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Teil I – Überlegungen zu einer Formbestimmung der Vernunft Kapitel 1: Handlungen als wesentlich Vernünftiges 1. Vorbemerkung zum Ausgangspunkt Beginnen wir mit dem Ziel: Die leitende Frage all unserer Bemühungen in dieser Arbeit ist, wie man verstehen kann, dass wir Menschen handelnde Wesen sind und also in unserem Verhalten der Art nach von den Bewegungen der Tiere und anderen Naturvorgängen verschieden. Der Ausgangspunkt ist dabei nicht das Bestreben, diese Behauptung im Einzelnen zu rechtfertigen, also nachzuweisen, dass wir uns tatsächlich von den Tieren im Allgemeinen und einigen Affenarten im Besonderen auf diese charakteristische Weise unterscheiden, sondern das Verlangen, diese Behauptung in ihrem Inhalt zu verstehen. Wenn diese Überlegungen abgeschlossen sind, soll idealerweise unserem Selbstverständnis nichts in dem Sinne hinzugefügt worden sein, dass wir nun auf weitere, neue Merkmale unserer selbst verweisen können, wenn wir uns genötigt sehen, eine Grenze zwischen uns und anderem Leben auf diesem Planeten zu ziehen, sondern unser gegebenes Selbstverständnis soll sich selbst gegenüber aufgeklärt sein, sodass wir ohne ins Stolpern zu geraten darlegen können, was wir meinen, wenn wir sagen, dass wir als Menschen zu handeln befähigt sind. Der zentrale Begriff, der die Charakteristik des Handelns benennt, ist der der Vernunft. Handlungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihrem Wesen nach vernünftig sind. Auch dies ist zunächst eine Annahme, die aus der philosophischen Diskussion übernommen wird. Auch sie wird nicht in dem Sinne in Frage gestellt, dass es Anliegen dieser Arbeit wäre, eine geeignetere Charakterisierung unseres Handelns zu finden oder zu erwägen („In Wirklichkeit ist es gar nicht die Vernünftigkeit, wodurch wir die Besonderheit von Handlungen verstehen können, sondern vielmehr X“) – aber es muss unsere Aufgabe sein herauszuarbeiten, was wir meinen, wenn wir diese Annahme machen und zu zeigen, inwiefern sie als Annahme möglich ist. Und genau deswegen kann sie uns als Antwort auf die Frage „Was macht Handlungen aus“ fraglich werden. Dann nämlich, wenn wir feststellen, dass uns kein kohärentes Verständnis ihrer Aussage denkbar ist. In dem Fall wäre es jedoch nicht so, dass wir die Antwort „die Vernunft“ auf die Frage nach der Besonderheit menschlichen Handelns einfach verwerfen und uns an ihrer statt nach einer neuen umsehen könnten. Vielmehr wüssten wir zunächst einmal überhaupt nicht mehr – dies ist die Annahme, der wir folgen – wie wir mit unserer Rede von Handlungen umgehen sollten und was wir also damit meinen, wenn wir von uns selbst als handelnden Wesen sprechen. Das Verständnis von Handlungen rinnt uns in gleichem Maße durch die Finger, wie wir ihre Charakterisierung als vernünftig (also: das Verständnis von praktischer Vernunft) zu erfassen nicht in der Lage sind. Dies ist eine Weise, auf eine begriffliche Abhängigkeit hinzuweisen, die zwischen der Rede von der Vernunft und der Rede von Handlungen besteht: Das Verständnis unserer Vernünftigkeit ist nicht vom Verständnis unserer Handlungen zu trennen. Weder in der einen Richtung, noch in der anderen (das heißt: es liegt kein Ableitungsverhältnis vor): Man kann nicht zunächst klären, was wir meinen, wenn wir von Vernunft im Allgemeinen sprechen und uns dann daran machen zu zeigen, wie uns dieses gewonnene Verständnis dabei hilft, Handlungen zu begreifen. Dies kann deswegen nicht gelingen, weil die Rede von der Vernunft an sich vollkommen leer wird, sobald wir versuchen, sie gänzlich von ihrer Ausübung unabhängig zu erfassen, sofern wir also für einen Moment zu vergessen versuchen, was es heißt zu denken oder zu handeln.1 Ebenso wenig aber hat es Sinn (dies ist eben der hier zu verhandelnde Punkt), über Handlungen zu reden und dabei von ihrer Vernünftigkeit abzusehen. Tun wir dies, so reden wir nicht mehr über Handlungen, sondern vielleicht über Ereignisse, Körperbewegungen oder Prozesse und ordnen unser Sprechen jedenfalls nach ganz anderen Gesichtspunkten als dann, wenn wir Handlungen als Gegenstand unserer Rede ansetzen. So gewendet bedeutet unser Selbstverständnis als handelnde Wesen aufzuklären, uns selbst in unserer Eigenart als vernünftige Wesen – praktisch-vernünftige Wesen in unserem Fall – zu begreifen. Wir Menschen als handelnde Wesen sind notwendigerweise vernünftige Wesen. Dies ist nur die Übertragung der eben erklärten begrifflichen Verbindung auf uns Menschen: Sofern Handlungen notwendigerweise Ausübung der Vernunft sind, sind Wesen, zu denen es gehört, handeln zu können, notwendig solche, die vernünftig sind, das heißt, über das Vermögen der Vernunft verfügen. Hier bietet sich nun die Frage an, ob das Verhältnis von Menschsein und Vernunft nicht noch enger zu setzen ist, denn wenn es uns als Menschen auszeichnet, handeln zu können und also vernünftig zu sein, benennt dann diese „Auszeichnung“ nicht auch eine Bestimmung dessen, auf welche Weise wir verstehen können, was überhaupt Vernunft ist? Wenn wir Vernunft, wie wir im letzten Absatz sagten, nicht unabhängig von ihrer Ausübung verstehen können, wir aber die Wesen sind, die Vernunft ausüben, muss man dann nicht den Kreis schließen und sagen: Vernunft gibt es nur 1 Wobei es genau Thema dieses Buchs sein wird, was genau unter einer Vernunftausübung zu verstehen ist und was als solche zählen kann: Das Denken? Das Handeln? Beides? These dieses Buchs ist, dass man das Handeln, das ihr Gegenstand ist, nur dann begreift, wenn man es in seiner Verschiedenheit vom Denken und letztlich auch in seiner Abhängigkeit von diesem versteht. als menschliche und zwar in genau dem Maße, wie wir Menschen handelnde (und denkende) Wesen sind?2 So zu sprechen, scheint zu kurz gedacht. Denn tatsächlich gilt dies trivialerweise nur, wenn die einzig denkbare Form der Vernunftausübung unsere menschliche ist, wir Menschen die einzig möglichen vernünftigen Wesen sind. Eine solche Behauptung wirkt überspannt, da sie zu treffen dem Charakter nach eine empirische Aussage zu sein scheint, während die Argumentation, aus der sie hervorgehen sollte, eine rein begriffliche war. Wie aber können wir aus begrifflichen Gründen ausschließen, dass es hier auf der Erde oder irgendwo in den Weiten des Alls nicht doch noch andere vernünftige Lebewesen gibt (die dann als solche allerdings notwendig handeln müssten). Und war es nicht genau diese Art von empirischer Untersuchung, auf die wir uns nicht einlassen wollten, indem wir eingangs ablehnten, die Verschiedenheit des Menschen in jeweiliger Abgrenzung von einzelnen Tierarten zu verteidigen? Andererseits: In welchem Sinn sprechen wir dann von einer Besonderheit des Menschen? Sollten wir nicht lieber gleich mit allen vernünftigen Wesen beginnen und den Bezug auf unser Menschsein allenfalls aus heuristischen Gründen („Seht her, hier haben wir ein nahe liegendes Beispiel!“) am Rande anführen? Der Inhalt unserer Untersuchung, würde man dann sagen, bliebe gleich. Wir würden uns immer noch in unserer Besonderheit verstehen: wir würden lediglich auf eine Aussage darüber verzichten, welche Wesen neben uns gleichsam mit dieser besonderen Beschreibung zu fassen sind. Unser Unternehmen würde dadurch bescheidener und zugleich methodisch reiner. Tatsächlich spricht viel für einen solchen Ansatz und, bei unserem jetzigen Vorgehen zur strukturellen Klärung praktischer Vernunft, nichts dagegen. Es bleibt jedoch ein gewisses 2 Die Frage, die sich hier aufspannt: Ist Vernunft als Bestimmung des Menschen damit zugleich etwas genuin Menschliches oder ist der Mensch ein Vernunftwesen unter anderen (Engeln, Marsmenschen usw.), könnte man als die Wahl zwischen Aristoteles und Kant darstellen, wobei Aristoteles dann mit der Bestimmung des ergon des Menschen als Vernunft die Vernunft an die Wesensbestimmung des Menschen koppeln würde (vgl. z.B. „Nikomachische Ethik“ (im Folgenden EN), Buch I, „Über die Seele“ Buch III , während Kant gerade nach der Bestimmung dessen sucht, was explizit für alle Vernunftwesen unabhängig von ihrer empirischen Beschaffenheit gilt (vgl. seine Ausführungen in der Vorrede zur „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“). Die Frontlinien sind aber nicht ganz so klar, denn erstens gibt es auch bei Aristoteles die Idee von vernünftigen Göttern (vgl. die irritierende und deswegen oft diskutierte Bestimmung des menschlichen Glücks als das der Theoria, der Gedankenschau, in EN Buch X mit dem Argument, im theoretischen Denken sei der Mensch den Göttern am nächsten und wachse damit in gewisser Weise über sich hinaus), wenn auch nicht offensichtlich ist, wie man diese genau verstehen muss, während zweitens bei Kant immerhin der Mensch als das Wesen mit endlichem Verstand (und also körperlicher Natur) bestimmt zu sein scheint und damit zunächst der Idee nach von Gott (als unendlichem, schaffendem Verstand) und Engeln (als körperlosen, nicht-sinnlichen Wesen) abgegrenzt wird, also als das Wesen mit Vernunft in dem Sinne, wie sie uns bekannt ist, verstanden wird (die Unterscheidung von Mensch und Gott ist eine Unterscheidung anderer Art als zwischen Mensch und Marsmensch). Absehen von der empirischen Bestimmung des Vernunftwesens kann ja auch heißen: Absehen von dem, was diesen speziellen Menschen ausmacht. Und zudem: Kann man nicht in diesem Sinne letztlich auch den Marsmenschen als Marsmenschen und eben deshalb als Vernunftwesen verstehen? Zu diesen Überlegungen vgl. Michael Thompsons Aufsatz „Apprehending Human Form“ (In: A. O’Hear: Modern Moral Philosophy. Cambridge 2004) Misstrauen über die Möglichkeit einer solchen methodischen Reinheit. Das Misstrauen äußert sich in dem Verdacht, dass es letztlich doch keine rein empirische Frage ist, welche Wesen wir als vernünftige erkennen und welche nicht. Denn wer kommt überhaupt als Kandidat für ein vernünftiges Wesen in Frage? Sicherlich nur ein solches Wesen, das in gewisser Weise wie wir ist. Man kann diesem Verdacht in folgender Weise Ausdruck verschaffen: Die Rede von vernünftigen Wesen ist eine solche, die dazu bestimmt ist (harmloser: die sich dafür entwickelt hat) uns Menschen (und vielleicht sogar noch enger: Uns Nicht-Barbaren etc.) zu erfassen. Metaphorisch gesprochen kann man sagen: Die Rede von der Vernunft hat ihren Ort in der Rede vom Menschen. Oder mit Wittgenstein: Das Sprachspiel der Vernunft entstammt dem Sprachspiel des Menschseins. Jede Anwendung auf andere Wesen wäre in gewissem Sinne eine Übertragung. Prinzipiell scheint nichts dagegen zu sprechen, eine solche Übertragung vorzunehmen, was soviel heißen soll, wie dass es nicht absehbar ist, dass durch eine solche Übertragung der Begriff der Vernünftigkeit eine wesentliche Veränderung erführe, aber es wäre doch ein weiterer Schritt. Und in diesem Sinne hätte der Ringschluss, wie er oben kurzzeitig angedacht wurde, doch zumindest so viel für sich, dass er auf eine historisch-begriffliche Vorraussetzung unseres Denkens hinweist: Wenn wir von vernünftigen Wesen sprechen, so sprechen wir zunächst einmal von Menschen und es bedarf weiterer Anstrengungen, um uns eine weitere Verwendung dieser Redeweise vor Augen zu führen.3 Wie schon bemerkt, beeinträchtigen diese Überlegungen, da es uns darum geht, vernünftiges Handeln in seiner Struktur zu fassen, das weitere Vorgehen zunächst einmal nicht. Soweit es die nun anstehenden Überlegungen betrifft, können wir ruhig von vernünftigen Wesen im Allgemeinen sprechen oder auch von uns vernünftigen Menschen. Mit anderen Worten: Wir können die Identifizierung von vernünftigen Wesen mit Menschen vornehmen. Worauf es uns in erster Linie ankommt, ist, dass die Verknüpfung von menschlichem Handeln und dessen Vernunftcharakter in dem Sinne keine empirische Hypothese ist, dass jemand ohne Weiteres behaupten könnte, er habe Wesen beobachtet, die zwar handelten aber nicht vernünftig seien. Wenn wir von Wesen sprechen, die Handeln können (und so sprechen wir eben von Menschen), so sprechen wir von vernünftigen Wesen. Wenn es etwas Besonderes über den 3 In diesem Sinne wäre der Marsmensch genau so eine Übertragung. Mit diesem Gedanken sind selbstverständlich die Probleme nicht gelöst. Man kann sich vielerlei Fragen stellen: Nehmen wir zum Beispiel eine Übertragung vor, wenn wir, von uns Menschen mit dem Organ des Blinddarms vertraut, bei einem anderen Säugetier ein ganz ähnlich verkümmertes Organ mit ganz ähnlicher Funktion vorfinden sollten? Oder bringen wir einfach zwei verschiedene Spezifizierungen von Organen unter einen gemeinsamen Begriff? Und wäre es eine Übertragung derselben Art, wenn wir bei Marsmenschen Vernunft entdeckten? Ist also Vernunft in gleicher Weise über die Lebensform des Menschen bestimmt, wie es die Organe des Menschen sind (in dem Sinne, dass was ein bestimmtes Organ beim Menschen ist, in ganz ähnlicher Beschaffenheit bei einem anderen Wesen ein ganz anderes Organ sein könnte – vgl. Hierzu M. Thompson: Life and Action. Cambridge, MA 2008, part one: The Representation of Life)? Menschen zu verstehen gibt, so könnte man es ausdrücken, dann eben, dass er handeln kann. Unsere Frage ist, ob wir das überhaupt verstehen (ob wir also verstehen, was wir damit meinen, dass Menschen besondere Wesen sind). Es ist eine andere Frage, ob wir nicht letztlich zugestehen wollen, dass es andere Wesen gibt, die (in einem dann zu klärendem Sinn) wie wir besonders sind. Das eben geäußerte Misstrauen wird allerdings dann seinen Platz in Form einer dann wohlformulierbaren Frage in einer Untersuchung wie der hier unternommenen haben, wenn es darum geht, zu der formalen Bestimmung praktischer Vernunft ein objektiv-inhaltliches Korrelat zu finden (wobei die Begriffe „formal“ und „inhaltlich“ selbst noch geklärt werden müssen). Wenn wir also fragen, ob unser Verständnis davon, was Handlungen als Vernunftausübungen ausmacht, davon abhängt, ob wir etwas dazu sagen können, welche Sorten von Handlungen als Handlungen zählen können. Denn dann werden wir uns fragen müssen, ob das, was wir als Handlung akzeptieren, etwas sein muss, das wir als dem Menschen gemäß akzeptieren oder nur als der Vernunft gemäß oder doch enger als zum Beispiel dem Athener gemäß. Wir werden im Verlauf der Arbeit sehen, dass diese Überlegungen Ausdruck in der Frage finden können, ob es eine objektiv-inhaltliche Bestimmung des Guten geben muss, die unsere Handlungen als Handlungen verständlich macht. Diese Fragen werden jedoch erst ganz am Ende dieser Arbeit als brennende in den Blick rücken und in diesem Sinne (und nicht nur in diesem) wird diese Untersuchung unseres Selbstverständnisses in einem wichtigen Aspekt unvollständig bleiben. Aber auch bis dahin wird es genug zu tun geben. Wir können also zusammenfassen: Was uns im Folgenden interessieren soll, ist das menschliche Handeln, sofern es Merkmal unserer Vernünftigkeit ist, insofern wir also in der Erklärung, was menschliche Handlungen sind, unser Selbstverständnis als vernünftige Wesen zumindest zu einem entscheidenden Teil aufklären können. 