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Aspekte der Armut in Mecklenburg-Vorpommern Forschungsbericht im Auftrag der Arbeiterwohlfahrt Mecklenburg-Vorpommern September 2015 Impressum Herausgeber: AWO Landesverband Mecklenburg-Vorpommern e.V. Verantwortlich: Bernd Tünker, Landesgeschäftsführer Satz: Altstadt – Druck GmbH, Rostock Kostenfrei erhältlich www.awo-mv.de © AWO Landesverband Mecklenburg-Vorpommern e.V. Wismarsche Straße 183 -185 19053 Schwerin Telefon: 0385 76160-0 Telefax: 0385 76160-49 Email: info@awo-mv.de Internet: www.awo-mv.de Eine auszugsweise Vervielfältigung und Verbreitung ist mit Quellenangabe gestattet. Schwerin, September 2015 Arbeiterwohlfahrt Mecklenburg-Vorpommern (Hrsg.) Aspekte der Armut in Mecklenburg-Vorpommern Forschungsbericht im Auftrag der Arbeiterwohlfahrt Mecklenburg-Vorpommern September 2015 Erstellt von den Projektteams: Peter A. Berger, Andreas Klärner, André Knabe, Marie Carnein, Hagen Fischer, Katja Prochatzki (Universität Rostock), Rainer Land, Andreas Willisch (Thünen-Institut für Regionalentwicklung e. V. Bollewick) Gesichter der Armut in der Stadt und im ländlichen Raum MecklenburgVorpommerns – Ergebnisse eines qualitativen Forschungsprojekts Ulf Groth, Kathrin Michels (Hochschule Neubrandenburg) Landkarte der Armut in Mecklenburg-Vorpommern Wolfgang Weiß, Jochen Corthier (Universität Greifswald) Regional-Demographie der Armut in Mecklenburg-Vorpommern Vorwort Seit 1919 steht und kämpft die AWO auf der Basis ihrer unverrückbaren Grundwerte für ein gerechtes und verantwortungsvolles Miteinander. Frauen und Männer haben sich als Mitglieder und als ehren- und hauptamtlich Tätige zusammengefunden, um in unserer Gesellschaft bei der Bewältigung sozialer Probleme und Aufgaben mitzuwirken und so den demokratischen, sozialen Rechtsstaat zu verwirklichen. Nach den amtlichen Statistiken zu den Armutsgefährdungsquoten nimmt MecklenburgVorpommern im Ländervergleich seit vielen Jahren eine „Spitzenposition“ ein. Bei uns sind demnach viele Menschen von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen. Gleichwohl gibt es bislang keine regelmäßige Sozial- und Armutsberichterstattung für Mecklenburg-Vorpommern, die Ursachen und Auswirkungen von Armut untersucht und beschreibt. Die AWO hat im Juli 2013 Wissenschaftler mehrerer Fachrichtungen aus MecklenburgVorpommern beauftragt, Armut im Land aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten und konkrete Handlungsempfehlungen zur Armutsbekämpfung aufzuzeigen. Der Lehrstuhl um Prof. Dr. Peter Berger an der Universität Rostock und die Mitarbeiter des Thünen-Instituts für Regionalentwicklung haben zahlreiche Interviews mit Betroffenen aus dem städtischen und dem ländlichen Raum geführt. Das Team der Hochschule Neubrandenburg um Prof. Ulf Groth hat untersucht, ob und inwieweit vorhandene Statistiken und Daten aussagekräftig sind, um Armut zu beschreiben. Die Wissenschaftler der Universität Greifswald um Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Weiß haben kleinräumige Zusammenhänge zwischen der Entwicklung der Altersstruktur der Bevölkerung und Armut dargestellt. Dieser Forschungsbericht soll dazu beitragen, dass Armut als eine zentrale Herausforderung von Gesellschaft und Politik verstanden wird, die alle Schichten betrifft. Denn auch für unser Land gilt, je weiter die Verarmung und damit die Ausgrenzung breiter Teile der Bevölkerung von gesellschaftlicher Teilhabe voranschreitet, umso stärker sind der soziale Zusammenhalt und letztlich die Demokratie gefährdet. Armut geht jeden von uns an! Mein Dank gilt Allen, die diese Studie ermöglicht und zu ihrem Gelingen beigetragen haben. Rudolf Borchert Vorsitzender Arbeiterwohlfahrt Landesverband Mecklenburg-Vorpommern e. V. Schwerin, im September 2015 1 Inhalt TEIL 1: Zusammenfassungen und Handlungsempfehlungen Armut heute – Armut im Reichtum? Einleitung ............................. 4 Zusammenfassungen ........................................................................... 8 Politische Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen ...... 15 TEIL 2: Einzelberichte der Projektteams Andreas Klärner, André Knabe, Rainer Land, Peter A. Berger Gesichter der Armut in der Stadt und im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns – Ergebnisse eines qualitativen Forschungsprojekts ........................ 25 Ulf Groth, Kathrin Michels Landkarte der Armut in Mecklenburg-Vorpommern .................. 91 Wolfgang Weiß, Jochen Corthier Regional-Demographie der Armut in Mecklenburg-Vorpommern ....................................................... 237 2 TEIL 1: Zusammenfassungen und Handlungsempfehlungen 3 Armut heute – Armut im Reichtum? Einleitung Von Peter A. Berger, Andreas Klärner, André Knabe Was bedeutet Armut in Mecklenburg-Vorpommern? Wer ist „arm“? Wie verbreitet ist Armut in Stadt und Land? Wie erfahren und erleben Betroffene ihre Lebenssituation, wie gehen sie mit Einschränkungen und Beeinträchtigungen um? Und welche Wege führen in Armut hinein, welche aber vielleicht auch wieder heraus? Diesen Fragen sind Sozialwissenschaftler/innen der Universitäten Rostock und Greifswald, der Hochschule Neubrandenburg und des ThünenInstituts für Regionalentwicklung in Bollewick im Auftrag der AWO MecklenburgVorpommern von Juli 2013 bis August 2015 nachgegangen. Dabei stellt sich zunächst die Frage, was Armut in einem im internationalen und historischen Vergleich reichen Land wie der Bundesrepublik Deutschland überhaupt „ist“. Und was sich hinter den z. B. in den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung, aber auch in vielen anderen Studien berichteten sog. „Armutsquoten“, also den Anteilen von Armen an der Bevölkerung bzw. an einzelnen Bevölkerungsgruppen, eigentlich verbirgt. Wenn wir in Deutschland über „Armut“ reden, sprechen wir jedenfalls in der Regel nicht von massenhaftem Hunger und flächendeckender Obdachlosigkeit, also dem Fehlen existentieller Mittel zum (Über-)Leben, oder von extremen Mangelsituationen, wie wir sie etwa immer noch in vielen Regionen Asiens oder Afrikas finden. 1 In den reich(er)en Ländern beziehen wir uns dagegen auf Situationen, in denen jemand „relativ“ zu anderen Personen deutlich weniger zur Verfügung hat – was natürlich Not und Elend, Hunger und Obdachlosigkeit als „extreme“, aber eben in einem generell reichen Land seltene Formen von Armut nicht ausschließt. Unter „Armut“ wird nun in den gängigen Erhebungen in Deutschland meist Einkommensarmut verstanden. Diese wird in der Regel im Verhältnis zu „reicheren“ oder mittleren Einkommensgruppen, also „relativ“ erfasst: Als „arm“ oder von Armut bedroht gelten dabei Personen oder Haushalte, deren Einkommen unterhalb von 50 % oder 60 % des (Netto-)Durchschnittseinkommens in einer Bevölkerung(-sgruppe) liegt. Aus statistischen Berechnungen auf Grundlage amtlicher Daten 2, die auch Größe und Zusammensetzung von Haushalten berücksichtigen, ergibt sich so dann beispielsweise im Jahre 2013 für einen Einpersonenhaushalt eine sog. „Armutsrisikoschwelle“ (60 % des Durchschnittseinkommens) von 892 Euro für Alleinstehende, für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren liegt der Wert dann bei 1.873 Euro (gemessen jeweils am bundesdeutschen Durch1 Für solche Situationen von Not und Elend haben die Vereinten Nationen und die Weltbank einen Betrag von 1,25 Dollar je Tag festgelegt, bei dessen Unterschreiten die betroffenen Personen als „arm“ (in einem dann „absoluten“, also existenzbedrohenden Sinne) bezeichnet werden (vgl. die Definition auf den Webseiten des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ): http://www.bmz.de/de/service/ glossar/A/armut.html; letzter Zugriff: 9.7.2015). 2 Siehe z. B. die regelmäßig aktualisierte, amtliche Sozialberichterstattung unter: http://www.amtlichesozialberichterstattung.de. Weitere typische Quellen für die Armutsberichterstattung sind dann das in jährlichem Turnus seit 1984 in West- und seit 1990 auch in Ostdeutschland stattfindende, sog. Sozio-Ökonomische Panel (SOEP), das vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) getragen wird (siehe: http://www.diw.de/de/soep) 4 schnittseinkommen). Da das Einkommensniveau und damit der Durchschnitt in MecklenburgVorpommern deutlich niedriger ist als in der Bundesrepublik insgesamt, lagen hier die entsprechenden Werte bei 735 Euro bzw. 1.544 Euro. Alle Personen, die mit ihrem Einkommen unter diesen Werten liegen, werden dann in der amtlichen Statistik und in diversen Armutsberichten des Bundes, der Länder und der Kommunen als „arm“ bezeichnet, woraus sich für das Jahr 2013 in Deutschland insgesamt eine Armutsquote von 15,5 % und für Mecklenburg-Vorpommern, gemessen am Bundesdurchschnitt, ein Anteil an Armen an der Bevölkerung von 23,6 % ergibt. Legt man allerdings das niedrigere Durchschnittseinkommen von Mecklenburg-Vorpommern zugrunde, sinkt, wie gerade zu sehen war, die Schwelle, ab der jemand als „armutsgefährdet“ gezählt wird, deutlich – und es ergibt sich mit 13,5 % ein Anteil von Armen an der Bevölkerung MecklenburgVorpommerns, der sogar unter der am Gesamtdurchschnitt der Bundesrepublik Deutschland liegt. Will man also etwa von Mecklenburg-Vorpommern als einem „armen“ oder gar von „Armut geprägten“ Bundesland sprechen, gilt es, die jeweils angelegten Vergleichsmaßstäbe zu beachten und explizit zu benennen. Bei diesem Verständnis von (relativer) Einkommensarmut werden aber nun beispielsweise auch Studierende, deren monatliches Einkommen sich ja durchaus in der Größenordnung der für die Bundesrepublik errechneten Armutsschwellen bewegen kann, in Statistiken als „arm“ mitgezählt. Und im Grunde sprechen wir bei einem relativen Verständnis von Armut, das auf das Verhältnis zu einem gesellschaftlichen Standard oder einem Normalzustand („Durchschnitt“) zielt, ja auch von Ungleichheiten vor allem in der Einkommensverteilung. Neben Armut sollte daher eigentlich immer auch „Reichtum“ in den Blick genommen werden, denn dessen Ausmaß und Verteilung hängt eng mit dem Ausmaß an Einkommensarmut zusammen. 3 Reicht es also aus, Armut nur über Geld – oder über den Mangel an Geld – zu definieren? Studierende, aber beispielsweise auch Auszubildende haben ja oftmals wenig Geld – zumindest im Studium oder während der Ausbildung. Sind sie deshalb „arm“? Oder ist das nur eine vorübergehende Einkommensknappheit, der nach dem Abschluss ein höheres und geregeltes Einkommen folgen wird oder wenigstens soll – und die deshalb subjektiv nicht als Armut empfunden wird? Andererseits fehlen „wirklich armen“ Menschen meist nicht nur finanzielle Mittel, sondern auch der Zugang zu sicheren und ordentlich bezahlten Arbeitsplätzen gestaltet sich als schwierig, wie etwa bei Alleinerziehenden, die deshalb in besonderem Maße von Armutsrisiken und nicht nur materiellen Notlagen betroffen sind. Deutliche Unterschiede im Zugang zu Infrastruktur und in der Versorgung mit Gütern und Diensten des täglichen Bedarfs gibt es auch zwischen Stadt und Land – gerade in einem Flächenland wie Mecklenburg-Vorpommern, in dem die Besiedlung in manchen Gegenden immer dünner wird und die Landes- und Kommunalpolitik darauf oftmals mit „Rückbau“ von Versorgungseinrichtungen reagiert. Damit gewinnen in den letzten Jahren auch Fragen des 3 Die einschlägigen, seit 2001 in jeder Legislaturperiode vorgelegten Berichte der Bundesregierung heißen daher auch korrekterweise „Armuts- und Reichtumsberichte“ (vgl. http://www.armuts-und-reichtumsbericht.de, letzter Zugriff: 9.7.2015). Gleichwohl kann man darin, aber auch in den vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Auftrag gegebenen, ergänzenden Studien zu den Armuts- und Reichtumsberichten weit mehr über „Armut“ als über „Reichtum“ lesen. 5 Zugangs zu modernen Informationsinfrastrukturen und der Ausstattung mit neuen Kommunikationsmedien, vor allem aber auch nach der Einbindung in konkrete und alltagsnahe soziale Netzwerke 4 aus Familie und Verwandtschaft, aus Freunden und Bekannten eine größere Bedeutung: Armut kann ja, so eine weit verbreitete Befürchtung, mit sozialer Isolation einhergehen, wobei Betroffene sich nicht nur einsam fühlen können, sondern sie auch keinen Zugang zu ausreichenden Informationen bekommen, die ihnen vielleicht helfen können, ihre Situation zu verbessern. Bei vielen Menschen, die von der Grundsicherung für Arbeitssuchende (Arbeitslosengeld II, meist besser bekannt als „Hartz IV“) leben, ist weiter festzustellen, dass ihre Situation keine vorübergehende ist, sondern von einem Dauerzustand auszugehen ist. Nach neusten Zahlen der Bundesagentur für Arbeit leben in Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel 52,4 % der Leistungsberechtigten seit über 4 Jahren oder länger von Arbeitslosengeld II. 5 Die Frage ist, wie sich diese Perspektivlosigkeit auf diese Menschen auswirkt – und ob damit nicht nur Versorgungsmängel, sondern auch gesundheitliche Risiken und psychische Probleme einhergehen. Die von der Arbeiterwohlfahrt Mecklenburg-Vorpommern (AWO-MV) in Auftrag gegebene Studie sollte nun einerseits die Betroffenheit von Armutsrisiken auch in räumlicher Hinsicht kleinteiliger erfassen als dies in den großflächigen Statistiken üblicherweise geschieht. Damit sollten nicht nur Stadt-Land-Unterschiede genauer beschrieben werden, sondern möglicherweise auch Problemgebiete und -regionen frühzeitig identifiziert werden. Andererseits wurden in intensiven Interviews die Lebensgeschichten und Lebenssituationen ausgewählter Gruppen (wie z. B. Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose, ältere, pflegebedürftige Menschen, Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen sowie mit psychischen Erkrankungen, AsylbewerberInnen, Flüchtlinge und MigrantInnen) erfasst. Ziel war es dabei, auf die Unterschiedlichkeit von Lebenslagen und Schicksalen hinzuweisen und damit der Armut in Mecklenburg-Vorpommern ein Gesicht – oder besser: „Gesichter“ – zu geben. Beabsichtigt war zudem eine Analyse von Armut, die sich der Unterschiedlichkeit von Armutslagen und risiken, der Vielfalt von Wegen in und aus Armut bewusst ist und daher auf vorschnelle, plakativ-pauschale Zuspitzungen verzichten will. Dies auch und gerade deshalb, weil nur eine differenzierte und zugleich möglichst sachliche Armuts- und Sozialberichterstattung, zu der die vorliegenden Forschungsberichte erste Bausteine liefern, es erlaubt, Öffentlichkeit, Politik und Verbänden realistische Handlungsempfehlungen zu geben. Der hiermit vorgelegte Bericht soll, so der Beschluss des AWO-Landesverbandes, „auf aktuellen Daten basieren, die reale Situation der in Mecklenburg Vorpommern von Armut betroffenen Menschen beschreiben und die gesellschaftlichen Auswirkungen von Armut darstellen“. Diese Fragestellungen wurden arbeitsteilig durch Forscherinnen und Forscher der Universität Rostock und des Thünen-Instituts für Regionalentwicklung e. V. in Bollewick (Projektteil „Gesichter der Armut in Mecklenburg-Vorpommern“), der Hochschule Neubrandenburg (Projektteil „Landkarte der Armut in Mecklenburg-Vorpommern“) sowie der Universität 4 Gemeint sind hier weniger soziale Online-Netzwerke wie Facebook als vielmehr die Einbindung einer Person in ein Beziehungsgeflecht aus Kontakten zu verschiedenen Personen und Gruppen, die im Alltag eine große Rolle spielen. 5 Vgl. die Statistik der Bundesagentur für Arbeit zur „Verweildauern im SGB II“ mit Stand von Dezember 2014; abrufbar unter: http://statistik.arbeitsagentur.de (letzter Zugriff: 10.6.2015). 6 Greifswald (Projektteil „Regional-Demographie der Armut in Mecklenburg-Vorpommern) bearbeitet. Der Gesamtbericht gliedert sich in zwei Hauptteile, von denen der erste Teil neben den „Zusammenfassungen“, die von den einzelnen Projektteams erstellt wurden, auch die gemeinsam mit der Arbeiterwohlfahrt erarbeiteten „Handlungsempfehlungen“ umfasst, in denen auftragsgemäß „politische Strategien und Maßnahmen zur Armutsbekämpfung in MecklenburgVorpommern“ aufgezeigt werden. Der zweite Teil enthält dann die in der Verantwortung der einzelnen Projektteams erarbeiteten Teilberichte zu den untersuchten Aspekten von Armut in Mecklenburg-Vorpommern. Die Aussagen der einzelnen drei Berichtsteile korrespondieren an zahlreichen Stellen miteinander und tragen so zu einem guten Gesamtbild von Armutslagen in Mecklenburg-Vorpommern bei. Dabei sind sich alle Beteiligten dessen bewusst, dass auch angesichts nach wie vor unzulänglicher regionaler Daten hier kein vollständiges und schon gar kein endgültiges Bild von Armut in Mecklenburg-Vorpommern gezeichnet werden konnte. Dies muss einer zukünftigen, von der Landespolitik mitgetragenen, regelmäßigen und je nach Bedarf auch auf bestimmte Problemlagen, Problemräume und Problemgruppen konzentrierten Sozialberichterstattung vorbehalten bleiben. Wir danken an dieser Stelle nun vor allem unserem Auftraggeber, der Arbeiterwohlfahrt Mecklenburg-Vorpommern, und dort an erster Stelle Rudolf Borchert, MdL und Vorsitzender der AWO-MV sowie Bernd Tünker, Geschäftsführer der AWO-MV. Unser Dank gilt auch den Mitgliedern der von der AWO zusammengestellten Begleitgruppe aus Helmut Grams, Inge Höcker, Carsten Jahnke, Sven Klüsener und Roland Toebe: Sie alle haben durch ihren Auftrag die Forschungen, über deren Ergebnisse hier berichtet wird, erst möglich gemacht und durch ihre, wo nötig auch kritische Begleitung das ihre zu deren Ergebnissen beigetragen. 7 Zusammenfassungen Gesichter der Armut in Mecklenburg-Vorpommern Von Andreas Klärner, André Knabe, Rainer Land, Peter A. Berger unter Mitarbeit von Marie Carnein, Hagen Fischer, Max Leckert, Katja Prochatzki, Andreas Willisch Im Teilbericht „Gesichter der Armut“ wird auf der Basis von qualitativen Interviews die Lebenssituation von Menschen beschrieben, die in Mecklenburg-Vorpommern (M-V) von Armut betroffen oder bedroht sind. In ausführlichen, zum Teil mehrere Stunden dauernden Gesprächen haben diese Menschen mit uns über ihr Leben, ihren Alltag, über belastende biographische Ereignisse (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Behinderung, Flucht etc.), über Einschränkungen der Möglichkeiten, ihr Leben zu gestalten sowie über alltägliche Erfahrungen von Benachteiligung und Ausgrenzung gesprochen. Befragt haben wir alleinerziehende Mütter, Langzeitarbeitslose, ältere, pflegebedürftige Menschen, Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen sowie mit psychischen Erkrankungen, Asylbewerber, Flüchtlinge und Migranten – Personengruppen also, die von Armut besonders gefährdet sind. Im Mittelpunkt stand dabei, welche Auswirkungen die Armutssituation auf das körperliche und seelische Wohlbefinden hat, und welche sozialen Ressourcen bzw. Mittel der Unterstützung den Betroffenen zur Verfügung stehen. Da sich die Auswirkungen von Armut in städtischen und ländlichen Gebieten aufgrund der unterschiedlichen Verfügbarkeit von öffentlichen Gütern und staatlichen (Infrastruktur-)Leistungen deutlich unterscheidet, wurden Menschen aus den genannten Personengruppen in Rostock, der größten Stadt des Landes M-V, sowie im ländlichen Raum der Region Mecklenburg-Strelitz interviewt. Viele Wege führen in die Armut: Entlassungen, Betriebsschließungen, das Veralten von beruflichen Qualifikationen oder Schicksalsschläge wie Krankheiten und Unfälle, Trennungen vom Partner oder der Partnerin und damit verbundene Arbeitsplatzverluste etc. Und für viele der von uns befragten Personen ist fraglich, ob bzw. welche Wege aus der Armut wieder herausführen können. Schwerwiegende, chronische, physische und psychische Gesundheitsprobleme und Suchterkrankungen als Ursache und Folge von Arbeitslosigkeit verbauen für viele Befragte den Weg in eine ordentlich und auskömmlich bezahlte Arbeit. Entgegen landläufiger Vorurteile gegenüber Arbeitslosen und von Armut betroffenen Menschen sind die von uns befragten Personen aber überwiegend keineswegs passiv oder gar „faul“. Viele von ihnen sind ehrenamtlich oder in privaten Zusammenhängen engagiert und versuchen, ihre Zeit sinnvoll zu nutzen. Dabei zeigen unsere Interviews sehr deutlich, dass Armut in vielen Fällen vor allem die Armut an sozialer Teilhabe ist. Soziale Isolation zu überwinden oder gar nicht erst aufkommen zu lassen, stellt eine der größten Herausforderungen für Menschen dar, die dauerhaft in Armut und damit fernab von den üblichen gesellschaftlichen Zugängen zu sozialer Anerkennung leben müssen. Offene Anlaufstellen wie Stadtteil- und Begegnungszentren können, wie sich ebenfalls zeigt, durch die Einbindung be- 8 troffener Menschen in ehrenamtliche Strukturen einen Beitrag zur Überwindung von Isolation leisten. Oftmals fehlen aber, vor allem für Personen mit gesundheitlichen und/oder psychischen Beeinträchtigungen, betreute Angebote, um dieses Engagement weiter zu fördern. Und auch für bereits engagierte Menschen in Armut ist das Ehrenamt nur ein erster Schritt zur Wiedererlangung weitergehender sozialer Teilhabe – in den meisten Fällen fehlt die erhoffte Perspektive einer dauerhaften Integration in eine feste Struktur, vergleichbar mit einer regulären Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt. Viele der von uns Befragten sind in Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen integriert, deren Wirkung zwiespältig bewertet werden muss. Von einem Teil der Befragten werden die Maßnahmen durchaus positiv gesehen und als alltagsstrukturierendes Element geschätzt; ein anderer Teil der Befragten, insbesondere langzeitarbeitslose Personen ohne jegliche Hoffnung auf Integration in eine bezahlte Arbeit, erlebt die „Maßnahmen“ dagegen oftmals als „Schikane“ und wenig passend für die eigenen Bedürfnisse. Das Selbstbewusstsein von Menschen, die seit langer Zeit in einer Armutssituation sind, leidet deutlich, da diese Lage mit zunehmender Dauer als ausweglos erfahren wird und man sich selbst als ohnmächtig erlebt. Das Gefühl, von Freunden und Bekannten sowie dem Rest der Gesellschaft abgeschnitten zu sein oder nicht mehr mithalten zu können, wird als Beschädigung der eigenen „Würde“ begriffen. In solchen Situationen der Scham erfolgt häufig eine Abgrenzung nach unten, der Verweis auf andere, vermeintlich „wirklich arme“ Personen(gruppen), oft auf Menschen in Entwicklungsländern, auf Wohnungslose, Suchterkrankte und Asylbewerber, aber auch auf Personen in sehr ähnlicher Lage, etwa Arbeitslose, die mit ihrem Geld nicht umgehen könnten oder keine Unterstützung durch Freunde und Familie erfahren würden. Ein wichtiger Unterschied zwischen den Befragten in der Hansestadt Rostock und denen im ländlichen Raum ist die Zufriedenheit mit dem Wohnumfeld und der vorhandenen Infrastruktur. In der Stadt sind die Befragten im Großen und Ganzen mit dem verfügbaren Angebot von Ärztehäusern, Familienhelfern, gesetzlichen Betreuern, Stadtteilzentren, Maßnahmen der Jobcenter, Selbsthilfegruppen, Supermärkten, kleinen Einkaufszentren u. v. m. sehr zufrieden. In vielen Interviews in Rostock werden die kurzen Wege als wichtigstes Qualitätsmerkmal des eigenen Wohnumfeldes benannt. Für die Befragten im ländlichen Raum hingegen ist Mobilität und die fehlende Infrastruktur in naher oder gar fußläufiger Entfernung eines der größten Probleme. Der ÖPNV im ländlichen Raum ist mit erheblichem Zeitaufwand verbunden. Aufgrund der mangelhaften Flexibilität des ÖPNV haben von den uns Befragten nur diejenigen kein Auto, die nicht fahren dürfen oder können: alte Menschen, Behinderte, Leute, denen der Führerschein entzogen wurde, Jugendliche oder junge Erwachsene, die kein ausreichendes eigenes Einkommen haben. Reparatur- und sonstige laufende Kosten für das notwendige Auto sind somit ein erheblicher zusätzlicher Kostenfaktor für die von Armut betroffenen Menschen im ländlichen Raum gegenüber denen in der Stadt. Geldknappheit spielt erwartungsgemäß eine große Rolle in den Gesprächen, und sie hat weitreichende Folgen, da ständig konkurrierende Bedürfnisse und Angebote gegeneinander abgewogen werden müssen. Der Wunsch und das Bedürfnis nach sozialer und kultureller Teilhabe konkurriert so etwa mit den Anforderungen nach einer ausgewogenen und gesunden, aber 9 auch teureren Ernährung. Die Befragten müssen sich etwa entscheiden zwischen Ausgaben für Kleidung, Kosmetik oder andere Konsumbedürfnisse, die notwendig sind, um den Anschluss an Freunde und Bekannte nicht zu verlieren, und Ausgaben für frisches Obst und Gemüse. Lebensmittel werden häufig als einziger disponibler Ausgabeposten und so auch als die größte Einsparmöglichkeit im Haushalt beschrieben. Der Konsum geringwertiger, z. T. auch ungesunder, dafür aber billiger Lebensmittel lässt sich nach außen hin kurzfristig einfacher verbergen als das Tragen erkennbar billiger Kleidung. Die langfristigen gesundheitlichen Folgen dieser unausgewogenen Ernährung können im Rahmen dieser Untersuchung nur angedeutet werden; hier besteht zweifellos weiterer dringender Handlungs- und Forschungsbedarf. Bezeichnend für die Situation in Mecklenburg-Vorpommern und den neuen Bundesländern ist, dass ein Teil der Befragten bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten, seit der „Wende“ von 1989/90, arbeitslos ist oder seitdem wiederholt in befristeten oder unsicheren Beschäftigungsverhältnissen gearbeitet hat bzw. zwischen schlecht bezahlter Beschäftigung und Nichtbeschäftigung hin- und herpendelt. Bei diesem Personenkreis ist mittlerweile fast jede Hoffnung auf eine maßgebliche Verbesserung der Situation verschwunden, und die alltägliche Lebensführung wird geprägt und maßgeblich bestimmt vom individuellen Geschick im Umgang mit Institutionen wie etwa dem Jobcenter. Dabei zeigt sich, dass nicht nur gering qualifizierte Menschen, sondern auch kompetente und engagierte Personen von Abwärtsspiralen betroffen sein können, die über prekäre Beschäftigung oder Arbeitslosigkeit in Armut führen kann. Eine weitere, wichtige Gruppe – neben denjenigen, die ihre ökonomische Grundlage wendebedingt verloren haben – sind Personen unter 30 Jahren, die nie wirklich in den Arbeitsmarkt hinein gefunden haben. Hier handelt es sich häufig um Jugendliche mit einer abgebrochenen Schullaufbahn, die bereits im Elternhaus wenig Stabilität erlebt haben. Nicht selten handelt es sich dabei um Kinder von Eltern, die der eingangs beschriebenen Gruppe mit erheblichen Wendeverlusten angehören. In den analysierten Interviews fällt auf, dass diese Personen durchaus nicht ohne Hoffnung auf Entwicklung sind, und dass sie klare Ziele benennen können. Allerdings fehlt oft die Orientierung auf dem Weg zu diesen Zielen. Es werden Perspektiven beschrieben, die aus eigener Kraft nicht erreicht werden können, die Befragten sehen sich in Abhängigkeit von Institutionen, die scheinbar willkürlich über ihr Schicksal bestimmen. Ziel eines verantwortungsbewussten und nachhaltigen politischen und gesellschaftlichen Umgangs mit Armut sollte es sein, diesen Menschen neue Perspektiven, etwa im Rahmen sinnvoller, sozialpädagogisch betreuter Beschäftigung in der Gemeinde bzw. im sozialen Nahraum, aufzuzeigen und damit die Verfestigung von Armutsbiographien sogar über Generationen hinweg zu verhindern. Ohne sozialpolitische Interventionen und eine ganzheitliche Förderung vor allem von Familien in Armutssituationen wird sonst eine neue Generation von Armen erzeugt werden. 