Carlowitz 1713: 98). Verbraucher großer Mengen Holz wurden neben Berg- und Schiffbau immer stärker die großen Städte, die aufwendiger bauten und in kalten Wintern buchstäblich »ihren« Wald verfeuerten. Wer auf die Geschichte »nachhaltigen Denkens« schaut, sollte die Differenzierung des Handwerks im 17. Jahrhundert nicht vergessen – viel Holz sei nötig für das »Rösten / Brennen / Schmeltzen und [die] Gutmachung der Metallen / welches der grundgütige Gott diesen Landen auch nicht versaget« (Carlowitz 1713: 98). Daher legte von Carlowitz besonderen Wert auf die ausgeglichene Fortwirtschaft (Carlowitz 1713), auch wenn die Grenze des Verbrauchs (so viel, wie nachwächst) zunächst eine Einschränkung – »Suffizienz« – bedeutete. Es mag erstaunen oder nicht: Im werkbiografischen Vergleich mit Agricola liegt dem Denken des wichtigsten sächsischen »Wirtschaftsmanagers« jener Zeit eine ähnliche und ähnlich breite humanistische Bildung zugrunde. Hans Carl von Carlowitz hatte eine etwa fünfjährige Grand Tour durch Europa hinter sich, als er bei der Verwaltung des sächsischen Forsts die Probleme »stapelweise« vor sich sah. Allein die Neubauten Augusts des Starken in Dresden verschlangen ein Mehrfaches der in Sachsen zu jener Zeit angepflanzten Bäume. Zuvor hatten die Verwüstungen des 17. Jahrhunderts – vor allem des Dreißigjährigen Krieges – ihr Scherflein zur Waldarmut beigetragen. Die von Carlowitz vorgeschlagenen Maßnahmen zum Senken des Energieverbrauchs, zum Ersetzen des Materials Holz (u. a. durch Torf zum Heizen) und zum konsequenten Aufforsten beruhen nicht zuletzt auf Ideen, die er auf seiner »Europatournee« gesammelt hatte. So sind Grundlagen seines »nachhaltigen Programms« in Jean-Baptiste Colberts »Grande réformation des forêts« (Devèze 1962) zu finden. Der Forscher-Manager aus Rabenstein hatte an vielen Standorten selbst gese140 Ilja Kogan, Sebastian Liebold hen, welche Folgen der ungezügelte Holzverbrauch hatte. Der Bezug zurück zu Agricola fällt nicht schwer; Hans Carl von Carlowitz beeinflusste wiederum bekannte Wissenschaftler wie Abraham Gottlob Werner oder Alexander von Humboldt, die sich mit Geologie befassten. Eher schleppend nahmen sich Ökonomen des Wissens an, das nicht zuletzt unter dem Stichwort der »Frucht-Niessung« (Carlowitz 1713: Vorrede) den fruchtbaren Nutzen einer nachhaltigen Forstwirtschaft für die künftigen Generationen darlegt. In jüngster Zeit beziehen sich vor allem Studien zu »externen Kosten« in der Wirtschaftstheorie auf Agricola und Carlowitz (Endres 2013, Kleeberg 2013, Sächsische Carlowitz-Gesellschaft 2013, Sauer 2013). Sächsische Humanisten haben in überzeugender Weise die Probleme der Ressourcennutzung angesprochen und eine nachhaltige Produktionsweise – zum Wohle der Zeitgenossen wie der zukünftigen Generationen – angemahnt. Während Agricola darauf aus war, Gewinne durch technische Verbesserungen zu steigern und Risiken für Mensch und Natur zu minimieren, warb von Carlowitz für einen nachhaltigen Gebrauch von Ressourcen, die es nachfolgenden Generationen erlaubt, ein ähnliches Maß an Wohlstand zu erreichen, wie es die gegenwärtige besitzt. Das humanistische Grundverständnis wirtschaftlicher Aktivität beider Forscher sollte zu den Prinzipien modernen Ressourcenmanagements gehören. Ilja Kogan, TU Bergakademie Freiberg, Geologisches Institut, Geowissenschaftliche Sammlungen & Bereich Paläontologie Dr. Sebastian Liebold, Technische Universität Chemnitz, Institut für Politikwissenschaft Sächsische Humanisten als Ideengeber nachhaltiger Ressourcennutzung 141 Literatur Agricola, G. (1520): Georgii Agricolae Glaucii Libellus deprima ac simplici institutione grammatica, Leipzig. Agricola, G. (1533): Georgii Agricolae Libri quinque de mensuris et ponderibus. Paris. Agricola, G. (1546): De natura fossilium libri X, Basel. Agricola, G. (1555): Vier Bücher von der hochlöblichen Sippschaft des Chur- und fürstlichen Hauses zu Sachsen. Agricola, G. (1556): De re metallica libri XII, Basel. [dt. Carl Schiffner u. a. (1928), München]. Carlowitz, H. C. von (1713): Sylvicultura oeconomica. Leipzig. Devèze, M. (1962): La grande réformation des forêts sous Colbert (1661–1680). Thèse pour le doctorat ès lettres. Nancy. Endres, A. (2013): Umweltökonomie. 4. Aufl., Stuttgart. Horst, U. (1955): Das Agricola-Büchlein. Dresden. Kleeberg, K. [Hrsg.] (2013): Hans Carl von Carlowitz und die Nachhaltigkeit, eine 300-jährige Geschichte. Duderstadt. Kramarczyk, A. (2003): Die Kupfersaigerhütte des Ulrich Schütz in Chemnitz. Unternehmensgeschichte, Dokumentation, Perspektiven eines Bodendenkmals. Agricola-Gespräch 12: 3-17. Sächsische Carlowitz-Gesellschaft [Hrsg.] (2013): Die Erfindung der Nachhaltigkeit. Leben, Werk und Wirkung des Hans Carl von Carlowitz. München. Sauer, T. [Hrsg.] (2013): Ökonomie der Nachhaltigkeit. Grundlagen, Indikatoren, Strategien. 2. Aufl., Marburg. Ueberfuhr, F., Miethke, A. (2007): Atlas zur Geschichte und Landeskunde von Sachsen. F IV 4, Waldflächen 1800 und 2000. Leipzig. Wagenbreth, O. [Hrsg.] (1990): Bergbau im Erzgebirge: Technische Denkmale und Geschichte. Leipzig. 142 Ilja Kogan, Sebastian Liebold 143 144 145 146