2. Vernunft und Unvernunft Bislang haben wir versucht, das Verhältnis zwischen dem Begriff der Handlung und dem der Vernunft so eng wie möglich zu zeichnen. In eine Richtung gelesen heißt dies: Handlungen sind erst durch ihre Vernünftigkeit als Handlungen verständlich. Und doch scheint es einen offensichtlichen Einwand gegen diese Grundannahme zu geben, nämlich die Beobachtung, dass wir in unseren alltäglichen Vollzügen fortwährend unvernünftig Handeln. Die Geschichte menschlichen Handelns, möchte man gerade auch mit Bezug auf deren jüngere Entwicklung betonen, ist keinesfalls eine Reihung von Episoden schierer Vernunftausübung. Eher im Gegenteil. Und auf der individuellen Ebene steht es nicht besser: Wer kann von sich behaupten, er handele stets rational, forme stets eine Meinung darüber, was zu tun sei und lasse sich dann von seinem Ratschlag leiten, ohne dabei ins Straucheln zu kommen (auch: wer kann seinem eigenen Ratschlag immer trauen – wer kann von sich behaupten, die eigenen Überlegungen hielten einer Probe auf ihre Vernünftigkeit stets stand)? Verschiedene Einwände kommen hier zusammen4, sie lassen sich jedoch für ihren Zweck als Einwand an dieser Stelle auf die folgende Form in Einklang bringen: Wenn es begrifflich notwendig ist, dass Handlungen Ausübungen praktischer Vernunft sind, dann scheint dies mit der Beobachtung praktischer Unvernunft nur auf zwei Weisen vereinbar zu sein. Entweder bei dieser Beobachtung handelt es sich um eine Täuschung und das, was wir für gewöhnlich für unvernünftig halten, ist in Wirklichkeit bei genauerem Hinsehen sehr wohl vernünftig, oder aber alle unvernünftigen Handlungen wären in Wirklichkeit nicht mehr Handlungen zu nennen – in dem Augenblick, wo wir den Pfad der Vernunft verlassen, fielen wir praktisch aus dem Bereich des Handelns heraus und glichen uns in unserem Tun (dann in einem anderen Sinn des Wortes) all dem Geschehen an, von dem wir uns anderenfalls wesensmäßig unterscheiden.5 4 Mindestens diese: Wir wissen nicht immer, was zu tun vernünftig ist, weil wir eine falsche Vorstellung davon haben, was im entsprechenden Fall als vernünftig gelten würde (1); unsere Überlegungen gehen bisweilen schief, sodass wir selbst wenn wir prinzipiell die rechte Vorstellung davon haben, was in einer Situation verlangt wird, doch zu einem falschen Schluss kommen, was dies für uns bedeutet (2); wir folgen nicht immer unserem besten Wissen und Gewissen (3). Den Fall (1) kann man „inhaltliche Unvernunft“ oder schlicht „Irrtum“ nennen und es ist fraglich, ob wir es hier überhaupt mit Unvernunft zu tun haben (Platons Argumentation im „Protagoras“ gegen die Idee von Willensschwäche kann man so verstehen, dass er genau das verneinen will, dass er die Idee des Menschen als Vernunftwesen retten will, indem er sagt, dass diese Art von Fehler eben keine Unvernunft ist und dass es keine andere Form des Fehlens im Handeln geben kann als diese Art von inhaltlichem Irrtum. Vgl. 357c . Aristoteles hingegen wird häufig so verstanden, dass er auch bei dieser Form des Fehlens Unvernunft am Werk sieht, in dem Sinne nämlich, dass der Tugendhafte derjenige ist, der richtig erkennt, was in einer Situation zu tun ist und darin seine Vernunft demonstriert, der Tugendlose ist dann derjenige, der in dieser Vernunftleistung scheitert (vgl. NE Buch x und insbesondere die Aristoteles Deutung von D. Wiggins in „Deliberation and Practical Reason“ (aufgenommen in: E. Millgram (Hrsg.): Varieties of Practical Reasoning. Cambridge, MA 2001 279-299) und John McDowell in: „Virtue and Reason“ (in: ders.: Mind, Value, and Reality. Cambridge, MA 1998, 50-73). Fall (2) hingegen wäre der des Fehlers im Denken und es wird uns in Kapitel 2, Abschnitte 7-10, ausführlich beschäftigen, inwiefern dies etwas über die Vernünftigkeit des Handelns aussagt. Fall (3) schließlich ist der Fall der Willensschwäche, der häufig (und so auch in Kapitel 3) als der prototypische Fall von praktischer Unvernunft diskutiert wird, wobei einige meinen, dass er von den hier unterschiedenen Fällen der einzige echte Fall von Unvernunft im Handeln ist. Ob Willensschwäche allerdings überhaupt als Phänomen kohärent verstanden werden kann, ist wiederum umstritten, und es ist These dieses Kapitels, dass dieser Streit Ausdruck einer Unsicherheit darüber ist, wie man die begriffliche Bestimmung des Handelns als Vernunftausübung zu verstehen hat. 5 In der philosophischen Diskussion wird die erste Antwort für gewöhnlich mit Sokrates Position im „Protagoras“ in Verbindung gebracht: Praktische Unvernunft im strengen Sinn gibt es nicht, allenfalls Irrtum in der Abschätzung dessen, was zu tun ist (vgl. 355e-357e). Die zweite Art der Erwiderung wird wiederum als die von R.M. Hare identifiziert, insbesondere wenn er Ovids Medea heranzieht als den Fall derjenigen, die sieht, was sie tun sollte, sich jedoch gegen ihren Willen dem Schlechten zuwendet, weil sie nicht anders kann, weil sie von ihren Leidenschaften so mitgerissen ist, dass es nicht im Bereich ihres psychologischen Vermögens liegt, ihrer Vernunft zu folgen (vgl. R.M. Hare: Freedom and Reason. Oxford 1963. Kap. 5.7). Donald Davidson nennt daher die beiden Extrempositionen im Spektrum der philosophischen Erläuterungen von Unvernunft das Platon- Beide Varianten scheinen unbefriedigend zu sein: Im ersten Fall haben wir das Gefühl, dass uns ein entscheidender Aspekt menschlichen Handelns verloren geht. So unschön es auch bisweilen ist, dass wir nicht immer im vollen Maß unserer Vernünftigkeit handeln, so wenig wollen wir in philosophischer Hinsicht auf diese Möglichkeit verzichten. Und dies nicht deswegen, weil diese vielleicht eine schreckliche Welt wäre, wenn wir alle bis in die Fingerspitzen vernünftig wären oder weil es in einzelnen Situationen besser (sogar klüger) sein kann, unvernünftig zu sein (dies mag stimmen, aber das wäre ein anderes Thema),6 sondern weil wir das Gefühl haben, dass es zu der Bestimmung unseres Handelns als vernünftig dazugehört, dass wir auch (mal) unvernünftig sein können. Warum sollten wir uns sonst für unsere Vernunft loben und für unsere Unvernunft tadeln oder entschuldigen? Der zweite Ausweg wiederum scheint viel zu weit zu gehen, denn sehen wir den unvernünftig handelnden Menschen wirklich in einer Reihe mit dem Hund, der seinen versteckten Knochen sucht, oder betrachten wir ihn tatsächlich als jedenfalls auf halber Strecke zum Wind gelegen, der den Regen um die Hauswand peitscht? Beide Einwände lassen sich zusammenbringen: Wenn wir es für wichtig befinden, dass wir als vernünftige Wesen auch unvernünftig handeln können, so muss dieses unvernünftige Handeln doch immer noch ein Handeln sein, denn sonst wären wir genau an dem Punkt, den wir zu vermeiden suchten: alles Handeln wäre immer vernünftig und was nicht vernünftig ist kein Handeln – und also wäre der Vorwurf, den man der Nicht-Vernunft machen müsste, der Art nach ein anderer als der, den man eigentlich dem Unvernünftigen machen wollte, nämlich nicht der, unvernünftig gehandelt zu haben, sondern der, nicht recht darauf aufgepasst zu haben, überhaupt zu handeln.7 Sofern uns diese Einwände überzeugen, und sie haben einige Überzeugungskraft, scheinen wir also einen Grund zu haben, die begriffliche Verbindung des Handelns mit der Vernunft zu lösen. Aber wie kann das sein, wenn diese begriffliche Verbindung der Punkt ist, von dem wir ausgehen, ohne den wir überhaupt nicht mehr wissen, was wir von unserem Handeln zu halten Prinzip und das Medea-Prinzip. Nach Davidson und damit in Übereinstimmung mit unserer eigenen Position verfehlen aber beide Positionen unsere Idee dessen, was unvernünftiges Handeln ausmachen muss: Das Platonprinzip lässt überhaupt keine Unvernunft zu und also keine unvernünftigen Handlungen, das Medea-Prinzip lässt hingegen Unvernunft zu, aber nur so, dass es keine unvernünftigen Handlungen mehr gibt, nur Zwangshandlungen, die im strengen Sinne nicht als Handlungen zu begreifen sind. Vgl. D. Davidson: Paradoxes of Irrationality. in: ders. Problems of Rationality, Oxford 2004. 169-187. 6 Etwas in der Art behauptet Martin Seel in „Ein Lob der Willensschwäche“ (in: ders.: Sich bestimmen lassen. Frankfurt a.M. 2002. 227-245). 7 Ein solcher Vorwurf wäre denkbar, wenn es ein Fall verschuldeten Nicht-Handelns ist: So wie man auch demjenigen, der sich in die Unzurechnungsfähigkeit säuft, genau diesen Vorwurf machen kann: Zugelassen zu haben, dass er in einen Zustand jenseits der Vernunft gerät. Aber genau gesehen ist es hier auch wieder eine Handlung, die getadelt wird. Wenn alles unvernünftige Handeln Nicht-Handeln wäre, müsste der Tadel, unvernünftig gewesen zu sein, immer der Tadel sein, nicht besser aufgepasst zu haben. Und zwar in dem Sinn, wie man den Segler tadelt, dass ihm in einem unachtsamen Moment die Schot entschlüpft. Vgl. zu einer ähnlichen Position, welche die Parallele zwischen Willensschwäche und Fahrlässigkeit zieht: Gary Watson: Skepticism About Weakness of Will. In: Philosophical Review 86 (1977), 316-339. haben, wie es zu Beginn des vorherigen Abschnitts noch unsere Behauptung war? Und sind die Einwände gegen die begriffliche Verbindung von Vernunft und Handeln nicht gerade wiederum solcher Art, dass sie die Vorraussetzung der Vernunftbezogenheit unseres Denkens teilen? Dass wir an der Möglichkeit unvernünftigen Handelns, das selbst noch ein Handeln ist, festhalten wollen, scheint doch geradezu ein Ausdruck der Grundannahme zu sein, dass unser Handeln immer (auch im unvernünftigen Fall) an der Vernunft orientiert ist. Gerade weil wir an dieser Grundannahme festhalten wollen, sehen wir nicht ein, wie die nahe liegenden Vorschläge, mit dem Fall der Unvernunft umzugehen, Lösungen sein können. Es droht ein Moment der Ratlosigkeit. Und doch lassen sich bei genauerem Hinsehen im eben Gesagten schon die Ansätze dafür finden, wie eine Lösung für dieses Problem aussehen muss: Zunächst einmal haben wir gesehen, dass es einen begrifflichen Raum für ein Handeln geben muss, das unvernünftig ist. Da Handeln über seine Verbindung zur Vernunft gefasst wird, muss es einen Unterschied zwischen dem geben, was zwar nur über den Vernunftbezug zu verstehen ist, hier jedoch einen Fehler, Schaden oder Mangel aufweist und dem, bei dem ein solcher Vernunftbezug überhaupt nicht vorliegt. Das erste wäre noch ein Handeln, jedoch ein solches, bei dem etwas schief läuft, das zweite hingegen wäre gar kein Handeln, auch kein unvernünftiges. Suchen wir eine terminologische Lösung für diesen begrifflichen Raum, den wir schaffen wollen, können wir dies zum Beispiel folgendermaßen ausdrücken: Es gibt eine Unterscheidung zwischen dem Tun (Geschehen … – es ist nicht leicht und zudem philosophisch nicht unschuldig, hier einen passenden Ausdruck zu finden), was durch seine Verbindung mit der Vernunft verstanden wird – und nur solches Tun kann vernünftig und eben auch unvernünftig sein – und dem, das durch keinen Vernunftbezug charakterisiert wird: solches Tun (Geschehen…) ist nicht-vernünftig. Die maßgebliche Unterscheidung wäre dann nicht in einer Zweiteilung zwischen Vernünftigkeit und Unvernünftigkeit von Geschehen zu treffen (wobei das vernünftige Geschehen als Handlung und das unvernünftige als Nicht-Handlung gedacht werden würde), vielmehr gilt es eine asymmetrische Dreiteilung zwischen vernünftigem/unvernünftigem Handeln und nicht-vernünftigem Geschehen vorzunehmen. Oder, wenn man es lieber auf Latein mag: Zwischen Rationalität und Irrationalität auf der einen und Arationalität auf der anderen Seite.8 8 Davidson drückt diesen Gedanken folgendermaßen aus: „For the irrational is not merely the non-rational, which lies outside the ambit of the rational; irrationality is a failure within the house of reason.“ (A.a.O. S. 169) Allerdings sieht Davidson in dieser Eigenschaft gerade die Paradoxie der Irrationalität, während ich zeigen möchte, dass recht verstanden sich gerade durch diese Analyse der Verdacht einer Paradoxie auflöst. Die Rede von Arationalität in diesem Sinne ist recht weit verbreitet. Es gibt aber auch abweichende Begriffsverwendungen, so z.B. bei R. Hursthouse: Arational Action. In: The Journal of Philosophy 88 (1991) 57- Die Dreiteilung ist asymmetrisch, weil Vernunft und Unvernunft zusammengehören. Sie bilden ein begrifflich notwendiges Doppel. Diesen Gedanken, der eben schon angeklungen ist, kann man so erläutern, dass man sagt, etwas als vernünftig oder unvernünftig zu bezeichnen, seien zwei verschiedene Bewertungen der gleichen Art.9 Die Kritik, die wir aussprechen, wenn wir eine Handlung unvernünftig nennen, ist von sich aus schon darauf bezogen, dass die Handlung stattdessen auch hätte vernünftig sein können. Ein Stein ist nicht unvernünftig. Dieser Vorwurf ist ihm nicht sinnvoll zu machen (und wenn wir ihn machen, etwa im Scherz, dann behandeln wir den Stein absichtlich wie einen Handelnden). Er liegt außerhalb des Bereiches, der von der Bewertung nach der Vernünftigkeit betroffen ist. Andersherum ist vernünftig zu sein eben auch so etwas wie ein Lob oder jedenfalls eine Aussage solcher Art, die ebenfalls beinhaltet, dass es auch hätte anders, nämlich schief, laufen können. Vernünftig sein zu können bedeutet in der Gefahr zu schweben, einen Fehler besonderer Art zu begehen, nämlich unvernünftig zu sein. Die Charakterisierung als vernünftig ist eine solche, die sich von einem negativen Fall abhebt, so wie andersherum der negative Fall ein solcher ist, der über sein Verfehlen des positiven Falls verstanden wird. Man kann daher sagen: Vernunft und Unvernunft werden mit dem gleichen Maß gemessen. Und was vernünftig sein kann, unterscheidet sich darin von dem, was nicht-vernünftig ist, dass es dieser Bewertung gegenüber zugänglich ist. Man kann für diese Einsicht folgende Formulierung wählen: Handlungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie unter dem Maßstab der Vernunft stehen. 3. Unter dem Maßstab der Vernunft Die Metapher des Maßstabs ist kein Novum in der Frage, wie man die Vernünftigkeit von Handlungen denken kann. Im Gegenteil: In der Abwandlung zum Winkelmaß (lat. norma) liegt sie der insbesondere in jüngerer Zeit breit und lebhaft geführten Debatte um den Begriff der Normativität etymologisch zugrunde. Dort wird der Begriff der Normativität meist allerdings in der bereits übertragenen Bedeutung einer Norm oder Regel verstanden, die es zu befolgen gilt (Wittgensteins Problem des Regelfolgens bildet hier den fruchtbarsten Ausgangspunkt).10 Nun ist es jedoch nicht auf den ersten Blick einsichtig, wie genau sich die 68. Arationale Handlungen sind dort expressive Handlungen, die sich keiner Zweckmäßigkeitsüberlegung unterordnen lassen. In unserem (und Davidsons) Sinn wäre „arationale Handlung“ dagegen eine Contradictio in Adjecto. 9 Auch dies ist noch eine vorläufige Formulierung. Sie wird sich um eine entscheidende Kleinigkeit verändern, sobald wir mit dem Gedanken der Privation unten (Abschnitt 4) einen gewissen Vorrang der Vernünftigkeit erkannt haben. 10 Keineswegs möchte ich behaupten, dass man das Bild vom Maßstab nicht direkt in dem Kontext des Regelfolgens fruchtbar machen kann. Peter Railton tut dies in seinem Aufsatz „Normative Force and Normative Rede von einer Regel zu unserer Metapher eines Maßstabes verhält, so wie wir sie eingeführt haben, um die Bewertbarkeit von Handlungen als vernünftig oder unvernünftig zu verstehen. Ich möchte daher den Begriff der Normativität noch für eine Weile beiseite lassen, um zusätzliche Komplikationen zu vermeiden, und mich statt dessen ganz auf das Bild des Maßstabes konzentrieren, um zu erkunden, inwiefern und auf welche Weise es uns hilft, das Problem von der möglichen Unvernunft unseres Handelns ins Auge zu fassen. Führen wir uns zu diesem Zweck noch einmal vor Augen, wie wir dazu gekommen sind, von einem Maßstab der Vernunft zu sprechen. Das Problem war folgendes: Handlungen, so haben wir angefangen, sind in ihrem Charakter darüber zu verstehen, dass sie Ausübungen unserer Vernunft sind. Handlungen sind daher immer durch einen Vernunftbezug gekennzeichnet, wobei „Bezug“ hier nicht mehr als ein vages Wort ist, das die grundlegende Vernünftigkeit von Handlungen benennen soll, ohne sie schon erklären zu können (das Wort „Bezug“ zu erläutern, ist gewissermaßen der Zug, den zu vollziehen wir im Begriff sind). Gleichzeitig wollen wir damit jedoch nicht ausdrücken, dass Handlungen nicht unvernünftig sein können. Wir wollen dies erstens nicht, weil sie dies offensichtlich von Zeit zu Zeit sind. Wir wollen es aber zweitens auch deshalb nicht, weil in der Bezeichnung einer Handlung als vernünftig eine Wertung enthalten ist, die die Möglichkeit zu implizieren scheint, dass die Handlung auch hätte unvernünftig sein können. 