10 Landkarte der Armut in Mecklenburg-Vorpommern Von Ulf Groth und Kathrin Michels Im zweiten Berichtsteil geht es um eine topographische Beschreibung von Armutslagen in Mecklenburg-Vorpommern. Neben klassischen Armutsindikatoren, wie die Inanspruchnahme der sozialen Mindestsicherungsleistungen (die allerdings nur bedingt aussagekräftig sind hinsichtlich der tatsächlichen Beschreibung von Armut in einer Region), sind weitere Anzeichen und Indizien für eine spezifische Armutslandschaft in Mecklenburg-Vorpommern zusammengetragen worden. Gemessen am Bundesdurchschnitt weist Mecklenburg-Vorpommern nach Bremen die höchste Armutsgefährdungsquote in Deutschland auf. Nur was sagt diese Zahl aus? Die Betrachtung unter soziodemographischen Gesichtspunkten fällt sehr differenziert aus. So wird deutlich, dass Arbeitslose und Alleinerziehende wie in anderen Bundesländern auch in weitaus höherem Maße gefährdet sind als beispielsweise Beschäftigte. Gleichwohl gab es 2013 rd. 8,3 Prozent sog. „Aufstocker“ im Nordosten, die zusätzlich zu ihrem Arbeitseinkommen sozialstaatlich alimentiert werden mussten, um über die Runden zu kommen. Kinder und Jugendliche in Haushalten Alleinerziehender sind besonders armutsgefährdet, und der Anteil von unverheirateten Müttern ist in Mecklenburg-Vorpommern hoch. Setzt man dieses Faktum z. B. mit Schulabschlüssen, dem Gesundheitsstatus von Kindern oder dem Freizeitverhalten in Beziehung, so lenkt dies die Aufmerksamkeit auf Formen und Folgen von Kinderarmut in Mecklenburg-Vorpommern, denen entgegen zu wirken ist. Es deutet sich an, dass künftig auch alleinstehende Männer zu einer größeren Armutsgruppe im Land werden. Seit 2008 beziehen mehr Männer als Frauen Grundsicherungsleistungen in Mecklenburg-Vorpommern. Dies ist auch vor dem Hintergrund regional-demographischer Ergebnisse, die im dritten Teilbericht vorgestellt werden, zu beachten. Zwar ist die Grundsicherung im Alter immer noch auf sehr niedrigem Niveau, aber sie steigt bei den unter 65jährigen erwerbsgeminderten Menschen deutlich an. Und viele heutige Erwerbsminderungsrentner, die ergänzende Grundsicherungsleistungen erhalten, werden mit Erreichen der Regelaltersgrenze zu Altersarmen, da sich ihre Einkünfte vielfach nicht mehr ändern. So ist es nicht verwunderlich, dass der Anteil von Wohngeldempfängern im Nordosten mehr als doppelt so hoch wie der Bundesdurchschnitt ausfällt; den größten Anteil an den rd. 30.000 Wohngeldempfängern im Nordosten stellen Senioren. Wohngeld kann auch als Frühindikator für zukünftige Armutslagen gesehen werden: Liegen die Sozialleistungstransfers in MecklenburgVorpommern allesamt im oberen Bereich, so muss eine Schätzung zur „Dunkelziffer der Armut“, also zum Anteil von Menschen, die ihnen an sich zustehende Sozialleistungen nicht in Anspruch nehmen, erschrecken: Zwischen 32.000 – 52.000 Haushalten, je nach Berechnungsweise, dürften in Mecklenburg-Vorpommern davon betroffen sein. Ein hoher Anteil älterer Menschen darf hierunter vermutet werden. Eine unabhängige Sozialrechtsberatung kann zur rechtzeitigen Aufmerksamkeit für dieses sozialpolitisch sensible Thema beitragen. Die Sozialleistungstransfers an die Menschen sind hoch, die erzielten Einkommen aus sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen sind im Bundesvergleich die niedrigsten. Zwar ist die jahresdurchschnittliche Arbeitslosenquote seit 2005 um rd. 10 Prozentpunkte 11 gefallen, und etwa 100.000 Menschen weniger sind arbeitslos. Gleichwohl stellt sich die monetäre Ausstattung der Haushalte im Land als unterdurchschnittlich dar, was sich z. B. an der Sparquote, der Verschuldungsquote oder der Ausstattung mit Pkws zeigt. Selbst beim Gesundheitsstatus der Bevölkerung lassen sich signifikante Unterschiede zum Bundesdurchschnitt erkennen, die auch mit einer von Geldmangel beeinflussten Ernährungssituation zu tun haben können. Atypische Beschäftigungsverhältnisse nehmen in Mecklenburg-Vorpommern zu. Dies hat weitreichende Auswirkungen, nicht nur für die aktuelle Lebenssituation, sondern insbesondere auch für die späteren Alterseinkünfte. Unser Rentensystem basiert im Wesentlichen auf der Einkommenshöhe und der Dauer der Lebensarbeitszeit. Wer weniger verdient, erhält später auch eine geringere Rente aus der Gesetzlichen Rentenversicherung. Die Summe der Entgeltpunkte ist für die Erwerbstätigen in Ostdeutschland rückläufig; Eigenvorsorge wird propagiert. Dazu wird gezeigt, dass es einem großen Anteil der Menschen im Nordosten faktisch unmöglich ist, eine ausreichende private Altersvorsorge aufzubauen, da sie „von der Hand in den Mund“ leben, was man z. B. auch an der rückläufigen Zahl geförderter Riesterverträge ablesen kann. Die zweite Säule der Altersvorsorge, die betriebliche, ist in MecklenburgVorpommern nur sehr schwach ausgeprägt. Diese und weitere Indizien deuten klar darauf hin, dass Mecklenburg-Vorpommern auf ein unübersehbares Problem der Altersarmut zusteuert. Zwar stellt sich die derzeitige Rentensituation im Lande noch nicht als besonders besorgniserregend dar, da immer noch Rentenempfänger mit langjährigen, ununterbrochenen DDRErwerbsbiografien dominieren; allerdings fallen gegenüber 2005 die Rentenzahlungen der Zugangsrentner 2013 um 13 Prozent niedriger aus. Und dieser Trend dürfte sich noch deutlich verstärken. Diese Gesamtentwicklung führt zu Kaufkraftverlusten im Land, zu weiteren erhöhten Sozialausgaben (z. B. im Pflegebereich) und erfordert neue Ideen zur Sicherstellung von Mobilität. Auch hinsichtlich der Wohnsituation von zunehmend älteren Menschen müssen adäquate Konzepte gefunden werden. Schon heute stellt die sog. „Energiearmut“ durch hohe Mietnebenkosten ein Problem dar. Durch kleineren, bedarfsangepassten und energieeffizienten Wohnraum können Energiekosten gesenkt werden. Hinsichtlich der Betreuungssituation älterer Menschen, insbesondere in peripheren ländlichen Bereichen, sollten aktivierende Modelle, etwa Seniorengenossenschaften, ausprobiert und evaluiert werden. Sie bieten Kosteneinsparungspotenziale und können einem sich abzeichnenden Arbeits- und Fachkräftemangel entgegen wirken. Trotz zahlreicher Verbesserungen in den letzten Jahren (z. B. Beschäftigungszunahme), lassen sich auch jenseits der eingangs erwähnten klassischen Armutsindikatoren zahlreiche weitere Anzeichen für eine besonders ausgeprägte Armutstopographie in Mecklenburg-Vorpommern erkennen, deren Details im entsprechenden Teilbericht im zweiten Teil zu finden sind. 12 Regional-Demographie der Armut in MecklenburgVorpommern Von Wolfgang Weiß und Jochen Corthier Wohlstand und Armut sind in keiner Gesellschaft gleich verteilt. Es gibt unterschiedliche Konzentrationen, sowohl sozio-demographische nach Alter und Geschlecht wie auch räumliche bzw. geographische nach Regionen oder Siedlungstypen. Solche Konzentrationen können sich überlagern und dabei gegenseitig verstärken, wenn bestimmte sozio-demographische Merkmale gehäuft auftreten. Handelt es sich um eine Region mit vielen armen bzw. bedürftigen Menschen, kann man auch von einer „armen Region“ sprechen. Es gibt aber auch Regionen, in denen die Lebensbedingungen selbst besonders problematisch sind, so dass fast alle sozialen Gruppen, die dort leben, in irgendeiner Form in ihrem Wohlstand beeinträchtigt sind. Für viele Gebiete in Mecklenburg-Vorpommern scheint nun beides zuzutreffen, denn auch 25 Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es im Vergleich zum Bundesschnitt Defizite in der Lebensqualität. Bei allen Fortschritten finden wir noch immer mit die höchste Arbeitslosigkeit, die geringsten Einkommen und oftmals die höchsten Preise für Leistungen der Daseinsvorsorge (Wasser und Abwasser, Strom). Und wer nicht gerade in einem Zentrum wohnt, in dem Leistungen der Daseinsvorsorge „um die Ecke“ angeboten werden, dessen Aufwand an Zeit und Geld, um solche Leistungen in Anspruch zu nehmen, ist oftmals höher. Die räumlichen Distanzen zu den Zentren sind größer und in den ländlichsten Gebieten sind die Angebote aus Gründen der Rentabilität deutlich reduziert worden – und werden weiter reduziert. Vor 25 Jahren gab es in Mecklenburg-Vorpommern deutschlandweit den höchsten Anteil an Kindern und Jugendlichen und einen der geringsten Anteile an Senioren. Das Land war gewissermaßen die „Kinderstube der Nation“. In nur einer Generation veränderte sich die Altersstruktur der Bevölkerung radikal zum „Altersheim Deutschlands“. Hier gibt es heute mit weniger als 15 Prozent einen der geringsten Anteile an Kindern und Jugendlichen in ganz Europa, und fast die Hälfte aller Gemeinden hat bereits einen Anteil von über einem Drittel an Senioren. Diese raschen Veränderungen halten an. Aus Sicht der Demographie hängt die Ausprägung demographischer Prozesse und Strukturen in der Regel mit Wohlstand bzw. Armut zusammen. Die Sterblichkeit, die Anzahl der Kinder je Frau und die Entscheidung zur Wahl des Wohnsitzes stehen eng mit dem sozialen Status in Beziehung. MecklenburgVorpommern ist deshalb in doppelter Hinsicht ein „armes“ Land. Der Grund für die besonders hohe Dynamik der Veränderung der Altersstruktur ist die Überlagerung des demographischen Wandels mit Wanderungsprozessen, die ebenfalls eine Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung bewirken. In den ländlichen Räumen von Mecklenburg-Vorpommern begann die selektive Abwanderung bereits in den frühen 1960er Jahren, wobei sich die Wandernden und die Sesshaften z. B, nach Alter, Qualifikation und Geschlecht unterscheiden: Rund 85 Prozent aller Wanderungen lassen sich dabei über das Alter erklären. Und wenn die Jungen gehen, bleiben die Alten. Das beschleunigt die relative Alterung. Die meisten Wanderungen sind qualifikationsorientiert, d. h. es wandern zuerst jene ab, die trotz besserer schulischer Leistungen oder ihrer Qualifikation nach der Berufsausbildung oder dem 13 Studium in der Heimat keine entsprechende Beschäftigung finden oder in einer anderen Regionen bessere Chancen haben, ihre Arbeitskraft zu verwerten. Im Extremfall spricht man bei solchen Wanderungen auch vom „Brain-Drain“. Fast immer dominieren bei der Arbeitswanderung allerdings die Männer. Im Osten Deutschlands ist das anders: Es ist eine Besonderheit, dass sich an der arbeitsweltlich motivierten Migration überproportional häufig junge Frauen beteiligen. Im Zusammenwirken der Parameter Alter, Qualifikation und Geschlecht bei der selektiven (Ab-)Wanderung entstand in der ländlichen Peripherie Mecklenburg-Vorpommerns bereits vor 1990 eine Bevölkerungsstruktur, die auch als „Residualbevölkerung“ bezeichnen kann. Sie ist besonders sesshaft, stark überaltert, weist eine auffallend geringe Zahl an Frauen im gebärfähigen Alter und einen hohen Anteil an Geringqualifizierten auf. Selektive Abwanderungen gab es seit 1990 allerdings auch in größerem Ausmaß aus den Städten – meist waren es wohlhabendere Bevölkerungsteile, die in die Umland-Gemeinden zogen. Die Folge war eine deutliche Differenzierung des ländlichen Raumes innerhalb Mecklenburg-Vorpommerns. Die anteilsmäßig stärksten Wanderungsverluste erfolgten dabei in den wirtschaftlich schwächeren Gebieten, den sogenannten „ländlichsten Räumen“: Die Residualbevölkerung zeigt hier ihre breiteste flächenhafte Erscheinung. Die Raumordnung beschreibt diese Gebiete als Regionen mit „demographisch bedingtem Handlungsbedarf“. In ihnen gibt es tendenziell einen höheren Anteil Bedürftiger unterschiedlicher sozialer Leistungen: Der Anteil sozial Bedürftiger bzw. der Empfänger verschiedener Leistungen liegt in den Problemregionen bei manchen Altersgruppen vielfach über 25 Prozent, beträgt in der Altersgruppe, in der sich meist unverheiratete Mütter befinden, bis zu einem Drittel der Gesamtbevölkerung. Die Altersgruppen mit dem höchsten Anteil an Bedürftigkeit werden in wenigen Jahren ins Rentenalter eintreten. Es sind jene Kohorten, die nach 1990 von gebrochenen Erwerbskarrieren betroffen waren sowie durch unterschiedliche arbeitsmarktpolitische Maßnahmen geprägt sind. Sie könnten in etwa 15 Jahren etwa ein Viertel der Senioren umfassen. Im Land Mecklenburg-Vorpommern existiert ein eindeutiges West-Ost-Gefälle in der Lebensqualität. In den Gemeinden von Ostmecklenburg und dem vorpommerschen Festland gibt es – selbst nach dem Maßstab von Mecklenburg-Vorpommern – die höchste Arbeitslosigkeit, das geringste Einkommen und die größten Probleme bei der Erlangung sowohl von marktorientierten Leistungen als auch den Leistungen der Daseinsvorsorge. Unter den räumlichen Bedingungen dieser Region ist Mobilität ein „Lebensmittel“. Schulwege, Fahrzeiten zu den Behörden und zum Arzt bzw. zur Apotheke, vielfach selbst die Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs fordern die Bevölkerung in den ländlich-peripheren Gebieten immer stärker heraus. Inzwischen wird die Erreichbarkeit öffentlicher Leistungen in Zentren gewöhnlich mit PKW-Fahrzeiten berechnet. Das setzt den Besitz, zumindest die Verfügbarkeit über einen PKW, voraus. Wer sich das nicht leisten kann, ist doppelt benachteiligt. Abschließend ist auf die schwindende Leistungskraft der Kommunen hinzuweisen. Als Träger oder Gestalter sozialer Aufgaben sind die Städte und Gemeinden sowie die Landkreise gefordert, mit dem Thema Armut konkret umzugehen. Der unterschiedliche Anteil Betroffener an der Gesamtbevölkerung ist eine besondere Herausforderung. Strukturelle Veränderungen der Verwaltung in den vergangenen Jahren, z. B. die Kreisgebietsreform, brachten diesbezüglich keine praktischen Verbesserungen. Vielmehr verschleiern die großen Gebietseinheiten die Probleme der räumlichen Streuung von Standorten mit einem überproportionalen Bedarf. 14 Politische Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen Grundsätzlich erfordert eine Reduzierung von Armut ein vielschichtiges Herangehen: Einkommenssteigerungen und Veränderungen der Einkommensverteilung, Verbesserung der Reproduktionsbedingungen für Human- und Sozialkapital, Verbesserung der Hilfsangebote und auch der Kompensationsmöglichkeiten für Mangelsituationen. Mögliche Strategien zur Bekämpfung der Armut in Mecklenburg-Vorpommern sollten auf Basis einer soliden und differenzierten Wissensgrundlage über die verschiedenen Formen und Ausprägungen der Armut in allen Teilen des Landes erarbeitet werden. 1 Einrichtung einer Sozial- und Armutsberichterstattung des Landes Mecklenburg-Vorpommern Die effektive und nachhaltige Bekämpfung der Armut in Mecklenburg-Vorpommern bedarf einer umfassenden Wissensgrundlage über ihre verschiedenen Erscheinungsformen und Ausprägungen in der Stadt und auf dem Land, unter Jungen und Alten, in familiären und nichtfamiliären Lebensformen usw. Nur so können zielgerichtete Maßnahmen gegen Armut entwickelt werden. Eine regelmäßige Armutsberichterstattung sowie eine breite Diskussion des Themas in der Öffentlichkeit sind unverzichtbar für Politik, (Wohlfahrts-) Verbände und Zivilgesellschaft. Diese Armutsberichterstattung darf sich nicht nur auf die zu Recht problematisierte Messung von relativer Einkommensarmut beschränken, sondern sie muss die Vielfalt und Mehrdimensionalität benachteiligter und benachteiligender Lebenslagen, etwa in den Bereichen Wohnen, Gesundheit, Arbeitsmarktintegration und sozialer Teilhabe, angemessen berücksichtigen. Die bestehenden Untersuchungen im Auftrag der Landesregierung sind nicht hinreichend, da sie jeweils nur einen Teil des Phänomens betrachten und in Form punktueller Messungen keine Entwicklungen der Armut über die Zeit abbilden 1. In fast allen Bundesländern gibt es bereits eine kontinuierliche Sozialberichterstattung. Damit können Maßnahmen gegen die Armut entwickelt und evaluiert werden. Eine derartige Sozialberichterstattung ist auch für Mecklenburg-Vorpommern zu schaffen. Wir empfehlen eine regelmäßige Berichterstattung im Abstand von zwei Jahren, die im Wesentlichen aus drei Teilen bestehen sollte: • Regelmäßige und differenzierte sozialstatistische Erfassung der sozialen Lage in Mecklenburg-Vorpommern: Bestehende Datenbestände sind zusammenzutragen und hinsichtlich der Mechanismen und Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit systematisch auszuwerten. Um auch die sozial-räumliche Ausdifferenzierung des Phänomens „Armut“ abbilden zu können (z. B. im ländlich-peripheren Raum), sind eigene Erhebungen vonnöten, idealerweise in Form von Längsschnittuntersuchungen. Orien- 1 So z. B. die im Auftrag des Ministeriums für Soziales und Gesundheit Mecklenburg-Vorpommern erstellten Berichte der Prognos AG zur „Lebenssituation von Haushalten mit Kindern in Mecklenburg-Vorpommern“ (2009) und zur „Situation von Menschen mit Behinderungen in Mecklenburg-Vorpommern“ (2012). 15 • • tieren sollte sich die Berichterstattung am Lebenslagenansatz, mit dem Benachteiligungen auf verschiedenen Gebieten (z. B. Wohnen, Gesundheit, Arbeitsmarktintegration, soziale Teilhabe/Integration) gemessen werden. Eine einseitige Orientierung am Konzept der Einkommensarmut ist zu vermeiden. Um ein umfassendes und zugleich differenziertes Bild über die individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Armut zu erhalten, sind qualitative Befragungen unerlässlich. Hier gilt es, die alltäglichen Situationsdeutungen der Betroffenen hinter den statistischen Befunden aufzudecken, individuelle Strategien des Umgangs mitund der Bewältigung von Armutslagen zu identifizieren und zu fragen, was es bedeutet, in einer bestimmten Region des Landes in Armut zu leben. Diese qualitativen Befragungen können und sollen auch Erkenntnisse über Möglichkeiten, aus der Armut herauszukommen, liefern. Schließlich sind auf Basis der wissenschaftlichen Analyse (arbeitsmarkt-, sozial-, bildungs- und regional)politische Rückschlüsse auf Strategien zur Bekämpfung der Armut zu ziehen. Handlungsbedarfe könnten einerseits auf Ebene von Land und Kommune festgestellt werden, andererseits aber auch auf der Ebene sozialer Träger und Dienste, zivilgesellschaftlicher Akteure – und natürlich der Betroffenen selbst. Eine regelmäßige Berichterstattung nach dem genannten Muster böte die Grundlage einer verantwortungsvollen Politik im Umgang mit Armut und sozialer Ungleichheit. Natürlich können einzelne Berichte über den genannten Rahmen hinaus thematische Schwerpunkte aufweisen, etwa um die Lage besonders intensiv von Armut bedrohter Gruppen genauer zu erfassen. 2 Steigende Einkommen durchsetzen und Einkommensungleichheiten reduzieren Die Verbesserung der Einkommenssituation der Bevölkerung in Mecklenburg-Vorpommern ist eine gesellschaftliche Aufgabe, zu der viele Akteure beitragen müssen – sie kann nicht allein den Tarifpartnern überlassen bleiben. Dabei steht an erster Stelle die Verbesserung der Primäreinkommen bzw. der Arbeitseinkommen. In Relation zum Einkommensdurchschnitt der Bundesrepublik Deutschland ist die Armutsquote in Mecklenburg-Vorpommern besonders hoch, während sie gemessen am Landesdurchschnitt Mecklenburg-Vorpommerns sehr niedrig ist. Dies weist darauf hin, dass eine regelmäßige Anhebung der Mindestlöhne eine wichtige, aber nicht hinreichende Komponente der Armutsbekämpfung ist. Es geht auch darum, die Einkommen oberhalb des Mindestlohnes deutlich anzuheben, vor allem in den unteren und mittleren Einkommensniveaus, und damit Einkommensungleichheiten zu vermindern. Transfereinkommen, insbesondere Renten, Arbeitslosengeld II und Sozialeinkommen sollten an die Entwicklung der Durchschnittseinkommen gekoppelt werden. Eine Wende in der Einkommensentwicklung ist unabdingbar, wenn die Abwanderung von Fachkräften gestoppt werden, qualifizierte und engagierte Menschen im Land gehalten oder nach Mecklenburg-Vorpommern geholt werden sollen. Die Anhebung geringerer und mittle- 16 rer Einkommen ist auf längere Sicht überdies ein wichtiger Schritt zur Vermeidung von Altersarmut. Die AWO sollte zusammen mit den anderen Wohlfahrtsverbänden in der Öffentlichkeit und speziell in Zusammenarbeit mit allen an der Lohnfindung beteiligten Organisationen, den Gewerkschaften, den Arbeitgeberverbänden, dem Bund, dem Landtag und der Landesregierung und den Kommunen sowie der Arbeitsagentur darauf hinwirken, zu einer dynamischen, an der Produktivitätsentwicklung orientierten Reallohnentwicklung zurückzufinden. Die Löhne in den unteren Lohngruppen sollten überproportional steigen. • • • Die Lohnmoderation 2 muss beendet und der Abbau des Billiglohnsektors zu Gunsten normal bezahlter regulärer Beschäftigung eingeleitet werden. Wichtig ist, dass gute und neue Arbeitsplätze insbesondere auch im ländlichen Raum entstehen. Die AWO sollte zusammen mit den anderen Wohlfahrtsverbänden entsprechende politische Initiativen in Land und Bund unterstützen. Die AWO sollte sich gemeinsam mit den anderen Wohlfahrtsverbänden gegenüber der Politik und in der Öffentlichkeit dafür einsetzen, die Steigerung der Transfereinkommen an die allgemeine Reallohnentwicklung zu koppeln, wobei der Inflationsausgleich die Untergrenze bilden sollte. Die öffentliche Hand, die AWO und andere Wohlfahrtsverbände sollten auch selbst als Arbeitgeber eine an der volkswirtschaftlichen Produktivität orientierte Lohnentwicklung unterstützen und insbesondere in den Pflege-, Sozial- und Bildungsberufen für eine Wende in der Lohnpolitik wirken. 3 Entwicklungsbedingungen für Human-, Sozial- und Kulturkapital verbessern Mecklenburg-Vorpommern verliert laufend Potenziale an Humankapital, nicht nur durch Abwanderung, auch durch mangelnde Nutzung und unzureichende Förderung. Qualifikationen, die nicht gebraucht werden, entwickeln sich nicht weiter oder verfallen. Damit verringern sich mit der Dauer von Arbeitslosigkeit und Armut auch die Chancen auf die Überwindung der Arbeitslosigkeit und der Armutssituation. Resignation, Rückzug und Perspektivlosigkeit sind die Folge. Es muss daher um echte Möglichkeiten der räumlichen und geistigen Horizonterweiterung für Menschen in Arbeitslosigkeit und Armut gehen, vorrangig für junge Menschen am Beginn ihrer beruflichen Karriere, aber auch für all diejenigen, die qualifiziert und engagiert gearbeitet haben, aber im Zuge von De-Industrialisierung, Strukturwandel und durch den Ausbau des Billiglohnsektors ihren Arbeitsplatz verloren haben oder eine hochwertige und gut bezahlte Arbeit gegen eine einfache und schlecht bezahlte tauschen mussten. Im Zentrum 2 Unter „Lohnmoderation“ wird das Zurückbleiben der tatsächlichen nominalen Lohnentwicklung hinter dem Verteilungsspielraum, der sich aus dem Produktivitätsanstieg und der EZB-Inflationsziel ergibt, verstanden (vgl. Hallwirth 2005: 296). Seit den 1980er Jahren, insbesondere aber seit der Agenda 2010, blieben die Löhne Jahr für Jahr deutlich hinter dem Verteilungsspielraum zurück, seit 1997 kumulativ um mehr als 25 Prozent (vgl. Busch, Land 2012: 109 ff.) 17 müssen inklusive Strategien stehen, die die bestehende, gegenseitige Abschottung von Arbeitsmärkten und Hilfsprogrammen aufbrechen. • • • Insbesondere für Berufseinsteiger sind Austauschprogramme für geförderte Praktika in Kooperation mit Unternehmen (bundesweit und international) denkbar, die qualifizierte Menschen in Armutsrisikolagen herausfordern und über Perspektiven nachdenken lassen. Horizonterweiterung, Bildung und Austausch können wichtige Stabilisatoren gegen dauerhafte Abwanderung werden. Die AWO sollte sich bei der Arbeitsagentur und der Politik dafür einsetzen, solche Austauschprogramme möglich zu machen. Eine weitere Möglichkeit wären Programme, die eine Rotation von Beschäftigten zwischen betrieblicher Arbeit und betriebsorientierter, beruflicher (Weiter-) Qualifikation vorsehen. Ein-Euro-Jobs sind für Berufseinsteiger keine geeignete Möglichkeit, qualifizierte Erwerbsarbeit zu finden. Besser ist die staatlich geförderte Integration in betriebliche Arbeitsprozesse. Arbeitslose Berufseinsteiger brauchen Chancen für die Integration in betriebliche Arbeit, z. B. im Austausch und in Rotation mit Qualifikationsmaßnahmen. Die AWO sollte sich bei der Arbeitsagentur und der Politik dafür einsetzen, solche Rotationsprogramme möglich zu machen. Für qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Selbständige im mittleren Alter, die im Zuge des Strukturwandels ihre ökonomische Existenzgrundlage verloren haben oder davon bedroht sind, sollten spezielle Programme entwickelt werden, um sie für qualifizierte Berufe zurückzugewinnen und weiterzubilden, um sie so zur Bewältigung des zunehmenden Fachkräftedefizits zu mobilisieren. Dies sollte mit Mobilitätshilfen verbunden werden. 4 Fördermaßnahmen für Geringqualifizierte („Sozialer Arbeitsmarkt“) Insbesondere gering qualifizierte Personen laufen Gefahr, beim Berufseinstig zu scheitern und dauerhaft in Abhängigkeit von Transfereinkommen und sozialer Bevormundung zu geraten. Im Zuge des Strukturwandels und der globalen Neuverteilung einfacher Arbeit haben sich die Lebens- und Erwerbsbedingungen speziell für diese Gruppen ohne ihr Verschulden dramatisch verschlechtert. Hunderttausende geringqualifizierte Menschen sind seit Jahren ohne jede realistische Aussicht auf eine existenzsichernde Beschäftigung. Die Gesellschaft muss sich der Aufgabe stellen, auch für diese Gruppen Erwerbsmöglichkeiten durch Regulierung von (Teil-)Arbeitsmärkten und Veränderung der rechtlichen Rahmenbedingungen für die Förderung von Beschäftigungsverhältnissen zu schaffen. Immer neue „Qualifizierungsmaßnahmen“ jenseits des Arbeitsmarktes sind wenig sinnvoll. Stattdessen muss die Wegrationalisierung und Abschaffung von auch einfach(er)en Helferberufen gestoppt werden, Tätigkeiten und Berufsausbildungen in diesem Bereich müssen gefördert werden. Sinnvoll ist die geförderte bezahlte Beschäftigung in „sozialen Arbeitsmärkten“. Sie sollen gering qualifizierten Erwerbstätigen bzw. Erwerbslosen ein selbstbestimmtes Leben ohne Bevormundung und Abhängigkeit von Sozialleistungen sowie die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Dies 18 würde auch zu Verringerung der Kosten führen, die derzeit anfallen, um diese Personengruppen mit Sozialeinkommen zu versorgen. Die Tätigkeiten in diesem „Sozialen Arbeitsmarkt“ müssen folgende Mindestbedingungen erfüllen: • • • • • • Sie müssen freiwillig sein und die Ablehnung dieser Tätigkeiten darf nicht mit Sanktionen verbunden sein; die Förderung dieser Tätigkeiten muss von Befristungsregelungen befreit werden, um den Geförderten eine Lebensperspektive jenseits immer wiederkehrender, von vielen Beteiligten als sinnlos empfundener „Qualifizierungs-“ und „Beschäftigungs“Maßnahmen zu eröffnen; die Tätigkeiten müssen sozialintegrativ wirken, d. h. sie müssen sich an der sozialräumlichen Lebenswelt der geförderten Personen orientieren und diese sinnvoll bereichern, indem sie beispielsweise der Verbesserung der lokalen, sozialen Infrastruktur oder des Wohnumfeldes dienen; die geförderten Menschen müssen im Rahmen ihrer Tätigkeiten sozialpädagogisch betreut werden, da sich bei der Personengruppe, die von dem „Sozialen Arbeitsmarkt“ profitieren soll, oftmals verschiedene Problemlagen („Vermittlungshemmnisse“) häufen; Tätigkeiten in diesem Bereich dürfen nicht zum Aufbau eines Schattenmarktes für einfache Dienstleistungen führen; der gesetzliche Mindestlohn muss ohne Ausnahme auch in diesem Bereich gelten. Für gering qualifizierte Erwerbslose und Erwerbsunfähige, für eine geförderte Erwerbstätigkeit nicht in Frage kommt, sollten Möglichkeiten der freiwilligen ehrenamtlichen Mitarbeit in sozialen Organisationen und Einrichtungen unterstützt werden, um auch Ihnen Teilhabe durch sinnvolle Betätigung und soziale Integration zu ermöglichen. 5 Gezielte Unterstützung von Alleinerziehenden Alleinerziehende stellen eine der am stärksten von Armut betroffenen Gruppen dar. Besonders dramatisch wird dieser Befund vor dem Hintergrund, dass die in den Ein-ElternHaushalten lebenden Kinder ebenfalls in Armut leben, daher u. U. in ihren (Bildungs- und Lebens-)Chancen stark beeinträchtigt sind und somit die Gefahr einer sozialen Reproduktion von benachteiligten und benachteiligenden Lebenslagen besteht. Alleinerziehende Mütter und Väter haben aufgrund zeitlicher Restriktionen per se größere Schwierigkeiten, Berufstätigkeit und die Sorge für ihre Kinder zu vereinbaren. Bestimmte Formen der Erwerbstätigkeit (Schichtarbeit, Montagetätigkeit, Wochenend- und Feiertagsarbeit etc.) sind von diesem Personenkreis nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten auszuüben. Politische Maßnahmen müssen sich daher auf der einen Seite der Verbesserung der Kinderbetreuungsmöglichkeiten (nicht nur) für Alleinerziehende widmen. 19 Auf der anderen Seite häufen sich bei einem Teil der Alleinerziehenden verschiedene Problemlagen, zu denen etwa gesundheitliche Einschränkungen beim Elternteil und/oder Kind(ern), Schulden, geringe formale Bildung, aber auch zum Teil längere Phasen der Erwerbslosigkeit gehören. Daher fällt die (Wieder-)Aufnahme einer Erwerbstätigkeit häufig schwer. Diese Probleme müssen in der Beratung und Betreuung in den Job-Centern erfasst und angemessen berücksichtigt werden. Die Begleitforschung der Universität Rostock und der Hochschule Neubrandenburg zu den verschiedenen Pilotprojekten der Landesregierung zur „Stabilisierung arbeitsloser Eltern in Mecklenburg-Vorpommern“ hat in diesem Zusammenhang gezeigt, dass Versuche, Alleinerziehende in Arbeit zu vermitteln, realistische, d. h. qualifikationsadäquate Ziele haben müssen, die nur mit längerfristigen Strategien zu erreichen sind. Zusammengefasst sollte sich die besondere Verantwortung, die alleinerziehende Mütter und Väter mit der alleinigen Sorge für die Versorgung und Erziehung ihrer Kinder übernehmen, auf der Ebene der institutionellen Unterstützung in Form einer positiven Privilegierung widerspiegeln: • • • • Entsprechende Verbesserungen bei Elterngeld, Kindergeld, ALG II für Alleinerziehende sind anzustreben; Der Ausbau einer flexiblen, kostengünstigen und qualitativ hochwertigen staatlichen Kinderbetreuung sollte vorrangiges Ziel der Bildungs- und Familienpolitik sein; Bestrebungen von Job-Centern und anderen Akteuren, Alleinerziehende in Erwerbstätigkeit zu bringen, müssen unbedingt und immer die familiäre Situation der Betroffenen berücksichtigen und den Sanktionsdruck mäßigen. Für einen Teil der Alleinerziehenden müssen familienstabilisierende Maßnahmen vorrangiges Ziel sein, bevor an die (Wieder-)Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gedacht werden kann. Notwendig hier ist eine institutionelle psycho-soziale Unterstützung, die langfristig, niederschwellig, kontinuierlich und nachhaltig ist und somit Hilfe zur Selbsthilfe bietet; Außerdem sollte die Vernetzung der verschiedenen unterstützenden Akteure und die Förderung sozialer Beziehungen angestrebt werden. In Mecklenburg-Vorpommern laufende Pilotprojekte (z. B. Familiencoaching) müssen erweitert und auf Dauer gestellt werden. 6 Ausbau und Erhalt von sozialem Kapital durch Inklusion und verbesserte Hilfsangebote Armut ist nicht nur ein materielles, sondern sehr häufig auch ein soziales Problem. In vielen Fällen sind Armut und Einsamkeit daher zwei Seiten derselben Medaille. Das Fehlen sozialer Beziehungen schränkt die Handlungsmöglichkeiten zur Bewältigung der Situation stark ein. Um dem zu begegnen, sind niedrigschwellige Angebote zu schaffen, die Gelegenheiten zum Austausch bieten und die soziale Integration in überschaubaren sozialräumlichen Zusammenhängen fördern. Denkbar sind die Förderung von Ehrenamts-Strukturen oder die Schaffung niedrigschwelliger (gemeinnütziger) Beschäftigungsmöglichkeiten. Die vorhandenen Mög20 lichkeiten der Kommunen und der gemeinnützigen Träger der Sozialarbeit sollten ausgebaut werden. • • • • Unterstützung bürgerschaftlichen Engagements und selbstorganisierter Angebote in der Stadt und insbesondere auf dem Land. Unterstützung von Bürger- und Seniorengenossenschaften und deren Gründung, um gerade in ländlich-peripheren Gebieten soziale Betreuungsaufgaben selbstorganisiert durch die Bevölkerung zu ermöglichen. Aufrechterhaltung, bzw. Wiederinbetriebnahme dezentraler Anlaufstellen der Verwaltung. Verbesserung der Erreichbarkeit und Ausbau von Beratungsangeboten im ländlichen Raum für Menschen mit eingeschränkter Mobilität. Verbesserung der Mobilität von Menschen mit diesbezüglichen Einschränkungen. Die genannten Schwerpunkte erfordern eine vernetzte Umsetzung in mehreren Maßnahmenpaketen und durch verschiedene Akteure. Politik, staatliche und private Organisationen, Wohlfahrtsverbände und die Arbeitsagenturen sind hier besonders gefordert. Vor allem aber muss auch die Öffentlichkeit durch Information und Diskussion für eine Strategie der Überwindung von Armut mobilisiert werden. Die Vernetzung der verschiedenen Aktivitäten sollte auf der Basis konkreter Maßnahmenbündel erfolgen. 7 Soziale Unterstützungsinfrastruktur erhalten und bedarfsgerecht ausbauen Arme Menschen bedürfen oftmals der besonderen Unterstützung und Beratung. Im Land existiert ein breites Angebot an sozialen Dienstleistungen, das insbesondere von den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege vorgehalten wird. Dies konzentriert sich insbesondere auf die urbanen Ballungsräume im Land. Für Bewohner in peripheren Regionen ergeben sich oftmals Erreichbarkeitsdefizite. Diese können durch vermehrte mobile Angebote und aufsuchende Hilfen oder andere ÖPNV-Strukturen ausgeglichen werden. Die Schaffung einer unabhängigen Sozialrechtsberatung erscheint dringend geboten, um der vermuteten hohen Nichtinanspruchnahme bei Sozialleistungen („Dunkelziffer der Armut“) entgegen zu wirken. Daneben gilt es, die bestehende Beratungsinfrastruktur nicht nur zu halten, sondern darüber hinaus bedarfsgerecht auszubauen. Dem Wegbrechen von sozialpolitisch wichtigen Angeboten, wie z. B. der Schuldnerberatung, gilt es entschieden entgegenzuwirken. Daneben sind neuere Ansätze, wie beispielsweise „Familiencoaches“, zu fördern, die insbesondere für belastete Familien und Alleinerziehende eine gute Unterstützung bieten können. Vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Flüchtlingsbewegungen in Europa sind auch gezielte Beratungs- und Integrationsangebote im Migrationsbereich vorzuhalten. Eine gelungene Integration kann auch mithelfen, dem Fachkräftemangel zu begegnen, da viele Flüchtlinge ausbildungsbereit und -fähig sind. 21 8 Die kommunale Ebene besser befähigen Die kommunale Ebene nimmt bei der Ansprache und Umsetzung der Themen Armut, soziale Leistungen, Bildung über die Schulpflicht hinaus, Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt usw. eine besondere Stellung ein. Kommunen sind Träger, Ansprechpartner und Adressat im Feld der öffentlichen Daseinsvorsorge. Seit Jahren schwindet jedoch die Leistungskraft der Kommunen. Das vollzieht sich in Ostdeutschland sogar beschleunigt durch Abschmelzen der Solidarpaktmittel. Das gestattet vor allem in wirtschaftlich und folglich finanzschwachen Städten und Gemeinden kaum noch eine Förderung über den Grundbedarf hinaus. Betroffen sind vorrangig die Kinder aus Bedarfsfamilien im ländlichsten Raum, für die es nur eine eingeschränkte Unterstützung oder Absicherung über die Schulpflicht hinaus gibt. Der Zugang zur Kultur, den Bibliotheken, zu den Sportklubs und den Musikschulen, die in den größeren Städten verortet sind, wird vielfach unterstützt. Die Inanspruchnahme ist jedoch oft nur theoretisch möglich, denn neben dem regulären Schulbus müssten für die Fahrten private Lösungen gefunden werden, für die gerade die besonders von Armut betroffenen Familien kaum das notwendige Potenzial haben. Das geht über die bereits angesprochenen Probleme der Mobilität im ländlichsten Raum hinaus. Weil Kommunen durch die unterschiedliche Altersstruktur der Bevölkerung sowie durch die differenzierte Belastung mit Bedarfsfamilien verschiedenen Belastungen ausgesetzt sind, sollten alle standardisierte Pro-Kopf-finanzierte Leistungen hinterfragt werden. Das bezieht sich auf alle diesbezüglichen Standards und Normen. Generell sollten der kommunale Finanzausgleich und in stark differenzierten Landkreisen die Kreisumlage einen Index erhalten, um besonders stark betroffene Gemeinden zu entlasten. Demographische und soziale Strukturunterschiede der Bevölkerung, insbesondere die Manifestierung einer Residualbevölkerung, sind mittlerweile zu einem „harten Standortfaktor“ geworden, der die sozialen Leistungen der Kommunen ebenso herausfordert wie die Wirtschaft. An Standorten und in Regionen der dynamischen Schrumpfung kann zukünftig die Entwicklung der allgemeinen Lebensbedingungen nicht erfolgreich sein, wenn sie mit den Instrumenten der Wachstumsgenerierung erfolgt. Hier hat die Politik die Herausforderungen der demographischen Entwicklung vor dem Hintergrund des Paradigmas der „gleichwertigen Lebensverhältnisse“ konzeptionell und strukturell zu begleiten. Eine praktikable Lösung könnte die Orientierung auf eine „regional angemessene Lebensqualität“ sein, wofür mindestens auf Landesebene eine rechtliche Grundlage zu schaffen wäre. 22 TEIL 2: Einzelberichte der Projektteams 23 24 Andreas Klärner, André Knabe, Rainer Land, Peter A. Berger unter Mitarbeit von Marie Carnein, Hagen Fischer, Max Leckert, Katja Prochatzki, Andreas Willisch Gesichter der Armut in der Stadt und im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns – Ergebnisse eines qualitativen Forschungsprojekts 25 Inhalt 1 Einführung .................................................................................................................. 28 2 Methodische Anmerkungen ...................................................................................... 30 3 Allgemeine Ergebnisse und Befunde der qualitativen Studie ................................ 32 4 3.1 Alltag...................................................................................................................... 32 3.2 Zeitstrategien.......................................................................................................... 34 3.3 Mobilität und Wohnraum ....................................................................................... 36 3.3.1 In der Stadt...................................................................................................... 36 3.3.2 Im ländlichen Raum........................................................................................ 37 3.4 Konsum und Finanzen ........................................................................................... 40 3.5 Gesundheit ............................................................................................................. 42 3.6 Armutskarrieren und -biographien ......................................................................... 43 3.7 Soziale Einbindung ................................................................................................ 45 Gesichter der Armut in der Stadt ............................................................................. 50 4.1 4.1.1 Aktuelle Lebenssituation ................................................................................ 50 4.1.2 Finanzielle Situation ....................................................................................... 51 4.1.3 Soziale Einbindung ......................................................................................... 53 4.1.4 Perspektiven.................................................................................................... 54 4.2 Stefanie Neun: Alleinerziehend im Mühlrad eines prekären Alltags .................... 54 4.2.1 Aktuelle Lebenssituation ................................................................................ 56 4.2.2 Finanzielle Situation ....................................................................................... 57 4.2.3 Soziale Einbindung ......................................................................................... 60 4.2.4 Perspektiven.................................................................................................... 61 4.3 5 Joachim Wiechert: Seit der Wende ohne Arbeit: Das „SBZ“ als Anker in die Welt .......................................................................... 50 Annemarie Kolkowski: Mit Anfang 50 entlassen .................................................. 62 4.3.1 Aktuelle Lebenssituation ................................................................................ 63 4.3.2 Finanzielle Situation ....................................................................................... 64 4.3.3 Soziale Einbindung ......................................................................................... 65 4.3.4 Perspektiven.................................................................................................... 68 Gesichter der Armut auf dem Land ......................................................................... 69 5.1 Start ins Erwerbsleben - Jung und arbeitslos ......................................................... 69 5.1.1 26 Corinna Sander: „Man hat immer alles für die Arbeit gemacht und im Endeffekt ist nichts rausgekommen.“ ............................................................. 69 5.1.2 Peter Schneider: Ne, ändern tut sich nischt mehr. .......................................... 72 5.1.3 Tobias Krull: „Dagegen spricht jede Erfahrung“ ........................................... 73 5.2 Arm, krank – und depressiv? ................................................................................. 77 5.2.1 Walter Drossel: Früher bin ich Angeln gegangen. Aber das mach ich auch nicht mehr. ...................................................................................................... 77 5.2.2 Petra Ganz: „Vier Mal hab ick unterschrieben auf mein Antrag. Für wat is denn dat gut?“ ................................................................................................. 79 5.3 Qualifiziert, kompetent, engagiert – und trotzdem überflüssig ............................. 81 5.3.1 Sabine Fleißig: „Ich mach jetzt was Neues, was auf dem Markt gebraucht wird!“ .............................................................................................................. 81 5.3.2 Familie Hinrich und Manfred Großer: Hartz IV bis ans Lebensende ............ 84 5.3.3 Jochen Benkert: Rettung aus dem Absturz ..................................................... 85 5.3.4 Rolf Hausner: Du kannst was mit Holz, komm mal ....................................... 87 Literatur, Tabellen und Abbildungen .................................................................................. 90 27 1 Einführung Ziel des Projektteils „Gesichter der Armut“ ist es, die Situation der in MecklenburgVorpommern von Armut betroffenen Menschen alltagsnah zu beschreiben sowie die individuellen und sozialen Auswirkungen von Armut darzustellen. Dazu genügt es nicht, bei der quantitativen, statistischen Beschreibung charakteristischer Merkmalskombinationen (niedriges Einkommen, hohes Alter, gesundheitliche Einschränkungen) von Personen in Armutslagen zu verharren. Um wirklich zu verstehen, was „Armut“ bedeutet, ist es notwendig, Einblick in die Lebenswelt und die Lebensführung der Betroffenen zu nehmen. Die „Lebenswelt des Alltags“ (Schütz/Luckmann 1979) beschreibt die als selbstverständlich wahrgenommene Realität, also alles das, was wir in unserem Alltag als gegeben vorfinden. Die Lebenswelt wird einerseits von Umweltbedingungen vorgegeben (finanzieller und rechtlicher Rahmen, Existenz institutioneller und informeller Unterstützungsangebote, Wohnlage, …), andererseits ist sie Ergebnis biographischen Handelns (Erfahrungen mit institutionellen Hilfen, Erwerbsbiographie, …). Sie ermöglicht und begrenzt damit auch die Handlungsstrategien im Umgang mit der Armut. Folglich unterscheiden sich Armutssituationen und Möglichkeiten der Bewältigung von Armut u. a. in Abhängigkeit davon, wo eine Person lebt (Stadt, Land, Verfügbarkeit von Unterstützung, infrastrukturelle Ausstattung, …), in welchem Alter sie in Armut gerät (z. B. am Anfang oder gegen Ende des Erwerbslebens) bzw. welche Erfahrungen sie bereits in ihrem Leben gesammelt hat (z. B. Erfahrungen des Erfolgs und Scheiterns im Umgang mit Problemen, mit der (Aus-)Bildung, mit der Arbeit…). Das Konzept der Lebenswelt hinterfragt also die Selbstverständlichkeiten unseres Alltags und identifiziert darüber die gesellschaftlichen Strukturen hinter dem vermeintlich Normalen. Der Begriff der „alltäglichen praktischen Lebensführung“ (Voß 1991, S. 11) geht einen Schritt darüber hinaus, indem er die individuellen Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten in Auseinandersetzung mit den strukturellen Bedingungen einer Gesellschaft bzw. einer bestimmten sozialen Lage thematisiert. Eine mit diesem Konzept der Lebensführung arbeitende „subjektorientierte Soziologie“ (ebd., S. 10) zielt darauf, die subjektive Herstellung von Sinn in Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu rekonstruieren. Bezogen auf Armut bedeutet das, dass das Erleben einer Armutssituation sich weder vollständig aus den „objektiven“ oder strukturellen Lebensbedingungen einer Person (Einkommen, sozialer Status, Wohnlage, …) erklären lässt, noch ausschließlich aus ihren subjektiven Weltsichten und Deutungen sowie ihren individuellen Handlungen (Bewältigungsstrategien, alltägliche Routinen, …), sondern nur aus der wechselseitigen Verflechtung individueller und struktureller Faktoren. Dieses Zusammenwirken bezieht sich auf unser gesamtes Leben und lässt sich nur schwer in bestimmte Lebensbereiche (wie z. B. Arbeit, Freizeit) aufteilen. „Führung“ soll dabei zugleich darauf hinweisen, dass sich „Leben“ nicht gleichsam automatisch „abspielt“, sondern sich aus einer individuellen Handlungslogik, die biographisch geprägt ist, entwickelt und in einem aktiven Umgang mit den Herausforderungen des Alltags in Erscheinung tritt. In diesem Zusammenhang sehen wir Armut als eine Phase im Lebenslauf, die nicht zufällig entsteht, sondern als Folge eines Zusammenwirkens aus biographischen und kontextuellen 28 Gegebenheiten – und die bestenfalls auch ein Ende hat, also überwunden werden kann (Buhr/Leisering 2012). Bevor allerdings Schlussfolgerungen mit Blick auf eine Bekämpfung der Armut gezogen werden können, ist es notwendig, die alltägliche „Mechanik“ von Armut zu verstehen, damit die vorgeschlagenen Maßnahmen nicht an der alltäglichen Lebensführung und der lebensweltlichen Realität der Betroffenen vorbeigehen und wirkungslos verpuffen. Dazu empfiehlt sich die Verwendung qualitativer Forschungsmethoden, also die intensive Auseinandersetzung mit wenigen Fällen anstelle einer manchmal eher an der „Oberfläche“ verbleibenden Analyse möglichst vieler Fälle (quantitative Methoden). Im Projekt „Gesichter der Armut“ verwenden wir die Methode des qualitativen, problemzentrierten Leitfadeninterviews (vgl. Witzel/Reiter 2012). In diesen z. T. mehrstündigen Einzelinterviews werden ausführliche Lebensbeschreibungen erfasst und gezielte Fragen zum persönlichen Erleben und zum Umgang mit belastenden biographischen Ereignissen (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Suchtproblematik, familiäre Probleme, Gewalterfahrungen, Flucht etc.) sowie mit alltäglichen Ausgrenzungs- und Benachteiligungserfahrungen gestellt. Aus der sozialwissenschaftlichen Forschung ist bekannt, und die Schwerpunktsetzung der Sozialarbeit der Arbeiterwohlfahrt (AWO) orientiert sich daran (vgl. z. B. http://www.aworostock.de/), dass vor allem folgende Personengruppen von Armut betroffen bzw. mit einem höheren Armutsrisiko konfrontiert sind: - Alleinerziehende, - Langzeitarbeitslose, Bezieher von Arbeitslosengeld II - ältere, pflegebedürftige Menschen, - Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen sowie mit psychischen Erkrankungen, - Asylbewerber, Flüchtlinge, Migranten. Mit Personen aus diesen Gruppen haben wir qualitative Interviews geführt, in denen die Lebenssituation der Betroffenen und ihre spezifischen Problemlagen im Mittelpunkt stehen („Problemzentrierung“). Im Fokus stehen dabei vor allem Auswirkungen der Armutssituation auf verschiedene Dimensionen körperlichen und seelischen Wohlbefindens. Darüber hinaus wurde untersucht, welche sozialen Ressourcen zur Unterstützung den Betroffenen zur Verfügung stehen und welche Rolle die beratende und unterstützende Tätigkeit von Seiten staatlicher Institutionen und freier Träger für diese Menschen spielt. Wir gehen davon aus, dass sich die Auswirkungen von Armut in städtischen und ländlichen Gebieten aufgrund der unterschiedlichen Verfügbarkeit von öffentlichen Gütern und staatlichen (Infrastruktur-)Leistungen deutlich unterscheiden. Daher wurden in diesem Teilprojekt Interviews mit Menschen aus den genannten Gruppen sowohl in Rostock, der größten Stadt des Landes Mecklenburg-Vorpommern, als auch im peripheren, ländlichen Raum geführt. 29 2 Methodische Anmerkungen Der Zugang zu den Befragten erfolgte durch direkte Ansprache in verschiedenen Beratungsund Betreuungseinrichtungen der AWO sowie in anderen Institutionen (z. B. Jobcenter, Bildungsträger), an öffentlichen Orten (z. B. Tafel, Sozialkaufhäuser, „Umsonstläden“) sowie indirekt vermittelt über Anzeigen (in Gratis-Zeitungen und auf e-bay-Kleinanzeigen). Insgesamt wurden 55 Personen interviewt. Die Übersicht in Tabelle 1 zeigt die Verteilung der befragten Personen in Stadt und Land nach Alter und Geschlecht. Tab. 1: Die Interviewten in Rostock und im ländlichen Raum Anzahl in Rostock Ausprägung Geschlecht Alter Anzahl im ländlichen Raum männlich 12 13 weiblich 21 10 unter 20-29 8 7 30-39 7 2 40-49 6 0 50-59 8 9 60-69 4 5 Daten: Eigene Erhebung und Darstellung. Im Interview wurde den Befragten zunächst Raum gegeben, frei über für sie bedeutsame Aspekte ihres Alltags zu sprechen, ganz konkret wurde nach dem typischen Tages- und Wochenablauf gefragt. Im Anschluss daran wurden die folgenden fünf Themenbereiche systematisch anhand eines Leitfadens abgefragt: - derzeitige Lebenssituation und Alltag, - Familie, soziales Umfeld, Wohnsituation - Strategien im Umgang mit der Lebenssituation (materiell, sozial, …) - Subjektive Beurteilung institutioneller Hilfen (z. B. der AWO), - Gesundheit. Außerdem wurden grundlegende soziodemographische Charakteristika (Alter, Geschlecht, Einkommen, Ausbildung, Dauer der Arbeitslosigkeit etc.) erhoben. Mithilfe eines computergestützten Verfahrens mit dem Programm Vennmaker (vgl. Kronenwett/Schönhuth 2014) wurden am Ende eines jeden Interviews die sozialen Netzwerke der Befragten erhoben. Dazu wurden die Interviewten gebeten, die Personen oder Gruppen zu benennen, mit denen sie persönliche Gedanken und Gefühlte teilen, in ihrer Freizeit etwas unternehmen, die sie unterstützen, bzw. von denen sie Unterstützung erhalten, von denen sie sich Geld leihen oder denen sie Geld leihen würden, sowie Personen, mit denen sie sich in letzter Zeit gestritten haben. Zusätzlich wurden soziodemographische Eigenschaften der genannten Personen abgefragt und 30 Informationen zur Art ihrer Beziehung zu den interviewten Person erhoben (z. B. Freundschaft, Familie, Kollegen, …). Schließlich wurden die Interviewten danach gefragt, welche der genannten Personen sich auch untereinander kennen. Die Interviews wurden aufgezeichnet und vollständig wortwörtlich verschriftlicht (Transkription). Aus dem gewonnenen Interviewmaterial wurden Fallportraits verfasst, in denen soziodemographische Angaben, Aussagen zur Biographie und zur aktuellen Lebenssituation, zum Umgang mit Geld und zum Konsumverhalten, zur Gesundheit, zur sozialen und institutionellen Einbindung sowie zu den im Interview benannten Zukunftsaussichten zusammengetragen wurden. Die einzelnen Fälle wurden intensiv unter den beteiligten Forscherinnen und Forschern diskutiert, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Lebenslagen der Befragten Personen herauszuarbeiten. 31 3 Allgemeine Ergebnisse und Befunde der qualitativen Studie In den folgenden Abschnitten präsentieren wir unsere Ergebnisse der Analyse der in Rostock geführten Interviews. Die Darstellung folgt dem Ablauf der meisten Interviews anhand der folgenden Themenschwerpunkte: 1. Alltag, 2. Zeitstrategien, 3. Mobilität und Wohnraum, 4. Konsum und Finanzen, 5. Gesundheit, 6. Armutskarrieren und -biographien, 7. Soziale Einbindung. 3.1 Alltag In den Interviews wurde zunächst die Frage nach einem typischen Wochen- bzw. Tagesablauf gestellt, d. h., die Befragten wurden aufgefordert, aus ihrem Alltag zu erzählen, über das was sie üblicherweise machen und was für sie als besonderes oder außergewöhnliches, nicht alltägliches Ereignis gilt. In den meisten Fällen folgten darauf Erzählungen über die bedeutendsten Bestandteile der alltäglichen Lebensführung, mit mehr oder weniger ausgeprägtem Bezug zum Selbstbild der befragten Person. Die Antwort beinhaltete zumeist eine Einordnung der eigenen Person in einen sozialen Zusammenhang, bzw. eine Rollenbeschreibung in Form von Sätzen, die mit: „Ich mache…“, oder: „Ich bin…“ beginnen. „Ja, kann man, also ich sage mal so, viel bin ich fürs SBZ [=Stadtteil- und Begegnungszentrum, konkreter Name anonymisiert] da, wohne seit, wie gesagt, 6 Jahren hier in [Stadtteil], … komme aus Berlin, … wohne seit 6 Jahren mittlerweile jetzt hier in in Rostock-[Stadtteil] und habe mich engagiert fürs SBZ durch einen Bekannten und ich bin gerne einfach hier, egal in welcher Sache oder sagen wir mal so – ob jetzt für die Senioren ob et jetzt für Jung und Alt, im Endeffekt für Jung und Alt bin ich da.“ 1 Joachim Wiechert 2, 42 Typischerweise genannte „Rollen“ bzw. Aktivitäten, mit denen sich die Befragten im Gespräch selbst beschreiben, sind aktuell ausgeführte Ehrenämter, Tätigkeiten in Maßnahmen des Arbeitsamtes oder Mutter und Vater. Seltener werden zum Gesprächseinstieg zeitlich zurückliegende Rollen genannt, wie etwa ein derzeit nicht ausgeübter Beruf. Die in diesen ersten Minuten des Gesprächs benannten Personen, Orte und Institutionen, aber auch die beschriebenen Tagesabläufe und Routinen sind in der Regel auch Hauptbestandteil des weiteren Interviews. Dabei lassen sich folgende Gruppen unterscheiden: a) In institutionellen oder quasi-institutionellen Zusammenhängen engagierte Personen Ein Teil der Befragten ist ehrenamtlich in Vereinen, Stadtteilzentren oder ähnlichen Zusammenhängen engagiert. Auch wenn das Ehrenamt nicht immer täglich ausgeübt wird, hat es eine hohe strukturierende Bedeutung für das alltägliche Leben. 1 Die Zitate im Text sind in der Regel wortwörtlich wiedergegeben und wurden sprachlich nur leicht geglättet, um ein besseres Verständnis zu ermöglichen. 2 Die Namen der Interviewpartner sowie alle in den Interviewauszügen genannten Namen und Orte, die Rückschlüsse auf die interviewte Person zulassen könnten, sind anonymisiert. 32 Die Woche wird u. a. um die ehrenamtliche Betätigung herum organisiert: „Also im Prinzip läuft bei mir die Woche immer gleich ab, jede Woche. Zumindestens versuch ich das. Montags gehe ich arbeiten, ehrenamtlich, in [Rostocker Stadtteil] in der Freizeiteinrichtung [anonymisiert]. … Und denn hab’ ich dienstags, hab’ ich so meinen Einkaufstag, Arzttermine und sowas alles. Mittwochs bin ich immer hier [in der Alkoholikerselbsthilfe], nachmittags, vormittags ist meistens nix. Und donnerstags ist dasselbe, einkaufen, Arzttermine oder wenn sonst was anliegt, nehm’ ich meistens dann, weil ich die Tage frei hab. Freitags geh ich wieder arbeiten, vormittags immer, auch wieder in der Freizeiteinrichtung, ne. Und Wochenende, joa, Sport, Fitnessstudio bin ich morgens gleich frühs um sechs, ja ist immer schön leer. Im Prinzip läuft’s immer gleich ab.“ Gesine Krüger, 62 b) Privat engagierte Personen Eine weitere Gruppe hat ein ähnlich strukturierendes Element, das allerdings eher im privaten Bereich angesiedelt ist. In diesem Zusammenhang taucht z. B. der Kleingarten als ein Ort auf, für den im Alltag Verantwortung übernommen wird und über den nicht ohne einen gewissen Stolz berichtet wird. Eine weitere Quelle dieser Art der Identifikation über alltägliche Abläufe sind verwandtschaftliche und freundschaftliche Netzwerke, in denen routiniert Aufgaben übernommen und gemeinsame Treffen organisiert werden (z. B. Kinderbetreuung, gegenseitige Besuche, …). So berichtet die arbeitslose Marie Neumann von einem gut gefüllten Terminplan, der neben einem unbezahlten Praktikum in einer sozialen Einrichtung auch die regelmäßige Betreuung der Kinder einer guten Freundin beinhaltet: „Ja, zwei davon sind meine Patenkinder, die freuen sich immer, wenn ich komm’, die muss ich auch meistens abholen, mitnehmen, mit denen geh’ ich dann ins Kino oder fahr’ mit denen bowlen oder sonst wohin, äh, die haben nich’ so das Verhältnis zur Mutter, da bin ich praktisch mehr die Mutter als die eigentliche, mit denen mach’ ich viel, da kann’s auch mal sein, dass da ’n Anruf kommt: »Ich hab’ Probleme, ich hab Probleme«, dann treffen wir uns, denn muss ich da aushelfen, muss auch zur Schule, muss dann da eigentlich mit den Lehrern das führen, was die Mutter sollte, und kümmer’ mich darum.“ Marie Neumann, 31 c) Maßnahmen des Jobcenters als strukturgebende Ressource der alltäglichen Lebensführung Viele Befragte befanden sich zum Zeitpunkt des Interviews in einer vom Jobcenter geförderten Maßnahme zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung, die ihren Tagesablauf zeitlich strukturiert, indem sie feste Anwesenheitszeiten an einem bestimmten Ort festlegt. Die Bedeutung der Maßnahme fällt in den Alltagsbeschreibungen dieser Personen sehr unterschiedlich aus. Während die einen lediglich den organisatorischen Aufwand und zeitliche Aspekte als Einflüsse der Maßnahme auf die alltägliche Lebensführung benennen, ist die Maßnahme für andere das strukturierende und identitätsstiftende Element im Alltag. Die hohe Bedeutung einer Maßnahme resultiert in diesen Fällen aus der Hoffnung auf die Überwindung einer als negativ empfundenen Situation (z. B. Arbeitslosigkeit). Andere interpretieren die Maßnahmen eher als Ressource zur Bewältigung der aktuellen Lebenslage. In diesem Zusammenhang 33 werden Aspekte wie die Strukturierung des Alltags, Abwechslung durch Input von außen und die Gelegenheit zur Aufnahme sozialer Kontakte als besonders wichtig hervorgehoben. „Letzte Woche war eigentlich... Och Gott, gute Frage. Na, nicht allzu viel, also brav jeden Tag hier [in der Maßnahme, Anm. der Autoren] gewesen mit meinen netten Leuten hier was gemacht, bisschen, also Unterricht mehr oder weniger. Ja, eigentlich nicht allzu viel. Danach halt nach Hause und dann irgendwie Zeit rumbringen bis man dann morgens wieder hier ist. Caroline Schmitt, 24 d) Eher wenig strukturierte Tagesabläufe Eine vierte Gruppe beschreibt wenig strukturierte Tagesabläufe, die keinem Plan folgen und die sich im Gegensatz zu den anderen Gruppen nicht an Konstanten orientieren. Dies lässt sich oft bei Personen beobachten, die allenfalls geringe Erwartungen an die Zukunft formulieren und stattdessen versuchen, bestmöglich mit der gegebenen Situation klarzukommen. Maßnahmen u. ä. werden absolviert, um Sanktionen zu vermeiden, es werden aber weder Hoffnungen damit verbunden, noch wird der Maßnahme eine positive Bedeutung im Alltag zugeschrieben. In den meisten Fällen beschreiben diese Personen ihren Alltag ohne größere Perspektiven und sie haben ein eher kleines soziales Netzwerk, was auf eine geringe soziale Integration hindeutet. „Danach [nach der Maßnahme, Anm. d. Autoren]? Joa, danach geh’ ich nach Hause und leb’ meinen eigenen Alltag. Freunde besuchen, joa, oder vorm Fernseher rumhängen. Katze, und denn bis nachts (Pause), nachher auch wieder Zeit zum Schlafen. Das ist mein Tagesablauf. [mehrmaliges Fallenlassen der Arme auf den Schoß, Anm. der Autoren] Na was soll man sonst als junger Mensch machen?“ Hartmut Peters, 46 3.2 Zeitstrategien Aus den Aussagen zu Alltag, Freizeit und Hobby lassen sich Strategien im Umgang mit Zeit herausarbeiten. Grundsätzlich sind hier zwei verschiedene Ausgangslagen voneinander zu unterscheiden: Auf der einen Seite stehen Befragte mit einem hohen Anteil an freier Zeit, die aktiv gefüllt werden muss, auf der anderen Seite stehen Befragte, die sehr wenig freie Zeit zur Verfügung haben. Zur letzteren Gruppe zählen alle von uns befragten alleinerziehenden Mütter. Sie berichten von einem Mangel an freier Zeit, der sich negativ auf die Verwirklichung von Chancen auswirkt (genauer dazu, siehe Fallbeispiel von Stefanie Neun, Abschnitt 4.2). In der Gruppe der Personen, die mehr Zeit zur Verfügung haben, gibt es viele Gemeinsamkeiten, die von fast allen Befragten benannt werden. So berichten viele Interviewte von einem recht hohen Medienkonsum. Neben dem Fernsehen spielen hier, insbesondere bei jüngeren Befragten, PC und Internet eine wichtige Rolle bei der Freizeitgestaltung. Besonders auffällig ist, dass ein überwiegender Teil der Befragten zwar ein sparsames, aber organisatorisch durchaus (zeit-)aufwändiges Konsumverhalten beschreibt. Eine herausragende Rolle spielen dabei die kostenlosen Zeitungen mit Werbebeilagen der Supermärkte. Sonderangebote werden verglichen, und nicht selten nehmen Befragte weite Wege auf sich, um einige Cent zu sparen (zu dieser Strategie des „Discounting“ vgl. Eckert/Willisch 2011). In der Genauigkeit 34 der Erzählungen zum Einkaufsverhalten offenbaren sich standardisierte Abläufe, die einen wichtigen Beitrag zur Orientierung im Alltag leisten. „Nein nein, nein nein, nein nein. Ich habe ungefähr, wie gesagt, ich hab’ zehn Euro in der, im Monat für Renovierungs-, möglich, und wenn ich jetzt, sagen wir mal, äh, ich guck’ natürlich, wo’s am günstigsten is’. Äh, deshalb, also, ich gehe immer in verschiedenen Geschäften, um dann das günstige Material zu kaufen. Wenn ich jetzt zum Beispiel, weil ich ja auch ziemlich viel Fugenkleber benutzt habe, geh’ ich zum Beispiel zu Domäne, weil da dort der Fugenkleber eben am billigsten. Tapeten kriegt man zum Beispiel auch, ähm, Tapeten kriegt man auch günstig in Roller. Aber Farbe würd’ ich, hab’ ich immer grundsätzlich im Baumarkt gekauft, weil dort kann man die Farbe dann anmischen und auch das Geld, äh, weil dort auch die bessere Auswahl is’ an Farbe als in andern Läden.“ Enrico Matthes, 35 Das folgende Zitat von Sabine Krüger verdeutlicht, dass es beim Einkaufen, nicht immer darum gehen muss, tatsächlich etwas zu kaufen. Es reicht, einen Anlass zu haben, um aus der Wohnung zu gehen und damit wieder eine Stunde des Tages ausgefüllt zu haben: „Ne, weil länger wie zwei Tage dürfte ich auch nich’ zu Hause sein, denn würde ich einfach verrückt werden, ne, weil ich muss irgendwo dann hin, ne. Und dann steck’ ich mir, weiß ich nicht, zehn Euro inne Tasche, weil ohne Geld geh’ ich nicht los, ne. Ich kauf mir zwar nichts, aber ich weiß, ich hab zehn Euro und denn geh ich los, ne, und denn bin ich in einer Stunde wieder zu Haus. Und dann bin ich aber zufrieden, dann ist das okay und, joa, das läuft. Na, aber sonst, nee, ich muss dann schon raus, ne, das klar, ne.“ Sabine Krüger, 62 Variationen des Verhaltens, etwas besonders genau oder intensiv zu tun und damit Zeit zu füllen, finden sich viele, in verschieden starker Ausprägung. Beispiele sind das tägliche Putzen der Wohnung, die Erstellung detaillierter Haushaltspläne, das stundenlange Herumlaufen in der Stadt oder scheinbar zielloses Bahnfahren mit dem Sozialticket. Dass es bei diesen Tätigkeiten nicht nur um die Sache an sich geht, sondern auch darum, freie Zeit auszufüllen, zeigt der folgende Interviewausschnitt von Ute Gabel, die wegen ihres Hundes täglich saugt, obwohl dieser gar nicht so stark haart: Ja, was mach ich noch? ((...)Pause: 6 Sek.) Eigentlich nichts weiter. Dann sonst normal Hausarbeit. (Pause) Na, die mach ich jeden Tach. Also saugen muss ich zum Beispiel täglich, ich hab ’n Hund, ne, mit de Hundehaare. Ich mein’ doll haart sie ja nich’, aber trotzdem, das muss nich’ sein, ich mag das nich’. Diese auf einen Außenstehenden wenig sinnvoll wirkenden Tätigkeiten erschließen sich über den Kontext der Erzählung, z. B. dann, wenn mit besonderem Stolz über derartige Handlungen berichtet wird oder solche Handlungen im Kontext eines standardisierten Tagesablaufs beschrieben werden. Auch die intensive Beschäftigung mit Hobbies (z. B. Musik machen) und das Sammeln ausgefallener Objekte und die Entwicklung einer Kennerschaft bzw. das Anhäufen von Spezialwissen gehören dazu. 35 „Ich fahre Bus und Bahn. Ich hab von, äh, vom Sozialamt die Fahrkarte gestellt bekommen, und, äh, ja, und fahr’ da entweder Bus oder ich geh zu Fuß jetzt, … also ich bin, glaub’ ich, der (lachend) beliebteste Kunde der RSAG [=Rostocker Straßenbahn AG] muss ich dazu gestehen (lachend). …Also, ich benutze mindestens fünf oder sechs oder sieben Mal am Tag so die öffentlichen Verkehrsmittel. (..) Ja.“ Enrico Matthes, 35 Einige Interviewte versuchen ihre Zeit damit sinnvoll zu füllen, indem sie sehr viel Aufwand für die Pflege von Beziehungen zu anderen Menschen investieren. Diese Beziehungen dienen dann gleichzeitig als strategische Ressource für die Alltagsbewältigung. Als Ressource stellen sie Wissen, emotionale Unterstützung und die Integration in einem sozialen Zusammenhang bereit, als Strategie erfüllen sie den Zweck der Strukturierung des Alltags. „Freunde besuchen. Also, ich bin immer, mit Bekannten, Freunden treffen, ich bin ’n Mensch, der nicht, nicht oft zu Hause ist, auch nich’ alleine. Und, äh, ich geh’ dann meistens, also, meine Freunde arbeiten hier auch inner Nähe, die müssen meistens länger arbeiten und denn geh’ ich die auf ’er Arbeit besuchen oder geh’ privat zu denen nach Hause, oder wir geh’n ins Kino, treffen uns woanders, geh’n Kaffee trinken“ Marie Neumann, 31 3.3 Mobilität und Wohnraum 3.3.1 In der Stadt Die meisten Befragten fühlen sich im Großen und Ganzen wohl in ihrem Wohnumfeld. Orte und Anlaufstellen wie z. B. Ärztehäuser, Familienhelfer, gesetzliche Betreuer, das Stadtteilzentrum, viele Maßnahmen der Jobcenter, Selbsthilfegruppen, Supermärkte, kleine Einkaufszentren u. v. m. befinden sich in unmittelbarer Nähe und bilden zusammen einen sozialen Raum, der Orientierung bietet. In vielen Interviews werden die kurzen Wege als wichtigstes Qualitätsmerkmal des eigenen Wohnumfeldes benannt. Ein großes Unbehagen, z. B. in der Trabantenstadt im Plattenbau zu wohnen und nicht im Zentrum, lässt sich nicht feststellen. Eher wird auf die Vorteile verwiesen, die diese Wohngegend bietet. Das Stadtzentrum wird hingegen nicht als Lebensort beschrieben, sondern als Ort für außeralltägliche Besorgungen und Angelegenheiten. Die hohe Identifikation mit dem eigenen Stadtteil liegt unter anderem darin begründet, dass die meisten Interviewten vor der Arbeitslosigkeit nicht wesentlich schlechter oder anders gewohnt haben bzw. Freunde und Bekannte aus dem persönlichen sozialen Netzwerk in vergleichbaren Wohnsituationen leben. Veränderungen der Wohnsituation werden – wenn überhaupt – im Hinblick auf Ausstattung und Größe der Wohnung gewünscht als im Hinblick auf die Wohnlage. Oft wird die Wohnsituation als „völlig normal“ empfunden – der Vergleichsmaßstab für die Qualität einer Wohnung liegt also eher in der direkten Nachbarschaft als in zentrumsnahen Gebieten. So antwortet Joachim Wiechert auf die Frage, wie und wo er denn wohne ohne lange darüber nachdenken zu müssen: „Ganz normal in der Platte. Geboren, wie gesagt, bin ich in der Platte. Also geboren im Krankenhaus, ist klar, logisch (lacht) und, äh, groß geworden in [einer 36 Großstadt] im Plattenbau und das kann man ähnlich wie [Rostocker Stadtteil] vergleichen auch ganz normal, in einem ganz normalen wohlbehüteten Haushalt mit meinen Eltern, meinen zwei Geschwistern und in der Platte. Im Plattenbau. Ganz normal.