11 Wenn nun jedoch Handlungen als solche durch ihren Vernunftbezug gekennzeichnet sind, so kann diese allgemeine Charakterisierung von Handlungen als vernünftig (im Sinne des Vernunftbezugs) nicht mit der speziellen positiven Bewertung als vernünftig (im Sinne von nicht unvernünftig) in eins fallen. Beide Charakterisierungen müssen in einem gewissen Sinne (wieder wird ein vages Wort verwendet) auf verschiedenen Ebenen liegen. Dies haben wir so verstanden: Die Vernünftigkeit im Sinne der Vernunftbezogenheit soll die Handlungen als solche Freedom“ (in: J. Dancy (Hrsg.): Normativity. Oxford; Malden, Ma. 2000), indem er aufweist, dass ein Maßstab wie das Winkelmaß uns nicht sagen kann, wann er, etwa im Bauwesen, vernünftigerweise anzuwenden ist. Hier wird der Maßstab allerdings bereits als Vorschrift verstanden – und in der Tat ist dies die plausibelste Weise zu verstehen, inwiefern er als Bild unserer Rede von Normativität zugrunde liegt. Ich setze jedoch mit einem neutraleren Verständnis an, um dann in einem zweiten Schritt zur Frage der Bewertung zu kommen, die etwas wie eine Vorgabe dafür enthält, was als richtig anzusehen ist. 11 Es scheint deswegen auch zu schwach, die Unvernunft nur als ein offenbar existierendes Phänomen zu betrachten, das philosophisch nicht wegerklärt werden sollte. Wenn es stimmt, dass zu sagen, dass jemand vernünftig ist, eine Art des Lobes darstellt und der Vorwurf der Unvernunft eine Art des Tadels, so ist die Möglichkeit von Unvernunft wesentlich mit dem Phänomen des Handelns verknüpft. Wer Handeln als solches verstehen will, muss auch unvernünftiges Handeln verstehen können. Ein entsprechender Gedanke, der den hier angestellten Überlegungen sehr ähnlich ist, findet sich an verschiedenen Stellen in den Schriften von Christine Korsgaard. Z.B. „Skepticism about practical Reason“ (In: E. Millgram (Hrsg.): Varieties of Practical Reasoning. Cambridge, MA 2001, 103-125), in „The Normativity of Instrumental Reason“ (in: The Constitution of Agency. Oxford 2008, 27-68) und in „Self-Constitution“ (Oxford 2009) Kap.2. kennzeichnen, als etwas, das einer Bewertung gegenüber offen steht. Diese Vernünftigkeit kennzeichnet den Wesensunterschied von Handlungen und anderem Geschehen. Die Vernünftigkeit als positive Wertung dagegen ist bereits eine Abgrenzung innerhalb dieses Bereichs des vernunftbezogenen Geschehens 12 und zwar eine Abgrenzung vom unvernünftigen vernunftbezogenem Geschehen. Die Metapher des Maßstabes sollte uns nun helfen zu verstehen, wie ein Bereich wesensmäßig durch eine Art der Bewertung gekennzeichnet sein kann. Wie kann sie das leisten? Ein Maßstab ist etwas, das eine objektive Bewertung von etwas in einer bestimmten Hinsicht ermöglicht. Im anschaulichsten Fall haben wir tatsächlich einen Stab, der mit regelmäßigen Marken versehen ist, mit denen sich die Länge von etwas messen lässt. Natürlich ist dies nur ein Fall des Bemessens unter vielen, aber er veranschaulicht einige grundlegende Eigenarten unseres Bildes. Zunächst einmal muss man feststellen, dass sich nicht alles durch jeden Maßstab messen lässt. Die Länge eines Objektes kann man zwar mit einem Maßband oder einem Zollstock messen, nicht aber mit einer Wage. Man kann sagen: Der Maßstab muss dem zu messenden angemessen sein. Oder andersherum: Das zu Messende muss der Art nach zum Maßstab passen (wenn man sich nicht scheut, die Sprache etwas freier zu verwenden, kann man auch hier von der Angemessenheit von etwas an einen Maßstab sprechen). Und dieses „zusammen passen“ bezeichnet wiederum nichts Zufälliges oder Nebensächliches. Vielmehr ist es so, dass etwas, das ausgedehnt ist, als Ausgedehntes in seiner Länge gemessen werden kann. Weder kann es sein, dass etwas ausgedehnt ist und nicht seiner Länge nach gemessen werden kann, noch ist es möglich, dass etwas der Länge nach gemessen werden kann, aber nicht ausgedehnt ist. Sofern und in dem Maße etwas unter den Maßstab der Länge fällt, hat es eine Länge. Dass es unter den Maßstab der Länge fällt, ist nichts was man zusätzlich zu anderen Dingen über etwas sagen kann, wenn man es als etwas Ausgedehntes (Langes) beschreibt. In diesem Sinn kann man sagen, unser Verständnis von etwas Ausgedehntem besteht darin, dass man es in seiner Länge messen kann. Oder man sagt: Das Wesen des Ausgedehnten besteht darin, unter den Maßstab der Länge zu fallen. Auf diese Weise kann man nun mit Hilfe des einfachen Maßstabes der Länge eine wesenhafte Unterscheidung treffen, nämlich zwischen dem, was eine Länge hat, und dem, was keine Länge hat. Wenn man nun davon ausgeht, dass alles, was eine Länge hat, auch als lang oder kurz bewertet werden kann, wobei alles Ausgedehnte, was nicht lang ist, kurz ist, so kann 12 Die räumliche Redeweise ist dabei problematisch, weil sie eine prinzipielle Kontinuität zwischen dem Bereich innerhalb und dem Bereich außerhalb voraussetzt (sie ist in diesem Sinne ähnlich problematisch wie die Verwendung eines neutralen Wortes wie „geschehen“, das sowohl Vernunftbezogenes wie anderes bezeichnen können soll). Die Problematik wird uns weiter unten in Abschnitt 5 wieder begegnen, wenn es um die Idee einer „Dreiteilung“ des Maßstabes gehen wird. man sich eine dreigeteilte Gliederung denken, in der man von langem und nicht-langem einerseits das nicht-Ausgedehnte andererseits unterscheidet. Das Lange/Nichtlange gehört zusammen. Dies kann man so verstehen, dass beides unter den Maßstab der Länge fällt. In ihrer Analogie zu dem Gedankengang ein paar Seiten zuvor, zeigen diese Formulierungen, wie das Bild eines Maßstabs überhaupt auf unser Problem passt (wie unser Phänomen der asymmetrischen dreifachen Unterscheidung durch das Bild eines Maßstabs gezeichnet wird) und doch verschleiern sie in dieser Analogie einen wesentlichen Unterschied zu unseren obigen Gedanken. Denn das Bild des Maßstabes wurde dort über die Feststellung einer Bewertung eingeführt, die mit der Charakterisierung einer Handlung als vernünftig oder unvernünftig ausgesprochen wird. Wer vernünftig handelt, macht etwas richtig, was der unvernünftig Handelnde falsch macht. Die praktische Unvernunft wurde deswegen als Scheitern bezeichnet. Wer unvernünftig handelt, begeht einen Fehler, und dass er einen Fehler begeht, so war der Gedankengang, zeichnet ihn noch gegenüber dem Nicht-Vernünftigen aus. Dies ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Begriffs der vernünftigen Handlung. Sagt jemand, er verwende die Charakterisierung einer Handlung als vernünftig oder unvernünftig wertfrei, so verstehen wir zunächst nicht, wie er das meint. (Vielleicht will er ausdrücken, dass er in moralischer Hinsicht keinen Grund sieht, vernünftige Handlungen zu bevorzugen, oder er drückt damit aus, dass ihm Menschen, die bisweilen irrational handeln, lieber sind als andere. In jedem Fall scheinen wir es hier mit einem Ebenenwechsel zu tun zu haben: Innerhalb der Rede von der Vernünftigkeit einer Handlung ist diese Charakterisierung immer eine wertende.) Die Rede von einem Messen enthält eine solche Wertung jedoch nicht. Wenn etwas lang ist, ist es lang, wenn etwas kurz ist, ist es kurz. Dadurch, dass man das Kurze nicht-lang nennt, so wir es oben getan haben, wird kein Mangel benannt. Ebenso kann man das Lange nicht-kurz nennen, während es andererseits nicht in gleicher Weise möglich zu sein scheint, das vernünftige un-unvernünftig zu nennen. Die Benennung der Länge scheint in der Tat vollkommen neutral zu sein. Wenn es oben hieß, dass ein Maßstab es uns ermöglicht, etwas in seiner Ausdehnung zu bewerten, so scheint dieses „bewerten“ dort in einem ganz anderen Sinn verwendet worden zu sein, als man es meint, wenn man von der Bewertung einer Handlung als vernünftig oder unvernünftig spricht. Dies heißt natürlich nicht, dass man nicht auch mit der Charakterisierung von etwas als lang oder kurz eine Wertung aussprechen kann, wie etwa in: „Dies ist ein langer Ballwechsel“. Die Bewertung ist in diesem Fall jedoch eine dem Maßstab externe. Sie gründet sich allein auf unserer Praxis (hier z.B. des Tennis/Tischtennis/Volleyballspielens), in der Länge in diesem Fall mit einer gewissen Kunstfertigkeit verbunden ist. Gleiches gilt im expliziteren Fall des „zu lang/kurz“ oder „nicht lang/kurz genug“. Hier wird zwar eindeutig eine Wertung vorgenommen, wann jedoch, bei welcher Länge diese Wertung ausgesprochen wird, hängt auch hier von äußerlichen Kriterien ab, die ebenfalls der Praxis entstammen, die den zu bemessenden Gegenstand als solchen bestimmt. Bleibt man beim Bild des Maßstabes, so kann man sich dies so vorstellen, dass auf dem Maßstab gewisse Markierungen angebracht werden: Ab hier ist etwas zu lang. Oder: Wenn diese Marke nicht erreicht wird, ist es zu kurz. Wo aber diese Marke gesetzt wird, kann man nicht aus dem Maßstab selbst erfahren, sondern hier muss man auf äußerliche Ressourcen zurückgreifen – seien diese wiederum reine Konventionen („Beim Degenfechten beträgt die Länge der Klinge zischen 90 und 92 cm“) oder zum Teil auf empirische (z.B. physikalische) Zusammenhänge gegründet („Für einen Athleten der Körpergröße von x cm werden beim Stabhochsprung mit Stäben mit einer Länge zwischen y und z cm die besten Ergebnisse erzielt“).13 Beim Maßstab der Vernunft müsste dies jedoch anders sein. Es gibt keine externe Praxis, die uns sagen kann, dass Vernünftigkeit gut oder Unvernünftigkeit schlecht ist. Es kann externe Umstände geben, die uns Wertaussagen über die Vernünftigkeit treffen lassen („Sei nicht immer so vernünftig, lass doch einfach mal die Sau raus!“), doch diese betreffen nicht die interne Werthaftigkeit der Charakterisierung als vernünftig oder unvernünftig. Dass die Werthaftigkeit intern ist, heißt, dass sie nicht darauf beruht, dass wir sagen: In den meisten Fällen ist vernünftig zu sein etwas Gutes, weil… , sondern dass die Charakterisierung an sich eine Wertung ausdrückt. Das Verhältnis von „vernünftig“ zu „unvernünftig“ ist ein solches, das nur als wertendes verstanden werden kann. Eine solche intern wertende Charakterisierung finden wir nicht nur beim „Maßstab der Vernunft“, sondern auch, wenn wir z.B. etwas als „gesund/ungesund“ bezeichnen. Offenbar haben wir es hier mit einer besonderen Art von Bewertung zu tun. Wollen wir an der Maßstabsmetapher festhalten, müssen wir sagen: Mit einem Maßstab besonderen Typs. Die Frage ist nur: Halten wir auf diese Weise wirklich an der Metapher fest? Oder ist sie uns nicht vielmehr unter der Hand entglitten? 4. Der Gedanke der Privation 13 Hier kann man auch wieder auf das verwandte Bild des Winkelmaßes, der norma, zurückgreifen. Das Winkelmaß zeigt dem Baumeister, welcher Winkel, der richtige, der rechte ist. In diesem Sinne stellt es eine Norm auf: Baue so, dass die Winkel zwischen den Wänden diese Größe haben. Warum jedoch gerade ein Winkel von 90 Grad der rechte ist, entstammt den Bedürfnissen unserer Praxis des Häuserbaus und nicht der Skala des Winkelmaßes selbst (Völker, die grundsätzlich runde Bauten bauten, wie Iglus oder Tipis, hätten für unsere Norm keinerlei Verwendung). Vgl. hier wieder Railton (ebd.). Versuchen wir hier etwas mehr Klarheit zu schaffen: Jemand könnte versuchen, die gerade getroffene Unterscheidung der Art oder des Typs zwischen einem inhärent wertenden „Maßstab“ (dieses Wort sei in Ermangelung eines besseren weiterhin verwendet) und einem Maßstab im bildlichen Sinn, bei dem die Grundlage zur Wertung aus externen Quellen kommen muss, in Abrede zu stellen, indem er ihn selbst als nur äußerlich abtut: Der Unterschied ist selbst nur äußerer Schein. Im Grunde genommen findet in beiden Fällen dasselbe statt: Es wird eine Größe relativ zu anderen eingeordnet. Was in einem Fall die Länge ist, ist im anderen Fall die Vernünftigkeit. Und wo man im einen Fall „länger“ sagt, sagt man im anderen entsprechend „vernünftiger“. Beide Bewertungen kann man nun (mindestens in einem übertragenen Sinn) auf einer Skala anordnen. Das ist das Bild des Maßstabes, das hier zugrunde liegt. Beide Skalen sind als wertneutral zu betrachten – nämlich in dem Sinn, dass keine notwendige Relation zwischen der Idee eines Maßstabes und der einer Bewertung als gut oder schlecht besteht. Genauso könnte man aber auch sagen, dass beide Skalen eine interne Wertung ausdrücken, nämlich in dem Sinne, wie sie eine Bewertung der relativen Unterschiede anzeigen. So genommen wäre ein „länger“ eben eine Bewertung – und zwar eine Bewertung im Sinne des Maßstabs der Länge. Nichts anderes ist eine Bewertung als „vernünftiger“ – nämlich eine Bewertung im Sinne des Maßstabes der Vernunft. Dass nun eine Bewertung im Sinne dieses Maßstabes der Vernunft von uns automatisch als eine Bewertung im Sinne eines „besser“ oder „schlechter“ interpretiert wird, ist zwar wahr, ist jedoch selbst rein externen Interessen geschuldet. Im Fall der Vernunft ist es eben so, dass wir aus nachvollziehbaren Gründen den „höheren“ Wert als den besseren betrachten. Der oben schon angeführte Fall der Gesundheit ist hier in der Tat analog und zwar deswegen, weil auch im Fall der Gesundheit der höhere Wert mit geradezu naturgegebener, deswegen aber trotzdem externer, Notwendigkeit der für uns bessere ist. Dies ist beim Maßstab der Länge selbstverständlich anders, aber dies dürfte darauf zurückzuführen sein, dass die Klasse der nach Länge zu beurteilenden Objekte (alles Ausgedehnte) zu divers ist, als dass es eine notwenige Verknüpfung mit menschlichen Interessen geben könnte. Eine solche Argumentation würde in der Tat die genaue Gegenposition bezeichnen, verfehlt jedoch das Phänomen. Denn die Bezeichnung einer internen Wertung sollte ja gerade nicht ausdrücken, dass mit einer Bewertung als vernünftig immer – und sei es mit externer Notwendigkeit – eine Wertung als gut oder schlecht, positiv oder negativ einhergeht. Die Behauptung einer internen Wertung sollte vielmehr ausdrücken, dass die Bewertung als vernünftig oder unvernünftig von einer solchen Struktur (was natürlich ebenfalls eine Hilfsvokabel ist) ist, dass das Verhältnis der einzelnen Bewertungen zueinander notwendig mit einer gewissen maßstabsinternen Wertung zusammenfällt.14 Dies kann man so verstehen: Während beim echten, buchstäblichen Maßstab alle Werte in einem symmetrischen Verhältnis zueinander stehen (und in diesem Sinne gleich gut sind), misst sich die Bewertung als vernünftig oder unvernünftig immer am positiven Fall der Vernunft. Im Fall des echten Maßstabes versteht man einen niedrigen Wert genauso gut wie einen höheren Wert – nämlich durch sein Verhältnis zu den anderen Werten. Im Fall der Vernunft (wie auch in dem der Gesundheit etc.) verstehen wir den negativen