“ Joachim Wiechert, 42 3.3.2 Im ländlichen Raum Für die Bewohner ländlicher Räume ist Mobilität eine besondere Herausforderung. Viele Tätigkeiten sind mit Wegen verbunden, die nicht zu Fuß zurückgelegt werden können. Nur wenige Besorgungen lassen sich in einem kleinen Dorf erledigen und die Supermärkte in den Städten sind meist günstiger: „Nee, ich fahre denn auch … einmal die Woche muss ich ja raus. Also einmal die Woche muss ich ja generell einkaufen. Ich meine hier kommen zwar auch noch n Fleischauto und n Konsumauto oder sonst irgendwat. Und n Bäcker ist das Einzige, was wir in Rosendorf noch haben. Der ist och noch hier. Aber denn gebe ich lieber die paar Mark, Hin- und Rückfahrt, für Neugroßhausen aus, weil da habe ich mehrere Möglichkeiten, günstigere Sachen einzukaufen und mehr einzukaufen, als wenn ick dat hier am Wagen mache.“ Jochen Benkert, 52 Für Arbeit und Einkaufen, Schul- und Arztbesuche, Aufsuchen von Behörden, Beratungsstellen oder Vereinen, Lebensmittelbeschaffung bei der Tafel oder auch für manche privaten Besuche bei Verwandten, Freunden oder Bekannten sind Entfernungen zwischen wenigen Kilometern bis zu 30, manchmal auch 40 km zu überwinden. Die abnehmende Bevölkerungsdichte und die Reorganisation der Verwaltung haben diese Wege in den vergangenen zehn Jahren länger werden lassen. Oft müssen zum Besuch der Arbeitsagentur 20 oder 25 km zurückgelegt werden. Auch der Hausarzt und der nächste Supermarkt sind ein paar Kilometer entfernt, einen Dorfladen oder eine Dorfgaststätte gibt es in kleineren Orten nicht mehr. Zum Facharzt kann es weiter werden, aber Wege über 35 km werden vermieden, nicht zuletzt wegen der damit verbundenen Kosten. Auf den ersten Blick gibt es nur zwei mögliche Lösungen: Den öffentlichen Nahverkehr und das private Kfz. Beim genaueren Hinsehen aber zeigen sich weitere Differenzierungen: Fahrgemeinschaften, Transporte der Ein-Euro-Job-Träger, Mitfahrgelegenheiten. Fahrräder oder Mopeds spielen in unseren Interviews keine Rolle. Im öffentlichen Nahverkehr dominiert klar der Bus, zumindest in der untersuchten Region. Bahnstrecken kommen für diese Wege kaum in Frage, sind nur bei größeren Entfernungen verfügbar und sinnvoll. Einen Bahnhof gibt es in keinem der Dörfer. Menschen, die kein eigenes Auto halten oder fahren können, sind auf die Busse angewiesen. Die Jugendlichen in Ausbildung, die zwischen Neustrelitz, Neubrandenburg, Friedland, Woldegk, Strasburg usw. hin- und herfahren, um ihre Berufsschule, ihr Ausbildungszentrum oder den Praktikumsbetrieb zu erreichen, berichten, dass diese Fahrten recht problemlos funktionieren – abgesehen von der Zeit, die sie täglich kosten. Das kann zweimal eine Dreiviertelstunde dauern. Zwischen mittelgroßen Städten gibt es in der Regel stündlich oder alle zwei Stunden eine Anschlussmöglichkeit. Schwierig wird es, aus kleinen Dörfern in die nächsten Städte zu kommen. Gibt es Schulkinder im Dorf, fährt der Schulbus früh in die eine Richtung, 37 nachmittags in die entgegengesetzte, je nach Kinderzahl ein- oder mehrmals. Problematisch ist es in den Ferien, wenn kein Schulbus fährt, oder wenn es keine schulpflichtigen Kinder gibt, also eine Bushaltestelle mit Wartehäuschen da steht, ohne dass ein Bus kommt. Petra, gehbehindert, fährt einmal in der Woche zur Tafel, früh hin, mittags zurück: „So und wenn jetzt Ferienzeit ist, dann fährt morgens n Bus um sieben … Viertel zwölf heute. Inne Ferienzeit. Und so, wenn Schule is, halb einse. Aber dann fahrn etliche Busse.“ Petra Ganz, 54 Was macht sie in der Wartezeit? „Sitzen. Wat soll ick denn machen? … Nee, denn geh ick n Kaffee trinken und so... Wat willste denn machen, geht doch nich. Einkaufen muss man auch mal.“ Aber der Bus hält nicht immer an der Tafel. „Eine Tour kann ich mitn Buss, eine Tour lauf ich runter bis zum Busbahnhof. Bis zum Markt. Das is doch zu weit. Heut hab ich Kartoffeln alles gekriegt, das is alles schwer.“ Petra Ganz, 54 Mit dem ÖPNV sind viele Wege im ländlichen Raum nicht oder nur zu wenigen Zeitpunkten und mit viel Zeitaufwand zu bewältigen. „Gehn Sie mal ins Kino?“ „Hier ist kein Kino. Nee. Hier ist kein Kino ... Das Hinkommen ist ja nicht das Problem, aber wie komme ich von Neubrandenburg zurück, nicht? 25 km. Neustrelitz sind 39.“ Rolf Hausner, 55 Für arme Menschen spielen die Kosten eine wichtige Rolle. Für den öffentlichen Nahverkehr sind dies jedes Mal ein paar Euro und so kommen schnell 20 bis 40 Euro im Monat zusammen. Eine Monatskarte, die in dieser Region 35 Euro, ermäßigt 29 Euro kostet, lohnt erst, wenn man wenigstens dreimal pro Woche unterwegs ist. Diese Kosten entstehen aber auch in einer größeren Stadt, sind also keine Spezifik des ländlichen Raums. Den Bus nutzen fast nur Leute ohne PKW oder ohne Fahrerlaubnis. Das private Kfz ist für die Mehrheit auch der armen Menschen unverzichtbar, stellt aber einen bedeutenden Kostenfaktor dar. Selbst wenn das Jobcenter bei der Berechnung von Einkommen und Vermögen einen PKW akzeptiert, auch PKW-Fahrten für den Besuch beim Jobcenter oder anderen notwendigen Wegen erstattet und in manchen Fällen sogar die Beschaffung eines gebrauchten Kfz mit finanziert, sind mit dem Unterhalt eines Autos finanzielle Belastungen verbunden: Kraftstoff, Steuer, Reparaturen. Trotzdem haben nur diejenigen kein Auto, die nicht fahren dürfen oder können: Alte Menschen, Behinderte, Leute, denen der Führerschein entzogen wurde, Jugendliche oder junge Erwachsene, die kein ausreichendes eigenes Einkommen haben. Wir haben in kleinen Dörfern niemanden gefunden, der freiwillig auf ein Auto verzichtet hätte, um die Kosten zu sparen. In vielen Gesprächen spielte die Frage, wie man ein neues Auto beschafft, die Reparatur bezahlt, sich gegenseitig beim Reparieren hilft etc. eine Rolle. Manfred, technisch begabt und Autofreak, erzählt beispielsweise, dass sein Auto „noch keine Werkstatt gesehen“ hat. Auch für Freunde und Nachbarn repariert er oder hilft bei der War38 tung und Instandsetzung. So spart man eine Menge Geld. Seine Botschaft: „Hallo Frau Merkel, ich brauche ein neues Auto“ (Manfred Großer, 54). Der PKW ist für viele die komfortablere Art der Mobilität. Corinna etwa nutzt keine öffentlichen Verkehrsmittel: „Nein, (lacht), nein. Es ist schwer möglich und wenn, ist es auch nicht angenehm. Ich musste eine Zeitlang in A., wo ich zur Lehre war, Bus fahren und auch, wo ich so krank war, nach S. zum Arzt dann. Fand ich ganz furchtbar. Finde ich ganz schlimm. … Voll und dann, wie gesagt, diese anderen Leute und meistens halt auch die Jugendlichen, die sich halt nicht zu benehmen wissen, ne. Und meistens dann stehen und sitzen und ich find die Luft dann auch ganz unangenehm. Bei dieser Hitze heizen die sich unwahrscheinlich auf und alles. Ich sag mal, da ist Auto schon der Luxus, der einzige Luxus, den ich hab.“ Corinna Sander, 26 Private Mitfahrgelegenheiten sind eine wichtige Variante. Häufig sind es spontane Entscheidungen, mit jemandem mitzufahren oder jemanden mitzunehmen, wenn es sich gerade ergibt, z. B. Bekannte, die an der Bushaltestelle stehen. Hier schimpfen einzelne auch mal auf einen Nachbarn, der vorbeigefahren ist, obwohl es doch anständig gewesen wäre, sie oder ihn mitzunehmen. Mitfahren ist eine eingespielte Erwartung. Regelmäßige Fahrgemeinschaften gibt es, wenn eingespielte Abläufe das nahelegen, überwiegend wird die Fahrt zur Arbeit oder zum Ein-Euro-Job angeführt, aber auch die gemeinsame Fahrt zur Tafel oder zum Fußballtraining bzw. den Fußballspielen am Wochenende. Öffentlich organisierte Mitfahrgelegenheiten, Rufbusse o. ä., wurden in den Interviews nicht genannt. Interessant sind mehr oder weniger institutionalisierte Lösungen. Zum Beispiel erfolgt in einem Fall der Hin- und Rücktransport zum Ein-Euro-Job durch einen eigenen Transporter des Trägers. Der hielt auf dem Rückweg am Supermarkt und wartet, bis alle eingekauft haben. „Nee, dat ist durch die Ein-Euro-Job Maßnahme, da wo wir da immer nach Tremmin abgeholt worden sind, hatten wir denn die Möglichkeit, nachmittags mit dem Auto kurz noch bei NORMA oder NETTO oder sonst irgendwie anzuhalten und einzukaufen, n bisschen, wat man so zu Hause braucht, einzukaufen. Also der Weg war mit integriert sozusagen, man brauchte nicht noch mal separat losfahren.“ Jochen Benkert, 52 Allerdings wurde den Teilnehmern am Ein-Euro-Job-Verkehr ein nicht unerheblicher Betrag, bis zu 50 % des Verdienstes von wöchentlich 30 Euro, für die Fahrten abgezogen. Die Wiedererlangung der Fahrerlaubnis nach Entzug wegen Alkohol spielte für Jochen Benkert eine wichtige Rolle: „Da müsste ich jetzt erst mal durch meinen Blödsinn meine Fahrerlaubnis wiedererlangen. Da bin ich ja bei. Ist aber auch sehr, sehr kompliziert. Weil, wenn man da eine gewisse Grenze überschritten hat, wird man ja gezwungen, MPU [=Medizinisch-Psychologische Untersuchung] zu machen. Und da gelten natürlich auch gewisse Voraussetzungen, die dann auch erfüllt werden müssen. Ich hab 39 so gut wie alles erfüllt. Also ich bin guter Hoffnung, dass ich im Dezember diesen Jahres meine Fahrerlaubnis wiederkriege, weil die Erfahrung zeigt, auch durch mehrere Bewerbungen jetzt in der Zeit: Fahrerlaubnis. Haste die Fleppen nicht – keine Chance. … Und hier vom Dorf haste zum Beispiel am Wochenende keine Chance, weil am Wochenende gar kein Bus fährt. Und in der Woche ist es auch schwierig, falls da noch Schichtarbeit anfällt oder sowas. Wenn du nicht flexibel bist, biste (…) nicht so gefragt.“ Jochen Benkert, 52 3.4 Konsum und Finanzen Sehr aufschlussreich ist die Bewertung der eigenen finanziellen Lage durch die Befragten. So wird oft gesagt, dass es schwierig sei, mit dem zur Verfügung stehenden Geld über den Monat zu kommen, dass gerade am Monatsende das Geld für Lebensmittel knapp werde und man auf vieles verzichten müsse. Auf die Frage: „Würden Sie sagen, dass Sie arm sind?“, antworten jedoch die allerwenigsten mit „ja“. Hier erfolgt in der Regel eine Abgrenzung nach unten – es wird auf vermeintlich „wirklich arme“ Personen(-gruppen) verwiesen, oft auf Menschen in Entwicklungsländern, auf Wohnungslose, Suchterkrankte und Asylbewerber aber auch auf Personen in sehr ähnlicher Lage, etwa Arbeitslose, die mit ihrem Geld nicht umgehen könnten oder keine Unterstützung durch Freunde und Familie erfahren würden. Die Frage nach der eigenen Armut stellt offensichtlich das Selbstbild der Interviewten in Frage – ein einfaches: „Ja, ich bin arm“, kann deshalb nicht als Antwort gegeben werden, weil mit dem Begriff der „Armut“ Schwäche, Handlungsunfähigkeit und Ohnmacht verbunden werden. Es geht hierbei schlicht um die Würde der eigenen Person. Auf die Frage, ob sie „arm“ sei, antwortet Herta Pinkowski: „Ja, das is’ wieder ’n dehnbarer Begriff. Was versteht man richtig unter arm, ne? Also, naja, ich bin nich’ arm und ich auch nich reich in dem Sinne. Würde ich jetzt so mal sagen. Ich hab’ mein Auskommen, ich hab meine Wohnung, da wird in erster Linie für gesorgt, dass die Miete da is’, und eben an allem anderen macht man denn doch ’n paar Abstriche. Um eben nich’ unter die Brücke zu kommen, ne. (…) Wenn man denn sieht, es gibt doch noch, denen geht’s noch bedeutend schlechter, die denn wirklich auf ’er Straße leben. Ob nu gewollt oder nicht gewollt, es gibt ja auch einige die ausgestiegen sind, ne, die es gar nich’ nötig hätten. Was man so mitkriegt, denn wenn man sich richtig umguckt, aber da kann man wirklich sagen, die sind arm dran. Also dass ich nu’ von mir aus sage… Naja, man kann keine Riesensprünge machen, das is’ nicht zu leugnen, ne. Aber man hat eben doch sein Auskommen und… Dafür hat man ja auch die Jahre gearbeitet, geschuftet auf deutsch gesagt, ne, bis ’91. Ja.“ Herta Pinkowski, 65 Mit dem Verweis auf das Jahr 1991 spielt die Befragte auf den biographischen Bruch im Zuge der Wiedervereinigung an. Seit diesem Zeitpunkt war sie ohne Arbeit bis sie 2009 im Alter von 60 Jahren berentet wurde. Ihre Rente fällt dementsprechend gering aus. Doch würde sie sich selbst als „arm“ bezeichnen, entspräche das einer Verleugnung ihrer Lebensleistung – schließlich habe sie bis 1991 hart gearbeitet, weshalb es sich für sie auch nicht richtig anfühlen würde, sich selbst einen derart niedrigen sozialen Status wie den der „Armut“ zuzuschreiben. 40 Dennoch zeigen sich in den Schilderungen zum Umgang mit Geld die Auswirkungen von Armut sehr deutlich, und zwar in materieller, sozialer, gesundheitlicher und institutioneller Hinsicht. Wenig Geld zur Verfügung zu haben, bedeutet zunächst einmal einen ständigen Zwang zur Kompromissfindung: Die knusprige Laugenstange oder ein halbes Mischbrot? Kaffee beim Bäcker oder eine warme Mahlzeit zu Hause? Lade ich den klammen Kollegen nach der Maßnahme auf einen Döner ein und esse dafür den Rest der Woche nur noch Nudeln mit Ketchup oder gebe ich zu, dass ich mir das nicht leisten kann? Gehe ich in den TextilDiscounter und kaufe mir drei billige Tops oder spare ich auf ein teureres, damit man nicht sieht „dass man Hartz IV bekommt“ (Annemarie Kolkowski, 55)? „Also, ich kann halt auch Leute verstehen, die dann irgendwie, ähm, sich nur von Toastbrot ernähren. Das ist natürlich im ersten Moment, beim Einkaufen ist es nun mal billiger als das Schwarzbrot, aber Schwarzbrot sättigt natürlich länger, also ob ich nu’ drei Pakete Toastbrot habe oder dafür nur zwei Pakete Schwarzbrot ist preislich eigentlich ’n gewaltiger Unterschied, aber erst mal so grade bei dieser Methode an der Kasse überlegt man sich doch zwei Mal, nimmt man jetzt das teure Brot oder nimmt man halt das billige, wo viele Scheiben drin sind, wovon ich aber auch die Hälfte essen muss, um satt zu werden. Also, das ist aber (lächelt), erst mal wenn man in den Geldbeutel guckt, ist es keine Frage, wovon werd’ ich eher satt, sondern, was ist jetzt halt im ersten Moment billiger. (..) Und, ja, es ist natürlich unheimlich blöd, dass man denn zu Konserven greift, statt zu frischem Obst, aber das frische Obst ist dann vielleicht einfach irgendwie 50 Cent zu teuer.“ Caroline Schmitt, 24 Derartige Beispiele der Abwägung am Regal, sind in den Interviews zahlreich zu finden. Sie zeigen wie sich die Knappheit materieller Ressourcen auf fast alle Dimensionen des Alltags auswirkt. Der Wunsch und das Bedürfnis nach sozialer und kultureller Teilhabe konkurriert mit den Anforderungen einer ausgewogenen Ernährung und einem förderlichen Gesundheitsverhalten. So versuchen insbesondere Personen mit vielen Kontakten in materiell besser gestellte Kreise (hierzu zählen z. B. Befragte, die erst vor relativ kurzer Zeit aus einer dauerhaften Anstellung in die Arbeitslosigkeit geraten sind und (noch) Kontakt zu ihren ehemaligen Arbeitskollegen oder zu anderen arbeitenden Bekannten haben), ihr geringes Budget nach außen hin zu verbergen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Gespart wird dann meistens am einzigen disponiblen Ausgabeposten, den Lebensmitteln. Der Konsum geringwertiger, z. T. auch ungesunder, dafür aber billiger Lebensmittel lässt sich nach außen hin einfacher verschleiern als das Tragen billiger Kleidung. Auch auf Kosmetik wird aus diesem Grund Wert gelegt, um nach außen nicht als arm wahrgenommen zu werden („Man muss ja nicht sehen, dass man Hartz IV bekommt“, wie es Annemarie Kolkowski in diesem Zusammenhang ausdrückt). Auffallend viele Befragte machen sehr genaue Angaben dazu, wie viel Geld sie am Tag zur Verfügung haben. Es gibt sogar mehrere Interviews, in denen die Befragten schildern, dass sie sich ihr Geld für den Monat in Umschlägen oder Marmeladengläsern wochenweise rationieren. Was am Ende der Woche im Umschlag oder im Glas übrig bleibt, wird gespart. Dabei handelt es sich um Beträge von monatlich bis zu 50 Euro, die für die Erfüllung besonderer Wünsche gespart werden können. Zu diesen Konsumwünschen, die von den Interviewten als 41 größer und außeralltäglich empfunden werden und die durch geschicktes Wirtschaften herausgespart werden, gehören: Konzert- oder Kinotickets, ein Restaurantbesuch, Kleidung oder andere Konsumgegenstände. Oft dient das gesparte Geld auch als Notreserve für unvorhergesehene Ausgaben. 3.5 Gesundheit Wie bereits im vorangegangenen Abschnitt zu Konsum und Finanzen erwähnt, hat die Knappheit materieller Ressourcen starke Auswirkungen auf das Konsumverhalten von Lebensmitteln. Als größter Ausgabenposten im Haushalt birgt die Ernährung auch das größte kurzfristige Sparpotenzial. Im Supermarkt wird abgewogen, wie nahrhaft und wie teuer ein Lebensmittel ist, wie lange man also von einem gegebenen Betrag satt wird. Frische Lebensmittel wie Obst, Gemüse und Milchprodukte werden zugunsten von preiswerteren konservierten Produkten seltener gekauft, auch um mehr Geld für den Konsum von Nicht-Lebensmitteln übrig zu haben. In der Auswertung zeigen sich hier klare Anhaltspunkte für die These, dass ein geringes Einkommen zu einer unausgewogenen Ernährung führt, wenn Konsumentscheidungen bei der Abwägung zwischen Lebensmitteln und Nicht-Lebensmitteln häufig zugunsten der Nicht-Lebensmittel ausfallen. Hier konkurriert die Qualität der Ernährung mit alternativen Bedürfnissen wie sozialer Anerkennung, kultureller Teilhabe und materiellen Wünschen. „Meistens wird’s [= Geld für Konzerttickets, ca. 30Euro; Anm. der Autoren] dann beim Essen abgezogen (lächelt), also, dass ich dann halt wirklich gucke, okay, dann gönnt man sich mal halt nicht die Schokolade oder dann versucht man mal das weniger oder dann isst man mal so den Tag gar nix oder so und dafür hat man dann wieder ’n bisschen mehr Geld über. Also das ist halt das einzige, womit ich halt so jonglieren kann, weil ansonsten, alles andere sind ja feste Abbuchungen, so Handy und sowas, das ja sowieso abgeht und Lebensmittel is’ so die einzige Komponente und halt so Hygieneartikel, so solche Sachen, mit denen ich halt jonglieren kann, wo ich halt wirklich gucken kann, so okay, diesen Monat brauch’ ich das nicht oder das kann ich auch, das reicht wenn ich das dann nächsten Monat hol’ oder so. Damit wird dann immer geguckt, so, wie geht’s, ist es überhaupt machbar.“ Caroline Schmitt, 24 Weitere gesundheitsrelevante Faktoren, die unmittelbar mit dem verfügbaren Geld in Verbindung stehen, sind die Inanspruchnahme von Ärztinnen und Ärzten sowie die Nutzung von Medikamenten. Arztbesuche werden teilweise mit etwaigen Zuzahlungen für Medikamente verknüpft und deshalb unterlassen, verschriebene Rezepte werden nicht eingelöst, wenn damit Kosten verbunden sind. So behandelt sich Ute Gabel, die seit der Wende überwiegend arbeitslos gewesen ist, einfach selbst, um damit einige Euro zu sparen: „Oder ich- ich kauf’ mir auch Tabletten. Zum Beispiel meine Schmerztabletten, für’n Rücken. Ich krieg’ die vom Arzt verschrieben, aber warum soll ich immer zum Arzt fahr’n, mir die Tabletten da hol’n, wenn ich- da muss ich fünf Euro zuzahl’n und die gleichen Tabletten, die krieg’ ich aber auch inner Apotheke, die kosten aber nur vier Euro. Und denn hab ich aber schon Fahrscheingeld ausgegeben und die fünf Euro bezahlt. Ne. Und die Krankenkasse wieder beeiert. Nee, 42 brauch ich nich’. Also, kann ich ja gleich in die Apotheke geh’n. Weil ich ja weiß, welche Tabletten ich nehm’, das is’ Ibuprofen. Gut das sind- es gibt ja nur inner Apotheke bis zu:: 400 oder 500? Und denn nachher was dadrüber hinausgeht muss vom Arzt verschrieben werden, ja dann nehm’ ich zwei Ibuprofen, sind 800 und dann is’ gut. Dann is- s-sind die Schmerzen auch erstmal erledigt.“ Ute Gabel, 52 Caroline Schmitt schildert Situationen, in denen sie zwar zum Arzt gegangen ist, dann aber das dort erhaltene Rezept nicht eingelöst hat, da die Zuzahlung von fünf Euro im Monatsbudget nicht eingeplant war: „Obwohl das auch so ’ne Sache ist, also so dieses, wenn man mal ’ne Erkältung hat, die ja außerplanmäßig kommt und dann heißt es so »Ja, ich kann Ihnen da so Hustensaft aufschreiben«, dann is’ so, ok, dann muss ich in der Apotheke fünf Euro zuzahlen. Kann ich mir diesen Monat diese fünf Euro Zuzahlung leisten? Daran ist es teilweise schon gescheitert, dass ich einige Rezepte nicht eingelöst hab’, weil ich diese fünf Euro Zuzahlung nicht hatte.“ Carline Schmitt, 24 Einige der Interviewten bewältigen gesundheitliche Probleme durch ein Engagement in einem institutionellen oder informellen sozialen Zusammenhang. Hierzu zählen insbesondere Personen mit psychischen Erkrankungen und Suchterkrankungen. Sabine Krüger sagt, dass sie seit 15 Jahren trocken ist. Dennoch denkt sie nicht daran ihre Aktivitäten in der AlkoholikerSelbsthilfe aufzugeben. Neben der Bewältigung der Alkoholsucht betont sie insbesondere die für ihr individuelles Wohlbefinden wichtige Integration in einen sozialen Zusammenhang: „Wie lange bin ich jetzt schon hier in dieser...Hier, weiß ich gar nich, fuffzehn Jahre? (…) Und seitdem bin ich auch dabei. Und werds auch bleiben bis wenn hier das Haus abbrennt oder ich in der Kiste schon bin (Lachen) joa ne, geht gar nicht anders, muss sein. Obwohl ich das vielleicht, wenn ich so überleg‘, so vom Alkohol vielleicht nicht mehr brauchen würde, ne. Aber ich brauch das persönlich für mich ne. Ja ne, weil ich bin ja nu’ alleine und man lernt ja auch viele Leute kennen und um die Jahre ne, ist das ja logisch, dass man dann immer wiederkommt.“ Sabine Krüger, 62 3.6 Armutskarrieren und -biographien Bei einem Teil der von uns befragten Personen begann mit der „Wende“ von 1989/90 eine negative Entwicklung. Der Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft im Zuge des Vereinigungsprozesses war für sie mit einem Arbeitsplatzverlust verbunden, der oftmals in eine biographische Abwärtsspirale führte: „…wo denn das mit diesem Wendekram kam, wurden ja viel Stellen abgebaut und ich wurd’ dann auch gleich mit wegrationalisiert.“ (Sabine Krüger, 62). Hier handelt es sich um Personen im Alter von 45 Jahren und älter, die von einer geradlinigen Entwicklung in der DDR berichten, die durch die Wende in Form eines Arbeitsplatzverlustes abrupt beendet wurde. In diesen Fällen blicken die Befragten auf mittlerweile jahrzehntelange Zeiten unsicherer, prekärer oder geringfügiger Beschäftigung und/oder Arbeitslosigkeit zurück. Ute Gabel beschreibt ihren persönlichen Einbruch nach der Wende so: 43 „Bis dann, ich aus ’m Babyjahr rausgekommen bin mit dem letzten Kind und dann der Konsum pleite gemacht hatte. Und von da an ging’s bergrunter. Da war die Arbeitslosigkeit da. Praktisch mit der Grenzöffnung. Ja und denn immer mal zwischendurch irgendwo ’n Job gesucht un-un-und gemacht oder ein’ vermittelt bekomm’, aber ebend immer nich’ auf lange Zeit. Immer nur kurzfristige Sachen. Weil die ja meistens immer so drauf eingestellt war’n die Leute gar nicht lange zu beschäftigen.“ Ute Gabel, 52 Die Hoffnungen auf eine maßgebliche Verbesserung der Situation sind eher gering und es wird versucht, das Beste aus der individuellen Lage zu machen. Im Wissen über Rechte und Pflichten im Umgang mit Institutionen wie dem Jobcenter liegt daher eine zentrale Ressource der alltäglichen Lebensführung. Eine weitere, wichtige Gruppe neben denjenigen, die ihre ökonomische Grundlage wendebedingt verloren haben, sind in unserem Sample-Personen unter 30 Jahren, die nie wirklich in den Arbeitsmarkt hinein gefunden haben. Betroffen sind häufig Jugendliche mit einer abgebrochenen Schullaufbahn, die bereits im Elternhaus wenig Stabilität erlebt haben. Nicht selten handelt es sich dabei um Kinder von Eltern, die der eingangs beschrieben Gruppe der Generationen mit erheblichen Wendeverlusten angehören. In den bisher analysierten Interviews fällt auf, dass diese Personen durchaus nicht ohne Hoffnung auf Entwicklung sind und dass sie klare Ziele benennen können. Allerdings fehlt ihnen die Orientierung auf dem Weg zu diesen Zielen. Es werden Perspektiven beschrieben, die aus eigener Kraft nicht erreicht werden können, die Befragten sehen sich in Abhängigkeit von Institutionen, die scheinbar willkürlich über ihr Schicksal bestimmen. Der Glaube daran, die Armutssituation aus eigener Kraft überwinden zu können, widerspricht den Erfahrungen, die sie im Elternhaus machten und wird durch ihre eigenen Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt weiter geschwächt. Derart fremdbestimmt beschreibt Caroline Schmitt ihre Aussichten vom Jobcenter in die Ausbildung ihrer Wahl vermittelt zu werden: „Ich kann da halt nicht so viel tun, außer beweisen, dass ich leistungsfähiger bin, was ich denn auch versuch’, indem ich halt die sechs Stunden hier [in der Maßnahme, Anm. d. Autoren] bin, brav mitmache und da bin vor allem (lacht). Aber im Großen und Ganzen ist halt, öhm, kann man da nicht so viel machen, also weil da irgendwo andere Stellen denn wieder sagen: »Ja, ok, zeig uns mal, ob du das wirklich kannst und denn reden wir nochmal drüber, ob du das wert bist« so quasi, also man ist halt immer irgendwo, also ich bin irgendwie nur am warten. Da muss dis Gutachten, damit der was machen kann und, öhm, und ich warte nur drauf, dass die so nacheinander sich mal einigen, ob die, öh, meinen Fall wollen und, öh, und ob ich das wert bin. (ironisch:) Das ist sehr schön für die Eigenmotivation und fürs Selbstwert, oh ja!“ Caroline Schmitt, 24 Andere von uns befragte Personen, befanden sich in einer wirtschaftlich stabilen Situation und gerieten entweder durch Entlassung oder Schicksalsschläge in Abhängigkeit von Sozialleistungen. Dazu zählen Krankheiten, Suchtprobleme, Trennungen und damit verbundene Arbeitsplatzverluste. Haupt-Unterscheidungspunkt der Personen in dieser Gruppe von den 44 beiden anderen Gruppen ist eine höhere Kompetenz sowie ein höheres Selbstvertrauen bei der eigenverantwortlichen Bewältigung der als schwierig empfundenen Situation. 3.7 Soziale Einbindung Wie aus den eingangs skizzierten alltäglichen Verhaltensmustern bereits zu erahnen ist, unterscheiden sich die persönlichen sozialen Netzwerke der Interviewten teilweise erheblich voneinander. Typische Formen sind in den Abbildungen 1, 2, 3 und 4 dargestellt. Abbildung 1 illustriert den Extremfall eines sehr isolierten Netzwerks, in dem durch die sechs Fragen nach wichtigen Personen im Umfeld nur zwei Netzwerkpartner genannt wurden. Es handelt sich dabei um das kleinste erhobene Netzwerk. Allerdings gibt es einige weitere Netzwerke im Sample, die ebenfalls aus weniger als fünf Personen bestehen. Derart kleine Netzwerke weisen darauf hin, dass die Interviewten nur sehr wenige Anlaufstellen im Alltag haben, die hilfreich bei der Bewältigung von Armutssituationen sein könnten. Ursache können z. B. ein geringes Vertrauen in die Umwelt und Rückzug aus sozialen Situationen infolge von Scham oder schlechten Erfahrungen im Umgang mit Menschen sein. Waltraut Zimmermann kommentiert ihr auffallend kleines Netzwerk wie folgt: „Ach, manchmal hätt’ man vielleicht schon ’n paar mehr [Kontakte, Anmerkung der Autoren]. Kann man nich’ anders sagen. Aber heutzutage isses auch so, man kann immer schlecht vertrauen. Oder ich bin manchmal skeptisch. Weil man schon oft, ja, Fehlschläge hatte, woll’n wa ma’ so sagen. Wo man ausgenutzt worden is’ und wenn man selber dann mal irgendwie, ne, was hatte, dass man denn, naja, hängengeblieben worden is’, ne?“ Waltraut Zimmermann, 62 45 Abb. 1: Netzwerk von Waltraut Zimmermann, 62 Daten: Eigene Erhebung und Darstellung. Fast alle übrigen Netzwerke zerfallen in zwei oder mehr Gruppen. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Familie und Freunde in der ersten Gruppe und um einen Zusammenhang aus Personen, der an Institutionen gebunden ist, in der zweiten Gruppe. Dabei handelt es sich oft um Kontakte, die aus Maßnahmen des Jobcenters entstanden sind (wie bei Annemarie Kolkowski, Abb. 2), um Kontakte aus einem ehrenamtlichen Engagement (wie z. B. in einem Stadtteil- und Begegnungszentrum (SBZ) bei Ute Gabel, Abb. 3) oder um Kontakte aus anderen institutionellen Zusammenhängen, wie z. B. der Alkoholiker Selbsthilfe im Falle von Sabine Krüger, Abb. 4. 46 Abb. 2: Netzwerk von Annemarie Kolkowski, 55 Daten: Eigene Erhebung und Darstellung. 47 Abb. 3: Netzwerk von Ute Gabel, 52 Daten: Eigene Erhebung und Darstellung. 48 Abb. 4: Netzwerk von Sabine Krüger, 62 Daten: Eigene Erhebung und Darstellung. In allen drei Beispielen leistet das semi-professionelle Teilnetzwerk einen wichtigen Beitrag zur Aufrechterhaltung eines am Erwerbsleben orientierten Normalitätsmusters. Die Möglichkeit des Rückgriffs auf derartige Strukturen ist bedeutsam für die Alltagsstrukturierung und soziale Einbindung in Armutssituationen, welche sich häufig in Form eines Mangels an standardisierten Mustern gesellschaftlicher Integration zeigen. Es werden Kontakte zu Personen in ähnlichen Lebenslagen aufgebaut, Probleme bewältigt und ein Gefühl der Selbstwirksamkeit erzeugt (genauer dazu: siehe Fallbeispiel von Annemarie Kolkowski, Abschnitt 4.3). Die bis hierhin nach Themen zusammengefassten Ergebnisse werden im Folgenden anhand von vertiefenden Fallanalysen zu ausgewählten Interviews in der Stadt und im ländlichen Raum verdeutlicht. 49 4 Gesichter der Armut in der Stadt Der Titel des Teilprojekts „Gesichter der Armut“ steht bewusst im Plural. Die Gesichter der Armut sind vielfältig, genauso wie die Strategien der Betroffenen im Umgang mit der Armut. Der Blick auf individuelle Biographien und Lebenswelten zeigt, dass Armut in komplexen Zusammenhängen wirksam wird, die weit über rein monetäre Aspekte hinaus reichen. Ziel der im Folgenden dargestellten Fallanalysen ist nicht, Personen zu porträtieren, deren Geschichten repräsentativ für „die Arme“ oder „den Armen“ stehen, sondern Situationen zu rekonstruieren, mit denen Menschen in Armut tagtäglich konfrontiert sind. Erst das Verständnis dieser Situationen und Problemlagen erlaubt die Ableitung geeigneter Vorschläge zur Bekämpfung der Armut, orientiert an der Lebenswelt der Betroffenen. Im Folgenden werden drei Fälle vorgestellt, die jeweils einen Aspekt von Armut aus der Perspektive Betroffener verdeutlichen. Dabei geht es um die Bedeutung ehrenamtlichen Engagements im Alltag (4.1), den Zusammenhang zwischen empfundener Armut und der individuellen Wahrnehmung von Zukunftsaussichten (im Fall einer alleinerziehenden Mutter, 4.2), sowie um den Versuch der Aufrechterhaltung von Normalität nach dem Einbruch der Erwerbslosigkeit (4.3). 4.1 Joachim Wiechert: Seit der Wende ohne Arbeit: Das „SBZ“ als Anker in die Welt Joachim Wiechert 3 ist zum Zeitpunkt des Interviews 42 Jahre alt und wohnt seit sechs Jahren allein in einer Ein-Zimmer-Wohnung in einem Rostocker Neubaugebiet. Aufgrund einer geistigen Behinderung erhält er Erwerbsunfähigkeitsrente. 4 Er hat keine Kinder und lebt nicht in einer Beziehung. 4.1.1 Aktuelle Lebenssituation Herr Wiechert verbringt seit ca. 3 Jahren nahezu täglich Zeit im Stadtteil- und Begegnungszentrum (SBZ) in seiner Nachbarschaft, seit er von losen Bekannten einmal mit dorthin genommen wurde. Im Interview beschreibt er sich in Abgrenzung zu den einfachen Gästen des Hauses als bedeutsamer Teil der SBZ-Infrastruktur, welcher in der Rolle des „Mädchen für alles“ zwischen Besucherinnen und Besuchern und der SBZ-Leitung vermittle. „...ich bin schlechthin eigentlich – oder Gott sei Dank oder wie auch immer, äh, ich bin schon einer mit der Ansprechpartner wenn jetzt irgendwas im Haus ist oder wenn jetzt die Leute unten im Foyer stehen und gucken, dass man denn auch die Leute darauf zugeht und sagt: »Schönen guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?«, ne, dass ich dann die Leute auch darauf zugehe, auf die Leute dann. Sei es ’ne Wegweisung im Haus bei uns hier selber, oder es sind irgendwelche Fragen oder es treten irgendwelche Fragen auf wo man dann mit Rat und Tat dem Gast zur Seite steht.“ 3 Alle Namen und Ortsangaben wurden anonymisiert. Herr Wiechert spricht im Interview von „EU-Rente“, d. h. von Erwerbsunfähigkeitsrente. Diese firmiert seit 2001 unter dem Namen Erwerbsminderungsrente. 4 50 Bei den häufig durchgeführten Veranstaltungen im SBZ hilft Herr Wiechert bei der Vorbereitung der Räumlichkeiten und betont, immer unterstützend aktiv zu werden, wenn man ihn darum bitte. Nie würde er eine solche Bitte zurückweisen. „Wenn mal irgendwo Not am Mann ist, dass man dann mal hört »Kannste mal?« - natürlich wäre ich dann der letzte, der dann sagen würde »ich würd’s nicht machen«, weil wie gesagt, mittlerweile drei Jahre, glaube ich, engagiert und ja, es macht einfach auch Spaß, anderen Leuten eine Freude zu machen.“ Die Rolle des Unterstützers ist elementarer Bestandteil der Selbstdarstellung Herrn Wiecherts gegenüber dem Interviewer. Er beschreibt sich als eine bedeutsame Figur, die von anderen gebraucht wird, der man vertraut und der eine gewisse Verantwortung übertragen wird. Von zentraler Bedeutung ist hierbei die Zusicherung dieser Form der Anerkennung durch die von ihm so bezeichnete „SBZ-Leitung“. Auffällig ist, dass er selbst keine Angebote des SBZ als Teilnehmer wahrnimmt und auch nicht den Wunsch danach äußert. Derartige niedrigschwellige Zugangsmöglichkeiten zu gesellschaftlicher Teilhabe sind essenziell für Herrn Wiecherts Alltagsgestaltung. Höhere formelle Hürden, etwa in Bezug auf Jobs, mit denen er sich etwas dazu verdient, stellen für ihn unüberwindbare Hindernisse dar. Während informelle Bewerbungssituationen, die durch Bekannte oder Freunde arrangiert wurden, Herrn Wiechert keine Probleme verursachen, beunruhigt ihn die Tatsache schriftliche Unterlagen einzureichen so sehr, dass er trotz guter Chancen auf einen Nebenjob verzichtet: „Ja, (hustet) die wollten einfach Lebenslauf und Bewerbung. Ich meine gut, ’ne Bewerbung, wenn ich irgendwo anfange, klar, logisch, die brauche ich, wenn ick irgendwo mich bei irgendeiner Firma bewerbe. Aber die wollten auch einen Lebenslauf haben. Aber das war wie gesagt bei einer anderen Firma, wo ich da wie gesagt schon als Call-Center-Agent gearbeitet habe, brauchte ich das nicht, da brauchte ich nur vorsprechen, beim Chef, der hat dann zu mir gesagt, »OK, probier’, probiere es«, und das hat wunderbar auch super geklappt.“ Zum Zeitpunkt des Interviews arbeitet Herr Wiechert nebenbei als Assistent eines befreundeten freiberuflichen DJs. Vorrangig sei es ein Hobby für ihn, jedoch verdiene er auch manchmal etwas durch den Job dazu. Auch hier zeigt sich die informelle Art, auf die Herr Wiechert zu dieser Tätigkeit gekommen ist. Der befreundete DJ hat selbst früher im SBZ gearbeitet und war es auch, der Herrn Wiechert darauf aufmerksam gemacht hat. „Ähm, durch einen Bekannten. Ach nee, eigentlich hier durch meinen DJ-Partner, weil der hatte hier vorher gearbeitet auch, zwar der ist nicht mehr so aktiv wie ich, aber ich selber, ja, es macht mir wie gesagt sehr, sehr viel Spaß ich gehe hier mit sehr viel Engagement auch ran, ne, das sieht man auch, das wird auch geschätzt hier von der Leitung.“ 4.1.2 Finanzielle Situation Herr Wiechert hält sich eher bedeckt in Bezug auf seine finanzielle Situation. Er spricht nicht über genaue Beträge, die ihm zur Verfügung stehen und möchte auch keine Auskunft darüber geben, ob er verschuldet ist. Er spart kein Geld an und sagt, dass dies auch nicht möglich sei. 51 Auf die Frage, wie er seine finanzielle Situation ganz allgemein beschreiben würde, antwortet er: „Beschissen. Ehrlich? Beschissen. Klar, mehr kann natürlich nie genug sein. Ich meine (Pause) durch die Rente oder durch die Erwerbsunfähigkeitsrente ähm (Pause) ja, ist n dummer Spruch jetzt aber: Zum Leben zu wenig, zum Sterben erst recht, ne. Klar, wer sagt nicht, dass et mehr sein kann. Man (Pause) hmm, wenn ich vielleicht sparsamer sein würde, würde ich wahrscheinlich mit dem, was ich habe auskommen. Aber es gibt auch Situationen,(leise:) da komme ich absolut nicht. Ich bin selber Raucher, ich rauche. Allein das ist ja schon eine Lebensqualität ähm, was (Pause) mich, na nicht beeinträchtigt, aber so wo man sagt, vielleicht doch – Lebensqualität – das sind eben Luxusgüter, in dem Sinne, für mich Zigaretten (hustet), das sind Luxusgüter, wo ich dann sagen würde, wenn ich jetzt nicht rauchen würde, gut (Pause), würde man, aber dadurch, dass ich selber nun Raucher ähm, ja (Pause)“ Der hier beschriebene Tabakkonsum hat Auswirkungen auf Herrn Wiecherts soziale Einbindung. Bei unseren regelmäßigen Besuchen im SBZ im Rahmen der Datenerhebung trafen wir Herrn Wiechert häufig, als er mit anderen Ehrenamtlichen und Angestellten des Hauses rauchend vor der Tür stand. Das gemeinsame Rauchen bietet die Möglichkeit der informellen Kontaktaufnahme und -pflege. Darüber hinaus beobachteten wir aber auch Situationen, in denen Herr Wiechert vergebens um Zigaretten bat, da er selbst keine mehr hatte. Die ablehnende Reaktion der gefragten Personen legt die Vermutung nahe, dass dies häufiger vorkommt. Wie das Beispiel des Tabakkonsums zeigt, sind die Verfügbarkeit und der Bedarf an Konsumgütern oft eng mit der Positionierung im sozialen Raum verknüpft. Keine Zigaretten dabei zu haben, bedeutet, entweder auf das Wohlwollen anderer angewiesen zu sein oder nicht mit den anderen rauchen zu können und die Gelegenheit des Austauschs zu verpassen. Diese Beobachtung klingt banal, trägt aber zur Erklärung bei, warum viele Befragte trotz beschränkter Ressourcen Wert auf den Konsum von Dingen legen, die auf den ersten Blick nicht dem täglichen Überleben dienen. Oft haben solche vermeintlichen „Luxusgegenstände“ eine soziale Bedeutung, weitere Beispiele sind z. B. die Aufrechterhaltung der Fassade durch hochwertige Kleidung und Parfum, gemeinsame Imbiss- und Restaurantbesuche mit anderen, der Besuch von Kulturveranstaltungen oder der Wunsch nach einem Smartphone mit Internetzugang, um über WhatsApp und Facebook zu kommunizieren. Herr Wiechert verfolgt keine bestimmte Strategie, wenn es darum geht, Einkäufe zu erledigen, sondern kauft eher nach Bedarf täglich Kleinigkeiten ein. Einkaufslisten schreibt er nicht, orientiert sich aber an den Werbeprospekten der verschiedenen Discounter und hält nach günstigen Angeboten Ausschau. Konkret danach gefragt, ob er sich als arm bezeichnen würde, äußert er sich unschlüssig. „Ich würd mich zur Mittelschicht einordnen. Arm vielleicht nicht unbedingt aber. Vielleicht leicht ankratzend. Wo ich sagen würde, ja, es gibt Sachen, die würde ich gerne haben wollen – wer will die nicht. [...]Ja, ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob ich mich da angekratzt oder ob ich mich dazu zählen könnte, kann ich, kann man (Pause, sehr lang – ca. 3 sek.), ich weiß nicht.“ 52 Wie viele der Befragten, weist auch Herr Wiechert das Etikett „arm“ zunächst einmal zurück. Die Rolle des Armen widerspricht seiner Selbstdarstellung als sozial engagierte Person von hoher Wichtigkeit für das SBZ. Die Frage provoziert einen Vergleich der eigenen Lebenslage mit einem individuell unterschiedlich wahrgenommenen Normalzustand – die Befragten sind gezwungen sich relativ zu ihrer persönlichen Normalitätsvorstellung zu positionieren, entweder als darunter liegend, also als arm, oder auf eine andere Art und Weise. Die Referenzgruppe des Normalen bezeichnet Herr Wiechert als die „Mittelschicht“, an deren unterem Ende er sich einordnet, wenn auch „ankratzend“ an den Bereich der Armut. In diesem Sinne wird mit der Zurückweisung des Armutsbegriffs ein Anspruch auf Dazu-Gehören und Teilhabe am ganz normalen Leben formuliert. 4.1.3 Soziale Einbindung Neben dem SBZ nennt Herr Wiechert seine Mutter und einen Behinderten-Sportverein als bedeutsame soziale Bezugspunkte. Die Mutter lebt in einer anderen Stadt, der Kontakt zu ihr beschränkt sich auf gelegentliche Besuche und Telefonate, die Herr Wiechert, wie er sagt, aus Kostengründen, versucht auf das Nötigste zu beschränken (Anrufe zu besonderen Anlässen wie Geburtstagen). Die Mutter wird jedoch als die Person benannt, an die sich Herr Wiechert mit persönlichen Problemen und vertraulichen Informationen am ehesten wenden würde. Bei der Beschreibung seiner Rolle im Sportverein fällt neben der Betonung sportlicher Erfolge ein ähnliches Muster wie bei der Rollenbeschreibung als Ansprechpartner im SBZ auf: Herr Wiechert betont vor allem sein großes Engagement bei der Organisation regelmäßig stattfindender Höhepunkte wie z. B. der Ausrichtung großer Turniere. Außerdem spricht er von einer Trainerin, die er auch außerhalb des Vereinslebens trifft. Er unterstützt sie und ihren gesundheitlich eingeschränkten Ehemann, bei alltäglichen Erledigungen (z. B. Haushalt, Einkäufe). „Z. B., wenn sie [= die Trainerin], was ich ja schon gesagt hatte mich anruft und sagt: »Mensch, könnteste«, natürlich! Auch da wäre ich der letzte der sagen würde: »Ach du, heute nicht«, ne oder: »jetzt nicht!« Da würde ich sagen: »In zehn Minuten oder halbe Stunde bin ich drüben«, kein Thema.“ Obgleich Herr Wiechert stets darum bemüht ist, anderen zu helfen fällt auf, dass er selbst kaum Hilfsangebote in Anspruch nimmt. Wenn überhaupt, spricht er eher hypothetisch über Möglichkeiten der Unterstützung, die er gegebenenfalls in der Zukunft nutzen könnte. Auf die Frage, mit wem er über persönliche Dinge sprechen würde, antwortet er: „Eltern, Betreuerin, eventuell vielleicht Anvertraute, meine Bekannten, ne, das sind so anvertraute Personen wo ich sagen würde, denen würde ich mein Herz, wenn ich jetzt wirklich große oder größere Probleme hätte (Pause), ähm, auch mein Herz denn ausschütten, wenn mal irgendwie was ist. Oder meine Probleme schildern und sagen OK, ich hab jetzt hier Probleme, helft mir mal bitte. Ähm, ja.“ „Und das SBZ oder der Verein? Wo du ja so ziemlich aktiv bist, könntest du da auch irgendwo?“ 53 „ Ja, ich könnt’s mir vorstellen. Dass ich da, wenn da wirklich irgendwat is, ähm und ich da Probleme hätte, dass ich dann zur Leitung gehen könnte und sagen könnte: »Könnt'a mir hier mal Hilfestellung geben, mich unterstützen?« Ich könnt’s mir vorstellen, ob ick et jetzt nun zu Gebrauch nehmen würde, hmm, gut, weiß ich jetzt nicht so hundertprozentig. (Pause) Es ist, würde ich sagen, ’ne andere Geschichte, ähm, ja.“ Vielleicht sieht Herr Wiechert seine Rolle als Unterstützer gefährdet, wenn er selbst Hilfsangebote in Anspruch nehmen und damit eigene Bedürftigkeit signalisieren würde? Der Wunsch, Vertrauen entgegengebracht und Verantwortung von anderen übertragen zu bekommen, scheint jedenfalls größer zu sein, als das Bedürfnis nach Unterstützung für sich selbst. Natürlich bedeutet Armut, unter der Bedingung materieller Knappheit zu leben. Darüber hinaus zeigen unsere Interviews sehr deutlich, dass Armut in vielen Fällen auch eine Armut an sozialer Teilhabe ist. Soziale Isolation zu überwinden oder gar nicht erst aufkommen zu lassen stellt eine der größten Herausforderungen von Menschen dar, die dauerhaft in Armut und damit ausgeschlossen von den meisten gesellschaftlichen Zugängen zu sozialer Anerkennung leben müssen. 4.1.4 Perspektiven Was seine Pläne und Ziele für die Zukunft angeht, so äußert Herr Wiechert nichts Konkretes. Gleich zu Beginn des Interviews fällt auf, dass er in seiner Rede unbewusst das Risiko anführt, dass seine derzeitige Rolle im SBZ als Unterstützer und „Mädchen für alles“ wegbricht. Darauf angesprochen beruft er sich auf die generelle Ungewissheit über die Zukunft und seine gesundheitliche Situation. „Ach so! Nein, Nein! Ich mein, nein! Ich werd’s weiterhin machen [die ehrenamtliche Aktivität im SBZ; Anm. der Autoren]. Na gut, trotz, kann man sagen, man kann sagen, man weiß ja nie was kommt. Vielleicht durch Krankheit irgendwie oder irgendwelche anderen Sachen, was man natürlich nie hofft, ne (leise), dass man dann vielleicht die Arbeiten hier gar nicht mehr wirklich machen kann, ne, da ist das trotzdem. Um das zu verstehen, um das zu verstehen zu geben.“ Diese Aussage deutet darauf hin, dass Herr Wiechert das Ehrenamt im SBZ nicht als Selbstverständlichkeit betrachtet, sondern als bedroht ansieht, z. B. durch Krankheit. Darin offenbart sich die höchst fragile Situation, in der sich Herr Wiechert befindet: Erstens sind materielle und soziale Ressourcen der Alltagsbewältigung nur in geringem Maße vorhanden. Zweitens sind die Strategien zur Erzeugung und Aufrechterhaltung von Routine und Normalität in dieser Situation nicht stabil und könnten wegbrechen. Offene Anlaufstellen wie das SBZ bieten sehr wichtige Ressourcen an, die in einigen Fällen jedoch als Mittel der Armutsbekämpfung zu kurz greifen, so lange sie nicht die Perspektive eines dauerhaften Engagements innerhalb einer festen Struktur bieten. 4.2 Stefanie Neun: Alleinerziehend im Mühlrad eines prekären Alltags Stefanie Neun ist 35 Jahre alt und alleinerziehende Mutter zweier Töchter im Alter von elf und dreizehn Jahren. Sie macht einen gepflegten Eindruck, hat eine offene angenehme und 54 freundliche Art und ist redegewandt. Frau Neun ist schwerhörig und trägt ein Hörgerät, was im direkten Gespräch jedoch nicht weiter auffällt. Frau Neun schloss die Schule Mitte der 1990er Jahre mit der Mittleren Reife ab und tat sich zunächst schwer damit, eine Lehrstelle zu finden. Mithilfe des Jobcenters in einem anderen Bundesland wurde sie schließlich in eine auf die besonderen Bedürfnisse Schwerhöriger zugeschnittene schulische Ausbildung zur Hauswirtschafterin vermittelt. Diese Zeit beschreibt sie als sehr bereichernd und erfüllend. Noch heute pflegt sie enge Freundschaften zu mehreren, ebenfalls schwerhörigen oder gehörlosen Azubis von damals. Mit Abschluss der Ausbildung Ende der 1990er Jahre, zog sie zurück nach Rostock, wo sie etwa ein Jahr lang zwischen Arbeitslosigkeit und befristeter Beschäftigung in der Systemgastronomie verbrachte. Schließlich wurde sie schwanger und ging frühzeitig in den Mutterschutz. Zwei Jahre später kam ihre erste Tochter zur Welt, mit der sie drei Jahre lang zu Hause blieb. Über die Beziehung zum Vater des Kindes ist lediglich bekannt, dass er nie ein Verhältnis zur Tochter aufgebaut hat und nicht für sie sorgt. In den ersten zwei Lebensjahren ihrer ersten Tochter lebte Stefanie Neun bereits mit dem Vater der zweiten Tochter zusammen, der sich auch um das erste Kind kümmerte, wie um sein eigenes. Im Anschluss an die Erziehungszeit war Frau Neun für wenige Monate arbeitslos, bis sie infolge der zweiten Schwangerschaft erneut in den Mutterschutz ging. Die Beziehung zum Vater des zweiten Kindes ging während der Schwangerschaft auseinander, der Vater ist jedoch bis heute eine wichtige Unterstützung in Frau Neuns Alltag. So nimmt er z. B. sein eigenes oder auch beide Kinder an zwei Wochenenden im Monat zu sich und unternimmt Reisen mit den Kindern, die sich Frau Neun nicht leisten könnte. Frau Neun blieb auch mit der zweiten Tochter für drei Jahre zu Hause, wobei nicht klar ist, ob die relativ lange Erziehungszeit freiwillig oder aus der Not heraus in Anspruch genommen wurde: „Ich muss sagen, ich war während dieser Zeit aber nicht (Räuspern) nur zu Hause mit den Kindern, sondern ich hab die Kinder auch in den Hort gegeben, in die Kinderkrippe gegeben, hab’ gesagt, ab diesem und diesem Zeitpunkt gehst du jetzt, weil ich wollte, dass sie auch in soziale Umfelder kommen, wo sie auch soziale Kontakte knüpfen können, das war mir sehr wichtig. Und während dieser Zeit, während sie eben halt in diesen Kindergärten und Horten waren, hab ich versucht, Arbeit zu finden, es ist nicht immer einfach gewesen, aber ich mir auch Unterstützung und Hilfe beim Jobcenter hier geholt und habe mehrere Praktikas akabsolviert, unterschiedlichen Genres, sagen wir mal so. Ne?“ Nach den beiden Erziehungszeiten, zwischen 2006 und 2011 lebte Frau Neun von ALG II, seit 2009 befindet sie sich beim Jobcenter im Fallmanagement. Etwa zu dieser Zeit entwickelte sie eine Essstörung, deren Entstehung und Verlauf sie wie folgt beschreibt: „Naja, es war erst mal als ich ja erkrankt bin war ja ‘ne das war ja ‘ne Kompondas waren ja mehrere Komponenten. Es war einmal die Arbeitslosigkeit, die einem zu schaffen gemacht hat, dann die Geschichte mit dem Vater von der Großen, wo’s ja Quälereien gab, dann musste ich um Unterhalt kämpfen und et cetera. Dann hab ich immer gesagt, Mensch, hab ich mir eingeredet: »Bin ich überhaupt ‘n gutes Vorbild für meine Kinder, wenn du so lange arbeitslos und zu Hause 55 bist?« Und so weiter. Das kam alles zusammen, dass dass dass Sie psychisch irgendwann so kaputt waren, dass Sie automatisch das Essen nicht mehr angerührt haben. Und so ist das mit der Magersucht vorangeschritten, bis dann mein Hausarzt gesagt hat: »So, also entweder Sie machen die Kur jetzt oder Sie stehen mit einem Bein im Grab.« Und wenn Sie diesen Satz hören, dann denken Sie an Ihre Kinder und sagen: »Nein, ich fahr zur Kur, ich versuch, mich wieder aufzurappeln.« Hab das drei Wochen gemacht, war damals in Thüringen, hab meine Kinder mitgenommen, man kann ja heute Mutter-Kind-Kuren beantragen. Und das war die beste Entscheidung, die ich treffen konnte. Bin wie gesagt mit mehr Gewicht wieder nach Hause gefahren und auch mit einer ganz anderen Lebenseinstellung, mit einer positiveren Lebenseinstellung. Und es hat nicht lange gedauert und dann bin ich ja in die Kulturinstitution [Name anonymisiert] gekommen durch dieses Projekt, was wir jetzt haben, und das is fabelhaft. Also, besser hätt’s mir gar nich’ gehen können.“ Über das Fallmanagement wurde ihr eine auf drei Jahre befristete Stelle als Projektmitarbeiterin in einer Rostocker Kulturinstitution vermittelt, die vom Jobcenter finanziert wird. Sie erhält Gehalt statt ALG II und bezieht zusätzlich Wohngeld (zur finanziellen Situation s. u., Abschnitt 4.2.3). Die Zuordnung ihres Falls in eine analytische Kategorie fällt schwer – je nach Blickwinkel des Betrachtenden ist sie langzeitarbeitslos, alleinerziehend, prekär beschäftigt, working poor oder aufgrund von Behinderung und Krankheit benachteiligt. 4.2.1 Aktuelle Lebenssituation Zurzeit arbeitet Stefanie Neun in der vom Jobcenter finanzierten Stelle in der Kulturinstitution. Diese Arbeit verschafft ihr innere Zufriedenheit durch soziale Anerkennung und eine anspruchsvolle Aufgabe. Sie bezeichnet sich als Projektmitarbeiterin, an manchen Stellen sogar als Projektleiterin. Sie organisiert scheinbar eigenverantwortlich Ausstellungseröffnungen, hält Kontakt zu Kunden und betreut eine Bibliothek: „Also ich bin in [Name einer Kulturinstitution, Anm. d. Autoren] zuständi- also tätig. (Räuspern) Arbeite dort im Archiv, aber nicht nur im Archiv, sondern mache auch Veranstaltungen mit und man, wie gesagt, verkaufe auch Sachen, also bin ständig mit Kunden in Kontakt. Und man spricht ja nicht nur über diese Produkte, wenn man mit Kunden in Gespräch kommt, sondern man spricht übers alltägliche Leben. Na? Und da haben wir positive Re-Resonanzen und Reaktionen mitbekommen von Seiten des Kunden und die fühlen sich wohl bei uns und das gibt uns noch mal diesen Mut und diese Begeisterung, zu sagen, wir machen weiter mit vollem Elan. Und das ist das, was mich persönlich aufbaut.“ Obwohl es sich nicht um eine reguläre Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt handelt und sich die finanzielle Situation weiter auf dem Niveau der Grundsicherung für Arbeitssuchende bewegt, beurteilt Frau Neun die Maßnahme auffallend positiv: „[…] es geht mir momentan gut. Es geht mir körperlich und geistig gesundheitlich sehr, sehr gut und das möchte ich beibehalten. Das ist das, was zählt. Und ich habe das Gefühl, eben halt gebraucht zu werden, anerkannt zu werden. Das ist für 56 mich das, was zählt. Und nichts anderes. Also nicht, dass das, sagen wir mal, dass der Lohn oder dass der Gehalt jetzt im Vordergrund steht, ganz im Gegenteil. Man ist wieder in einem sozialen Umfeld, man knüpft wieder soziale Kontakte. Und ich denke ma, das ist das, was viele Menschen auch brauchen.“ Ihr Alltag ist mit den zwei Kindern und sechs Stunden Arbeit voll ausgefüllt, unter der Woche gibt es, abgesehen vom Kaffee, den sie trinkt nachdem die Kinder aus dem Haus sind, kaum disponible Zeitfenster. „Ah, die Woche beginnt eigentlich, da ich ja zwei Kinder habe und alleinerziehend bin, natürlich erstmal nur vorrangig, dass die Kinder zur Schule können. Joa, wenn die Kinder in der Schule sind, dann setz ich mich einfach ma hin, trink ‘n Kaffee, lass erstma auf mich wirken, was bringt diese Woche alles noch an Terminen etc. und dann mach ich mich nachher auffen Weg zur Arbeit.“ „Und wie geht’s da weiter?“ „Ja, denn nach der Arbeit, wie gesagt, gestaltet sich mein Tagesablauf so, dass ich wie gesagt erst mal nach Hause fahre, mich um meine Kinder kümmere, frage: »Wie war euer Tag?« Sie fragen mich: »Wie war dein Tag, Mama?« Und je nachdem, was noch ansteht an Terminen, Ärzte ne oder sonstiges, dann gestaltet man den Tagesablauf eigentlich so, dass man in der Woche eigentlich einkaufen geht danach, und dann ist der Abend nachher eigentlich relativ schon gelaufen, dann is’ nich mehr mit weggehen oder sonst was. Das gestaltet sich eher am Wochenende,…“ Freizeit findet am Wochenende statt. Darunter versteht Stefanie Neun vor allem die gemeinsame Freizeit mit den Kindern, mit denen sie Ausflüge unternimmt und ihre Mutter und Freunde besucht. Die Unternehmungen müssen aufgrund des kleinen Budgets der Familie gut geplant und ausgewählt werden. Um den Kindern dann etwas bieten zu können, verzichtet Frau Neun selbst auf kostspielige kulturelle Highlights. „Na, es is’ nicht so, dass wir jedes Wochenende was unternehmen. Erstens spielt das ja auch einen finanziellen Hintergrund. Ne? Also, ich kann jetzt nich’ sagen, wir gehen jedes Wochenende ins Kino oder wir fahren mal ins Schwimmbad oder wir fahren mal in ‘n Zoo oder sonst was, sondern es gibt auch… Ich versuch’ es, dass ich das ein bis zwei Mal im Monat den Kindern ermöglichen kann, es klappt aber nicht immer. Aus dem finanziellen Hintergrund.“ 4.2.2 Finanzielle Situation Stefanie Neun bestreitet ihren Haushalt mit einem Nettoeinkommen aus Gehalt, Wohngeld, Kindergeld und Unterhalt von etwa 1.500-1.600 Euro, nach Abzug der laufenden Kosten bleiben ihr und ihren Kindern noch ca. 450 Euro im Monat zum Leben. Mit ihrem Einkommen ist sie, je nach zugrundeliegender Statistik, mal über, mal unter der Armutsgrenze von 60% des Medianeinkommens. Auch wenn sie sich selbst „zum Mittelstand“ zählt, erfordert es einiges an Kalkulation und Strategie, um den Alltag zu bewerkstelligen und ihrem eigenen Anspruch, insbesondere die Kinder keinen Mangel spüren zu lassen, gerecht zu werden. 57 „Aufgrund dessen, weil ich zwei Kinder habe, und ich möchte, dass diese Kinder wohlernährt sind, ja, dass der Kühlschrank voll ist, dass sie nich’ das Gefühl haben müssen: Nur weil Mama wenig Geld hat oder Geld verdient, muss ich zurückstecken. Das möchte ich nicht. Das ist mir sehr wichtig.“ Dafür verzichtet sie, wie oben bereits angedeutet, auf viele eigene Bedürfnisse, wie regelmäßige Friseurbesuche oder modische Kleidung. Statt mit den öffentlichen Nahverkehrsmitteln fährt sie aus Kostengründen auch öfter mit dem Fahrrad. „Also, ich hab die Kinder immer möglichst versucht, normal anzuziehen, dass sie nicht halt, wie soll ich das beschreiben, arm aussehen, sondern dass sie ganz normal gekleidet sind und diese… sie haben nie Resonanzen [= negative Bemerkungen von MitschülerInnen, Anm. der Autoren] bekommen. […] Ganz im Gegenteil. Und ich muss ganz ehrlich sagen, ich stecke viel zurück und mache es auch gerne, damit es meine Kinder gut haben. […] Also, ich geh mir in zwei in zwei Jahren vielleicht neue Hosen kaufen und so weiter und so fort, sondern ich steck da schon sehr drastisch zurück. Ne?“ „Können Sie da noch ein paar Beispiele nennen?“ „Mhmmm, ich geh einmal im Jahr zum Friseur. Ich kaufe mir, wie gesagt, alle zwei Jahren vielleicht mal eine Hose. Schuhe kaufen, alle drei, vier Jahre, es kommt drauf an, ne?“ Wichtigstes Element ihrer Haushaltsführung sind jahrelang eingeübte, teilweise von den Eltern übernommene und in diesem Sinne „routinisierte“ Handlungsstrategien. Stefanie Neun berechnet zu Beginn eines jeden Monats anhand der zu erwartenden Einnahmen und Ausgaben einen schriftlichen Haushaltsplan, in dem ein Budget festgelegt wird, welches nicht überschritten werden darf. Dabei versucht sie nach Möglichkeit Spielraum für unvorhergesehene Ausgaben zu lassen. „Ne, also das is’ für mich ein A und O, dass ich weiß am Anfang des Monats, diese Summe an Geld habe ich zur Verfügung und das sind meine Ausgaben, die müssen und dürfen auf jeden Fall nicht angetastet werden, dass ich zumindestens sagen kann: Für diese vier Wochen habe ich diesen und diesen Betrag pro Woche zur Verfügung. Und das mach ich seit, puh, fünf Jahren, mache ich das schon. Und das klappt immer hervorragend. Natürlich kommen auch mal Zusatzleistungen dazu. Ich bin wie gesagt stark schwerhörig, hab mir jetzt ein neues Hörgerät besorgen müssen und da musste ich eben auch erstmal in Vorleistung gehen und auch erstmal Ratenzahlung machen, dass man so was auch mit einplant. Man kann das mit einplanen, wenn man richtig rechnet. Und wenn man richtig kalkuliert. Das is’ das A und O.“ Die Strategie der detaillierten Haushaltsplanung wird ergänzt durch alltägliche Routinen beim Einkaufen. So schreibt Frau Neun Einkaufszettel und achtet darauf, nur das zu kaufen, was wirklich auf dem Zettel steht. Doch auch die beste Kalkulation hilft nicht über plötzlich auftretende Lücken im Budget hinweg. Hier springt einerseits die Familie ein, insbesondere Frau 58 Neuns Eltern sowie der Vater ihres zweiten Kindes. Andererseits beantragt sie zusätzliche Hilfen bei Jugendamt und Jobcenter. „Wenn ich jetzt zum Beispiel Ausgaben für die Kinder habe, was zum Beispiel Schule oder sonst was habe, dann hole ich mir Hilfe beim Jugendamt. Da kann man ja Anträge stellen, was die Schule anbelangt, und dann wird das beantragt und das geht dann meistens in der Regel auch durch. Also, ich hab bis jetzt von seiten, was die Kinder anbelangt, Jugendamt, so-sonstige Hilfen hab ich überhaupt keine Probleme gehabt. Bis jetzt noch nich’. Natürlich is’ es mit ’m bisschen Wartezeit verbunden, aber das schafft man. Ne? So, und wenn das wirklich mal einen Monat knapp wird mit dem Finanziellen, dann hat man hab ich zum Beispiel die Möglichkeit, auch noch die Familie zu fragen: »Könntest du?« Ne? Aber das passiert sehr, sehr selten, also weil ich eine sehr wirklich hier ’ne gute Kal- Kalkulierung mache jeden Monat und das is’ mir wichtig.“ Der weitere Verlauf des Interviews bietet jedoch Anlass zum Zweifel an der hier betonten Seltenheit finanzieller Unterstützung durch die Herkunftsfamilie. Zum Abschluss der bis hierhin zusammengefassten Unterhaltung zu Einkommen und Konsum antwortet Stefanie Neun auf die Frage, ob sie sich als arm bezeichnen würde, folgendes: „Nein, nein, auf keinen Fall. Ich würde sagen, ich bin im mittleren Bereich, also im-m-m Mittelstand, kann man sagen. Arm? Als arm bezeichnen würde ich, wenn, wenn du, wie gesagt, dir deine drei Mahlzeiten am Tag nicht mehr gö- leisten kannst, das wäre für mich arm. Wenn du keinen Strom mehr beziehst, beziehen kannst, kein Wasser beziehen kannst, wenn du nicht mehr mit der Bahn am öffentlichen Leben vor allen Dingen auch teilnehmen kannst, das würde ich als arm bezeichnen, aber nicht das, was in der Situation, in der ich stecke. Ne? Und meine Kinder sind beziehungsweise ich und meine Kinder, wir versuchen, am sozialen Leben teilzunehmen. Wir versuchen, uns mit Freunden oft zu treffen und uns auch auszutauschen, denn auch im Freundeskreis gibt es auch Arbeitslose, die von Hartz IV abhängig sind und die haben auch zum Teil auch ganz andere Erfahrungen gemacht. Die sagen: »Hör zu, bei mir läuft es ’n bisschen anders«. Es gibt aber auch unterschiedliche Schichten. Es gibt Menschen in meiner, in meinem Umfeld, die haben Probleme mit Alkohol etc. und das kann man nicht mit mir vergleichen. […] Das ist, denke ich, ist auch eine Frage der der Erziehung, wie ist man erzogen worden. Ne? Und wenn man denn, wenn noch was dranhängt wie zum Beispiel in meinem Falle zwei Kinder, dann denkt man schon anders, als wenn man alleine lebt von Hartz IV, niemanden hat, sich abschottet und wirklich nur alleine in seinen vier Wänden hockt. Ich denke, das ist schon was anderes.“ Stefanie Neun benennt im oben stehenden Zitat einige Faktoren, die ihre Lebenssituation von einer Armutssituation unterscheiden. Neben materiellen Gesichtspunkten (Deckung der Grundbedürfnisse) führt sie vor allem soziale Aspekte an: So grenzt sie ihre eigene Situation von einer Armutssituation ab, indem sie diese als reich an Kontakten und Beziehungen zu anderen beschreibt und eine Abgrenzung nach unten vornimmt, um sich selbst in einem respektablen „mittleren Bereich“ verorten zu können: Alkoholabhängigen und Langzeitarbeitslo- 59 sen, die weniger gut mit der Lage umgehen können, ginge es schließlich noch schlechter. Außerdem – und das ist einerseits überraschend, andererseits charakteristisch für das gesamte Interview – begründet sie die Verneinung der Frage, ob sie arm sei, mit ihrer Mutterrolle. Die beiden Kinder helfen ihr dabei, anders zu denken als jene, die sie als arm bezeichnen würde. Sie sorgen dafür, dass sie sich nicht „abschottet“, sondern soziale Kontakte sucht. 4.2.3 Soziale Einbindung Eine zentrale Ressource Stefanie Neuns bei der Alltagsbewältigung ist die Fähigkeit, Unterstützung zu akquirieren, was ihr, verglichen mit anderen Interviewten, ausnehmend gut gelingt. Sie stellt aus eigenem Antrieb (aber in Absprache mit den Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter) Anträge auf zusätzliche finanzielle Unterstützung für sich und ihre Kinder bei Jugendamt und Jobcenter, die in der Regel genehmigt werden. Darüber hinaus erhält sie finanzielle Unterstützung durch ihre „Familie“, gemeint sind damit Mutter und Großmutter, und über die Unterhaltszahlungen hinausgehende, materielle Unterstützung durch den Vater der zweiten Tochter. Die Unterstützung durch die Familie stellt sie besonders in den Vordergrund: „Wenn ich jetzt aber sage: »Oh, diesen Monat ist es ’n bisschen knapp mit den Einnahmen, die ich jetzt noch habe«, dann sag ich auch mal zu meinen Kindern: »Wir können leider diesen Monat nicht ins Kino gehen«, ne? Aber es kommt eigentlich relativ selten vor, weil ich sehr viel Unterstützung durch die Familie auch bekomme. Also, da bin ich sehr, sehr glücklich drüber, muss ich ganz ehrlich sagen. Denn ohne Familie, in einem, wenn man selber Hartz IV bezieht (Räuspern), is’ das, glaube ich, schwierig. Die Familie sollte da auch zusammenhalten, wenn einer in der Familie Hartz IV bezieht und in- in Langzeitarbeitslosigkeit gerutscht ist.