Fall nur in Ableitung vom positiven Fall. Wir verstehen den negativen Fall nämlich nur als negativen und daher notwendig als negativen, insofern er eine Abweichung vom positiven Fall darstellt. Dieser Gedanke wurde oben schon angedeutet: Während man beim echten Maßstab genauso das Längere durch ein länger-als im Bezug auf das Kürzere bestimmen kann, wie man das Kürzere durch ein weniger-lang-als durch das Längere bestimmen kann, kann man nicht das Vernünftige durch ein In-Beziehungsetzen zum Unvernünftigen bestimmen und zwar deswegen nicht, weil eine solche Bestimmung lauten müsste: Der Mangel an Unvernunft, was aber nichts anderes ist als: Das Fehlen eines Mangels, eines Fehlers. In einer solchen Bestimmung würde ebenso, wenn auch indirekt, auf die Perfektion des positiven Falls der Vernunft Bezug genommen. Zu sagen, dass der Fall der Vernünftigkeit eben derjenige ist, in dem man nicht unvernünftig ist, heißt nichts anderes als zu sagen, dass der positive Fall derjenige ist, den wir verstehen, sofern wir überhaupt verstehen, dass wir hier eine Bemessung vornehmen. Eine solche Struktur im Bild des Maßstabes darzustellen, ist schwierig. Selbstverständlich kann man hier Versuche wagen. Man kann zum Beispiel ein Ende des Maßstabes – nennen wir es das „obere“ – als das positive festsetzen und den Abstand von diesem Ende aus als das Maß der Abweichung vom positiven Fall (oder dem Ideal) der Vernunft auffassen. So etwas ist möglich. Aber die Setzung eines positiven Falls bleibt der Struktur des Maßstabes (dem Bild) doch fremd, sie müsste immer von Außen erfolgen („betrachten wir dieses Ende als den positiven Fall“). Letztlich verstehen wir eine solche Setzung nur in dem Maße, wie wir schon verstanden haben, was wir hier mit einem „positiven Fall“ meinen. Ein solcher Versuch dient der Veranschaulichung, aber seine Fähigkeit, die gesuchte Struktur der Vernünftigkeit/Unvernünftigkeit durch sein Bild zu erläutern, bleibt begrenzt. Gleichwohl ist uns der Gedanke, der sich in dieser Struktur der Vernünftigkeit ausdrückt, nicht unbekannt. Er ist uns in dem Sinne der Begriffe vertraut, die ich zu seiner Beschreibung verwendet habe: Es ist der Fall des Abweichens von einem gelungenen Fall, des Fehlers, des 14 Es wäre eine weitere Überlegung, ob eine solche Struktur sich nur in solchen Fällen findet, in denen ein besonderes Interesse unsererseits im Spiel ist (wie bei der Vernunft, bei der Gesundheit). Dies mag so sein und wäre nicht unplausibel, spielt jedoch für den hier vorgenommenen Gedankengang keine Rolle. Mangels. Bei Aristoteles trägt dieser Gedanke den Namen der Privation (Steresis).15 Doch müssen wir uns fragen, in welcher Situation die Einsicht in den Charakter der Privation unsere Argumentation lässt. Wir sind aufgebrochen, um den wesenhaften Vernunftbezug von Handlungen zu erläutern und mit der Erkenntnis in Einklang zu bringen, dass wir gleichsam unvernünftig handeln können. Dies ist uns gelungen, indem wir eine dreifache Unterscheidung von vernünftigem, unvernünftigem und nicht-vernünftigem Handeln getroffen haben. Diese dreifache Unterscheidung haben wir mit dem Bild der Angemessenheit an einen Maßstab veranschaulicht. Nun sieht es so aus, als würde gerade dieses Bild unvereinbar sein mit einem weiteren Gedanken, der ebenso notwendig für das Verständnis der begrifflichen Dreiteilung ist, indem er das Verhältnis zweier der drei Begriffe, nämlich das von Vernunft und Unvernunft, beschreibt: dem der Privation. Bringen wir das Problem auf den Punkt: Den Gedanken der Angemessenheit an einen Maßstab brauchen wir, weil wir durch ihn die Asymmetrie der Dreiteilung verstehen, den Gedanken der Privation brauchen wir, weil er uns das interne Verhältnis der zwei zusammengehörigen Glieder beschreibt. Beide Gedanken scheinen wesentlich zu sein. Mehr noch: Sie fügen sich ineinander. Das Verhältnis der Privation ist eines, das man nur vor dem Hintergrund einer asymmetrischen Dreiteilung verstehen kann und zwar deswegen, weil die Idee eines Mangels nur Sinn macht vor dem Hintergrund, dass ein Mangel nur dort besteht, wo etwas von der Art ist, dass hier ein Fehlen einen Defekt ausmacht.16 Gleichzeitig erläutert die Idee der Privation die Form der Asymmetrie, die hier vorherrscht, indem sie zeigt, auf welche Weise die beiden zusammengehörigen Glieder hier aufeinander bezogen sind und inwiefern man deswegen 15 Genauer gesagt ist dies einer der Fälle von Privation, die Aristoteles im fünften Buch der Metaphysik unterscheidet (vgl. 1022b). Die dort aufgeführten Varianten sind (a) die des Mangels an etwas, das „seiner Natur nach besessen werden kann“, auch wenn das Ding, an dem dieser Mangel festgestellt ist, nicht von der Art ist, dass es diese Eigenschaft besitzen könnte (dieser Fall ist für uns uninteressant – in diesem Sinn hat auch ein Stein einen Mangel an Vernunft), (b) die der Gattung, die etwas nicht besitzt, was sie besitzen könnte - Aristoteles Beispiel ist hier die Blindheit des Maulwurfs, der ja als Maulwurf nicht mangelhaft ist. Gleichwohl scheint Aristoteles der Ansicht zu sein, dass Maulwürfe der Gattung nach einen Mangel aufweisen (wahrscheinlich am Tiersein, Tiere sind ja als empfindende Wesen definiert und die volle Empfindungsfähigkeit würde wahrscheinlich das Sehen mit einschließen vgl. „Über die Seele“ 514b-515a) (c) die Variante des Individuums, dem es an etwas mangelt, das ihm seiner Gattung nach zukommt – hier wird der blinde Mensch genannt. Diese letzte Variante wird noch dahingehend spezifiziert, dass eine Eigenschaft der Gattung nicht nur generell zukommen kann, sondern in einem spezifizierten Sinn. So kann das Sehvermögen an ein besonderes Alter geknüpft sein (Katzenjunge zum Beispiel sind nicht im gleichen Sinne blind wie blinde ausgewachsene Katzen) oder allgemein gewisse Vermögen an bestimmte Funktionen, die sich aus der Natur der Gattung ergeben (Wenn es in der Natur des Bambus liegt, nur alle 60 Jahre zu blühen, dann muss man einen nicht-blühenden Bambus alle 60 Jahre mit anderen Augen betrachten als in den übrigen 59). Von den drei Fällen interessiert uns der dritte Fall. Man könnte ihn für unsere Zwecke so umformulieren, dass es um die einzelne Handlung geht, die als Handlung, als etwas, was der Gattung „Handlung“ zugehört, vernünftig ist, an dieser Vernünftigkeit aber einen Mangel aufweist. (Neben diesen drei Fällen nennt Aristoteles noch den des „gewaltsamen Entzugs“, der aber eine Bestimmung anderer Art ist, da er ja nur als Variante des dritten Falls denkbar ist.) Alle Übersetzungen nach Bonitz (bearbeitet von H. Seidl) in der Meiner-Ausgabe (Hamburg 1995). 16 Ebendies ist die Unterscheidung zwischen dem ersten und den übrigen Fällen bei Aristoteles. zwischen diesem Doppel und dem dritten Glied eine Unterscheidung anderer Art treffen muss. Wenn aber nun der eine Gedanke nicht mit dem anderen vereinbar ist, wenn das Bild des Maßstabs nicht mehr den ja bestimmteren und daher weitergehenden Gedanken der Privation zu fassen vermag, müssen wir entweder den ganzen Gedankengang verwerfen (und das wollen wir nicht, weil er keineswegs inkohärent zu sein scheint) oder ein passenderes Bild suchen, welches den Gedanken der Angemessenheit einzufangen vermag und gleichzeitig dem Gedanken der Privation gerecht wird. Was könnte ein solches Bild sein? 5. Minimale Vernünftigkeit? Der Irrtum des dreigeteilten Maßstabs Bevor ich mit der Metapher des Musters (oder: der Form) einen positiven Vorschlag mache, wie wir unsere beiden Gedanken in einem Bild zusammenbringen können, möchte ich noch ein kleines Zwischenspiel einschieben, das uns negativ klarmacht, wieso die Überlegungen, mit denen wir uns nun schon eine ganze Weile herumgeschlagen haben, keineswegs umsonst gewesen sind. Sie sind nicht umsonst gewesen, weil wir mit den Überlegungen zum Maßstab und zur Privation einen Irrtum vermeiden können, der verlockend nahe liegt, wenn man sich einmal das Problem der Irrationalität von Handlungen vor Augen geführt hat. Diesen Irrtum könnte man mit unserem Vokabular den Irrtum des dreigeteilten Maßstabes nennen. Etwas neutraler und zugänglicher formuliert besteht er darin, dass man meint, die mögliche Irrationalität von Handlungen dadurch erklären zu können, dass man auch irrationalen Handlungen noch eine minimale Rationalität zuschreibt. Dieser Irrtum ist so verlockend, weil der in ihm ausgedrückte Gedanke in seiner Einfachheit unabweisbar scheint – und dies in einem gewissen Sinn auch ist. Wie so häufig kommt es darauf an, genau zu beschreiben, in welchem Sinn er unabweisbar ist und in welcher Auslegung er uns auf die falsche Fährte führt. Der Gedanke lässt sich wie folgt beschreiben: Wenn es stimmt, dass Handlungen nur über ihren Vernunftbezug als Handlungen verständlich sind, wenn sie also ihrem Wesen nach vernunftorientiert sind, wir aber gleichzeitig überzeugt sind, dass wir das Phänomen von unvernünftigen Handlungen erklären zu können in der Lage sein müssen, dann müssen wir einen begrifflichen Raum schaffen, in dem wir etwas gleichzeitig noch Handlung aber schon unvernünftig nennen können. Diesen Raum können wir minimale Vernünftigkeit nennen. Handlungen, die in diesen Raum fallen, sind noch vernünftig genug, um als Handlungen erkennbar zu sein, sie weisen jedoch so viel Mängel auf, dass wir sie nicht mehr im eigentlichen Sinn vernünftig nennen können. So lange wir uns in diesem Bereich befinden, unterscheiden wir uns noch von den Tieren, wir sind noch Handelnde. Auf den ersten Blick gleicht diese Antwort jener, die wir selbst einige Seiten zuvor entwickelt und dann mit einigen Umständen zu verstehen versucht haben (sie gleicht dieser natürlich nicht zuletzt deswegen, weil ich sie in ähnliche Worte gefasst habe). Es kommen jedoch dann wesentliche Unterschiede zum Vorschein, wenn man das eben Gesagte in einer gewissen Richtung liest, nämlich als geleitet von der Idee eines Kontinuums zwischen dem Fall der voll ausgeprägten Vernünftigkeit und dem, in dem gar keine Vernünftigkeit mehr vorhanden ist und wir somit nicht mehr von Handlungen sprechen können. Der Gedanke ist hier, dass eine Handlung uns als Handlung immer unverständlicher wird, je weniger sie vernünftig ist.17 Folgt man dieser Entwicklung zur Unvernunft, so gelangt man zu einem Bereich, in dem wir noch von Handlungen sprechen, ohne dass wir diesen ihre maßgebliche Eigenschaft (in vollem Maße) zugestehen könnten. Man sagt dann: „Ja, ja, was er da getan hat, ist nicht wirklich nachzuvollziehen, aber es ist noch nicht so unverständlich, dass man es nicht mehr als Handlung bezeichnen könnte.“ Sobald die Handlung jedoch noch unvernünftiger wird, ist auch dies nicht mehr möglich, wir verstehen sie nicht mehr als Handlung, das heißt sie ist im eigentlichen Sinne keine Handlung mehr. In das Bild des Maßstabes gefasst, sähe dies so aus: Es gibt zwei Enden der Skala: Oben ist der Bereich höchster Vernünftigkeit – hier sprechen wir von Handlungen. Dann schließt sich ein Bereich niedrigerer Vernünftigkeit an, den wir in unserer Terminologie „Unvernunft“ nennen können und dann gelangen wir am anderen Ende an, das wir entsprechend „nicht-vernünftig“ taufen und wo wir es nicht mehr mit Handlungen zu tun haben. Wir haben es hier also mit einem dreigeteilten Maßstab zu tun anstatt wie in unseren obigen Überlegungen einerseits mit etwas, das nach einem Maßstab bewertet werden kann und andererseits mit etwas, das gar nicht in Frage kommt, nach diesem Maßstab bewertet zu werden. Die Idee der Angemessenheit ist für unsere Problematik verloren gegangen. 17 Und so weit steht diese Überlegung im Einklang mit dem, was Davidson über das Problem der Unvernunft sagt. Denn Unvernunft ist für ihn ein Hindernis der Interpretierbarkeit einer Handlung (und also eines Handelnden) als sinnvoll: „It [die Interpretierbarkeit von Handlungen] is a matter of degree. We have no trouble understanding small perturbations against a background with which we are largely in sympathy, but large deviations from reality or consistency begin to undermine our ability to describe and explain what is going on in mental terms.” (Paradoxes of Irrationality. S. 184) Wir können also das Geistige nicht mehr als Geistiges beschreiben, wenn es zu inkohärent wird oder zu wenig dem entspricht, was wir selbst von einer Situation glauben (z.B. was zu tun ist). Davidson scheint mir aber nicht den Gedanken einer minimalen Rationalität zu teilen, wie ich ihn hier vorstelle, da nach ihm etwas Wesentliches passiert, wenn wir zu wenig Kohärenz diagnostizieren: Unsere Interpretation entzieht sich selbst den Boden, auf dem Sie die Inkohärenz als Inkohärenz feststellen kann, da wir plötzlich die vermeintliche Handlung gar nicht mehr als etwas verstehen, für das die Idee der Inkohärenz zutreffend ist. Und dieser Umstand führt nach Davidson zur abstraktesten Charakterisierung des Problems der Unvernunft: „The underlying paradox of irrationality, from which no theory can entirely escape, is this: if we explain it too well, we turn it into a concealed form of rationality; while if we assign incoherence to glibly, we merely compromise our ability to diagnose irrationality by withdrawing the background of rationality needed to justify any diagnosis at all.” (Ebd. S.184) Dieser Gedanke wird sich uns durch das Bild der Form oder des Musters erschließen. Wichtig ist dabei festzuhalten, dass sie notwendigerweise hat verloren gehen müssen. Denn die Idee von einer minimalen Vernünftigkeit beinhaltet, dass noch etwas folgt, was in einer Reihe mit dem minimalen Fall steht. Wenn ich auf einem Maßstab einen Bereich markiere und sage: Bis hierhin kann man von „Vernunft“ sprechen, so zeigen wir im gleichen Zug, dass es ein jenseits der Markierung gibt. Und es hilft auch nicht, einen realen Zollstock zu nehmen und einen Endpunkt das Ende der Vernunft zu nennen, denn natürlich steckt in der Idee des Maßstabes, dass er prinzipiell verlängert werden kann. Indem der Maßstab nun jedoch verlängert wird, misst er grundsätzlich auch Unvernünftiges mit. Die Unterscheidung zwischen dem, was durch den Maßstab gemessen werden kann und was nicht (der Gedanke der Angemessenheit) liegt nun zwischen dem, was ein Geschehen ist – oder wie immer der neutrale Terminus aussieht, der Handlungen und nicht-rationale Ereignisse (noch so ein Terminus) gleichermaßen erfasst und auf ihre Vernünftigkeit hin bemisst – und dem, was nicht einmal diesen Geschehenscharakter mit Handlungen teilt. Sie wurde sozusagen außer Sichtweite unserer Frage verschoben. Obwohl der Verlust der Unterscheidung der Angemessenheit des Maßstabes Teil des Bildes und somit gewollt ist (er ist in gewisser Weise der Witz dieses Ansatzes), stellt er doch ein Problem für die Lösung dar. Denn schließlich war die Dreiteilung dafür gedacht, eine Unterscheidung von unvernünftigen Handlungen und nicht-vernünftigem Geschehen zu ermöglichen. Nun sieht es zumindest prinzipiell so aus, dass man, flapsig gesprochen, sich nur dumm genug anstellen muss, um auf die Stufe eines Tieres oder gar einer Pflanze oder eines Steines abzurutschen. Natürlich könnte man diese Konsequenz empirisch umgehen, indem man die Grenze zur Nicht-Vernunft nur weit genug unten ansetzt, aber das Problem bleibt prinzipiell bestehen – der Unterschied zwischen Unvernunft und nicht-Vernunft bleibt immer einer des Grades. Der Stein ist eben nur in sehr viel geringerem Maße vernünftig als wir selbst. In so geringem Maße, dass wir ihn in der Tat nicht mehr vernünftig nennen