“ Diese mehrdimensionale Unterstützungsstruktur durch Familie, Ex-Partner und Ämter ist, verglichen mit anderen Interviews, ungewöhnlich. Auch in nicht-materieller Hinsicht lässt sich ähnliches beobachten: Frau Neun beschreibt Motivationseinbrüche, die sie mithilfe emotionaler Unterstützung vonseiten der Familie, von Freunden und sogar der Fallmanagerin im Jobcenter übersteht: „Es gab ’ne Zeit, wo ich mich auch hab’ hängen lassen, wo ich gesagt hab’: »Ich find ja eh nichts.« Aber das sind alles Kurzzeitgeschichten gewesen, die mich psychisch einfach runtergezogen haben. Wo man dann von seitens des Jobcenters, aber auch der Familie oder von Freunden wird da: »Mensch, komm, nu, kneif mal deine Arschbacken zusammen, du schaffst das«, und dann geht das. Man braucht auch mal ’n bisschen von anderen so ’n kleinen Stupser, wo man sagt: »Lass’ dich nicht so hängen! Das wird schon wieder«.“ Dabei ist anzumerken, dass sich die von Frau Neun in Anspruch genommene Unterstützung durch das Jobcenter im Zuge der Aufnahme in das Fallmanagement maßgeblich verbessert hat. Sie betont die hohe Bedeutung dessen, dass sich die Beraterinnen und Berater auch für das Lebensumfeld der Kundinnen und Kunden interessieren und Hilfen bereitstellen, die über die reine Jobvermittlung hinausgingen. 60 Die Aufnahme ins Fallmanagement geschah vermutlich infolge der Diagnose einer psychischen Erkrankung (Essstörung). Auch hier zeigt sich Stefanie Neuns Fähigkeit, Unterstützung in Anspruch zu nehmen. So bezieht sie sich auf gleich drei Positionen in ihrem sozialen Netzwerk, die ihr bei der Bewältigung der Krankheit geholfen haben. Dazu zählen ihre Kinder als wichtige Motivation, sich nicht fallen zu lassen, der Hausarzt als Vermittler von Therapieangeboten und das Jobcenter als Bereiter einer Perspektive in Form der dreijährigen geförderten Beschäftigung. Auch sonst spricht Frau Neun immer wieder über die herausragende Rolle ihrer Kinder für die alltägliche Lebensbewältigung. So interpretiert sie es als unterstützend, dass ihre Kinder Verständnis für die materiell eingeschränkte Situation der Familie aufbringen und keine überzogenen Forderungen stellen: „Und, wie gesagt, ich erziehe meine Kinder so, wenn ich sage: »Es geht nicht«, dann geht’s nich’ und »Das müsst ihr versteh’n«. Natürlich sind sie auch ma ein, zweimal bockig und sagen: »Oh, Mama, warum nicht?« - »Weil wir nich’ viel Geld haben.« Sie sind damit groß geworden, sie kennen nichts anderes. […] Und deswegen ist die Rücksicht auch so schön, dass sie das so gelernt haben.“ 4.2.4 Perspektiven Frau Neun ist im Grunde mit ihrer derzeitigen Lebenssituation zufrieden. Mit dem wenigen Geld, das ihr und ihren Kindern zur Verfügung steht, hat sie sich arrangiert. Es gelingt ihr mithilfe institutioneller, familiärer und freundschaftlicher Unterstützung, ihren Kindern das Nötigste zu bieten, auch wenn sie dafür persönliche Entbehrungen hinnehmen muss. Ihre derzeitige Tätigkeit beschreibt sie als das Beste, was ihr je widerfahren sei, sie bekommt Anerkennung, das Gefühl gebraucht zu werden und wird entsprechend ihrer Fähigkeiten gefordert, was sie als bereichernd beschreibt. Der kritische Punkt dieser Situation ist die fehlende Perspektive. Die Maßnahme wird bald auslaufen, was ihr bleibt, ist die Hoffnung auf Integration in den ersten Arbeitsmarkt. Sie weiß, dass die Arbeit, die dort für sie in Frage kommt, nicht annähernd so erfüllend sein wird wie die aktuelle Beschäftigung, und sie bewirbt sich bereits auf Jobs in der Reinigungsbranche, als Bürohilfe, als Küchenhilfe und als Putzkraft. Im Vergleich mit ihrer derzeitigen Tätigkeit fällt es schwer zu bewerten, ob sie sich im Rahmen ihrer Suche nach einer Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt aufwärts oder abwärts orientiert. Am ehesten ist ihre Strategie wohl als realistisch zu bezeichnen. Sie ist bereit trotz körperlicher Einschränkungen für ihre Zukunft zu kämpfen und sieht sich auf einem Weg: „Natürlich ist die Belastbarkeit noch nicht so gegeben, wie sie sein soll, aber ich persönlich hab’ mir ein Ziel gesetzt, wieder in Arbeit zu kommen. Es ist, ich bin jetzt in Arbeit, nicht in dem ersten Arbeitsmarkt, sondern auf dem zweiten Arbeitsmarkt, aber ich mache Fortschritte. Und das ist für mich das, was zählt.“ Trotz dieser zukunftsgewandten inneren Einstellung beschreibt sie eine Perspektive bei der sie die Fäden nicht allein in der Hand hält und kalkuliert die Möglichkeit des Scheiterns bereits in ihr Handeln mit ein. 61 „Haben Sie das Gefühl, dass Sie das beeinflussen können?“ „[…] Na, beeinflussen ist, denke ich mal, das falsche Wort. Wie würde ich das ausdrücken? Beeinflussen in dem Sinne, indem man sich einfach so gibt, wie man ist. Und man soll, also ich denke so, dass ich nicht meine Qualifizeten Quoder Qualifitäten, wie, wie, wie nennt man das? [I: „Qualifikationen.“] Ja, genau, demjenigen anpreist, sondern sich einfach so gibt, wie man is’ und wie man sagt, wie sagt man so schön: Jeder Mensch is’ nicht perfekt. Und das is, denke ich mal, das, was viele Arbeitgeber heute auch schätzen. Ich weiß, dass der erste Arbeitsmarkt sehr turbulent ist, sehr stressig is’, aber ich sage mir, ich probiere es, um einfach die Erfahrung für mich zu machen, klappt es oder muss ich doch irgendwie auf ’n andern Weg zum Beispiel in den zweiten Arbeitsmarkt oder noch mehr Maßnahmen oder so was gehen. Das ist das, dass jeder Mensch versuchen muss, selber auszutesten, ist das, was für mich, isses nichts für mich und nicht gleich zu sagen, ich steck’ jetzt den Kopf in den Sand, ich mach’ das nicht. Das is’ für mich k- keine Option.“ Scheitern würde bedeuten, keinen Arbeitsplatz zu finden, wieder ALG II beziehen zu müssen und an derselben Stelle zu stehen wie vor Aufnahme der Tätigkeit in der Kulturinstitution. Diese Lage würde sich wohl weniger materiell als in Bezug auf ihre gesellschaftliche Einbindung und ihre individuelle Perspektive von der jetzigen unterscheiden. Damit birgt sie jedoch die Gefahr in sich, dass die bis hierhin erarbeitete Stabilität und Selbstsicherheit verloren gehen und überwunden geglaubte psychische Probleme von neuem auftreten. Dieser Fall zeigt, wie dauerhafte Perspektivlosigkeit Armutssituationen bis hin zur Ausbildung von Krankheiten verschärfen kann. Umgekehrt zeigt das Beispiel Stefanie Neuns aber auch, dass die Auswirkungen von Armut unter Rückgriff auf längerfristig stabilisierend wirkende (institutionelle) soziale Strukturen erheblich abgemildert werden können. Armut erklärt sich weniger aus einer einzelnen Person heraus als aus ihrer Position innerhalb sozialer Zusammenhänge – wenn diese Positionierung mit sich bringt, dass Zugänge zu solchen stabilisierenden Strukturen systematisch versperrt sind, ist es auch unter großen individuellen Anstrengungen kaum möglich, Armut aus eigener Kraft zu überwinden. Fallbeispiele von Alleinerziehenden und anderen Familien mit Kindern in Armut sind auch deshalb von besonderer Bedeutung, da sich die Armutssituation nicht nur auf die Befragten selbst, sondern auch auf ihre Kinder bezieht. Nicht zuletzt durch die Aufnahme einer geförderten Beschäftigung gelang es Frau Neun, eine tiefe Lebenskrise infolge dauerhafter Armut und Perspektivlosigkeit zu überwinden und zu neuer Stabilität und Hoffnung zu finden. Statt sich selbst aufzugeben und vor lauter Verzweiflung das Essen nicht mehr anzurühren, kümmert sie sich um das Wohl ihrer Kinder, denen sie als arbeitende Mutter wieder in die Augen schauen kann. 4.3 Annemarie Kolkowski: Mit Anfang 50 entlassen Annemarie Kolkowski ist Mitte 50, ledig und kinderlos. Nach Abschluss ihrer Ausbildung zur Verkäuferin im Alter von etwa 20 Jahren begann sie in einem Rostocker Ladengeschäft zu arbeiten, in dem sie auch nach dessen Privatisierung im Zuge der Wiedervereinigung ange- 62 stellt blieb. Vor vier Jahren, als der Besitzer des Geschäfts in Rente ging und den Laden aufgab, wurde sie erstmalig in ihrem Leben arbeitslos. Seither ist es ihr nicht gelungen, wieder ein festes Beschäftigungsverhältnis aufzunehmen. Ihre Bemühungen darum (regelmäßige Stellensuche in Zeitungen, Bewerbungen, Maßnahmen, Praktika, …) scheitern ihrer Einschätzung zufolge an altersbedingten körperlichen Einschränkungen. Konkret benennt sie Diabetes, einhergehend mit Einschränkungen des Bewegungsapparates infolge der jahrzehntelangen stehenden Tätigkeit im Geschäft. 4.3.1 Aktuelle Lebenssituation Ihr Alltag ist zum Zeitpunkt des Interviews durch die Teilnahme an einer Maßnahme des Jobcenters strukturiert, in der sie täglich etwa 6 Stunden verbringt. Die Maßnahme dient laut Beschreibung des Trägers der Steigerung der Beschäftigungsfähigkeit von Langzeitarbeitslosen durch Gesundheitsberatung und -förderung, Informationsvermittlung über Arbeitsmarktrelevante Themen und Anregung zur Beteiligung an Aktivitäten im sozialen Nahraum. Nach sehr langem Überlegen beschreibt Frau Kolkowski ihren Tag in der Maßnahme wie folgt: „(... lange Pause) Gute Frage, zum Beispiel hatten wir so erdkundliche Fragen, ne, so wie zum Beispiel die Randstaaten, die angrenzenden Staaten von Deutschland. Das sind solche Fragen, du machst hier wenn du ... gar kein Kopp darüber, ja pff, ach naja, aber wenn du konkret gefragt wirst, ne, dann musste überlegen. Und denn hab’n wa heute, Mappen so ne, wie nennt man’s, wie fl- so ne Fliesen-, nicht Mosaik, so ’ne Fliesenbilder, machen wir. Dann haben wir uns heute Motive ausgesucht, einige haben ihre ... müssen Praktika sich was gesucht, also Praktikumsbetriebe. Wir älteren machen dies’s Mosaikbild, ja, dann hatt’ ich Feierabend.“ Die Angebote der Maßnahme nimmt sie sehr gewissenhaft wahr, auch wenn sie bei vielem eher aus persönlichem Interesse mitmacht, als dass damit die Hoffnung verbunden wäre, es könnte bei der Suche nach Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt hilfreich sein. Die geringe Hoffnung auf eine Vermittlung in Arbeit scheint auch im Rahmen der Maßnahme stillschweigend geteilt zu werden – warum sonst sollten die Älteren Mosaikbilder erstellen, während die Jüngeren nach Praktikumsbetrieben suchen. Dennoch ist die Maßnahme für Frau Kolkowski kein sinnloser Zeitvertreib. Für sie ist der Aufenthalt dort eine Ressource der Alltagsbewältigung, indem sie die zeitliche Strukturierung des Tagesablaufs durch eine arbeitsähnliche Tätigkeit mithilfe der Maßnahme aufrecht erhält. Dies wird im Gespräch durch die Verwendung von Metaphern aus der von Arbeitswelt („Feierabend“) deutlich. Auf die Frage, ob sie bereit wäre an weiteren Maßnahmen teilzunehmen, sagt sie: „Aber and’re Projekte, klar, nur von zuhause weg! Arbeit wär’ natürlich schöner, aber (Pause), naja. Ne aber so ’ne Projekte würd’ ich immer wieder annehmen, ja, doch.“ Grob zusammengefasst lässt sich sagen: Frau Kolkowski ist prinzipiell bereit zur Aufnahme einer Tätigkeit – da ein richtiger Job schwer zu erreichen ist, nimmt sie, was sie kriegen kann und versucht das Beste daraus zu machen. 63 4.3.2 Finanzielle Situation Frau Kolkowski sagt einerseits, Geld spiele nicht die zentrale Rolle in ihrem Leben, andererseits macht sie sehr detaillierte Angaben zu ihren Konsum- und Sparstrategien und benennt klare Prioritäten in Bezug auf Produkte, die sie sich leistet und auf die sie verzichtet. Auf die Frage, welche Rolle Geld für sie spielt, sagt sie: „Ja, welche Rolle? (Pause) Ich mein, ich brauch es, es ist da, ja. Aber, (atmet aus) ja, welche Rolle? Das ist für mich nicht das wichtigste. Ich hab’ zu essen, ich hab’ zu trinken. Ich brauch keine Super-Komfort-Wohnung. Ich hab’s warm, tja, is’ so. Luxus sind für mich, hmm, andere Sachen. Nicht Nahrungsmittel oder, das sind zum Beispiel Klamotten, Aussehen, Haare. Das ist für mich Luxus, für mich persönlich. Ob ich da ’n schicken Sideboard steh’n hab, naja, der bringt mir nichts, für mich. Klar, Geld könnte man immer mehr haben, aber, (Pause) aber ich meine, ohne möchte ich auch nicht sein. Bloß ich möcht, (Pause) tja, wie sagt man das, besonderes ... Geld ist für mich nicht wichtig, kann ich auch nicht sagen. Gehört dazu, (Pause) aber ist nicht mein Hauptgedanke.“ Diese längere, sehr stockende, mit vielen Pausen vorgetragene Erzählung über die Bedeutung des Geldes für ihr Leben, lässt nicht so sehr darauf schließen, dass Geld für sie „nicht wichtig“ ist, sondern eher, dass sie selbst sehr ungern über das (fehlende) Geld und den Luxus, den sie sich nicht leisten kann, nachdenkt. In der weiteren Erzählung wird auch deutlich, dass Geld, oder vielmehr der Umgang mit dieser knappen Ressource, für sie doch eine sehr wichtig ist. Sie hat auf jeden Fall eine klare Strategie, mit dem wenigen Geld, das sie zur Verfügung hat, über den Monat zu kommen und darüber hinaus noch einen Betrag für außerplanmäßige Ausgaben zu sparen. Diese Strategie beschreibt sie wie folgt: „Ja, ich habe (...) für vier Wochen 200 Euro zur Verfügung, für mich, ne. Und dann gibt es vier Umschläge, im jeden Umschlach sind 50 Euro drin.“ Sie gibt an, nach Abzug der laufenden Kosten, insgesamt 250 Euro pro Monat zur Verfügung zu haben. 50 Euro davon werden gespart: „Das hab ich mit in mei’m ... das sind die 200 Euro, ich hab ja immer auch Luft, wenn jetzt sag ich mal irgendwas kaputt gehen sollte, oder, (...) oder ich komm da nicht mit aus. Ich hab im Monat noch ’n 50er (..) übrig, der ist noch ... Aber eben, d-d-der wi-wird nicht ausgegeben.“ Um sich selbst eine Freude machen zu können, sammelt sie zudem Zwei-Euro-Stücke: „Ich hab zuhause ’ne Sparbüchse. Und da kommen, wenn ich sie übrig habe, Zwei-Euro-Stücke rein, und letztes Jahr hatte ich 150 Euro zu Weihnachten, wo ich was von kaufen konnte.“ Zum Einkaufen nimmt sie bewusst nicht mehr Geld mit, als sie planmäßig auszugeben bereit ist: „Wenn ich jetzt 50 Euro oder Geld im Portemonnaie habe, ich- weil ich mich kenne: »ach das muss noch mit, das noch«, ne, und wenn die 50 Euro alle sind, dann gibt’s eben nich’ mehr.“ 64 Diese und ähnliche Strategien werden auch von anderen Befragten benannt. Interviewte ohne vergleichbare Strategien haben häufiger das Problem, dass ihr Budget bereits mehrere Tage vor Monatsende aufgebraucht ist. Der Umgang mit Geld kann von den Befragten nicht zuletzt deshalb so detailliert berichtet werden, weil es sich um eine sehr bedeutsame Kompetenz unter der Bedingung von finanzieller Knappheit handelt. Wer nicht dazu in der Lage ist, sparsam und vorausplanend zu wirtschaften, gerät in Gefahr, die eigene Armutssituation selbst zu verschärfen. Ebenfalls bedeutsam sind zudem materielle Ressourcen, die über soziale Beziehungen akquiriert werden können. Nachdem Frau Kolkowski gefragt wurde, was denn passiere, wenn das Geld mal nicht über den Monat reiche, sagt sie: „Naja, ich hab’ ja noch ’ne Freundin in W., das Essen ist... wenn wir zusammen essen brauch’ ich ja nicht bezahlen, und dann kriegt man ’n Pfund Kaffee oder so von ihr. Das ist schon ... also für mich zum Leben eben diese 50 Euro, die müssen reichen, und das reicht auch.“ 4.3.3 Soziale Einbindung Annemarie Kolkowski beschreibt ihren Umgang mit der Arbeitslosigkeit gleich zu Beginn des Interviews: „Ja, und (...) tja mein Chef ging in Rente. Das war’s dann für uns.“ „Wie war das für Sie?“ „Schlimm. Das war schlimm, wenn du solange, im Job warst und schon so viele kennst, und so, dich neu zu orientieren, das ist so schwer. Und körperlich, die anderen hab’ das ja alle gewusst, die haben das akzeptiert. Ja da jetzt… War schon nicht einfach.“ „Wie hat ihr Umfeld reagiert? Freunde, Bekannte?“ „Gar nicht, normal, ganz normal.“ „Und wie sind Sie damit umgegangen?“ „Normal, ist nun mal nicht anders.“ „Und was heißt das, »normal«, was bedeutet das?“ „Ja, ich bin k-... Ja, sie stellen Fragen. (Pause) Normal eben (schmunzelt), ich mein, Hartz IV ist zwar nicht die Sahne, aber (Pause) ich geh’ von mir aus, für mich, ändert sich da nichts. Also, …“ Sie versucht, die mit der Arbeitslosigkeit verbundenen Folgen dadurch einzudämmen, dass sie weiter macht wie bisher und an ihren bisherigen alltäglichen Routinen festhält. Dass ihr Umfeld „gar nicht“ bzw. „normal“ auf die Arbeitslosigkeit reagiert – was sie auf Nachfrage als „nicht anders“, also als eine Art von Nicht-Reaktion bzw. Ignoranz, charakterisiert –, wirkt im Hinblick auf ihre Strategie der Beibehaltung zunächst einmal unterstützend. Sie möchte nicht anders wahrgenommen oder behandelt werden als vorher und ihr soziales Umfeld entspricht 65 diesem Wunsch. Wie im Folgenden dargestellt, ist diese Strategie der Beibehaltung allerdings nicht ohne einen gewissen Aufwand umzusetzen. Das soziale Netzwerk von Annemarie Kolkowski teilt sich in zwei Gruppen, die unterschiedliche Bezugspunkte bilden und nichts miteinander zu tun haben. Das Wechseln zwischen diesen beiden Gruppen ist für Frau Kolkowski mit Spannungen verbunden, die ihr Handeln erheblich beeinflussen. Auf der einen Seite stehen Kontakte zu den Angestellten und Teilnehmenden der bereits erwähnten Maßnahme des Jobcenters, auf der anderen Seite der alte Freundeskreis. Den Freundeskreis charakterisiert sie wie folgt: „Das ist wie Familie, das ist wie mein zweites Zuhause, also das ist ... ich bin nicht zu Besuch, ich bin, wie sacht man, tja, (Pause) wenn ich dahin fahre, fahr’ ich nach Hause oder so. Ja, das ist ... ich hab für das hier ... das ist kein Besuch, ist eben normal.“ Obwohl die Maßnahme sehr viel Raum im Interview einnimmt, beschreibt sie ein wesentlich distanzierteres Verhältnis zu den anderen Teilnehmenden, sie sieht sie: „Nur bei der Maßnahme, oder wenn wir uns mal treffen. Aber privat was, das möchte ich auch nicht. (...) Nö, nö. Und die möchten das auch nicht. Die haben ihr eigenes Leben und ich denke mal, die möchten auch nicht, dass man zu tief rein tritt, und das möchte ich auch nicht. Die sollen da ihr Leben leben. Ne. (Pause) Und wenn die mal Hilfe brauchen oder so, das können sie ja wenn wir da sind sagen, oder wenn sie was brauchen oder wie auch immer, das bringen wir dann so nächsten Tach mit oder […]. Aber private Kontakte gar nicht, nein.“ Die beiden Personenkreise stellen unterschiedliche Ressourcen der alltäglichen Lebensführung bereit und stellen verschiedene Anforderungen an Frau Kolkowski. Im Rahmen der Maßnahme erhält sie vor allem praktische Hilfe und Unterstützung im Umgang mit Behörden und sparsamer Lebensführung unter den Bedingungen des Grundsicherungsbezugs. Darüber hinaus werden Gefälligkeiten wie das Ausbessern einer Hose oder Haushaltstipps getauscht. Aus ihren Erzählungen wird deutlich, dass Frau Kolkowski hier die relevanten Informationen in Bezug auf den Umgang mit den besonderen Herausforderungen des Lebens in Arbeitslosigkeit erhält. „Und der eine, hat erzählt, ,meine Wohnung, das riecht zu doll nach Rauch!’ ich sach ,warte, ich fahr zu Rossmann, bring ich dir was mit.’ Ja, (Pause) aber nicht geschenkt, dass ist alles, hier, so halt. Oder zum Beispiel heute habe ich erfahren, dass man auch beim Arbeitsamt, beim Jobcenter, Renovierungsantrag ablegen kann, für die Wohnung, hab ich auch nicht gewusst. So und Sachen. Oder manche fragen nach: »sag mal, guck dir das mal an, soll ich das jetzt hier mit dem IBAN«, oder wie das da heißt, ne, wissen auch viele nicht. Wir haben ja auch ’ne Russin mit drin, oder Kaukasierin, und da. So unterstützen wir uns, so und mal fracht der Eine, dann weiß der wieder was, das is’ so.“ Im alten Freundeskreis hingegen, gibt es nur wenige Personen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Entsprechend versucht Frau Kolkowski ihre Situation dort nicht mehr als unbedingt nötig zum Thema zu machen. Niemand in ihrem Freundeskreis ist mit jemandem aus 66 der Maßnahme bekannt. Frau Kolkowski grenzt die beiden Kreise kategorisch voneinander ab. So beantwortet sie die Frage nach der Art ihrer Beziehung zu Personen aus dem Kontext der Maßnahme: „Da hab ich keine Beziehung zu, das sind Leute die mich entweder akzeptieren oder ablehnen, mit denen ich umgehe, aber nicht jetzt hier zum Freundeskreis oder so ... Nein.“ Ihre Äußerungen zu den Bekannten aus der Maßnahme sind ambivalent. Dennoch stellen beide Teile des Netzwerks wichtige Ressourcen in Bezug auf die Alltagsbewältigung dar, die nicht von der jeweils anderen ersetzt werden können. Die Beziehungen auf der einen Seite zeichnen sich aus durch praktische Hilfen und wechselseitige Unterstützung im Umgang mit der Arbeitslosigkeit, während sich die Kontakte zum alten Freundeskreis gerade dadurch auszeichnen, dass die Arbeitslosigkeit hier keine Rolle spielt und sie als gleichwertiges voll akzeptiertes Mitglied des Kreises behandelt wird. Annemarie Kolkowski möchte das auf jeden Fall so wahrhaben und kämpft darum, dass es so bleibt. Die Beibehaltung ihrer Rolle im alten (statushöheren) Freundeskreis ist nicht umsonst zu haben, sondern nur auf Basis regelmäßiger Investitionen, die vom Munde abgespart werden: „Na ich hab Wünsche: Mode, Schuhe, was vernünftiges auch, ich möchte nicht, ähh, rumlaufen, man muss ja nicht sehen, dass man Hartz IV bekommt, oder denken. Manche geben ja kein Geld dafür aus. Ich brauche auch Geld für Drogerien, wenn ich zum Beispiel jetzt möchte ich mir ein gutes Parfum kaufen, dann spare ich eben darauf und das kaufe ich mir dann auch. Und da freut man sich auch drauf, weil, ich mein’ und, was viele auch nicht verstehen, aber das is- Ich red’ ja auch nur von mir, die kaufen sich Billigkram der da. Ich mein, ok, das ist zwar nicht viel Geld das man hat, aber ich hab ja auch nie viel verdient, als Verkäuferin wars ja auch nicht viel. Und wo man sparen kann ist Essen und Trinken.“ Die Nutzung sozialer Beziehungen zur Bewältigung von Armut und Arbeitslosigkeit basiert auf individuellen Kompetenzen der Integration in soziale Zusammenhänge, die aber auch zusätzliche Belastungen mit sich bringen können. Soziale Netzwerke können hilfreich sein im Umgang mit spezifischen Herausforderungen der Arbeitslosigkeit sowie bei der Bewahrung von Selbstwert und Würde. Andererseits stellt die Organisation und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen unter der Bedingung von Armut eine besondere Herausforderung dar, die die Betroffenen zu bewältigen haben. Soziale Unterstützung ist – so gesehen – nicht frei verfügbar, sobald man jemanden kennt, sondern muss durch die Pflege von Kontakten und die Anpassung an die unausgesprochenen Regeln sozialer Kreise erarbeitet werden. Ein Problem, welches viele unserer Befragten haben, ist die nur vorübergehende Integration in tagesstrukturierende und sinnstiftende Abläufe. Die für die Alltagsbewältigung bedeutsame Teilnahme an der Maßnahme des Jobcenters, ist Frau Kolkowski nur für einen eingeschränkten Zeitraum sicher, auch wenn sie sich darum bemüht, wieder dorthin vermittelt zu werden. Institutionelle Akteure, die an der Bekämpfung der Armut interessiert sind, sollten an diesem Punkt ansetzen und über die Schaffung dauerhafter Perspektiven für Menschen nachdenken, die mittelfristig keine realistische Aussicht auf eine bedürfnissichernde Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt haben. 67 4.3.4 Perspektiven Frau Kolkowski benennt keine realistisch erscheinende Perspektive, die eine grundlegende Veränderung ihrer Situation mit sich bringen würde; auch nicht die Hoffnung, noch einmal in Arbeit zu kommen. „Wie sehen Sie so Ihre nähere Zukunft?“ „Immer positiv! Immer! Nein, wenn ich jetzt hier heulen würde, und rumjammern, und zuhause sitzen würde, und erzählen würde, wie schlecht es mir geht und wie schlecht alle Menschen sind, nein, das möcht ich nicht.“ „Aber haben Sie irgendwelche Pläne?“ „Nö. Wenn ich meine (...) ausgezahlt bekomme, dann möcht ich auswandern.“ „Wenn Sie was ausgezahlt bekommen?“ „Na meine Altersvorsorge. Dann möcht ich auswandern, weit weg hier.“ „Wohin?“ „Panama!“ „Panama?!“ „Das is’ mein Traum. (Pause) Aber solange es eben nicht so is’. Ich find’s hier aber auch nicht so schön, Menschen die jammern nur, und Gott dieses Gejaule immer, und »ich hab kein Geld mehr« und »auch so viel Monat«, ich sach »na dann teils doch besser ein.« Geht auch alles. Mein Gott es gibt auch Monate wo man auch nichts hat, und nicht, vielleicht kenn- kennen Sie bestimmt auch, wo man ... aber irgendwie geht’s immer. Ich weiß es nicht, immer- irgendwie geht’s immer.“ Frau Kolkowski hat tatsächlich eine private Altersvorsorge, in die sie monatlich 30 Euro investiert. Ihre Strategie im Umgang mit der Armut ist eine Art fatalistische Tapferkeit: Sie bemüht sich, das Beste aus der gegebenen Situation zu machen und damit unvereinbare Ansprüche hinter sich zu lassen. Es geht nicht mehr um Aufstieg, sondern um den alltäglichen Kampf um die Beibehaltung von Normalität und Würde, der mit zunehmendem Alter sicherlich nicht einfacher wird. „Also für mich, bin ich nicht arm. Mir geht’s gut, naja gut in Anführungsstrichen. Aber da der Mensch ja ein Tier ist, der nach höherem strebt, ne, der kann ja nicht genuch bekommen, er ist ja auch nicht mit wenig zufrieden, immer schön. Und das ... Mehr als essen und trinken kann ich nich’, ok, dass ich mir vernünftige Sachen kaufen möchte, aber ich möcht reich- möcht’ ich, muss ich nicht haben. Muss ich nicht sein.“ 68 5 Gesichter der Armut auf dem Land 5.1 Start ins Erwerbsleben - Jung und arbeitslos In diesem Abschnitt schildern wir drei Geschichten junger Erwachsener. Corinna versucht, alles richtig zu machen, kommt aber auf keinen grünen Zweig. Der 25 Jahre alte Maurer Peter wehrt sich nicht und glaubt, die kommenden 40 Jahre würde er mit Hartz IV verbringen und dann gleich in die Altersrente wechseln. Für den Punker Tobi ist die eigensinnige kulturelle Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft identitätsstiftend. 5.1.1 Corinna Sander: „Man hat immer alles für die Arbeit gemacht und im Endeffekt ist nichts rausgekommen.“ Corinna Sander hatte ein gutes Abschlusszeugnis, aber mit 26 Jahren hat sie immer noch keine gute, gut bezahlte und halbwegs sichere Arbeit. Im Gegenteil. Was sie in ein paar Beschäftigungsmonaten spart, geht wieder drauf, um Zeiten der Arbeitslosigkeit zu überbrücken, um die Arbeitssuche zu finanzieren und die Umzüge, die Auflösung nicht mehr benötigter und die Suche nach neuen kostengünstigen Wohnungen. Eine stabile Lebensperspektive kann sie dabei nicht aufbauen. Am Beginn ihrer Erwerbskarriere hatte sie Pech. Zur Ausbildung als Bankkauffrau in Hamburg hat sie ihre Mecklenburgische Kleinstadt Blauersee verlassen. Dann erkrankte sie an Krebs. Behandlung und Rehabilitation kosteten Zeit, auch wenn sie jetzt wohl wieder gesund und arbeitsfähig ist. Sie musste die Ausbildung abbrechen und eine neue Ausbildung in der Nähe ihrer Heimatstadt beginnen – als Fachangestellte für Medien-Informationsdienste, einem modernen und, wie sie meinte, gefragten, zukunftsträchtigen Beruf. Die Ausbildung beendete sie erfolgreich, wurde zwar von dem Ausbildungsbetrieb, einer staatlichen Behörde, nicht übernommen, fand dann aber nach zwei Monaten eine auf ein Jahr befristete Anstellung im Archiv bei einer staatlichen Behörde in der Landeshauptstadt. Die Stelle wurde aber nicht verlängert oder entfristet und sie kehrte nach dem Jahr wieder nach Blauersee zurück. Dann war sie acht Monate arbeitslos. „Hab zehntausend Bewerbungen geschrieben, also wirklich viel. Ähm. Hab mich sogar teilweise bis nach Bielefeld runter beworben in einer Bibliothek. Wäre auch alles Nachtschicht gewesen, aber … hat dann auch nicht geklappt, so dass ich dann in Blauersee bei einem Kleinunternehmen angefangen hab, … Buchhaltung, Büro, Sekretariat.“ „Hab mir dabei halt auch noch Buchhaltung angenommen, so zusätzlich gelernt. Das Ganze ging dann auch ein halbes Jahr. Dann hab ich mir was anderes gesucht, bin nach Roßtau gegangen in einen Pflegedienst. … [Das] war auch alles gut und schön. Und denn musste ich noch mal auf eine Reha und hab dann während der Reha die Entlassungspapiere bekommen. Und, naja, dadurch war ich das ganze letzte Jahr denn wieder zu Hause. … Und im Januar bin ich jetzt nach Rumbum und hab letzte Woche meine Kündigung bekommen. Obwohl ich nen unbefristeten Arbeitsvertrag habe.“ 69 Ihre Arbeitsstelle, eine öffentliche Bibliothek, nutzte die Gelegenheit, kurz vor Ablauf der Probezeit ohne Angabe von Gründen zu kündigen. Man munkelt, die Bibliothek solle geschlossen oder privatisiert werden und da entledigt man sich vom Ballast der Angestellten. Damit geht die Suche nach einem Arbeitsplatz wieder von vorn los. Ihren gerade abgeschlossenen Bausparvertrag musste sie auflösen, bekam knapp 1.000 Euro, die sie zur Überbrückung der Arbeitslosigkeit brauchte. „Was mich jetzt halt die ganzen Jahre immer so belastet hat war: wenn man Arbeit hatte, man hatte zwar ein monatliches Einkommen und alles, aber es wurde immer für irgendwas genutzt, um irgendwelche Schulden …, die … während der Arbeitslosigkeit oder während der Krankheit … entstanden sind, abzubauen. Oder sich doch mal ein kleines Polster anzueignen. Und kaum war dieses Polster da, ist man wieder arbeitslos geworden und musste das schon wieder verbrauchen. Und ich sag auch ganz ehrlich, hätte ich meine Eltern … nicht … gehabt, hätte ich das auch mit Rumbum nicht bewerkstelligen können, finanziell.“ Jede Arbeitsstelle war mit zusätzlichen Kosten verbunden: Autofahrten, Umzügen, Zweitwohnungen, und das alles immer nur für ein paar Monate. Corinnas Freund wohnt in Neuschönhausen, einer Mittelstadt, er arbeitet in einem Subunternehmen für die Telekom. Auch er hat eine eigene Wohnung. Beide zusammen müssen drei Wohnungen unterhalten, wobei eine davon im Haus von Corinnas Eltern keine Miete kostet. Zusammen haben sie noch einen Wohnwagen auf einem Campingplatz für die Wochenenden. Allerdings können sie den finanziell nicht mehr halten und werden ihn für das kommende Jahr kündigen müssen. Für das aufwendige Pendeln zwischen Wohnort, Arbeitsort und Wohnort ihres Partners reichen die gut 1.000 Euro, die jeder der beiden netto zur Verfügung hat, gerade so aus. Rücklagen oder Luxus sind nicht drin. Und sobald die nächste Arbeitslosigkeit droht, ist der gerade mal erreichte Lebensstandard wieder gefährdet. An die Gründung einer Familie oder Kinder ist unter diesen Voraussetzungen nicht zu denken, zumal der Freund auch noch 300 Euro Unterhalt für eine Tochter aus einer geschiedenen Ehe zahlen muss. „Das, was ich jetzt immer so verdient habe, das war in Zweiseenstadt so, das war jetzt in Rumbum so, in Roßtau sowieso, das ist alles immer nur ins Benzingeld gegangen. Nie, dass man sagen konnte, ok, wir sparen jetzt mal auf n Urlaub oder die Autoreparatur. Es musste irgendwie immer alles sich vom Hunger abgespart und abgekaut werden und … Finde ich, ist ganz, ganz schwierig, grad als junger Mensch, irgendwo Fuß zu fassen und … Auch wenn man denkt, man hat eine gute und solide Ausbildung auch im öffentlichen Dienst oder so. Ist alles nicht mehr, weil die entweder nur Teilzeit sind oder nur befristet sind, die ganzen Verträge, ‘ne.“ Ganz anders als der Punker Tobi, dessen Identität gerade in der symbolisch aufgeladenen kulturellen Differenz zu der aus seiner Sicht etablierten Gesellschaft und deren Orientierungen besteht und der gerade nicht das macht, was man von ihm verlangt, hat Corinna versucht, immer alles „richtig“ zu machen: Eine gute Ausbildung, sich dabei nicht nur an ihren Interessen und Fähigkeiten, sondern auch an der Nachfrage und den Arbeitsmarktchancen orientierend. Sie begann eine Lehre als Bankkauffrau und als diese wegen der Krebsbehandlung nicht 70 abgeschlossen werden konnte, hat sie sich einen anderen modernen Beruf gesucht, Medieninformationsdienste, der vor allem im öffentlichen Dienst, aber auch in der Privatwirtschaft gute Beschäftigungschancen bieten sollte. Sie hatte gute Noten und schloss die Ausbildung erfolgreich ab und man kann davon ausgehen, dass sie auch ihre beruflichen Aufgaben gewissenhaft erfüllte. Dass sie längere Zeit krank war, hat ihr aber zweifellos in der Berufskarriere geschadet. Sie versteckte sich aber nicht hinter der Krankheit, orientierte sich nicht auf ein Leben von Sozialtransfers, war stets bereit, sich den Anforderungen des Arbeitsmarktes zu stellen, zog von Blauersee nach Hamburg, zurück nach Blauersee, dann nach Zweiseenstadt, pendelte nach Roßtau, zog um nach Rumbum, jeweils für Monate, aber immer in der Hoffnung auf den Beginn einer dauerhaften, zumindest langfristigen beruflichen Bindung. Auch ihre anderen Lebensorientierungen – Wohnungsgestaltung, Kleidung, Einkaufsverhalten, Mobilität, Freizeitgestaltung, Sport – teilt sie weitgehend mit vielen erfolgsorientierten jungen Leuten – und sie entsprechen im Kern weitgehend denen der Eltern, wenn auch in modernisierter Gestalt (z. B. in Bezug auf Sportarten und Mediennutzung). Umso ungehaltener ist sie über das mangelnde Verständnis, dass die Eltern ihrer Lebenssituation entgegenbringen. „Also von meinen Eltern braucht man da nicht so viel Verständnis erwarten. Es kommt aber auch daher, weil die ihr ganzes Leben immer an demselben Platz gearbeitet haben und das halt nicht kennen, wie diese Welt jetzt so nach der Wende funktioniert und alles. … „Was hast du falsch gemacht?“ … Manchmal muss man ja gar nichts als Person falsch machen. Sondern das sind halt einfach nur diese Umstände, die einem dann nicht passen. Und wer … gerade nicht am Arbeitsplatz ist, der wird dann halt gekündigt.“ Für die Eltern ist Arbeitslosigkeit ein persönlicher Makel, den man vor den Nachbarn besser verstecken sollte. Ihnen ist die nicht sehr erfolgreiche berufliche Laufbahn ihrer Tochter peinlich, was Corinna kränkt. In der eigenen Alterskohorte und dem für sie sehr wichtigen Freundeskreis findet sie aber mehr Verständnis: „Ja, die haben meistens ähnliche Erfahrungen, dass jeder mal nach der Ausbildung oder nach einem befristeten Arbeitsvertrag länger arbeitslos war. Die kennen das natürlich alles.“ Wenn es finanziell möglich gewesen wäre, hätte sie das Elternhaus schon früher verlassen. Nun erneut arbeitslos geworden wird sie die nicht mehr benötigte Wohnung in Rumbum aufgeben, will aber nicht zurück nach Blauersee, nicht zu den Eltern, sondern zu ihrem Freund, auch wenn dessen Wohnung für zwei Personen etwas zu klein ist. Sie hofft, in Neuschönhausen eine gute, gut bezahlte und dauerhafte Arbeit zu finden und sich dort mit ihrem Freund gemeinsam eine größere Wohnung leisten zu können. Corinnas Orientierungen sind nicht ungewöhnlich: Den Lebensunterhalt durch eigene Arbeit verdienen, gut arbeiten, etwas leisten, eine schöne Wohnung einrichten, sparsam und bescheiden, aber nicht ärmlich einkaufen und leben, Rücklagen bilden und etwas Geld für Freizeit und Urlaub ausgeben können. Luxus ist für sie, ein Auto halten zu können und nicht im mie- 71 figen Bus fahren zu müssen, mit dem sie zudem auch kaum die berufliche erforderliche Mobilität sicherstellen könnte. Aber es fehlen die Ressourcen, um ein diesen Orientierungen entsprechendes selbstbestimmtes, selbstgestaltetes Leben aufzubauen. Sie ist ein Opfer der diesen Orientierungen entgegenstehenden (dominanten) Strategie der Arbeitgeber, die öffentlichen eingeschlossen: Kostensenkungen zu Lasten der Beschäftigten, Personalabbau, Billiglohn, Befristung, Teilzeitverträge, nicht vergütete Überstunden usw. Corinnas Vorstellungen von „Erfolg“, in denen anders als für Tobi der berufliche und finanzielle Erfolg eine zentrale Stellung haben, lassen sich unter den gesellschaftlichen Bedingungen einer peripheren Region – Ostdeutschland, Mecklenburg-Vorpommern, ländlicher Raum – nicht bzw. nur für einen kleinen Teil der jungen Erwachsenen verwirklichen. Allerdings wird der Bedarf an Arbeitskräften steigen, weil sehr viel mehr Menschen altersbedingt in den Ruhestand gehen, als gleichzeitig junge in den Arbeitsmarkt eintreten. Es könnte also sein, dass in den nächsten Jahren die Chancen, eine stabile Beschäftigung zu finden, besser werden und auch das Lohnniveau deutlich angehoben werden muss. Vielleicht also kann Corinna ihre Lebensorientierung mit etwas Verspätung doch noch verwirklichen. 5.1.2 Peter Schneider: Ne, ändern tut sich nischt mehr. Peter Schneider ist 26 Jahre alt und hatte bislang nur einmal für ein paar Monate eine Anstellung im Trockenbau. Er wirkt zurückhaltend, eher still, etwas in sich gekehrt, aber nicht unfreundlich. Gefragt nach seiner Zukunft, antwortet er: „Ne, ändern tut sich nischt mehr.“ [Gruppe: 4] Was aber soll das bedeuten? Noch 40 Jahre Hartz IV und dann in Rente? Nach der Realschule absolvierte Peter ein Berufsvorbereitungsjahr und arbeitete dann ein paar Monate auf einer Baustelle. Dann konnte die Firma nicht mehr zahlen. „Und seitdem mich durchgeschlagen mit Euro-Jobs denn nachher. Und haben Sie Arbeitslosengeld 1 bekommen? Peter: Nein. Ick war ja kein Jahr gewesen, ne. Waren nur ein paar Monate.“ Aber wie sind die Aussichten? „Beschissen, ja. Schlecht.“ Warum geht er nicht weg? „Also wenn ick alleine wäre, würde ich det machen, aber mit Familie, schlecht. Meine Tochter ist drei …“ Zudem funktioniert Abwandern oft nicht: „Die meisten kommen alle wieder. Meine Kumpels, die alle weggegangen sind da, die sind alle wieder hier. Nach Dänemark ist ein Kumpel von mir, aber der … hat … wees ich nicht, irgendwie hats nachher nicht geklappt, wees ich nicht. Kein Geld gekriegt oder wat wees ick.“ 72 Die Chefin des Ein-Euro-Job-Trägers hält ihn für einen guten Arbeiter, er kommt regelmäßig und macht seine Arbeit. Er ist nicht aufmüpfig, nicht vorlaut, macht keinen Ärger. Seit fünf Jahren lebt mit seiner Partnerin zusammen, sie haben eine dreijährige Tochter. Aus einer früheren Beziehung hat er noch einen neunjährigen Sohn, der bei der Mutter lebt und zu dem er keine näheren Kontakte pflegt. Unterhalt kann er ja sowieso keinen zahlen. Zusammen erhalten er und seine Partnerin Hartz IV plus Wohnungskosten. Die Miete wird allerdings um 25 Euro gekürzt, obwohl die Wohnung das Limit für drei Personen nicht übersteigt. Die Familie war in eine bessere, nur wenig teurere Dreiraumwohnung im DDRPlattenbau umgezogen, weil die Fenster in der alten Wohnung undicht waren. Da die Agentur den Antrag auf Umzug abgelehnt hatte, man aber trotzdem und ohne Genehmigung umzog, wurden keine Umzugskosten gezahlt und die Wohnungskosten werden nur in Höhe der vorigen Wohnung übernommen. „Weil wir vorher ne andere Wohnung hatten, müssen wir 25 Euro von unseren noch zuzahlen.“ Rechtlichen Beistand haben Peter und seine Partnerin nicht gesucht. Mit dem Geld kommen sie nur schlecht über die Runden. Extras fürs Kind sind nur mit zusätzlichen Mitteln möglich. „Zwischendurch hab ich immer noch ein bisschen Schwarzarbeit. … Kommste nicht drumrum. … Klamotten und sowat, Schuhe und so wat, kannste doch gar nicht mehr kaufen, wovon willste dat machen? … [In den Kleiderdienst] … fürn Jugendlichen, da brauchste nich ringehen.“ Obwohl erst 26 Jahre, kann Peter sich eine andere, gar eine bessere Zukunft nicht vorstellen. Zum Nachdenken über eigene Aktivitäten oder auch Erschütterungen, seien es gute oder schlechte, die sein Leben ändern könnten, fehlen der Anstoß, die Ressourcen und wohl auch die Motivation. In sich gekehrt erträgt er das Leben ohne Perspektive. Vielleicht doch nicht endlos. 5.1.3 Tobias Krull: „Dagegen spricht jede Erfahrung“ Tobias Krull 5 ist ein Jugendlicher, nein, ein junger Mann, 27 Jahre, der als Punker tätowiert, gefärbt und gepierct mit zwei Hunden durch die Kleinstädte und Dörfer in Vorpommern pendelt, in der Regel mit Freunden am Imbiss vor dem Supermarkt abhängt oder an einer Tankstelle, zuweilen bei seiner Mutter wohnt oder tageweise bei Freunden oder in deren unbenutzten Ferienwohnungen übernachtet, aber nicht im Freien. Den Führerschein hat man ihm weggenommen, er fuhr bekifft. Tobi ist freundlich, hilfsbereit, erzählt gern und viel, lacht herzerfrischend und ist fast immer gut gelaunt. Zuweilen nimmt er mal hier und da schwarz einen Job für ein paar Stunden oder Tage an, pflanzt beispielsweise im zeitigen Frühjahr Bäume für die Forst – Schwarzarbeit bei einem 5 Die Geschichte von Tobias Krull entstand nicht durch ein förmliches Interview, sondern durch teilnehmende Beobachtung. In drei informellen Gesprächen erzählte Tobias Krull (Name geändert) im Dezember 2013 seine Erlebnisse. Leider gelang es nachträglich nicht mehr, Tobias für eine Interviewaufzeichnung zu gewinnen. Auf wörtliche Zitate muss daher verzichtet werden. Auf der Basis dieser Gespräche entstand die Fallgeschichte, die mit anonymisierten Daten und Namen auf einem Workshop 2014 vorgestellt und für 2016 zur Veröffentlichung in der Zeitschrift Berliner Debatte Initial eingereicht ist. Die hier zugrunde gelegte Fassung datiert vom 14.09.2014. 73 privaten Lohnunternehmen. Immerhin bezieht er Hartz IV, d. h. er war und ist in der Lage, die bürokratischen Hürden der Antragstellung zu bewältigen und sich in dem gebotenen Maße zu den amtlich anberaumten Terminen und ggf. Maßnahmen einzufinden. Er ist schwul. Erstaunlich: seine große, aber nicht festgefügte Clique, die vielen Bekannten und Freunde in einem Umkreis von etwa 50 km, den er mit den Hunden, aber in der Regel nicht zu Fuß und auch nicht per Anhalter durchstreift, sondern durch Mitfahren bei Freunden oder auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln, sie wissen, dass er schwul ist, akzeptieren es und können damit anscheinend ganz gut umgehen. Seine Mutter ebenso: Bekanntschaften kann er über Nacht mit nach Hause bringen. Ein Vater spielt wohl schon längere Zeit keine Rolle mehr. Obwohl dieses Leben zu funktionieren scheint, würde ich nicht davon reden, dass dies eine stabile Lebenskonstruktion ist (wenn unter stabil verstanden wird, dass die für die Reproduktion einer Lebenslage erforderlichen Ressourcen durch die eigene Lebensführung dauerhaft sichergestellt werden können – nicht die Erwirtschaftung, aber die stabile Akquise von Transfereinkommen durch behördenkonformes Verhalten eingeschlossen). Denn erstens würde diese Lebensführung nicht funktionieren, wenn die Mutter nicht ab und zu mit ihrer Rente oder dem wenigen Ersparten einspringt, wenn etwas schief läuft. Reserven hat Tobi nicht. Er lebt von der Hand in den Mund. Und zweitens macht er ab und zu mal Kasse, wenn er in Berlin leichte Drogen (meist Haschisch, kein Heroin) einkauft und zu Hause an den lokalen Dealer-Ring weiterverkauft. Er ist eine Art Kurier, wenn auch unregelmäßig. Dazu gekommen ist er, weil er ab und zu selbst Gras raucht und beim Einkauf angeworben wurde. Unlängst wäre er dabei fast unter die Räder gekommen – er hatte sich verkalkuliert und konnte die für das Geschäft in finsteren Kreisen geborgten 5.000 Euro durch seine Einnahmen nicht wieder reinbekommen. Da hatte er Todesangst, denn die organisierten kriminellen Banden kennen kein Pardon, wenn ein vereinbarter Deal nicht klappt. Zum Glück konnte Mutter mit dem Geld einspringen, was ihm sehr unangenehm war, denn er liebt seine Mutter und vermeidet eigentlich, sie auszunutzen. „Sie hat ja selbst nichts und ist krank.“ Klar ist, dass dies alles nicht lange gut gehen wird – entweder wird er irgendwann ganz von der Mafia rekrutiert. Oder er gerät in größere Probleme: Drogensucht, Alkohol, Aids, Krankheit. Vielleicht geht er dabei drauf. Aber Tobi hat auch einen Traum, und es ist durchaus möglich, dass er ihn verwirklicht – vielleicht ist er schon dabei: Ab nach Berlin. Mit ein paar Freunden zusammen eine WG gründen und dort irgendwie ein neues Leben anfangen. Und dann einen kleinen Stand aufmachen, mit dem man durch die Punk-Festivals und Open Air-Partys zieht, Kunst (eher Kitsch) und teilweise selbst gebastelten Schnickschnack, Armbänder und Szene-Klamotten zum Beispiel, (vielleicht auch leichte Drogen) vertickt. Was aber hält ihn noch davon ab? Berlin ist nahe und er ist ja oft dort. Es fehlt die Einbindung in eine, in seine Supermarkt-und-Tankstellen-Abhänger-Clique. Ohne diese oder ohne eine vergleichbare soziale Bindung traut er sich nicht, ohne die kann er nicht existieren. Anerkennung, gegenseitige Hilfe, Kommunikation, auch gegenseitiges Ausnutzen – aber nicht allein sein. Fast hätte er zwei Kumpel gefunden, mit denen er die WG in Berlin gründen und den Festival-Stand aufmachen wollte. Leider gab es Krach – unter anderem wegen der verbeutel74 ten 5.000 Euro. Die Freundschaft zerbrach unter Tränen und mit einer abschließenden Prügelei. Die positive Bindung an eine vergleichsweise große Community, zu der arbeitende und arbeitslose junge Leute beiderlei Geschlechts und offensichtlich verschiedener sexueller Orientierung gehören, ist die eine Achse dieser Lebenskonstruktion. Dabei gibt es auch eine klare Abgrenzung: alle Punk-feindlichen Gruppen werden auf Distanz gehalten, mit der rechten Szene hat man nichts zu tun, bestimmte Kontakte werden vermieden. Und auch dabei hilft sich die Clique, notfalls mit Fäusten und Stöcken. Die andere Achse ist die kulturelle Differenz zur sozialen Umwelt, die negativ und wenig differenziert als „Mehrheitsgesellschaft“ wahrgenommen wird, die solche wie ihn ablehnt, ausgrenzt, zumindest nicht verstehen und akzeptieren will. Diese kulturelle Differenz prägt ihn und hält die Clique zusammen. Tobi wurde hineingeboren in eine Konstellation, in der es faktisch keine Chance gab, die eigene Sozialisation am Vorbild der Elterngeneration zu bewältigen. Ein regulärer Einstieg ins Erwerbsleben über betriebliche Ausbildung und einen normalen Arbeitsplatz waren damals nicht möglich. Vor Augen hatte er die Elterngeneration, die man nur ausnahmsweise bei normaler Erwerbsarbeit beobachten konnte, auch wenn seine Mutter früher einmal viel und hart gearbeitet hat. Die Ehe der Eltern zerbrach in Arbeitslosigkeit und Unsicherheit der Vereinigungskrise. Hineingeboren wurde er in eine Lebenswelt, in der die Abhängigkeit von bürokratischen Verfahren des Transferbezugs normal war und das Betrügen der Ämter überlebenswichtig. Man nimmt, was man kriegen kann. Dass die Nutzung der Transfereinkommen als Brücke oder Sprungbrett in den ersten Arbeitsmarkt gedacht war, das kommt in seiner Gedankenwelt nicht vor – es gehört in die verlogene Welt jenseits der eigenen Identität. „Niemand kann das ernsthaft glauben, da es jeder Erfahrung widerspricht.“ Ja, Tobi spricht in ganzen Sätzen, bildet korrekte Nebensätze und spricht oft ganz gutes Deutsch. Er lernte, dass es für die eigene Seele besser ist zu sehen, dass der Kaiser nackt ist, und sich an Leute zu halten, die ihm das nicht auszureden versuchten. So wurde die Distanz, mehr noch, die symbolisch aufgeladene Abgrenzung von der vorgefundenen Gesellschaft (Piercing, Tattoos, öffentliches Abhängen) essenzieller Bestandteil seiner Lebenskonstruktion – wie bei seinen Freunden auch. Und die Perspektive? Doch, die gibt es: eine Stabilisierung des Lebens in der kulturellen Differenz. Ob Tobi sich nach einem festen Partner sehnt, nach Liebe? Das konnte ich nicht herausfinden. Ich hatte den Eindruck, diese Frage hat er nicht verstanden – oder sie war ihm peinlich. Über schwulen Sex konnte man reden, auch über schief gelaufene Affären, über „bürgerliche“ Liebe nicht. Allerdings war der Wunsch nach Geborgenheit und Sicherheit in den letzten Monaten wichtiger geworden, insbesondere nach der lebensgefährlich gescheiterten 5.000 Euro-Aktion. Eigentlich gehört er zu einer Alterskohorte, die wegen des zunehmenden Facharbeitermangels jede Chance hätte, wenn auch etwas verspätet, ein gesichertes Erwerbsleben aufzubauen. Zu dumm ist er nicht. Aber es ist zu spät. Die kulturelle Sozialisation der vergangenen 15 Jahre verbaut diesen Weg, erschwert ihn zumindest sehr. Das Schicksal der unter die Räder gekommenen und in weiten Teilen gescheiterten Elterngeneration ergreift noch die folgenden 75 Geschlechter, die Kinder, vielleicht noch die Enkel, obwohl die Umstände objektiv schon wieder andere geworden sind. Tobi lebt sehr riskant. Der Weg in eine „etablierte“ soziale Gruppe, in die „Mehrheitsgesellschaft“, ist kulturell bis auf Weiteres verschlossen, aber er hat Träume, Wünsche und vielleicht auch echte Chancen, ein sinnvolles und vielleicht auch erfülltes Leben zu finden. Dabei wird er möglicherweise versuchen, die für seine Lebenskonstruktion wichtige kulturelle Differenz und Eigensinnigkeit zu erhalten. Ob dies in der bestehenden Gesellschaft gelingen kann? Möglich ist es, wahrscheinlich ist es nicht. Doch vielleicht passt er sich irgendwann einfach an und verabschiedet sich vom Eigensinn. Ist Tobi ein Einzelfall? Bestimmt nicht. Er repräsentiert nicht die Mehrheit dieser Alterskohorten, die relativ größte Gruppe sind die Abwanderer (mindestens 40 % der Alterskohorten in den ländlichen Regionen). Er repräsentiert aber einen relevanten Teil der Hiergebliebenen dieser Altersgruppe, für die die symbolisch aufgeladene kulturelle Differenz zu den Gegebenheiten konstitutiv ist. Da gibt es Variationen, diese Punkerclique ist nur eine mögliche Richtung. Immerhin haben drei der Interviewten unter 30 erzählt, dass sie Festivals der Jugendszene besuchen. Auch die rechte Szene oder die islamistische Jugend haben mit Identitätsbildung durch kulturelle Abgrenzung zu tun. Die Festival-Kultur, die sich im vergangenen Jahrzehnt entwickelt hat, ist aufschlussreich für die Weltsicht und die Vielfalt der Jugendszene. Für Mecklenburg Vorpommern verkündet der Festival-Hopper 22 Festivals im Sommer 2014, z. B. „Meeresrausch“ in Peenemünde mit 32 Bands oder „Fusion“ auf dem Flugplatz Lärz mit 70.000 Teilnehmern. Diese in der Regel mehrtätigen Festivals, Campinglager mit Musik, Theater, Kino, Workshops, Essen, Trinken (vermutlich auch Drogen) sind Treffen einer neuen Jugendkulturbewegung, die mit jeweils spezifischen Riten Identität konstruiert und zelebriert, die mehr oder weniger Differenz zu etablierten Kultur, teilweise auch zu etablierter Politik und Lebensweise ausdrückt. Auf der Webseite von Fusion ist zu lesen: „Fernab des Alltags entsteht für vier Tage eine Parallelgesellschaft der ganz speziellen Art. Im kollektiven Ausnahmezustand entfaltet sich an einem Ort ohne Zeit ein Karneval der Sinne, indem sich für uns alle die Sehnsucht nach einer besseren Welt spiegelt. Weil es aber keinen Ort nirgends gibt, wo die Menschen frei sind, ist es gerade die Vereinigung der FusionistInnen aller Länder und der Ferienkommunismus, der uns spüren lässt, dass wir mehr wollen, als das, was uns in diesem Leben geboten wird. Nämlich alles und zwar sofort !“ Quelle: http://archiv.fusion-festival.de/2014/de/2014/festival/was-ist-die-fusion/ 1.7.2015, 8:43. Fusion symbolisiert klar politische Differenzen zur vermeintlichen Mehrheitsgesellschaft, die „Unfreiheit und Zwang“ verkörpert. Allerdings darf man die politische Botschaft des „Ferienkommunismus“ der „FusionistInnen aller Länder“ nicht ohne Weiteres mit den Alltagsorientierungen der Teilnehmer gleich setzen. Fusion ist kein Camp, in dem sich junge Leute auf 76 den aktiven Sturz des Kapitalismus vorbereiten. Die kulturelle Differenz wird hier zwar (auch) politisch gewendet. Aber Festival und Alltag sind verschiedene Welten und das Ausleben der Differenz im Fest befähigt die Teilnehmer, den Alltag hinzunehmen oder sogar anzunehmen. Kirchner, die ein Buch über das Fusion-Festival geschrieben hat, beschreibt die während des Festivals entstehende soziale Konstellation als „paradoxe Gemeinschaft“. „Die Außeralltäglichkeit des Fusion Festivals umfasst zwei Dimensionen von Eskapismus. Zum einen flüchten die Festivalbesucher temporär vor dem Alltag. Zum anderen finden sie Zuflucht im Festival. […] Die ephemeren Gemeinschaften während des Festivals ermöglichen dem Individuum Entlastung durch die Befreiung aus dem sozialen Druck des Alltags. Das Fusion Festival stiftet zudem in zweifacher Hinsicht Identität durch die Inklusion der Teilnehmer und die Exklusion der Nicht-Teilnehmer. Aus dem außeralltäglichen Erlebnis erwächst außerdem eine Bereicherung des Lebens jedes einzelnen Besuchers. Eine Stärkung der Gesellschaft entsteht jedoch nur insofern, als dass die Besucher das Festival als geduldetes temporäres Ausweichen nutzen können, um sich hernach wieder besser in die bestehenden Ordnungen einzufügen bzw. sich diesen unterzuordnen“ (Kirchner 2011, S. 157). 5.2 Arm, krank – und depressiv? Wir kommen jetzt zu zwei Fallgeschichten, die für eine Gruppe von armen Menschen stehen, die – objektiv gesehen – kaum eine gehaltvolle Lebensperspektive zu haben scheinen; die leben, um zu überleben, weil eine grundsätzliche Wende zum Besseren ausgeschlossen ist. Dabei werden zwei durchaus verschiedene Lebenskonstruktionen erkennbar. Während Walter Drossel, ehemals qualifizierter Facharbeiter und Meister, in Depressionen versinkt, kämpft Petra Rehfeld, die weder lesen noch schreiben kann, um ihr Überleben und ihre Identität, sie ist aktiv. Im Kampf mit den Behörden lässt sie sich nicht einschüchtern. 5.2.1 Walter Drossel: Früher bin ich Angeln gegangen. Aber das mach ich auch nicht mehr. Walter Drossel ist 63 Jahre und seit sechs Jahren berufsunfähig. Er hat 40 Jahre gearbeitet, erst bei der Reichsbahn, nach der Vereinigung in Hamburg als Maschinenführer. Seit 2007 ist er chronisch krank, kann nicht mehr arbeiten und bezieht eine Rente von ca. 815 Euro. Die Rente wäre 200 Euro höher, aber der Versorgungsausgleich für seine geschiedene Ehegattin wird abgezogen. 350 Euro kostet die Miete, hinzu kommen Strom und Telefon. 50 Euro legt er zurück für die Geburtstage der Enkelkinder. Er versucht, mit 30 Euro im Monat für Lebensmittel auszukommen, meist reicht es nur drei Wochen, in der vierten Woche wird „gestreckt“. Auch das Auto kostet, aber ohne Auto geht nichts auf dem Dorf: Einkaufen, Arztbesuche, Fahrt zu den Eltern. Walter hat sechs Kinder, von denen vier mit ihren Familien im selben kleinen Dorf wohnen. Drei von sechs haben Arbeit. Immerhin hat er mehrfach in der Woche familiären Kontakt. Auch seine Eltern, die 25 km entfernt wohnen, besucht er mehrmals im Monat. Trotzdem ist sein Leben von Depressionen beherrscht. 77 Einen Eindruck vermittelt die folgende (leicht gekürzte) Interviewpassage: „Können Sie mir beschreiben, wie so Ihr Alltag aussieht? Essen, Schlafen, Fernseh kucken. Zu den Kindern gehen. Wie oft sehen Sie die Kinder? Manchmal täglich. […] … Tja, was hab ich [letzte Woche] gemacht? Nichts. Das übliche. Einkaufen. Fernseh kucken. Die Kinder besuchen. … Wie schon gesagt. Mehr passiert da nicht. Mehr passiert nich. Können Sie das ein bisschen detaillierter erzählen? Also von morgens bis abends einfach mal durcherzählen? Tja. … ich steh morgens auf. Ein bisschen später meistens. Dann mach ich das, was nötig ist. Oder machs auch nicht. Was ist das so? W.: Bisschen aufräumen. Frühstücken. Ab und zu ein bisschen Radio hören. Was so in der Welt passiert. Dann fahr ich einkaufen, wenns nötig ist. Und dann trudel ich wieder hier ein. Fernseh kucken, meistens bis spät in die Nacht. Na. Dann hat sich der Tag erledigt. … Kochen Sie auch selbst? Nö. Hat das bestimmte Gründe? Ja. … Welche? Zu teuer. Braucht Strom. Im Moment versorgt meine Mutter mich immer noch ein bisschen mit. Die kocht denn immer noch ein bisschen. Spinat mit Ei. … Und am Wochenende, wie sieht es da bei Ihnen aus? Wie in der Woche. Außer einkaufen. Das entfällt denn. Gibt es typische Dinge, die sie immer wieder machen? Nee, eigentlich nicht. Das Normale eben. Haben sie denn Verpflichtungen, denen Sie nachkommen müssen? Nein. … Nein. 78 Wie sieht denn ein Tag aus, der nicht so typisch ist? Wann sind Tage nicht so typisch? Wenn ich zum Doktor muss. … Und weswegen fahren Sie zum Doktor? Depressionen.“ [Walter Drossel: 2f] Walter ist arm und bezeichnet sich auch so: „Arm? … Arm ist relativ. (Pause) Hm. Naja. In gewissem Sinne schon. Ich muss schon aufpassen, dass ich mit dem Geld zurechtkomme. Das brauchen Leute, die mehr Einkommen haben, nicht so drauf zu achten. Ich muss aufpassen, was ich kauf. In dem Sinne, würde ich schon sagen: ja, arm, ja. Nicht bedürftig, aber … arm, ja. Hm. Ja. Eigentlich hab ich alles, was ich brauche. Aber … ja, es ist schon so, wie Sie sagen: wenn was kaputt geht, denn wird’s natürlich kritisch.“ Walters Hauptproblem ist die Ereignislosigkeit seines Lebens und dass er trotz der regelmäßigen Kontakte zu Kindern, Enkelkindern und seinen über 80jährigen Eltern keine sinnstiftende Betätigung, keine Aufgabe gefunden hat. „Haben Sie bestimmte Interessen oder Hobbies?“ „Wie?“ „Haben Sie bestimmte Interessen oder Hobbies?“ „Nö. Früher bin ich Angeln gegangen. Aber das mach ich auch nicht mehr. Zu teuer geworden. Das bisschen Fisch kann man sich kaufen. Nur so hab ich kein Interesse. Außer meine Familie.“ „Waren Sie mal in einem Verein oder sind Sie in einem Verein tätig?“ „Ich war mal im Angelverein. Bis vor vier Jahren.“ „Warum haben Sie da aufgehört?“ „Interesse ist auch erloschen.“ So wird sein Leben von den Depressionen beherrscht, aus denen auch der Hausarzt anscheinend keinen Ausweg findet. „Na ja, würd schon gerne mal verreisen. … Ist ja alles ein bisschen …. teuer. Mh. Hm. … Irgendwas, was ich gern tun würde? Det weiß ich nicht.“ 5.2.2 Petra Ganz: „Vier Mal hab ick unterschrieben auf mein Antrag. Für wat is denn dat gut?“ Petra Ganz ist eine 54-jährige, älter wirkende Frau mit eingeschränkten geistigen Fähigkeiten. Sie hat in der DDR die Schule besucht „ganz schlecht“ [Petra Ganz: 2], nach eigenen aber unsicher wirkenden Angaben mit der Vierten Klasse abgeschlossen und danach bis zur Wende in einer „richtigen“ Landwirtschaft gearbeitet. Zeitangaben und biographische Datierungen wirken oft sehr unsicher. 79 In der DDR hat sie einfache Feldarbeiten gemacht und im Sommer in der Kornreinigungsanlage im Schichtbetrieb gearbeitet. Das hat ihr Spaß gemacht und sie hat ganz gut verdient. Seit der Wende ist sie arbeitslos. Aber auch die zwei „Euro-Jobs“ der vergangenen Jahre hat sie in guter Erinnerung: „Spaß gemacht!“ Jetzt geben die ihr keine mehr. Sie hat gesundheitliche Probleme: Zucker, war übergewichtig, hat aber abgenommen, und ist gehbehindert. Ein Versuch, die Erblindung des einen Auges, die nach ihrer Aussage von der Augenärztin zu spät entdeckt worden sei, durch eine Operation zu verhindern oder rückgängig zu machen, ist gescheitert, „es war zu spät“. Nach der Erblindung des einen Auges hat ihr Freund sie verlassen, weil er mit einer Blinden nichts anfangen kann und sie zudem zu dick gewesen sei. Mit dem Hartz IV kommt sie halbwegs zurecht. Früher hat sie in der letzten Woche vor Überweisung der Monatsrate hungern müssen. Hunger kann sie nicht ertragen. Inzwischen hat sie aber die Tafel in Friedland entdeckt, fährt jede Woche einmal mit dem Bus hin und versorgt sich mit zusätzlichen Lebensmitteln. Das ist gut, aber es gibt auch Grund zur Klage. Kein Fleisch, zu wenig Obst und Gemüse. „Heute warn auch wieder keine Brötchen. Ham nicht mehr viel Brot gehabt. Kam ja noch welche nach. Und zu dem andern, der hat drei Brote gekriegt. Ich sage, da hätten sie mir doch auch n Brot … Zwei Tage, da ist mein Brot alle. Iss so. Son kleines Ding da. Buttermilch ham se heut mitgegeben. Naja, ich trink se. Trink sonst keine Buttermilch.“ Auch das Blindengeld und die kostenlose Fahrt mit öffentlichem Nahverkehr, die sie neuerdings mit ihrem Behindertenausweis machen darf, haben geholfen. Anfangs wusste sie nicht, dass es diese Unterstützungen gibt, auch das Jobcenter hat sie nicht darauf hingewiesen. Erst im Zusammenhang mit der Beantragung von Erwerbsunfähigkeitsrente wurde sie über solche Unterstützungsmöglichkeiten informiert. Dann hat sie sich gleich auf den Weg gemacht, trotz Gehbehinderung. Was sie an Unterstützung bekommen kann, versucht sie mit Hartnäckigkeit, fragt, geht in die Ämter, lässt gegebenenfalls Anträge schreiben. Sie kündigt auch an, sich zu wehren, falls das Jobcenter ihr das Blindengeld vom Hartz IV abziehen will, denn man hätte ihr gesagt, dass die das nicht dürfen. Im Zweifelsfall wird sie zur Blindenstelle gehen und sich Hilfe holen. Bei der Gestaltung ihrer Lebensumstände ist sie nicht ungeschickt. Beispielsweise hat sie den Verkehr mit ihrem Freund vor der Trennung so gestaltet, dass die Spielregeln für eine Bedarfsgemeinschaft nicht angewendet werden konnten. Von Montag bis Freitag wohnten sie getrennt und haben sich erst am Abend getroffen. Zur Nacht ist der Freund immer nach Hause gefahren. Von Freitag bis Montag aber hat sie ihn besucht, da durfte sie auch bei ihm übernachten, denn es war ja Wochenende. Sie weiß auch genau, dass Zuverdienste zu einer Minderung des ALG 2 führen würden und meidet diese deshalb. Sie arbeitet zwar nebenher, pflegt Gräber, überwiegend von Familien, deren Kinder und Enkel in den vergangenen 20 Jahren abgewandert sind und aus denen niemand mehr im Dorf wohnt, oder nur ganz alte, die nichts mehr machen können auf dem Friedhof. Sie arbeitet ca. zwei bis vier Stunden täglich an den Gräbern, je nach Wetter und Bedarf. Aber dafür lässt sie sich nicht bezahlen, sie bekommt Lebensmitteltüten. „Geld darf ick ja nich nehmen, muss ja angegeben werden. Mach 80 ick ja auch. Bloß bringt ja nischt.“ Lebensmittel dürfen die „vom Hartz nich abziehn“. Ebenda 7. Da sie nur ihren Namen schreiben und nicht lesen kann, hat sie zwei Frauen, die für sie alles Schriftliche machen, darunter auch die 14-tägige Postkarte an die Schwester. Sie sagt denen, was sie schreiben sollen, die lesen ihr das dann noch mal vor, sie unterschreibt, fertig. Auch Anträge und Formblätter aller Art werden auf diese Weise erledigt. Stolz erzählt sie, dass sie auf dem Jobcenter gelobt wird, weil sie solche Ordnung in ihren Papieren hat. Den Sinn der ganzen Bürokratie versteht sie zwar nicht und findet die vielen Verfahren, Anträge, Umstände, Regeln und Sanktionen merkwürdig und unsinnig: „Vier Mal hab ick unterschrieben auf mein Antrag. Für wat is denn dat gut?“. Trotzdem macht sie, was man von ihr verlangt. Was kann die Zukunft noch bringen? Grundsätzliche Verbesserung, gar eine Erwerbstätigkeit, ist nicht zu erwarten, auch wenn sie sich gern nützlich machen würde und mit Freude arbeitet. Nun aber, meint sie, könne sie auch nicht mehr. Ihren informellen Nebenjob auf dem Friedhof wird sie aber nicht aufgeben. „Macht doch Spaß!“ Im günstigen Fall stabilisiert sich die Lebenssituation auf dem gegebenen Niveau, falls ihre Erwerbsunfähigkeitsrente plus Blindengeld etwas über dem derzeitigen Einkommen liegen sollte (was kaum zu erwarten ist). Hungern muss sie dank ihrer cleveren Idee mit den Lebensmitteltüten und der Tafel momentan nicht. Vorm Hungern hat sie Angst. Ihre Perspektive könnte im guten Fall darin bestehen, weiterhin halbwegs über die Runden zu kommen und ihr derzeitiges Leben möglichst ohne Angst oder Verlust der Selbständigkeit zu führen. Ins Heim will sie nicht, „Noch nicht“. Schicksalsschläge werden nicht zu vermeiden sein, beispielsweise durch Krankheit, Tod der Mutter, die noch im Nebenhaus wohnt und mit der sie sich nicht besonders gut versteht, Verlust anderer wichtiger sozialer Kontakte im Dorf. Irgendwann kommt er, der Umzug ins Heim. Bislang ist sie trotz ihrer intellektuellen Beschränkungen auch mit schwierigen Situationen, wie der Erblindung eines Auges, klargekommen, konnte ihr selbstständiges Leben weiter führen, ist weder unglücklich noch depressiv. Sich am Leben zu halten, ist ihr Lebenssinn, sie ist aktiv. 