wollen. Aber nicht mehr vernünftig zu sein heißt in diesem Verständnis nichts anderes als sehr, sehr wenig von dem zu haben (vielleicht sogar den Zahlenwert „0“, wenn man eine quantitative Messung einführen könnte), wovon Wesen, wenn sie unvernünftig sind, mehr haben und vernünftige Wesen im vollen Besitz sind. Hier ist es nun der Gedanke der Privation, der uns zeigt, warum wir mit einem solchen Bild nicht zufrieden sind. Steine haben keinen Mangel an Vernunft, sie sind überhaupt nicht von der Art, dass man ihnen Vernunft zurechnen könnte. Steinen fehlt nichts. Sie sind vollkommen in Ordnung so nicht-vernünftig, wie sie sind. 6. Form/Muster Gleichwohl habe ich oben geschrieben, dass der Fehler, den wir durch unser neu gewonnenes Gedankengut (Angemessenheit! Privation!) haben vermeiden können, nicht nur ein nahe liegender sei, sondern dass er versuche, einen Gedanken zu fassen, der in einem gewissen Sinne unabweisbar ist. Dieser Gedanke ist der, dass wir uns bei steigender Unvernunft (was dies im Einzelnen bedeuten soll, was Grade der Unvernunft überhaupt sind, wird hier offen gelassen, es wird unten wenn es um die Form der praktischen Vernunft geht, noch eine Rolle spielen) von einem Ideal der Vernunft entfernen. Und auch hier hilft uns eine der weiter oben ausgeführten Überlegungen, nämlich die von der internen Wertigkeit des Maßstabes, klarer zu sehen, was mit einer solchen Entfernung von einem Ideal gemeint sein kann. Allerdings enthält die Idee einer steigenden Entfernung von der Vernunft auch die Frage, ob diese Entfernung beliebig groß werden kann. Die Idee einer minimalen Vernunft hat auf diese Frage eine bestimmte, wenn auch unbefriedigende Antwort gegeben: Irgendwann können wir auch nicht mehr von Unvernunft sprechen, sondern sind so weit von der Vernünftigkeit entfernt, dass wir uns schon im Bereich der Nicht-Vernunft befinden. Diese Antwort ist unbefriedigend, weil sie so tut, als würden wir jetzt noch eine Bewertung der gleichen Art vornehmen. Wie aber sähe eine angemessene Antwort auf diese Frage aus? Zu welcher Antwort werden wir nach allem, was wir bislang gesagt haben, verpflichtet? Diese Fragen verweisen darauf, dass wir noch immer nicht die Spannung aufgelöst haben, in der wir seit unserer Darstellung der Mangelhaftigkeit der Metapher des Maßstabes in Abschnitt 4 stehen. Denn auch hier sehen wir, dass die Maßstabsmetapher uns nicht weiterhelfen kann. Die Frage, ob man sich beliebig weit vom Ideal der Vernunft entfernen kann, muss das Bild des Maßstabes offen lassen. Der Maßstab misst nur all das, was nach Vernunftkriterien bewertet werden kann. Aus der Sicht des Maßstabes wäre es erneut ein äußerlicher Eingriff, irgendwo auf der Skala eine „0“ einzutragen und damit festzusetzen, dass es hier nicht weitergehen kann. Dies liegt nicht im Bild des Maßstabes selbst begründet. Tatsächlich müsste die Frage, ob es einen beliebig großen Abstand zur Vernunft geben kann, auch eher so gestellt werden, dass in ihr die Möglichkeit aufgeworfen wird, dass etwas so weit von unserem Verständnis von Vernünftigkeit entfernt ist, dass es uns unmöglich erscheint, es überhaupt noch mit dem Maßstab der Vernunft zu messen. Naturgemäß kann das Bild des Maßstabes uns hierzu keine Auskunft geben, da es selbst nur eben die Fälle erfasst, bei denen ein solches Problem schon entschieden ist. Der Maßstab misst nur die Länge von etwas, nicht wie sehr etwas von der Art ist, eine Länge zu haben. In der Tat kann man sich diese Frage beim buchstäblichen Maßstab kaum sinnvoll stellen. Wir kommen also nicht umhin, uns erneut zu fragen, ob wir eine bessere, eine „angemessenere“ Metapher für unsere Idee der Privation und die Abweichung vom positiven Fall der Vernunft finden können, eine, die uns Antworten auf Fragen wie die gerade gestellte aufzeigen kann. Ich möchte nun einen Vorschlag für eine solche alternative Metapher machen. Es liegt in dem Charakter der Aufgabe, ein passendes Bild dafür zu finden, dass man einen solchen Fund nicht aus den gegebenen Informationen herleiten kann. Alles, was man tun kann, ist sich umzuschauen und dann das sich aufdrängende Bild auf seine Stimmigkeit zu prüfen. Insofern ist ein Vorschlag für eine Metapher im Vorfeld niemals gänzlich zu rechtfertigen. Aber natürlich heißt das nicht, dass man ziellos vorgehen muss, dass es keinerlei Anleitung gibt, ein solches passendes Bild zu suchen. In diesem Fall, da es sich um einen aristotelischen Gedanken dreht, bietet es sich zum Beispiel an, die Bildersprache des Aristoteles auf einen geeigneten Terminus hin zu untersuchen. Einen solchen meine ich in dem der Form entdecken zu können. Warum Form? Ein Wort der Warnung sei vorweggesandt: Diese Arbeit ist keine AristotelesAuslegung in einem engeren als dem allerweitesten Sinne, weswegen ich auch im Folgenden alternativ häufig (und vielleicht auch passender) von einem Muster oder einer Struktur sprechen werde, welche beide keine aristotelischen Ausdrücke sind. Ich rekonstruiere keinesfalls Aristoteles Begriff, so wie er ihn an verschiedenen Stellen einführt und verwendet.18 Alles, was hier gemacht werden soll, ist diese Metapher aufzugreifen und sie zu gebrauchen, um einen anderen aristotelischen Gedanken anschaulicher zu machen. In dem Maße, wie dieses gelingt, ist der Gebrauch gerechtfertigt. Und brauchbar scheint mir das Bild auf folgende Weise zu sein: Denken wir uns eine Form oder ein Muster. Eine Form, ein Muster ist in dem Sinne etwas Allgemeines, als verschiedene Dinge diese Form haben können, das gleiche Muster mehrfach auftreten kann. Zum Beispiel kann ein und dasselbe Muster auf einer Tapete häufiger auftauchen. Man kann dann sagen, dass man es mit verschiedenen Instanziierungen desselben Musters zu tun hat oder auch verschiedenen Verwirklichungen. Auf die Redeweise kommt es an dieser Stelle nicht an. Weil ein Muster, eine Form, etwas Allgemeines ist, kann man sie (prinzipiell) reproduzieren. Wieder liegen die einfachsten Beispiele nicht fern. Wenn ich Ideen für einen neuen Tapetenentwurf sammele, kann ich zum Beispiel im Zuge dieses Schaffensprozesses andere interessante Tapetenmuster kopieren, um sie für Anregungszwecke in meine Mustersammlung aufzunehmen. Die Möglichkeit einer solchen Kopie (wir stellen sie uns ganz konventionell mit Pinsel und Feder vor) weist zugleich auf ein 18 Und das heißt auch, dass ich mich nicht damit beschäftige, ob Aristoteles nur einen oder mehrere Verwendungsweisen dieses Begriffs hat, ob diese konsistent sind, wo die Unterschiede liegen etc. zweites entscheidendes Merkmal des Formbegriffes hin: Eine Form kann fehlerhaft verwirklicht sein. So kann mir bei der Kopie eine Ungenauigkeit unterlaufen, vielleicht bin ich auch nicht geschickt genug, oder ich zeichne sie aus dem Gedächtnis und kann mich nicht mehr korrekt an sie erinnern. Gleichwohl hört eine Kopie dadurch, dass sie fehlerhaft ist, nicht sogleich auf, eine Kopie zu sein. Im Gegenteil: Wir bewerten eine Kopie als Kopie gerade darin, wie nahe sie dem Original ist. „Diese Kopie ist Dir aber gut gelungen!“ können wir ausrufen und meinen dies als Lob und nicht als Selbstverständlichkeit, als Tautologie. Es kann Muster geben, die so kompliziert sind, dass wir es, bei gewissen manuellen Reproduktionsverfahren, für (empirisch) beinahe unmöglich halten, dass man sie exakt kopieren kann. Dennoch wird dadurch im logischen Sinn der Gedanke einer Reproduktion nicht unmöglich. Und eben weil es die logische Möglichkeit gibt, eine Kopie als fehlerhaft zu bemängeln, weil wir eine Abweichung als Abweichung wahrnehmen können, sehen wir einen Unterschied zwischen einer schlechten Kopie und etwas, das gar keine Kopie darstellt. Der erste Fall unterscheidet sich gerade darin vom zweiten, dass er notwendig mit einer gewissen Wertung verbunden ist, die im zweiten Fall nicht sinnvoll ist. Angenommen jemand stellt sich vor meinen Tisch, sieht mein Tapetenmuster und einiges (grob ähnliches) Gekrickel auf meinem Papier und sagt: „Das ist aber eine miserable Kopie!“ – ich kann diese Kritik empört zurückweisen und damit als Kritik auflösen, indem ich ihm glaubhaft versichere, dies seien nur meine Versuche gewesen, die Tinte in meiner Feder wieder zum fließen zu bringen und die Ähnlichkeit bloßer Zufall. „Ach so!“ wird der Kritiker nun lediglich sagen können; er kann nicht auf seiner Kritik bestehen (übrigens im allerdings sehr unwahrscheinlichen, umgekehrten Fall auch nicht auf einem Lob). Auch hier kann natürlich gelten, dass vielleicht eine Abweichung vom vorgegebenen Muster nach einem anderen Bewertungsmaßstab viel günstiger bemessen werden muss – so kann es sein, dass meine gescheiterte Kopie viel schöner ist als das Original, und vielleicht hatte ich es auf einen solchen Effekt auch angelegt, als ich mich daran machte, komplizierte Muster abzuzeichnen, aber als Kopie ist meine schöne Abweichung doch mangelhaft. Die Bewertung nach Schönheit ist in diesem Sinn der Verwirklichung einer Form extern (in einem anderen Sinn kann man sagen, dass in einer möglichst gelungenen Verwirklichung eine spezifische Schönheit liegen mag, aber das wäre eine andere Redeweise). Wie man sieht, gehen beide Momente notwendigerweise miteinander einher: Nur wenn etwas die Verwirklichung einer Form darstellt, kann man es an dieser Form bemessen, steht es einer bestimmten, inhärenten Kritik gegenüber offen – und gleichzeitig steht es immer unter dieser Bewertung insofern es Verwirklichung der Form ist. Ich muss nach allem, was in den vorangegangenen Abschnitten ausgeführt worden ist, wohl kaum mehr ausdrücklich darauf hinweisen, inwiefern wir hier genau die beiden Momente illustriert haben, die wir oben mit Mühen und unter Widerständen als Charakteristika der wesensmäßigen Bestimmung einer Handlung über ihre Vernünftigkeit herausgearbeitet haben: sowohl die Idee der Angemessenheit (nur was eine Form verwirklicht, kann an dieser gemessen werden) als auch die der inhärenten Bewertung werden durch die Form-Metapher spielend eingefangen. Und sofern diese Metapher diese Charakteristika treffend in ein Bild zu fassen vermag, können wir nun also sagen: Dass unser Handeln dem Wesen nach vernünftig ist und deswegen auch unvernünftig zu sein vermag, lässt sich so begreifen, dass in unseren einzelnen Handlungen eine bestimmte Form verwirklicht wird, die unser Handeln als solches auszeichnet. Eine Form, die zu verwirklichen allererst bedeutet, eine Handlung vollführen und die zugleich ein Maß dafür aufstellt, wann eine Handlung als Handlung gelungen ist oder nicht, indem sie uns erlaubt zu sagen, wann eine konkrete Handlung diese Form mangelhaft und wann tadellos verwirklicht: die Form der Vernunft. Handlungen sind Handlungen insofern sie als jeweils konkrete Tätigkeiten die Form der Vernunft verwirklichen. Sie sind unvernünftig, wenn in der jeweiligen Instanziierung die Form entstellt verwirklicht wird. Etwas aber, das die Form überhaupt nicht verwirklicht, ist auch keine Handlung mehr, es ist arational. Wir sehen damit auch, wie sich nun die Frage, mit der wir diesen Abschnitt begonnen haben, nämlich wie man den Gedanken verstehen kann, dass Handlungen irgendwann nicht mehr als Handlungen begriffen werden können, wenn sie „zu unvernünftig“ sind (eine Redeweise, die streng genommen unsinnig ist, da solche Handlungen genau nicht mehr unvernünftig genannt werden können – das ist der Punkt gegen den dreigeteilten Maßstab), auf neue Weise darstellt, nämlich als die Frage, wann man ein konkretes Etwas noch als Verwirklichung einer Form begreifen kann. Doch bevor wir uns endlich dieser Frage zuwenden und sehen, was die Metapher der Form uns in diesem Feld lehren kann, wie sie uns also hilft, die Idee einer minimalen Vernünftigkeit zu verwerfen, sind noch ein oder zwei Worte der Warnung zu der konkreten Art und Weise angebracht, wie wir hier die Idee der Form als Bestimmung des Handelns eingeführt haben. 7. Ein Caveat: Die Verwirklichung der Form ist nicht Inhalt des Handelns Das Schaffen einer Kopie ist keineswegs das einzige durch unsere Lebenswelt nahegelegte Beispiel dafür, wie die Metapher der Form zu verstehen ist. Es ist in mancher Hinsicht auch nicht das Beste, ja es ist in gewisser Weise für den Zweck, den es hier erfüllen soll, sogar irreführend. Hilfreich ist die Tätigkeit des Kopierens eines Musters als Erläuterung dessen, wie die Metapher der Form uns helfen kann, die wesenhafte Vernünftigkeit (und Unvernünftigkeit) von Handlungen zu verstehen, weil sie uns zeigt, wie ein bestimmtes Handeln als dieses bestimmte Handeln (Kopieren) sich daran messen lassen muss, inwiefern durch es eine Form oder ein Muster mehr oder weniger mangelhaft verwirklicht wird. Wir sehen, wie eine Tätigkeit als die bestimmte, die sie ist, einer bestimmten Sorte von Lob und Kritik gegenüber offen ist. Und daran sehen wir, wie ein Tun überhaupt einem internen Maßstab unterliegen kann. Irreführend ist das Beispiel jedoch in drei wichtigen, miteinander verknüpften Punkten: Erstens darin, dass in ihm eben eine Handlung als bestimmte Handlung, nämlich als die besondere Handlung des Kopierens eines Musters, einer Bewertung unterliegt. Wir haben aber das Bild der Form eingeführt, um nicht lediglich bestimmte Handlungen als Ausführungen je bestimmter Handlungsweisen als gelungen oder misslungen zu charakterisieren, sondern um Handlungen als solche, nämlich darin, was sie als Handlungen ausmacht, das heißt in ihrer Vernünftigkeit, als mehr oder weniger perfekt verstehen zu können. Was wir tun, ob kopieren, Ski fahren oder backen, ist dafür irrelevant. Dass wir im Handeln eine Form verwirklichen, kann nicht bedeuten, dass durch diese Erläuterungsweise gewisse Arten von Handlungen (Kopieren, Nachbilden etc.) als besondere Handlungen hervorgehoben werden. Zweitens – und das ist Ausdruck derselben Differenz – ist das Beispiel des Kopierens irreführend, indem in ihm die Form zum Gegenstand des Tuns gerät. Wenn wir ein Muster kopieren, dann ist unser Tun bewusst auf ein bestimmtes Muster gerichtet – all unser Bemühen lässt sich dann so beschreiben, dass wir versuchen oder dass es unser Anliegen ist, das Muster möglichst genau zu treffen. Wenn aber unser jegliches Handeln als solches als vernünftig charakterisiert sein soll, so scheint diese Beschreibung nicht mehr zutreffend: Wir versuchen nicht in unserem Handeln die Form der Vernunft zu verwirklichen. Jedenfalls nicht in dem Sinn, in dem wir beim Kopieren eines Tapetenmusters (und denken wir uns ein eher Kitschiges) versuchen, die Blüten der Heckenrose in genau der entsprechenden Neigung, Taubesprenkelung und was das Muster eben noch verlangt abzuzeichnen. Was wir versuchen, wenn wir etwa ein Brot backen, ist ein gutes Brot zu backen, nicht aber vernünftig zu sein. Wenn wir sagen, dass unser vernünftiges Handeln als eine Form verwirklichend gedacht werden kann, dann eben nicht so, dass die Form in die Charakterisierung unseres Vorhabens einfließt, sondern – in einer Wendung, die wir an dieser Stelle noch unzureichend verstehen – indem die Form beschreibt, was es überhaupt heißt, im Handeln ein Vorhaben zu verfolgen.19 Drittens schließlich ist das Beispiel des Kopierens irreführend, indem in ihm eine gegenständlich gegebene Form als ein zu kopierendes Original eingeführt wird. Oder jedenfalls kann man das Beispiel des Kopierens so verstehen: Ich nehme mir eine bestimmte Verwirklichung eines Musters vor und versuche, sie möglichst genau zu reproduzieren. Aber auch das ist in dem Gedanken vom Handeln als Verwirklichen einer Form nicht enthalten. Allgemein sieht der Gedanke der Form als ein Allgemeines, das in konkreten Instanzen verwirklicht wird, nicht notwendig vor, dass das Allgemeine in einer besonderen Verwirklichung perfekt verwirklicht oder gar durch diese Verwirklichung definiert wird. Im Gegenteil ist es logisch durchaus zulässig, dass eine Form in keiner der Instanzen perfekt verwirklicht wird. Es kann durchaus empirische Ursachen geben, die bewirken, dass jede tatsächliche Verwirklichung einer Form mangelhaft ist. So wie etwa eine schadhafte Druckmaschine das Muster einer Tapete in jedem einzelnen Druck mangelhaft auf das Papier bringt. Wir verstehen trotzdem, was es bedeutet, dass es eine Form gibt, die nirgendwo in vollem Maße verwirklicht wird, aber dennoch Beurteilungskriterium für die Instanziierungen ist. Wenn ich ein Original kopiere, ist das anders, denn ein Original kann als konkreter Gegenstand in einem wichtigen Sinn nicht fehlerhaft sein. Es definiert die Form. Das aber ist nicht das Verhältnis, das wir zur Vernunft des Handelns haben: Im Handeln orientieren wir uns nicht eigentlich an einer konkreten vernünftigen Handlung, die wir zu kopieren versuchen (wenn dies auch aus pädagogischen Zwecken manchmal hilfreich sein kann), sondern indem wir handeln, verwirklichen wir etwas Allgemeines, was jede einzelne unserer Handlungen als Handlungen bestimmt – auch wenn es logisch möglich scheint, dass jede einzelne Handlung durch empirische Umstände die Form nur mangelhaft verwirklicht. Alle drei Mängel, die das Beispiel des Kopierens eines vorgegebenen Musters als Illustration dessen, was es bedeuten kann, dass unser Handeln als solches Verwirklichung einer Form der 19 Dies ist kein Schritt der Verallgemeinerung. Es ist nicht so, dass etwas, das auf besondere Weise für das Kopieren gilt, auf eine allgemeinere Weise für alle Handlungen zutrifft. Es ist nicht so, dass wir in allem, was wir tun, Kopisten sind: Kopisten der Vernunft. Jedenfalls nicht, wenn das heißt, dass wir etwas in der Art machen, was wir in spezifischerer Form beim Kopieren machen. Gleichwohl stimmt es natürlich, dass wir sagen wollen (das ist die Idee dabei, das Bild der Form/des Musters einzuführen), dass wir in allem, was wir tun, die Form der Vernunft verwirklichen. Aber dies ist keine allgemeine Charakterisierung im Sinne eines allgemeinen Gegenstands unseres Handelns. Diese Unterscheidung werden wir genauer verstehen, wenn wir in Kapitel 2 untersuchen, wie man Form und Inhalt beim Denken, der anderen uns vertrauten Form der Vernunftausübung, auseinander halten kann. Dort werden wir argumentieren, dass es eine analoge Verwechslung darstellt, wenn man etwa argumentiert, dass das Wahrheitsprädikat das allgemeinste und daher jedem Urteil zukommende Prädikat ist oder dass die logischen Gesetze (wie Frege es ausdrückt) die „allgemeinsten“ Gesetze des Wahrseins darstellen, die wahr sind, unabhängig worüber man nachdenkt. Vgl. G. Frege: Nachgelassene Schriften. Hamburg 1969, S. 139 (im Folgenden NS). Vernunft ist, aufweist, verweisen also auf denselben Punkt: Darauf, dass eine Wesensbestimmung des Handelns durch das Bild einer Form der Vernunft nicht so verstanden werden darf, dass wir in unserem Handeln versuchen, eine uns vorgegebene Form der Vernunft zu verwirklichen. Das könnte man, ebenfalls in Verwendung einer Redeweise, die es noch zu erläutern gilt, eine Verwechslung von Form und Inhalt nennen. Dass wir die Form der Vernunft im Handeln verwirklichen, ist nicht Inhalt unseres Handelns (so wie ein Bettgestell zu schreinern, mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren oder eine Dissertation zu schreiben der Inhalt von Handlungen, das worum es geht, sein kann). Sie ist nicht mal deren „allgemeinster“ Inhalt (in dem Sinne, dass Fahrrad zu fahren und eine Arbeit zu schreiben, obgleich verschiedene Handlungen, doch zumindest darin inhaltlich übereinstimmen und dies ebenfalls mit allen anderen Handlungen tun, dass beides zugleich Bemühungen sind, vernünftig zu sein). Vielmehr ist Verwirklichung der Form der Vernunft zu sein in genau der Weise, wie dies durch das Bild ausgedrückt wird, Bedingung dessen, was heißt, etwas inhaltlich anzustreben. Das Bild der Form soll die Rede von „Bedingung“ hier für das Denken auf eine gewisse Weise gangbar machen. Wenn man aber nun Handlungen als Verwirklichungen der Form der Vernunft nicht so verstehen soll, dass wir in unserem Handeln eine Formverwirklichung zum Gegenstand haben (wie es beim Kopieren eines Musters der Fall ist), wie soll man sich dann vorstellen, dass in ihnen ein Muster instanziiert wird? Dies ist letztlich natürlich die Frage, die in diesem Buch als ganzem beantwortet werden soll, und das heißt richtig verstehen werden wir sie erst im Laufe der folgenden Kapitel, aber für eine erste Näherung mag es hilfreich sein, sich vor Augen zu führen, wie Michael Thompson das Bild der Form verwendet (er versteht es allerdings nicht als Bild), wenn er sich einem anderen, uns aus dem alltäglichen Umgang bekannten Phänomenbereich zuwendet: Der Rede über Lebendiges. 8. Lebensformen Im ersten Teil seines Buchs „Life and Action“20 setzt sich Michael Thompson mit der Frage auseinander, wie wir überhaupt Lebendiges als Lebendiges begreifen können. Ausgehend von der seiner Ansicht nach zum Scheitern verurteilten Idee, das Leben über eine Liste von Merkmalen zu definieren (zum Scheitern verurteilt, weil jedes dieser Merkmale – wie etwa Komplexität oder Homeostasis – schon das Verständnis von Lebendigem voraussetzt: Etwas ist in einem bestimmten Sinn komplexer als seine Umgebung, wenn es lebendig ist, etwas 20 M. Thompson: Life and Action: Elementary Structures of Practice and Practical Thought. Cambridge, Ma 2008. bleibt in einem bestimmten Sinn gleich, wenn es am Leben bleibt),21 entwickelt er eine Erläuterung des Phänomens des Lebens über die Darlegung der logischen Charakteristika, die unsere Rede über Lebendiges auszeichnet. Leben ist für Thompson ein Phänomen, das als Teil der Wirklichkeit darüber definiert wird, dass wir in seiner Darstellung bzw. Repräsentation klar identifizierbare logische Muster verwenden. Die philosophische Untersuchung des Lebendigen ist damit im Prinzip vergleichbar (wenn auch viel spezifischer) mit der philosophischen Untersuchung von Gegenständlichkeit, die Frege unternommen hat, als er die logische Differenz von Begriff und Gegenstand untersucht hat.22 Die Grundidee ist dabei die folgende (und darin wird die Bedeutung für unsere Untersuchung offenbar): Wenn man ein lebendiges Wesen als lebendiges Wesen verstehen will, so kann dies nicht gelingen, wenn man allein auf das konkrete Ding achtet, das man vor sich auf dem Seziertisch oder unter dem Mikroskop oder vor dem Fernrohr hat. Nichts an der bestimmten Amöbe unter meinem Mikroskop, um ein Beispiel zu wählen, das Thompson selbst benutzt, zeigt mir, dass es sich um ein lebendiges Wesen handelt. Alles, was ich beobachte, könnte genauso durch nicht lebendige Prozesse (außergewöhnliche chemische Zufälle etc.) zustande gekommen sein.23 Um die Amöbe als lebendiges Wesen zu verstehen, muss ich meinen Blick in einem bestimmten Sinn erweitern, ich darf nicht nur auf das konkrete Ding blicken, sondern muss, wie es Thompson mit einer Formulierung von G.E.M. Anscombe sagt, „the wider context“ in den Blick nehmen. Dieser „weitere Kontext“ ist das, was Thompson die Lebensform (Life-Form) des konkreten Individuums oder auch dessen Spezies nennt: Nur wenn ich begreife, dass dieses Ding vor mir unter dem Mikroskop ein Exemplar der Lebensform Amöbe ist, kann ich begreifen, dass die bestimmten Vorgänge, die ich beobachte (etwa die Aufreihung der Chromosomen bei der Zellteilung), bestimmte lebendige Prozesse sind (in diesem Fall Teil des Aktes der Fortpflanzung). Nur dann kann ich all das, was ich beobachte verstehen als etwas, das (um meine eigenen Metaphern zu verwenden) einen bestimmten Platz oder eine bestimmte Funktion im Leben einer Amöbe hat.24 Genauso steht es mit allen anderen Beobachtungen über Lebendiges: Ich begreife, dass das, was die Kuh macht, wenn sie wiederkäut, ein ordentlicher Vorgang im Prozess der Verdauung ist (und nicht eine empfindliche Essstörung), wenn ich diese Kuh als Exemplar der Lebensform 21 Vgl. ebd. Teil 1 „The Representation of Life“, Kapitel 2 „Can Life Be Given a Real Definition?“ „I propose to attack this sort of conception, and to make a beginning of what amounts to a logical treatment of the idea of life, and its near relatives, and their expression in language. […] Thought, as thought, takes a quite special turn when it is thought of the living – a turn of the same kind as that noticed by Frege in the transition from thought of an object to thought of a concept, from Aristotle is wise to The wise are few.“ (Ebd. S.27, Hervorhebung durch Thompson). 23 Vgl. ebd. S.55f. 24 Vgl. ebd. S.56ff. 22 Hausrind verstehe. Ich erkenne, dass ein bestimmter Hahn einen wohlgeformten Kamm hat (und nicht etwa eine groteske Verformung der Kopfhaut), wenn ich ihn als Exemplar der Lebensform Haushuhn verstehe. Aber der Hahn könnte auch einer anderen Lebensform angehören, und dann wäre sein Kopf vielleicht tatsächlich grotesk verformt (dann nämlich wenn es nicht zu dieser Lebensform gehört, dass ihre Exemplare so einen „Kamm“ haben). Er wäre dann natürlich auch kein Hahn mehr. Und sein Kamm wäre im strengen Sinn kein Kamm (insofern als ein Kamm etwas ist, was ein Hahn hat). Und so lässt es sich weitertreiben: Ein Rüssel ist an einem Elefanten ein Rüssel (ein Organ zum Atmen und zum Greifen etc.) – an einem Nashorn wäre er etwas Bizarres. Eine Katze mit der Anzahl von Wirbeln eines Hundes ist fehlgebildet etc. Wir erkennen den Gedanken wieder: Nur indem wir das Individuum als Verwirklichung einer Form betrachten, können wir es als das, was es ist, erkennen. Und nur dadurch, dass wir das Individuum als Exemplar einer Gattung betrachten, können und müssen wir es zugleich als mehr oder weniger wohlgeformt betrachten. Dieser zweite Punkt verweist auf die besonderen logischen Charakteristika, die Thompson bei der Rede über Lebendiges ausmacht: Lebendiges kann man nur verstehen, indem man den Blick auf den weiteren Kontext der Lebensform wirft, das Nachdenken über die Lebensform selbst zeichnet sich dabei dadurch aus, dass wir, wenn wir über Lebensformen sprechen, auf eine besondere Art von Urteilen zurückgreifen, die Thompson „natural historical judgements“ nennt und deren vertrauteste Form Thompson in den Kommentaren naturhistorischer Fernsehdokumentationen ausmacht: „When springtime comes, and the snow begins to melt, the female bobcat gives birth to two to four cubs. The mother nurses them for several weeks.“ 25 Das besondere an diesen Urteilen (die sich schematisch zum Beispiel durch Formulierungen wie „S’s are/have/do F“ ausdrücken lassen, wie Thompson schreibt)26 ist, dass in ihnen eine andere Form von Allgemeinheit ausgedrückt wird als in der vertrauten allquantifizierenden „Fregeschen“ Allgemeinheit (Für jedes x gilt: Wenn x ein S ist, ist es F): Keineswegs bringt jede Rotluchsin im Frühjahr zwei bis vier Junge zur Welt – vielleicht ist sie überhaupt nicht trächtig oder sie bringt eben drei Junge zur Welt (und nicht zwei bis vier) oder vielleicht auch fünf, wenn es ein ungewöhnlicher Fall ist. Gleichwohl ist die Aussage richtig, dass amerikanische Rotluchse im Frühjahr zwei bis vier Junge zur Welt bringen – auch wenn es abweichende Fälle gibt. Die Richtigkeit dieses Lebensformurteils wird durch die Möglichkeit der Abweichung nicht beeinträchtigt. Es sieht die Möglichkeit der Abweichung logisch vor. Zudem ist das naturhistorische Urteil kein bloßes statistisches 25 26 So im Tonfall überzeugend vorgetragen von Thompson in „Life and Action“ S.63. Ebd. S.65. Urteil. Dies erkennt man zum einen daran, dass der in ihm beschriebene Fall statistisch sehr selten vorkommen mag. Wenn es heißt, dass die Stechmücke vier Larvenstadien durchläuft, dann gilt dies auch, wenn die größte Zahl der Mückenlarven diese Entwicklung tatsächlich niemals zum Abschluss bringt. Zum anderen ist, anders als bei statistischen Gesetzen, die Abweichung des Individuums von der im naturhistorischen Urteil erfassten Lebensform in einem gewissen Sinn als defekt zu begreifen: Wenn Katzen vier Beine haben, so ist es durchaus möglich, dass „poor Tibbles“ nur drei hat27 – aber eben darum ist mit Tibbles etwas nicht in Ordnung. Und es wäre auch nicht besser, wenn Tibbles fünf Beine hätte statt drei (wahrscheinlich fänden wir das im Gegenteil noch beunruhigender). Katzen haben vier Beine. In allen anderen Fällen ist etwas schief gelaufen. Wir möchten sagen, dass eine dreibeinige Katze verletzt oder deformiert oder krank ist. Entscheidend ist, dass diese Art der Charakterisierung als defekt in diesem speziellen Sinn von Defekt („natural defect“ wie Thompson vorsichtig sagt, um ihn von einem Defekt im Sinne eines externen Maßstabs, etwa eines moralischen oder ästhetischen, abzugrenzen)28 nur möglich ist, insofern naturhistorische Urteile in ihrer speziellen Form der Allgemeinheit möglich sind und weil lebendige Individuen überhaupt nur vor dem Hintergrund solcher Urteile als lebendige Individuen erkenntlich sind. Eine verletzte, dreibeinige Katze ist nur deswegen überhaupt eine Katze, weil sie ein Exemplar der Lebensform (oder Gattung) Katze ist. Und weil von der Lebensform Katze unter anderem gilt, dass Katzen vier Beine haben, ist die dreibeinige Katze Tibbles verletzt (oder krank…), und das heißt: nicht in Ordnung. Beide Momente gehen miteinander einher: Ein Individuum ist nur deswegen ein lebendiges Wesen, weil es eine Lebensform verwirklicht, und insofern es eine Lebensform verwirklicht, ist es zugleich ein gesundes oder krankes/verletztes (etc.) Individuum. Wir erkennen die Struktur wieder, in der wir vernünftige Handlungen zu fassen versucht haben: Die Idee eines internen Maßstabes, ausgedrückt durch das Bild der Form, die durch Einzelhandlungen instanziiert wird. Und wir sehen nun zugleich auch, warum das Bild der Lebensform als Analogie in gewisser Weise hilfreicher ist als das des Kopierens: Lebendige Individuen sind nicht Abbilder eines perfekten Individuums. Reale Katzen sind nicht mehr oder weniger unvollkommene Kopien einer Urkatze, die irgendwann und irgendwo existiert haben könnte. Vielleicht gibt und gab es niemals eine in diesem Sinn vollkommene Katze. Und noch viel weniger versuchen Katzen in ihrem Leben, vollkommene Katzen zu sein. Das 27 Vgl. ebd. S.65. „We may implicitly define a certain very abstract category of ‘natural defect’ with the following simpleminded principle of inference: from: “The S is F,” and: “This S is not F,” to infer: “This S is defective in that it is not F.”“ (Ebd. S.80). 28 vollkommene Katzensein ist nicht Gegenstand des Katzenlebens – aber alles, was eine bestimmte Katze macht (Mäusefangen, Kätzchen zur Welt bringen, Krallen schärfen, Atmen), ist das, was es ist, weil die spezifische Katze (Tibbles) eine Katze ist – und Katzen fangen eben Mäuse etc. Und eben in diesem Sinne funktioniert das Bild der Form für vernünftige Handlungen: Jede Handlung ist nur deswegen eine Handlung, weil sie die Form der Vernunft verwirklicht. Und sie ist zugleich deswegen vernünftig oder unvernünftig, weil sie als Verwirklichung mehr oder weniger perfekt sein kann. Wir sehen sowohl die Idee der Privation, wie die Angemessenheit an einen Maßstab (dass Handlungen überhaupt etwas sind, das nach dem Maßstab der Vernunft bemessen werden kann) in der Analogie zur Rede über lebendige Individuen und Lebensformen eingefangen. In diesem Sinne sind unsere Handlungen wie Katzen. Doch auch das ist natürlich bislang nur eine logische Analogie. In beiden philosophischen Phänomenbereichen kann man das Gedankenbild der Form auf ähnliche Weise zum Einsatz bringen, um einige wesentliche Unterscheidungen zu begreifen, die wir treffen müssen, um zu verstehen, wovon wir reden (die Unterscheidung von bloßem Geschehen und vernünftiger/unvernünftiger Handlung im einen Fall, die von bloßer Materie und vollkommenem/natürlich-defektem Lebendigen im anderen). Insofern ist die Analogie hilfreich, um einen logischen Punkt zu sehen. Was an dieser Stelle ausdrücklich nicht behauptet sein soll, ist, dass menschliche Handlungen noch in einer anderen Weise über die Idee der Lebensform verstanden werden können: Insofern nämlich, als es auf gleiche Weise vom Menschen wahr sein könnte, dass er vernünftig handelt, wie es von der Katze wahr ist, dass sie Mäuse fängt. Das mag stimmen (und Aristoteles scheint etwas in der Art gemeint zu haben). Aber das ist ein anderes Problem, auf dessen Lösung es an dieser Stelle nicht ankommt.29 9. Zur Diskontinuität zwischen Unvernunft und Nicht-Vernunft Wir haben nun einen Eindruck davon gewonnen, wie man mithilfe des Denkbildes der Form verschiedene Charakteristika unserer Rede über menschliches Handeln besser zu fassen vermag als durch das Bild des Maßstabes: Recht verstanden, stellt es die asymmetrische Dreiteilung von vernünftigen/unvernünftigen Handlungen und nicht-vernünftigem Geschehen, die wir durch die Idee der Privation und der Maßstabsangemessenheit 29 Dies ist das Problem, das wir in Abschnitt 1 kurz angerissen haben: Ist Denken etwas, dass über das Menschsein verstanden wird, so wie ein Katzenohr über die Lebensform der Katze verstanden wird? Dann wäre die Frage, inwiefern es nicht-menschliche vernünftige Wesen geben kann, analog zu der Frage aufzufassen, wieso sowohl Katzen als auch Hunde Ohren haben können – wieso sprechen wir in beiden Fällen von Ohren, wenn doch das Organ als solches durch die Form bestimmt wird? Was ist die Gemeinsamkeit? ausgedrückt haben, auf durchsichtige Weise dar. Die Vorstellung von der Tätigkeit des Kopierens eines Musters hat uns zunächst auf eine noch problematische Weise dem Verständnis näher gebracht, wie eine Tätigkeit als das, was es ist, dadurch, dass es eine Form verwirklicht, einem internen Maßstab unterliegt. Diese Vorstellung ist für unsere Zwecke noch problematisch, weil in ihr zwar eine Handlung als diese Handlung eine Form verwirklicht, dies jedoch als eine ganz bestimmte Handlung (das Kopieren) tut, die sich gerade dadurch auszeichnet, die Verwirklichung einer Form zum Zweck zu haben. Wir aber wollen verstehen, wie man jede Handlung als Handlung und also unabhängig von ihrem bestimmten Zweck als Verwirklichung einer Form, der Form der Vernunft, verstehen kann. Der Blick auf Thompsons Erläuterung der Rede von Lebendigem über den Begriff der Lebensform hat uns hier geholfen, indem er uns in einem anderen Phänomenbereich der Philosophie eine ganz ähnliche Logik durch das Bild der Form ausgedrückt hat: Jedes lebendige Individuum ist nur als Lebendiges erkennbar und damit zugleich als das Lebendige, was es ist, bewertbar, insofern es ebenfalls jeweils eine Form verwirklicht: Eine bestimmte Lebensform. Nun hat uns das alles noch kein bisschen darin weitergeholfen zu bestimmen, was die Form der Vernunft ist, die im Handeln verwirklicht wird, wie sie sozusagen aussieht. Das zu klären, wird den Rest des Buches in Anspruch nehmen. Aber wir können nun zu dem Problem zurückkehren, bei dem wir im Abschnitt 6 stehen geblieben sind, als wir die Idee einer minimalen Vernünftigkeit (und also einer Dreiteilung des Maßstabes der Vernunft) zurückgewiesen haben: Wie kann man den Umschlag verstehen, der eintritt, wenn sich etwas so weit vom Ideal der Vernunft „entfernt“, dass man es überhaupt nicht mehr als Vernunftausübung verstehen kann. Es ist die Frage ob die Unvernünftigkeit einer Handlung beliebig groß sein kann und ob wir nicht (mit Davidson) sagen müssten, dass extrem unvernünftige Handlungen uns „irgendwann“ als Handlungen fraglich werden. Wir können das Problem nun auch so beschreiben: Wie lange kann die mangelhafte Verwirklichung einer Form noch als Verwirklichung einer Form verstanden werden, und büßt sie nicht irgendwann diesen Anspruch ein, eine bestimmte Form, wenn auch sehr mangelhaft, zu instanziieren? Vielleicht ist es nun offensichtlich, dass wir es hier nicht mit einer scharfen, in jedem Fall bestimmbaren Grenze zu tun haben. Insofern könnte dieses Problem ein solches sein, das wir, nachdem wir einmal gesehen haben, wie wir es stellen können, nicht weiter verfolgen müssen (man denke an die alte Frage danach, wie viele Körner einen Sandhaufen bilden). Doch immerhin so viel kann man feststellen: Wenn wir das Problem als ein solches reformulieren, in dem es um die Erkenntnis von Formen geht (im Sinne der Frage: Wann ist etwas noch Verwirklichung einer Form), setzen wir auf ein ganz anderes Modell als das der Kontinuität eines Maßstabes. Wenn ich etwas als eine gewisse Form verwirklichend betrachte, nehme ich es in einem gewissen Sinne gänzlich anders wahr, als wenn ich es nicht als Verwirklichung dieser Form betrachte. Der Übergang von der einen Sichtweise zur anderen ist keiner des Grades, sondern ein vollkommener Wechsel des Erscheinens: Erst nehme ich etwas als etwas wahr und dann nicht mehr. Zwischen diesen beiden Formen der Wahrnehmung gibt es keinen fließenden Übergang. Auch wenn es sicherlich so ist, dass man irgendwann nicht mehr in der Lage ist, in etwas eine Form zu erkennen, und auch wenn man sich dieses „irgendwann“ als Zeitpunkt im Prozess des Betrachtens einer sich auflösenden Form vorstellt, ist das, was zu diesem Zeitpunkt in unserer Wahrnehmung geschieht, nicht einfach ein weiterer Schritt im Fortschritt des Undeutlichwerdens, sondern eine Veränderung der Art nach. Man denke in diesem Zusammenhang an all die Beispiele, die im Zusammenhang mit dem Phänomen des Gestaltwechsels diskutiert wurden, insbesondere von Wittgenstein im zweiten Teil der „Philosophischen Untersuchungen“ (z.B. anhand des berühmten Hase-Enten-Kopfes).30 In dem „Augenblick“, in dem man nicht mehr in der Lage ist, in einer immer fehlerhafteren Verwirklichung einer Form die Verwirklichung einer Form zu erkennen (etwa in einer verwehten Wolke die Form eines Schiffes), kann ich zugleich nicht mehr sagen: Nun ist es aber eine ganz schlechte Verwirklichung der Form (ein ganz, ganz undeutliches Schiff), sondern genau dann ist es eben keine Verwirklichung mehr. Und das heißt: In einem gewissen Sinne des Gebrauchs des Wortes „Maßstab“ (dem „internen“ Sinn, wie wir ihn genannt haben: das Maß, nach dem sich etwas von der fehlerlosen Verwirklichung entfernt), können wir nun eben nicht mehr denselben Maßstab anlegen. Die Möglichkeit, den Grad der „Entfernung“ von der perfekten Verwirklichung einer Form anzugeben (der perfekten SchiffWolke), rinnt uns im gleichen Zug durch die Finger, wie uns die Verwirklichung als Verwirklichung unkenntlich wird. In Bezug auf das Handeln heißt dies: „Irgendwann“ ist eine Handlung keine unvernünftige Handlung mehr, sondern sie ist gar keine Handlung mehr, keine Ausübung der Vernunft. Wenn das jedoch der Fall ist, dann lässt sich das nicht so beschreiben, dass wir dann noch unvernünftiger sind als in einem hypothetischen Fall der minimalen Rationalität. In diesem Augenblick müssen wir vielmehr feststellen, dass wir das, was wir getan haben, überhaupt nicht mehr mit unseren Maßstäben der Vernunft in Beziehung bringen können. Unser Tun war kein Handeln. 10. Zusammenfassung 30 Vgl. insb. L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a.M. 1984. S.518 ff (2.Teil Abschnitt xi) Wir haben dieses Projekt mit dem Anspruch begonnen, unsere Handlungen in ihrer Besonderheit gegenüber anderen Geschehnissen in der Welt verständlich zu machen. Diese Aufgabe, dies war unsere zwar zunächst unbestritten übernommene, aber auf ihre Stimmigkeit zu überprüfende Grundannahme, ist gleichbedeutend mit der Frage, inwiefern wir unsere Handlungen als etwas verstehen können, das wesentlich vernünftig ist. Unser Ziel ist es also zu erläutern, inwiefern wir verstehen können, dass sich in unseren Handlungen unsere Vernunft äußert. Diese Grundannahme ist uns jedoch gleich im ersten Schritt fraglich geworden, indem wir mit der Möglichkeit von unvernünftigen Handlungen konfrontiert wurden. Handlungen, das scheint ein unbestreitbares Phänomen zu sein, können irrational sein. Ja mehr noch, die Möglichkeit der Irrationalität scheint in der Möglichkeit ihrer Vernünftigkeit begründet zu sein. Wenn aber Handlungen unvernünftig sein können, wie können sie gleichzeitig als Handlungen wesenhaft über ihre Vernünftigkeit bestimmt sein? Dieses scheinbare Paradox haben wir aufgelöst, indem wir die einfache Zweiteilung von vernünftigen Handlungen und unvernünftigen Nicht-Handlungen durch eine sogenannte asymmetrische Dreiteilung von vernünftigen/unvernünftigen Handlungen und nichtvernünftigem Geschehen ersetzt haben. Die Asymmetrie bezeichnet dabei den wesentlichen Unterschied zwischen dem, was vernünftig oder unvernünftig sein kann und dem, was gar nicht der Art ist, dass man es auf diese Weise bewerten kann. Über die Rede von einer Bewertung sind wir dabei auf das Bild des Maßstabes gekommen, das uns einen grundsätzlichen Gedanken illustriert hat: den, dass etwas einem Maßstab grundsätzlich angemessen sein muss. Allerdings zeigte sich dann, dass dieses Bild in einer gewissen Hinsicht unseren Ansprüchen nicht genügt und uns daher nicht wirklich erläutern kann, wie wir die Struktur der asymmetrischen Dreiteilung im Fall des vernünftigen Handelns verstehen können. Das Bild des Maßstabs war nämlich ungeeignet, uns die inhärente Bewertung, die mit der Charakterisierung von etwas als vernünftig oder unvernünftig verbunden ist, vor Augen zu führen. Diese inhärente Bewertung haben wir dann versucht mit dem aristotelischen Gedanken der Privation zu fassen. Die Spannung zwischen zwei inkompatiblen Gedanken, in der wir nun standen, konnten wir schließlich abbauen, indem wir mit der Form oder dem Muster eine neue Metapher fanden, die beide Gedanken in gleichem Maße zu fassen vermag. Damit allerdings sind wir keinen Schritt weitergekommen als dass wir die Möglichkeit unserer Grundannahme gegen einen offensichtlichen ersten Einwand verteidigt haben. Alles, was wir nun zu sagen berechtigt sind, ist, dass es als Gedanke verständlich ist, dass Handlungen als Handlungen über ihre Vernünftigkeit charakterisiert sind und zugleich unvernünftig sein können. Dieser Gedanke ist möglich, indem wir Handlungen als etwas erkennen, das eine bestimmte Form verwirklicht. Insofern diese Form, dieses Muster nun Handlungen als vernünftige ausmachen soll, kann man also sagen: Wir können Handlungen der Idee nach als etwas verstehen, das seiner Form nach vernünftig ist. Oder auch: als etwas, welches das Muster der Vernünftigkeit aufweist. Nun ist es unnötig zu bemerken, dass eine solche Redeweise vollkommen leer ist, sofern wir nicht Weiteres dazu ausführen können, was es heißen mag, dass eine Handlung eine bestimmte Form, und mehr noch: die Form der Vernunft, hat. Wie kann eine Handlung etwas sein, das einer Form genügt, und wie kann Vernünftigkeit etwas sein, das sich als Muster beschreiben lässt? Beide Fragen müssen beantwortet werden, wollen wir uns nicht dem Vorwurf leerer Sophistik ausliefern. Gleichzeitig werden mit der Beantwortung dieser Fragen die ersten positiven Maßnahmen getroffen, um die Idee des menschlichen Handelns als vernunftgeleitetes Tun, eine Idee, die wir jetzt erst als auf eine bestimmte Weise denkbar erwiesen haben, strukturell zu erläutern und damit einem Verständnis näher zu bringen. In den folgenden Kapiteln werde ich versuchen, diese Antworten zu entwickeln. 11. Nachtrag zur philosophischen Debatte Nachdem der Großteil des vorangegangenen Kapitels Arbeit an der Metapher, das heißt die Suche nach der richtigen Art und Weise war, Unterscheidungen zu treffen, die zum Verständnis der wesenhaften Vernünftigkeit des Handelns nötig sind, kann man sich zurecht fragen, was dies für die ja keineswegs schmale zeitgenössische Debatte zum vernünftigen Handeln bedeutet. Haben wir jetzt schon etwas gelernt, was uns hilft, uns in dieser etwas besser zurechtzufinden? Die Antwort muss lauten: Ja und nein. Wir haben noch nichts Konkretes in dem Sinne gelernt, dass wir schon etwas dazu sagen könnten, was die Form der Vernunft ist, die im Handeln verwirklicht wird. Und so können wir auch nichts dazu sagen, ob eine zeitgenössische philosophische Position diese Form auf zufrieden stellende Weise erhellt. Was wir aber sagen können, ist, dass eine ganze Reihe von Positionen – und zwar zum Teil sehr prominente – bereits die Unterscheidungen zu treffen verfehlt, für die wir hier argumentiert haben. Das wären zum einen all die Positionen, die unseren Ausgangspunkt nicht teilen, das heißt solche Positionen, die leugnen wollen, dass Menschen und also deren Handlungen sich in irgendeinem interessanten Sinn von den Bewegungen der Tiere oder von lebloser Materie unterscheiden (und folglich auch, dass dieser Unterschied mit dem Begriff „Vernunft“ benannt werden kann). Gegen solche Positionen, man denke an alle strengen Formen von physikalischem Reduktionismus, wie sie immer mal wieder in den aktuellen Debatten zur Hirnforschung auftauchen, wurde hier kein Argument entwickelt. Sie bilden sozusagen das Gegenprojekt zu dem hier verfolgten und werden insofern ausgeblendet, als die Auseinandersetzung mit ihnen entweder der Diskussion, die in dieser Arbeit geführt wird, vorangehen oder aber dieser nachfolgen müsste. Sie müssen uns hier also nicht weiter beschäftigen. Was immer man dazu sagen mag, dass der menschliche Körper, das Hirn eingeschlossen, auch nur ein Teil des Naturgeschehens ist, wie es die Naturwissenschaften beschreiben (und das stimmt selbstverständlich in einer wichtigen Hinsicht, kaum ein moderner Philosoph wird ein „Loch“ in der physikalischen Weltordnung behaupten wollen)31 – es ist ein anderes Projekt als der hier unternommene Versuch, die traditionelle Sichtweise vom Menschen als dem vernünftigen Tier in einer Hinsicht auf ihre Denkbarkeit abzuklopfen. Was uns interessiert, sind Positionen, die innerhalb der von Platon und Aristoteles stammenden Tradition stehen, folglich versuchen, den Menschen als Vernunftwesen zu begreifen und sich deswegen mit dem Problem der Unvernunft konfrontiert sehen. Den vielleicht für die moderne „analytische“ Debatte wirkmächtigsten Vertreter, Donald Davidson, haben wir schon erwähnt und auch seine Charakterisierung dessen, was er das Paradox der Unvernunft nennt: Den Menschen kann man in seinem Denken und Handeln nur verstehen, wenn man ihn zugleich als vernünftig versteht – und doch kann er unvernünftig sein. Einen anderen Menschen aber als unvernünftig zu verstehen (oder zu interpretieren), bedeutet, ihn ein Stück weit nicht zu verstehen, und so droht die Unvernunft, die es nach Davidson unbezweifelbar gibt und die jede Theorie menschlichen Handelns (und Denkens) folglich erklären können muss, jede Theorie des Verstehens in eine Ausweglosigkeit zu führen: Macht sie Fälle von Unvernunft verständlich, verlieren sie den Charakter der Unvernunft, beschreibt sie sie als unverständlich, bleibt unklar, inwiefern sie überhaupt etwas zum Erklären der jeweiligen unvernünftigen Handlung geleistet hat.32 Weil dies nach Davidson das grundlegende Problem des philosophischen Umgangs mit Unvernunft ist, neigen philosophische Auseinandersetzungen mit Unvernunft, für die er paradigmatisch Auseinandersetzungen mit dem Problem der Willensschwäche heranzieht, wenn sie denn die wesentliche Verbindung von Handeln und Vernunft wahren wollen, dazu, 31 Für eine kompakte Stellungnahme zu diesem Thema von einem in unserer Debatte bedeutenden Philosophen vgl. G. H. von Wright: Die psycho-physische Wechselwirkung und die Geschlossenheit der physikalischen Weltordnung. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 5/2001, 647-652. Vgl. auch die ausgedehnte Debatte zu kompatibilistischen Positionen in der Frage der Willensfreiheit (den Positionen, dass eine deterministisch gedachte Welt mit der Idee von Willensfreiheit vereinbar ist), die seit Hume sicherlich von der Mehrzahl der Philosophen vertreten wird (im deutschsprachigen Raum prominent vertreten von P. Bieri in: Das Handwerk der Freiheit. München 2001; vgl. auch P.F. Strawson: Freedom and Resentment. In: Proceedings of the British Academy, 48 (1962), 187–211). 32 Vgl. Zitat oben in FN 17. zwei verschiedene Positionen einzunehmen, die Davidson (auch das haben wir schon referiert) als Extrempositionen in einem Spektrum von Antworten charakterisiert:33 Die einen neigen dazu zu behaupten, dass es Unvernunft überhaupt nicht geben kann – bei Lichte betrachtet ist der Mensch niemals unvernünftig, die Diagnose der Unvernunft stellt einen philosophischen Irrtum dar. Diese Position (das „Platon-Prinzip“) ist heute verhältnismäßig unbeliebt (Davidson selbst nennt keinen einzigen modernen Vertreter, aber in gewisser Weise kann man zum Beispiel die Position Georg Henrik von Wrights als eine solche verstehen, und Ursula Wolf kann man so lesen, dass sie etwas Ähnliches behauptet).34 Die anderen hingegen sagen, dass Unvernunft zwar vorkommt, jedoch nur dann, wenn die Handlung durch äußere Kräfte der Kontrolle der Vernunft entrissen wurde (das „Medea-Prinzip“) – und hier fallen einem zahlreiche Positionen ein (Hare und Watson als die „Klassiker“ haben wir schon genannt). Davidson selbst scheint nun seine Position in der Mitte dieses Spektrums ansiedeln zu wollen: als eine Position, die sowohl die Verbindung zur Vernunft in jeder Handlung, auch der Willensschwachen, aufrechterhalten will, als auch die Möglichkeit von willensschwachen Handlungen anerkennt. Er will Unvernunft als einen Fehler „within the house of reason“ verstehen.35 Nach dem, was wir hier geschrieben haben, erscheint es jedoch irreführend, bei beiden Positionen (die als solche sehr treffend charakterisiert sind), von den Extrempositionen eines Spektrums zu sprechen. Eher handelt es sich bei beiden Positionen um die Kehrseiten einer Medaille, die wiederum durch die Überzeugung definiert wird, dass, wenn etwas eine Handlung ist, dies impliziert, dass sie im vollen Sinne vernünftig ist. Ursula Wolf drückt dies in ihrem berühmten Artikel „Zum Problem der Willensschwäche“ so aus: „Ein konkreter Handlungsvorsatz hinsichtlich einer jetzt anstehenden Handlungssituation ist aber dadurch definiert, dass er zur Ausführung kommt, wenn kein äußeres Hindernis vorliegt und der Handelnde ihn 33 Vgl. Paradoxes of Irrationality. S.175. So schreibt von Wright in „Varieties of Goodness“ (London 1963): „That [a man] can also harm himself through akrasia or weakness of will has a certain appearance of paradox. He then, as it were, both wants and does not want, welcomes and shuns, one and the same thing. […] [O]ne could say that, if a man has an articulated grasp of what he wants, he can never harm himself through weakness of will.“ (S.113, Hervorhebung durch v. Wright). Dies scheint effektiv zu bedeuten, dass wer das Gute nur klar sieht, es nicht verfehlen kann. Natürlich hängt nun alles daran, wie man diesen „articulated grasp“ erläutert. Ursula Wolf gibt eine eigene Erklärung des Phänomens der Willensschwäche, aber diese besteht letztlich darin, dass der Willensschwache sich nur darin täuscht, was er tatsächlich für ein erstrebenswertes Ziel hält und in diesem Sinne will. Die praktische Unvernunft wird hier in das Phänomen der Selbsttäuschung überführt und in diesem Sinne geleugnet (vgl. U. Wolf: Zum Problem der Willensschwäche. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. 39:1 (1985), 21-33. Die Frage ist dann allerdings, inwiefern nicht Selbsttäuschung wiederum eine lediglich in den Bereich des Denkens verschobene Form der Unvernunft ist, die zu erläutern auf ähnliche Weise problematisch ist. Ein solches Argument findet sich jedenfalls in Davidsons „Paradoxes of Irrationality“ angedeutet (S.178f.). Eine ausführliche Diskussion der philosophischen Probleme der Selbsttäuschung bietet zum Beispiel Rüdiger Bittner in seinem Aufsatz: Understanding a Self-Deceiver. In: B.P. McLaughlin, A.O. Rorty: Perspectives on Self-Deception. Berkeley, Los Angeles 1988. 35 Paradoxes of Irrationality. S.169. 34 ausführen kann. Wenn daher jemand den Vorsatz, die nach seiner Überlegung beste Handlung zu tun, nicht ausführt, obwohl kein äußeres Hindernis vorliegt und obwohl er die Fähigkeit im gewöhnlichen Sinn der physischen usw. Fähigkeit besitzt, dann folgt analytisch, dass er entweder den Vorsatz nicht wirklich hat oder 36 ihn aufgrund bestimmter innerer Bedingungen nicht ausführen kann.“ Wenn jemand etwas will und kann, dann tut er es auch – und in diesem Sinn ist er stets vernünftig. Wer diese Überzeugung teilt (und hier werden einem weitere Namen einfallen: Neben Wolf, von Wright und den anderen schon genannten wäre da zum Beispiel auch Robert Pippins jüngste Interpretation von Hegel zu nennen),37 vertritt entweder das PlatonPrinzip oder das Medea-Prinzip – oder auch beide Positionen, denn diese schließen sich ja keineswegs gegenseitig aus. Platons Sokrates im Protagoras zum Beispiel ließe sich leicht so beschreiben, dass er sich mit den Argumenten von Hare oder Watson vertraut macht und eingesteht: „Ja, in diesem Sinn kann es unvernünftige ‚Handlungen‘ geben – aber natürlich sind das nicht die Handlungen, von denen ich spreche.“ Wenn man aber diese Position des analytischen Zusammenhangs von Vernunft und Handlung teilt, dann übersieht man genau das, was wir den Gedanken der Privation genannt haben: Dass es einen wesenhaften Zusammenhang von Vernunft und Handlung gibt, der Unvernunft nicht ausschließt, sondern diese erst als defektiven Fall verständlich werden lässt (so ähnlich wie die Bestimmung der Merkmale der Lebensform Katze nicht ausschließt, dass eine verletzte Katze eine Katze ist, sondern verstehen lässt, was an einer verletzten Katze einen Defekt darstellt). Davidson, den man am besten so verstehen sollte, dass er diese Idee eines analytischen Zusammenhangs ebenfalls bestreiten möchte, hätte sich also besser nicht zwischen den beiden Extremen lokalisieren, sondern sich als Gegenposition zu dieser falschen Alternative begreifen sollen (und in vielem, was er sagt, wird auch deutlich, dass er sich so begreift).38 36 Ebd. S.22. Hervorhebung durch F.B. Bei Hare wird der analytische Zusammenhang durch seine Theorie präskriptiver Bedeutung hergestellt: Nach Hare gehört es zum Verständnis eines präskriptiven Satzes, dass man der in ihm enthaltenen Vorschrift Folge leistet, sofern man sie akzeptiert (vgl. Freedom and Reason. Kap. 2). Wie so häufig, ist auch Hares vermeintlich klare Position allerdings in Wirklichkeit komplizierter, als sie zumeist dargestellt wird. Denn Hare scheint neben der Deutung, für die er stets zitiert wird (Willensschwäche ist das Übermanntwerden von Gefühlen), noch einen anderen Ausweg aus der präskriptiven Klammer vorzusehen, die seinem Terminus „backsliding“ viel näher kommt: Das Aufweichen von Begriffen in dem Sinne, dass sie für einen selbst eine Ausnahme erlauben (vgl. ebd. Kap. 5.6). Diesem Aspekt seiner Position wird selten ausreichend Beachtung geschenkt. Pippin (als ein Beispiel für eine interessante neue Position in der Debatte zum vernünftigen Handeln) verfällt der genannten Annahme, weil er die Absicht des Handelnden extrem eng mit der Meinung der Mitmenschen von der Bedeutung seiner Handlung verknüpft; und daraus folgert er, dass es in einem gewissen Sinn keine Rückzugsmöglichkeit der Art: „Aber ich wollte doch etwas anderes – mein Wille war nur zu schwach!“ geben kann. Pippin wird uns in Kap. 10 noch einmal in dieser Frage begegnen. Vgl. R. Pippin: Hegel’s Practical Philosophy. Rational Agency as Ethical Life. Cambridge, MA 2009. Kap.6. 38 Insbesondere durch seine Auffassung vom Kontinenzprinzip, gegen das der Willensschwache verstößt und das so etwas wie ein konstitutives Prinzip der Vernunft ist. Eine der verwirrenden Eigenarten von Davidsons Behandlung der Willensschwäche ist, dass er in „How is Weakness of the Will Possible?“ (in: D. Davidson: Essays on Actions and Events. Oxford 2001) mit seinen Prinzipien P1 und P2 gerade einen analytischen Zusammenhang zwischen für richtig halten und handeln zu verteidigen scheint (indem P1 einen analytischen 37 Wenn man den Gedanken der Privation also wirklich zu fassen bekommt, hat man mit einem Schlag eine große Menge der modernen Diskussion zur Willensschwäche hinter sich gelassen. Man hat sich aber genauso (auch das haben wir angedeutet) des Motivs entledigt, die Verbindung von Handlung und Vernunft in einem anderen Sinn zu lockern – nämlich in dem Sinn, dass man sagt, dass es für viele der menschlichen Handlungen eben nicht wesentlich ist, dass sie in einem strengen Sinn vernunftgeleitet sind. Solche Positionen, als derzeit prominent diskutiertes Beispiel kommt David Velleman in den Sinn, neigen dazu, zwischen zwei verschiedenen Fällen menschlichen Tuns zu unterscheiden: Zwischen Handlungen im vollen Sinn, die alle Erwartungen der Vernunft erfüllen, und Aktivitäten, für die niedere Standards gelten und die durchaus nicht im anspruchsvollen Sinn vernunftgeleitet sein müssen. Velleman etwa schreibt: „Such cases [Fälle von Freudschen Fehlhandlungen wie Freudschen Versprechern etc. – F.B.] require us to define a category of ungoverned activities, distinct from mere happenings, on the one hand, and from autonomous actions, on the other. […] The philosophy of action must therefore account for three categories of phenomena: mere happenings, mere activities, and actions.“ 39 Positionen wie diese geben dem Druck, unvernünftige Handlungen zuzugeben, auf falsche Weise nach: Sie behaupten, dass man eben auch manches, was nicht vernünftig ist, Handlung nennen kann, und dass also die Vernunft nicht bei jeder Handlung im strengen Sinne im Spiel sein muss (solche Handlungen dann „Aktivität“ zu nennen, ist nicht mehr als ein terminologischer Kunstgriff). Wer jedoch den Gedanken der Privation erfasst, der möchte dies gerade nicht sagen: Eine mangelhafte Handlung ist zwar in einem Sinn weniger vernünftig als eine perfekte Handlung, aber das heißt nicht, dass in einem anderen Sinn weniger Vernunft im Spiel ist oder dass für den Handlungscharakter ein geringeres Maß an Vernunft benötigt wird. Nein, nein: Jede Handlung ist Verwirklichung der vollen Vernunft und für jede Handlung muss die volle Vernunft als Maßstab verwendet werden – aber die volle Vernunft kann sich in Einzelhandlungen auf unvollständige – oder eben besser gesagt: mangelhafte – Weise verwirklichen. Um unvernünftige (oder nicht vollvernünftige) Handlungen zu beschreiben, muss nicht die Verbindung von Handlung und Vernunft gelockert werden. Sie bleibt so fest wie eh und je: eine wesentliche Verbindung. Auf die Idee, sie zu lockern, kommt nur, wer glaubt, dass eine feste Verbindung das ist, was wir oben eine Zusammenhang zwischen wollen und handeln und P2 einen analytischen Zusammenhang zwischen für richtig halten und wollen behauptet), während er dann dafür argumentiert, dass es sehr wohl Willensschwäche geben kann. Wir werden Davidsons Position ausführlicher in Kapitel 5 diskutieren. 39 J. D. Velleman: Introduction. In: ders.: The Possibility of Practical Reason. Oxford 2000. S.4. Der Fairness halber muss festgestellt werden, dass Velleman sich dann mit beträchtlichem Scharfsinn daran macht zu untersuchen, inwiefern tatsächliche Handlungen als vernünftig verstanden werden können. analytische Verbindung genannt haben. Gibt man diese Idee auf, dann hat man auch das Motiv zur Lockerung verloren. Welche Art von Positionen bleibt uns also als positives Vorbild? Letztlich solche, die wie Christine Korsgaard behaupten wollen, dass Vernunft unser Handeln als solches auszeichnet und trotzdem so etwas wie einen Maßstab darstellt. Solche Positionen also, die sagen, um Korsgaards eigene Worte zu verwenden, dass Vernunft sowohl konstitutiv wie normativ für unser Handeln ist.40 Doch diese Antwort, wenn sie hier so einfach gegeben werden sollte, greift auf zweifache Weise zu früh voraus. Einmal in Bezug auf dieses Kapitel selbst: Denn wie schon geschrieben, werden Begriffe wie „Normativität“ und „Konstitutivität“ sehr viel und häufig auf unterschiedliche Weise verwendet, sodass überhaupt nicht klar ist, was genau gemeint ist, wenn man sie verwendet. Die Strategie dieses Kapitels war genau die umgedrehte: Durch sorgfältige Arbeit an den Grundbildern, mit deren Hilfe wir über ein Phänomen nachdenken, unser Denken so zu strukturieren, dass wir dann später in der Lage sind zu sagen: und das meinen wir, wenn wir sagen wollen, dass Vernunft normativ, dass sie konstitutiv ist – sie ist es so, wie eine Form „Maßstab“ ihrer jeweiligen Verwirklichungen ist. Wir folgen hier Michael Thompson, der einen ähnlichen Vorbehalt dagegen hat, ohne weitere Spezifizierung zu sagen, dass die Lebensformaussagen normativ für Lebendiges sind. Sie sind es, aber was das bedeutet, versteht man darüber, dass man die Logik von Lebensformen, also die Eigenarten von naturhistorischen Urteilen, versteht und nicht andersherum.41 In einem zweiten Sinn greift die Rede von „zugleich normativ und konstitutiv“ dieser Arbeit voraus, indem sie dem Gang der Erläuterung vorauseilt. Wir haben zu diesem Zeitpunkt noch überhaupt nicht verstanden, was es denn heißen könnte, dass etwas „konstitutiv“ für Vernunftausübungen ist oder was eine Norm für Vernunftausübungen („also solche“) darstellen könnte. All das werden wir erst verstehen, wenn wir uns an eine Vorstellung davon herantasten, was eine formale Charakterisierung einer Tätigkeit im Konkreten bedeuten könnte. Genau darum geht es in den folgenden Kapiteln. 40 Explizit hat Korsgaard diese Doppelcharakterisierung zuletzt in ihrem Buch: „Self-Constitution“ (Oxford 2009) behandelt, in der sie Gebrauch von Aristoteles Ergon-Argument macht und von den konstitutiven Standards etwa des Hausbaus spricht, gegen die zu verstoßen die Sache in dem, was es ist, defektiv sein lässt – ein Gedanke also, der dem hier verfolgten sehr ähnlich ist. Vgl. Kap.2.1 „Constitutive standards“. 41 Thompson: „I should say that I do believe that our natural-historical judgements are closely related to a range of judgments that one would want to call ‘normative’. I will object rather to the idea that we can give anything to be called an analysis or elucidation in terms of them; the reverse is closer to the truth.” (Life and Action, S.74)