5.3 Qualifiziert, kompetent, engagiert – und trotzdem überflüssig 5.3.1 Sabine Fleißig: „Ich mach jetzt was Neues, was auf dem Markt gebraucht wird!“ Sabine Fleißig ist 58 Jahre alt, eine agile, kultivierte, gut aussehende Frau mit hoher Qualifikation, kompetent, engagiert. Sie stammt aus einem Dorf in Vorpommern, ihre Eltern waren Agrarökonomen an einem DDR-Institut. Sie lernte „Rinderzüchter und Mechanisator“ in einem VEG, Berufsausbildung mit Abitur, und studierte Agrarökonomie. Ihre erste Arbeitsstelle war das Forschungszentrum Tierproduktion in Dummerstorf, da untersuchte sie die Probleme und die Wirtschaftlichkeit von großen Mastbetrieben. Sie heiratete, bekam zwei Kinder und wohnte dann mit ihrem Mann in ihrem alten Heimatdorf in Vorpommern, erst zu Dritt in einem Zimmer, dann in einer kleinen Wohnung in einem der ländlichen Plattenbauten Typ „Brandenburg“. Sie arbeitete dort in einer wirtschaftsleitenden staatlichen Behörde der DDR und beschäftigte sich unter anderem mit dem Zustand der Grundfonds, den verschlissenen 81 Ställen und Gebäuden. Da sie 1989 nicht mehr bereit war, die Berichte an die übergeordnete Behörde wunschgemäß zu schönen, hatte sie Ärger mit den Chefs, kündigte und wechselte nach Neubrandenburg, wo sie nach langer Wartezeit eine Neubauwohnung für die Familie bekam. 1990 wurde die wirtschaftsleitende Behörde der Milchwirtschaft, in der sie inzwischen tätig war, als eine der ersten staatlichen Stellen geschlossen. Sie hatte sich aber beim Arbeitsamt schon eine Umschulung organisiert: „Ich hatte die Idee, ich mach jetzt was Neues, etwas, was auf dem neuen Markt gebraucht wird. Der Umweltbereich hat mich schon näher interessiert. Da kriegte ich dann 1990 ein Jahr eine Umschulung zum Umweltberater.“ Auch ein Computerkurs schloss sich an. „Das war alles umsonst, … ich kriegte keine Arbeit. Hier waren die Firmen einfach noch nicht so weit 1991. Die haben dann lieber Vertragsstrafen bezahlt, als dass sie jemanden für den Umweltbereich eingestellt haben.“ Damals gab es noch gut ausgestattete und normal bezahlte ABM-Projekte. Auf einer Projektstelle der Grünen Liga baute sie eine Erzeuger-Verbrauchergemeinschaft und einen Naturkostladen auf und führte Umweltberatung an Schulen durch. Als die Finanzierung auslief, arbeitete sie noch eine Zeit lang ehrenamtlich weiter, dann wurde der Naturkostladen geschlossen. Nach ein paar Wochen Arbeitslosigkeit fand sie eine neue Projektstelle als Leiterin des ABM-Projekts „Naturpark Tollensesee“. Dort wurden Kartierungen und Bestandsaufnahmen für einen möglichen künftigen Naturpark durchgeführt. Leider wollte der Landkreis den Naturpark nicht und mit dem Ende der Finanzierung war sie wieder arbeitslos. Ein weiteres Jahr war sie Projektleiterin für Landschaftsschutz im Stadtgebiet beim Umweltamt, ebenfalls ein gefördertes Projekt, das mit der Finanzierung nach einem Jahr zu Ende ging. Bis dahin hat sie aber ganz gut verdient und sparsam gelebt, das Gesparte hat sie in Fonds angelegt und dabei clever Plus gemacht. Weil sie immer rechtzeitig aus den Geldanlagen ausgestiegen ist, konnte sie ihre Einlagen verdreifachen. Von 1996 bis 1998 war sie arbeitslos, die Zeit gut bezahlter ABM-Stellen war vorbei. Sie orientierte sich neu, Marketing schien gefragt. Sie absolvierte einen neuen Kurs für Marketing und Betriebswirtschaft, machte ein Praktikum in einem neu entstehenden Betrieb, der Geodaten verkaufen wollte, und wurde mit drei Kolleginnen für den neuen Bereich Marketing eingestellt. Die Arbeit war recht gut bezahlt. Dort bauten sie eine große Datenbank auf, stellten Firmenkontakte her und richteten die Webseite ein. Die Geschäfte liefen aber sehr schleppend. „Der Chef hatte immer neue Ideen, aber man hat nichts verdient.“ Nach gut zwei Jahren wurde die Firma umbenannt, aus einer AG in eine GmbH umgewandelt, das Personal stark reduziert – auch Sabine musste gehen. Nun begann eine Zeit der Arbeitslosigkeit mit vielen erfolglosen Bewerbungen. Der Ehemann verfiel dem Alkohol, man trennte sich, Sabine zog mit den beiden Kindern in eine neue Wohnung. Sie verkaufte ihre Geldanlagen und konnte eine Weile davon leben. Aber die vielen kleinen Jobs reichten nicht, um neuen ALG I-Anspruch zu erwerben, weshalb sie 2004 schon mal ein paar Monate Hartz IV in Anspruch nehmen musste. 82 2002 bewarb sie sich auf eine Stelle der regionalen Wirtschaftsförderung, arbeitete dort auch ein paar Monate und war insbesondere für den IT-Bereich zuständig. Dann wechselte die Leitung, der angeblich als Freund des Bürgermeisters ins Amt gehievte neue Projektleiter änderte das Konzept, es gab zunehmende Auseinandersetzungen und sie musste gehen. Anschließend arbeitete sie sechs Monate bei einem Milchverarbeitungsbetrieb als Marketingleiterin, 100 km entfernt vom Wohnort. Sabine organisierte den weltweiten Vertrieb von Kaffeesahne und anderen Milchprodukten. Der Vertrieb musste neu aufgebaut werden, weil ihre Vorgängerin, die den Betrieb im Streit verlassen hatte, die Festplatte mit allen Vertriebsdaten gelöscht hatte. Leider ging der Betrieb im Jahr darauf in Insolvenz und wurde von einem westdeutschen Betrieb aufgekauft; sie wurde entlassen. Das Arbeitsamt konnte ihr nie eine Stelle vermitteln, also suchte sie auch diesmal wieder selbst und wurde fündig im Callcenter. Das Arbeitsamt bezahlte dem Callcenter einen sechswöchigen Kurs, der allerdings nur aus einer kurzen Einweisung bestand, nach dem man ganz normal arbeitete. Sie wurde nach der Probezeit eingestellt, arbeitete für 6 Euro die Stunde, Überstunden wurden je nach Auftragslage oft gemacht, aber in der Regel weder bezahlt noch abgebummelt. Bei einem Teamwechsel gab es zunehmende Differenzen, die neue, sehr junge, aber beinharte Teamleiterin hatte Probleme, eine „Studierte“ unter sich zu haben, und mobbte Sabine, bis sie schließlich zu einem anderen Callcenter als „Mediaberater für Firmen- und Geschäftseinträge“ wechselte. Der Name verbirgt profanen Telefondienst, wie vorher auch, Bezahlung unverändert. Unbefristete Verträge gibt es in Callcentern nicht, also wurden die Mitarbeiter nach 2 Jahren entlassen, damit der Vertrag nicht gesetzlich zu einem unbefristeten wird. Das ist auch ihr passiert. Dann war sie für knapp zwei Monate „Redakteur für Wirtschaftsinformation“ bei einem anderen Datenbankunternehmen, auch wieder im Telefondienst. Bezahlung 165 Euro pro Monat (das, was man ohne Abzüge neben dem Arbeitslosengeld zuverdienen darf) für maximal 14,9 Wochenstunden, macht 2,75 Euro die Stunde. Am Ende dieser Abwärtsspirale von der studierten und gut bezahlten Agrarökonomin zur Drei-Euro-Telefonistin stand wieder die Suche nach Arbeit. Inzwischen hat sie wieder geheiratet, ihr Mann verdient gut. Sie ist weiter arbeitssuchend, Hartz IV bekommt sie aber wegen des Einkommens ihres Manns nicht. Die aktive, selbstbewusste und kompetente Frau ist zurückgeworfen auf ein überholtes Familienmodell: Sie lebt vom Geld des Ehegatten und führt dessen Haushalt. Sie sucht weiter nach Arbeit: „Ich bin seit über einem Jahr bei einem Anbieter … angemeldet mit vier, fünf verschiedenen Sachen, und da bekommt ich täglich ein oder zwei E-Mails, was an Stellen ist. Ich suche auch über Stadt.de, ich kuck in der Zeitung … Bei der Diakonie, Klinik, Mitarbeiter im Archiv habe ich mich beworben, beim Analysenservice und verschiedenen Personalservices habe ich mich beworben, als Medianberater, Verkäufer im Außendienst, bei der Stadtwirtschaft, bei der Volkssolidarität, der Lebenshilfe e.V. … In 80 % der Fälle bekommt man gar keine Antwort.“ Das Problem ist nicht die Armut, sondern die Verschwendung von Ressourcen und Potenzialen, die sich in dieser Geschichte offenbart. Arm dran ist das Land, das solche Menschen nicht gebrauchen kann. 83 Sabine ist hoch qualifiziert und engagiert. Eine vollwertige und anerkannte Berufstätigkeit gehört unverzichtbar zu ihrem Selbstbild, zu ihrer Identität. Sie hat immer versucht, sich den Markterfordernissen entsprechend anzupassen, ihre Aufgaben bestens zu erfüllen und hat Verantwortung nicht gescheut, sie hat nicht auf die Uhr geschaut, ist täglich zwei mal 100 km zur Arbeit gefahren, hat sich weitergebildet und gekümmert. Sie hat neben einer anstrengenden Berufstätigkeit zwei Kinder groß gezogen. Aber sie ist eine Ostdeutsche, eine Frau, inzwischen über 55, sie ist überqualifiziert und sie lebt in einer Region, in der es wirtschaftlich abwärts geht. Ihr Engagement und ihre Kompetenz schrecken manche Arbeitgeber vielleicht sogar ab. Besser, sie wäre früher woanders hingegangen, zum Beispiel zu ihrem Sohn, dem es in Köln ganz gut zu gehen scheint. 5.3.2 Familie Hinrich und Manfred Großer: Hartz IV bis ans Lebensende Zwei weitere Fälle sollen nur skizziert werden. Das Ehepaar Hinrich, sehr nette und freundliche Leute, gründeten ein Restaurant, mussten aber nach ein paar Jahren aufgeben. Beide beziehen Hartz IV, absolvierten Ein-Euro-Jobs, holen sich Lebensmittel von der Tafel usw. Sie sind Mitte 50, eine neue Perspektive ist nicht in Sicht und auch kaum denkbar. Sie haben ein Enkelkind aufgenommen, weil die Tochter, die noch ein weiteres Kind hat, mit dem etwas schwierigen Jungen alleine nicht klarkommt. Das ist eine Aufgabe, die ihrem Leben neuen Sinn gegeben hat, eine allerdings nicht gerade leichte Aufgabe, obwohl der Junge bei den Großeltern besser klar zu kommen scheint als bei der überforderten Mutter. Aber natürlich ist das Enkelkind in den Verfahren des Jobcenters nicht vorgesehen. Daher gibt es die üblichen Streitereien wegen der Wohnungskosten: Der Enkel zählt ja nicht. Auch dies sind Leute mit überdurchschnittlichem Engagement, die was riskiert haben und nun ohne vernünftiges Einkommen und ohne akzeptable Rentenansprüche dasitzen: Hartz IV-Niveau für den Rest des Lebens ohne die Chance, daran etwas zu ändern. Auch Manfred Großer ist so ein Fall. Er hat sein ganzes Leben in Wiesenland verbracht, hat hier Verwandte, Freunde, Garten und Heimat. Er war Agrotechniker, hatte nach der Wende eine verantwortungsvolle Aufgabe in einem großen Recycling-Betrieb. „Da war ich zehn Jahre Schichtleiter … Bis der andere Chef kam und sagte: »Die Lohnnebenkosten sind so hoch. Ihr müsst alle zur Zeitarbeitsfirma gehen.« Für 5 Euro. Ich sage: »Seid ihr nicht ganz dicht, oder?« Ich kann doch nicht für 5 Euro von Wiesenland nach Neuhausen [25 km], für 5 Euro, arbeiten gehen. … Bin ich abgehauen. Alle drei Schichtleiter. … Sind viele gegangen damals.“ Nun sitzt er mit 54 Jahren in einer Kleinstadt, in der es absolut keine Industrie und für solch überqualifizierte wie ihn keine Arbeit mehr gibt. „Umschulung, Umschulung, Umschulung. Immer Umschulung. Ein-Euro-Jobs, beim Bau hier inne Stadt, hier im Bauhof. Gebastelt für Kindergärten und alles so was. Und das Arbeitslosengeld wurde immer weniger. Dann bin ich in Hartz IV nachher gefallen. … Meine Frau auch. Die war Chefin inne Küche. Das ist nachher kaputt gegangen. Die Küche ist aufgelöst worden. Sie auch immer: Umschulung, Umschulung, Umschulung, Umschulung. Hier ist nichts mehr in Wiesenland. Die Küche gibt’s auch nicht mehr.“ 84 „Ich hätte mal damals, hätte ich mal hören sollen, ach. Hätt ich mal auf die Wessis gehört. Meine Verwandtschaft in Bielefeld: »Kommt her, wie haben hier Arbeit für Euch!«… Da hatten wir aber beide aber noch Arbeit.“ Seine Frau war früher Leiterin einer Betriebsküche, sie ist nach mehr als 20 Jahren Arbeitslosigkeit und Umschulungen so resigniert, dass sie abwinkt und gar nicht bereit ist, ein Interview zu geben: „das ändert ja nichts mehr.“ „Wir sind ja beide bei der Bürgerarbeit. Da sollte ich nach Neubrandenburg fahren, hinter Neubrandenburg, für 700 Euro. Sollte ich ausliefern, Rostock, Berlin, Schwerin. Für 700 Glocken. Bürgerarbeit verdient man netto 700 Euro. … Nee, mach ich nicht. Dann bin ich nachts um zwei zu Hause und nächsten Morgen wieder. Ausbeutung ist das. Das ist genauso wie jetzt auf dem Friedhof, Bundesfreiwilligendienst. Das ist Ausbeutung. 40 Stunden für 200 Euro. Früher [gemeint ist der Zivildienst für Jugendliche vor Abschaffung der Wehrpflicht] hat es mehr gegeben. Aber uns ziehen sie das teilweise beim Hartz IV ab, weil wir ne Bedarfsgemeinschaft sind. Nie wieder.“ „Ich will weg vom Amt, aber wie? Was soll jetzt passieren? Ich geh nicht weg, wo soll ich denn hin? Im Dezember läuft die Bürgerarbeit aus. Vier Jahre war ich dann da. Danach, hat mir meine Vermittlerin gesagt, muss ich zu 50 plus. Da wird dasselbe gemacht wie bei der Bürgerarbeit.“ Wenn zehn Jahre oder mehr an Rentenbeiträgen fehlen, dann ist das Urteil auch in diesem Fall klar: Hartz IV-Niveau bis ans Lebensende. 5.3.3 Jochen Benkert: Rettung aus dem Absturz Auch Jochen Benkert war qualifiziert, kompetent, engagiert, hoch bezahlt und geriet dann in eine Abwärtsspirale. Aber hier kommt noch etwas hinzu: der Absturz mit Alkohol und ein bislang erfolgreicher Versuch, sich selbst zu retten. Jochen gehörte zur DDR-Arbeiterelite, hat CNC 6-Techniker gelernt, so etwas wie Computergesteuerte Werkzeugmaschinen, damals noch ohne Computer, und in einem DDRRüstungsbetrieb in Mecklenburg-Vorpommern gearbeitet. Der Betrieb wurde 1990 in Einzelteile zerlegt und privatisiert, aber er fand schnell wieder Arbeit. Da er was Neues und Einträgliches machen wollte, wurde er Berater und Verkäufer im Elektro-Großhandel und arbeitete sich über mehrere Etappen zum Abteilungsleiter hoch. Er verdiente gut, der Job war interessant, er kam viel herum im Land, war angesehen und galt als hochkompetent. Zehn Jahre nach der Wende aber ging der Boom zu Ende und viele ElektrogroßhandelsFilialen machten dicht. Auch sein Unternehmen schloss die Neubrandenburger Filiale, bot ihm aber eine Beschäftigung in Magdeburg an. Allerdings nicht mehr als Angestellter, sondern als freier Mitarbeiter, selbstständig auf eigenes Risiko und natürlich ohne soziale Absicherung. Wie es weitergeht, kann man sich denken. Das Geld reichte gerade, die Fahrtkosten und den Steuerberater zu finanzieren, also musste er irgendwann aufgeben. Er hat versucht, eine neue Arbeit zu finden, nicht mehr im Handel, wieder in der Produktion. 6 CNC: Computerized Numerical Control, rechnergestützte numerische Steuerung 85 „Die Grundkenntnisse sind ja da. … Die Software ist natürlich viel viel weiter als damals. Sicherlich, mir hätte … auch eine Einarbeitung in so einer Produktionsstätte [gereicht]. Aber det sieht ja keiner. … Man könnte ja auch mal ein Praktikum machen. Hätte ich auch gemacht für ein, zwei Monate oder so. … Ich meine, mir hätte das nichts ausgemacht. …“ „Ich habe mich ja auch selbst bemüht über das Arbeitsamt. Ich meine, damals war ich noch 48 … habe das angekurbelt, eine Umschulung zu machen als Mechatroniker. Diese Sache wäre gelaufen drei Jahre, wie ne Lehre im Prinzip. … Haben sie nicht genehmigt, die Umschulung. Weil ich hab ja keinen Arbeitgeber gehabt, der mich denn … übernehmen könnte.“ Er bewirbt sich bei einem Maschinenbaubetrieb. „Ja, … die Umschulung. Wenn dann noch Bedarf ist.“ Eine Zusage des potenziellen Arbeitsgebers bekommt er nicht und ohne Zusage finanziert die Arbeitsagentur keine Umschulung. Auch als Kraftfahrer hat er sich beworben: „Son Test mitgemacht, …1.000 Fragen ausgefüllt. Und denn hamse jeden einzeln reingerufen ... Und dann sitzt der vor mir und kuckt sich meinen Bogen da an und sagt zu mir: »Wir könn Sie aber nicht gebrauchen. … Sie [sind] überqualifiziert.« Ja, wieder der Hammer.“ Inzwischen löste sich die Familie auf, die Frau zog mit der Tochter weg, die beiden Pflegesöhne brachte er noch bis zum 18. Lebensjahr durch, besorgte ihnen eine Ausbildungsstelle und eine eigene Wohnung und wünschte ihnen viel Glück. Eine Weile riefen sie ab und zu noch an, inzwischen ist der Kontakt abgerissen. Er verkaufte das Haus, bezahlte die Schulden, zog in eine kleine Plattenbauwohnung und ertränkte sein Unglück. Die Fahrerlaubnis schwamm mit den hochprozentigen Getränken davon. Dann aber der Selbstversuch, nachdem der Arzt ihm sagte, seine Leber hätte nur noch ein paar Jahre, es sei denn, er hört sofort, ganz und für immer mit dem Alkohol auf. Suchtberatung, Therapie, Reha, Schuldnerberatung. Der Ein-Euro-Job und die AWO halfen ihm, nicht zuletzt auch eine neue Partnerin. 18 Monate ist er trocken und nun denkt er darüber nach, wie er die Fahrerlaubnis zurückbekommen kann, hat einige der dafür erforderlichen komplizierten Schritte schon erfolgreich absolviert, will zu seiner Partnerin in eine Großstadt weit weg ziehen, sich wieder Arbeit suchen. „Ich muss unbedingt, wenn‘s geht, zehn Jahre noch arbeiten. Damit ich wenigstens – die 45, die krieg ich ja nicht mehr voll. Aber ich muss ja wenigstens versuchen, soviel Jahre zusammenzubekommen, damit im Endeffekt noch wat hängenbleibt.“ Hoffen wir, dass dies schlussendlich eine Erfolgsgeschichte wird. Jochen hat die Hilfsangebote genutzt. Schuldner- und Suchtberatung, AWO und Ein-Euro-Jobs waren ganz wichtig, um sozial eingebunden zu bleiben und sich selbst retten zu können. Auch die Arbeitsagentur hat mit dem Fallmanagement geholfen, jeweils die richtigen Hilfsangebote zu finden und hat ihn unterstützt, indem sie ihn in der kritischen Zeit nach dem Entzug ununterbrochen in Ein-EuroJobs integrierte, damit er nicht allein zu Hause sitzt. Nur eines konnte die ARGE oder das Jobcenter nie: Ihm eine Arbeit vermitteln, keine anständige und gut bezahlte, die seiner Quali- 86 fikation und Kompetenz entsprochen hätte, aber auch keine andere, schlecht bezahlte. Nur ein Call-Center hatten sie im Angebot, aber das wollte er nicht: „Ich sach: ‚Stopp. Kein Call-Center, bitte.‘ … Kann ich ablehnen, ham se gesacht. … Also dat, auch wenn ich das könnte. Nein, mach ich nich.“ 5.3.4 Rolf Hausner: Du kannst was mit Holz, komm mal Rolf Hausner wohnt in einer fast verlassenen Kleinstadt in Vorpommern im Haus seiner Eltern, beide Rentner, Vater dement. Er hat in seinem Leben drei Anläufe gemacht, ein Lebensprojekt zu verwirklichen, auch er ist ein Typ mit überdurchschnittlichem Engagement, qualifiziert und kompetent. Allerdings hat er sich immer vor der Unternehmerrolle gedrückt, vielleicht, weil er in der ostelbischen Arbeitnehmergesellschaft sozialisiert wurde, vielleicht, weil er in der DDR in einem Volkseigenen Gut gearbeitet hat, vielleicht aus ganz individuellen Gründen. Er war immer der Macher hinter dem Chef. Er hatte Pferdezüchter gelernt, Pferdesport betrieben und war Bezirksmeister im Springreiten. Pferde waren und sind seine Leidenschaft, auch wenn er heute aus gesundheitlichen Gründen nur noch Fahrsport betreibt. Sein erstes Projekt war, eine Pferdezucht in einem VEG nahe bei Berlin aufzubauen. 75 Zuchttiere waren es, als die Treuhand 1992 den Betrieb und die Tiere weit unter Wert, wie Rolf meint, verschleuderte. Nebenbei hat er eine Familie gegründet und ein Haus gebaut. Mit dem VEG löste sich aber auch die Familie auf, das Haus wurde verkauft, die Einnahme war sehr anständig, denn die Grundstückspreise für ein Haus im Berliner Speckgürtel waren nach der Wende enorm gestiegen. Nach ein paar Monaten mit unwichtigen Jobs ging er nach Schweden, wo ein Freund ihn hinlockte. Ein Bayrischer Unternehmer hatte einen schwedischen Bauernhof gekauft, ein Steuersparmodell, und wollte daraus einen Super-Biohof gemacht haben. Dafür suchte er einen Angestellten. Das wurde Rolfs zweites großes Lebensprojekt. Aus anfangs 20 mageren Kühen wurde ein Rundum-Bauernhof mit Bäckerei, Käserei, Fleischerei, Biogasanlage, eigenem Hofladen und Verkaufswagen. Zwei polnische Jungs und zwei tschechische Mädels wurden (schwarz) eingestellt, der Betrieb florierte. Auch hier war er nicht der Chef, aber so, wie er es darstellt, war er Motor und Gestalter. Er und der zweite deutsche Kollege haben sehr hart gearbeitet und sehr wenig verdient (im Verhältnis zu vergleichbaren schwedischen Beschäftigungsverhältnissen), aber der bayerische Eigentümer ließ sie offensichtlich weitgehend machen: „… der hatte Geld. Was wir da in Schweden in den Hof ringepumpt haben in den Hof, det ging auf keine Kuhhaut. Du brauchtest bloß anrufen. Herr Sowieso, wir brauchen …“ Aber auch hier hatte er zusätzlich ein privates Projekt, baute ein Blockhaus aus, kaufte das Grundstück, baute ein zweites Haus, holte seine Tochter nach Schweden. Wieder schien es, als hätte er es geschafft. Dann aber ging der schwedische Bauernhof Pleite. Schuld, so meint Rolf, war „der Alte“, der bayerische Eigentümer, weil der kein ordentliches Biosiegel einführen wollte. Ohne Siegel konnten sie nur zu den konventionellen Preisen verkaufen, die nicht kostendeckend waren. Man muss vermuten, dass die Konkurrenz der großen Lebensmittelkonzerne beim Untergang kleiner nicht zertifizierter Biohöfe eine Rolle spielte, denn gerade 87 in dieser Zeit entdeckten sie Bioprodukte als neuen Markt und boten diese zu Preisen an, mit denen Hofläden nicht konkurrieren konnten. Rolf hat dann in Schweden noch eine Weile bei einem kleinen lokalen Holzbetrieb (einer Art Baumarkt) gearbeitet, aber auch der ging durch die wachsende Konkurrenz europäischer bzw. deutscher Baumarktketten Pleite. Er bezog ein Dreivierteljahr Arbeitslosengeld in Schweden, aber während der akuten Wirtschaftskrise 2009 verkaufte er seine Immobilien und zog zurück nach Deutschland in das Haus seiner Eltern. Ein paar Jobs hat er noch gemacht, selbst gesucht, das Arbeitsamt konnte ihm niemals etwas anbieten, Jobs mit Pferden und Landwirtschaft in Tourismusregionen weit weg von zu Hause. Die Bezahlung war abgründig schlecht (800 Euro für rund zwölf und mehr Stunden Arbeit am Tag bei sechs bis sieben Arbeitstagen in der Woche) und zum Saisonende wurde man entlassen. Jetzt bleibt er zu Hause, er kann die Eltern nicht mehr allein lassen. Damit begann sein drittes, erheblich abgespecktes Lebensprojekt: das Haus der Eltern in Schuss bringen, sich selbst eine Wohnung darin ausbauen, die Eigentumsverhältnisse zwischen den vier Brüdern regeln, den Garten in Schuss bringen und die Gestaltung der Lebensumstände für die alt gewordenen Eltern und den dementen Vater in seine Hände zu nehmen. Jetzt bezieht er Hartz IV, macht den dritten oder vierten Ein-Euro-Job, fast ohne Unterbrechung. Dort wird er gebraucht und ist angesehen. „In Ducherow bin ich jetzt eineinhalb Jahre. Normalerweise ist das ja auch bloß ein halbes Jahr. Aber ick hab det verlängert, verlängert, verlängert. … der Anton, der so ein bisschen Vorarbeiter macht: ‚Du kannst viel mit Holz. Komm mal.‘ So kam das.“ Finanziell kommt er klar. Die Reserven aus dem Verkauf der Häuser im Berliner Umfeld musste er noch nicht angreifen. Mit dem Hartz IV, der Rente der Eltern, dem Garten, „Gemüse, Kartoffeln, Radieschen, viel Blumen, weil Mutter viel Blumen haben möchte“, dem EinEuro-Job und hier und da einem mehr oder weniger schwarzem Nebenjob kommen sie alle gut über die Runden, essen, was ihnen schmeckt, und kaufen, was sie haben möchten. „Ich muss immer zum Monatsende sehen, dass ich mein Geld vom Konto krich, weil, das sieht dann immer ein bisschen dusselig aus, wenn zum Monatsende ein Haufen Geld auf dem Konto ist.“ Wenn es in diesem Fall eine Tragödie gibt, dann ist es die, dass Rolf – jemand mit Kompetenz, großem Engagement, viel Einsatz und Rechtschaffenheit – in der Wirtschaftsgesellschaft Ostdeutschlands der 1990er und 2000er Jahre nicht gebraucht wird und nicht genutzt werden kann. Sicher, seine Kompetenz ist nicht umfassend. Mit Computern hat er nichts am Hut. Er ist weder mental der Unternehmertyp noch hätte er die dafür erforderlichen Kompetenzen. Er kann einen Landwirtschaftsbetrieb organisieren, ist handwerklich überdurchschnittlich begabt, qualifiziert und sehr sorgfältig und korrekt. Er war aber immer lieber der Mann hinter dem Chef und hat die Leitung anderen überlassen. Aber er weiß wohl, was er drauf hat. Im wirtschaftlichen Kontext Ostdeutschlands gab es für ihn keine Chance. Er wurde nicht gebraucht. Das hat ihn sehr gekränkt, auch wenn er nicht verbittert ist. Er hat eben versucht, sein eigenes Ding zu machen, sich zur Not zu beschneiden in den Ansprüchen. Die Jobs, die sich 88 anboten, mies bezahlt, sozial schlecht abgesichert und ohne Perspektiven, nahm er oft an, obwohl sie ihn genauso gekränkt haben dürften wie die Tatsache, dass es keine berufliche Perspektive gab für jemanden, der sich auskannte, der hart zu arbeiten gewohnt war und der überdurchschnittlich engagiert und fleißig ist. Nach diesen Erfahrungen erwartet er von der Gesellschaft nichts mehr. Aber er wird über die Runden kommen. Alle diese Fälle zeigen, dass die Arbeitslosigkeit und bis auf das Existenzminimum sinkende Einkommen nicht nur unqualifizierte und unmotivierte Menschen treffen, sondern auch qualifizierte, kompetente und engagierte. Auch wenn sie sich viel Mühe geben, gegen die Abwärtsspirale anzukämpfen: unter den gegebenen Umständen in einer peripheren ländlichen Region gelingt es auch ihnen kaum, nach einem Verlust des Arbeitsplatzes wieder auf die Beine zu kommen. Abwanderung scheint der einzige Ausweg. Dieser Befund stellt die Diskussion um einen vermeintlichen Fachkräftemangel und die angeblichen Bemühungen, ältere Arbeitnehmer länger in Beschäftigung zu halten, ins Zwielicht. Sind diese Bemühungen ernst gemeint? Wirklich wichtig scheint nur zu sein, das Lohnniveau zu drücken, den Billiglohnsektor groß zu halten und mit der aus Hartzern, Ein-Euro-Jobbern, Bürgerarbeitern und Umschülern bestehenden Reservearmee Druck auf die Beschäftigten auszuüben 89 Literatur, Tabellen und Abbildungen Literatur Buhr, Petra; Leisering, Lutz (2012): Dynamik von Armut. In: Ernst-Ulrich Huster, Jürgen Boeckh und Hildegard Mogge-Grotjahn (Hg.): Handbuch Armut und Soziale Ausgrenzung. 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 147–163. Eckert, Anna; Willisch, Andreas (2011): Discounting. Teilhabe durch Konsum! In: Bude, Heinz; Medicus, Thomas; Willisch, Andreas (Hrsg.): ÜberLeben im Umbruch. Am Beispiel Wittenberge: Ansichten einer fragmentierten Gesellschaft (S. 90-97). Hamburg. Kirchner, Babette (2011): Eventgemeinschaften. das Fusion Festival und seine Besucher. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Schütz, Alfred; Luckmann, Thomas (1979): Strukturen der Lebenswelt. Band 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Voß, Gerd-Günter (1991): Lebensführung als Arbeit. Über die Autonomie der Person im Alltag der Gesellschaft. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag. Kronenwett, Michael; Schönhuth, Michael (2014): VennMaker 1.4 Anwenderhandbuch. Trier. Witzel, Andreas; Reiter, Herwig (2012): The Problem-Centred Interview. London: SAGE. Tabellen und Abbildungen Tabelle 1: Die Interviewten in Rostock und im ländlichen Raum Abbildung 1: Netzwerk von Waltraut Zimmermann Abbildung 2: Netzwerk von Annemarie Kolkowski Abbildung 3: Netzwerk von Ute Gabel Abbildung 4: Netzwerk von Sabine Krüger 90 Ulf Groth, Katrin Michels Landkarte der Armut in Mecklenburg-Vorpommern 91 Inhalt Einführung 1 Methodische Anmerkungen ........................................................................................... 94 2 Grundaussagen zur Armutsgefährdung, Grundsicherung, Wohngeld, verdeckten Armut und Rechtsschutz ................................................................................................ 95 3 Schwerpunktbereich: „Kinderarmut“ ........................................................................ 117 4 Schwerpunktbereich „Altersarmut“ – Altersrenten, private Vorsorge, Erwerbsminderungsrenten ........................................................................................... 134 5 Arbeitslosigkeit, Arbeit und Beschäftigungsentwicklung.......................................... 162 6 Einkommen, Löhne und Gehälter, Mindestlohn, Reichtum und Vermögen ........... 172 7 Gesundheitsaspekte und Pflegesituation ..................................................................... 187 8 Weitere lebenslagenorientierte Aspekte: Konsum und Konsumarmut, Überschuldung, Verkehr, Wohnen .............................................................................. 198 9 Zusammenfassung ......................................................................................................... 213 Literatur ................................................................................................................................ 215 Tabellen- und Abbildungsverzeichnis ................................................................................ 220 Abkürzungsverzeichnis ........................................................................................................ 223 Anhang .................................................................................................................................. 225 92 Einführung Wodurch zeichnet sich ein armes, möglicherweise das ärmste, Bundesland aus? MecklenburgVorpommern ist ein armes Bundesland. Seine Bewohner verfügen über die bundesweit niedrigsten Einkommen. Welche Daten können noch gefunden werden, die neben den klassischen Armutsindikatoren, wie z. B. der Armutsgefährdungsquote, das Erscheinungsbild einer armen Region skizzieren? Dies soll mit dem vorliegenden Datenteil im Rahmen des Gesamtforschungsprojektes „Aspekte von Armut in Mecklenburg-Vorpommern“ geleistet werden, um eine regionale Armutstopographie des Nordostens darzustellen. Hierbei wird deutlich werden, dass es West – Ost und Nord – Süd – Unterschiede innerhalb des Bundeslandes gibt. Das Armutsrisiko ist trotz eines bundesweiten Höchststandes bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen auch für Beschäftige gestiegen. Der Begriff „Working poor“ trifft auf eine hohe Anzahl Beschäftigter zu. Das Armutsrisiko ist für die verbliebenen (Langzeit-)Arbeitslosen gestiegen. Und es wächst eine Gruppe von altersarmen Menschen heran, die aufgrund längerer Phasen der Erwerbsunterbrechung oder niedriger Arbeitseinkommen nur niedrige Rentenzahlungen erwarten können. Und nach wie vor lebt ein hoher Anteil von Kindern in Armut. Sie stehen nicht nur in der Gefahr, in Armut hineingeboren zu werden, sondern auch im späteren Lebensverlauf in Armut hineinzuwachsen, ohne eine realistische Chance auf ein Herauswachsen aus der Armut zu haben. Es stellt sich die Frage: Will sich die Gesellschaft tradierte Armutskarrieren leisten? Doch wie verhält es sich konkret im nordöstlichsten Bundesland: Spiegelt sich hier jeweils der Bundestrend wieder oder existieren eigene, abgekoppelte Entwicklungen? Dieser Forschungsteil versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden. Daher werden in diesem Abschnitt zahlreiche, sehr unterschiedliche Aspekte beleuchtet, die geeignet erscheinen, um die in diesem Bundesland verbreiteten Armutslagen besser zu erkennen. Um eine leichtere Lesbarkeit des Textes zu gewährleisten, wird stets die maskuline Form verwendet. Es sind aber stets beide Geschlechter gleichermaßen gemeint. Unser Dank für Unterstützung und hilfreiche, konstruktive Anregungen gilt Prof. Dr. Gerhard Bäcker, IAQ, Dr. Markus M. Grabka, DIW, Prof. Dr. Hans-Werner Klusemann, Prof. Dr. Thomas Elkeles, beide Hochschule Neubrandenburg sowie Kolleginnen und Kollegen der DRV und des IAB in Nürnberg. 93 1 Methodische Anmerkungen Dem vorliegenden Berichtsteil liegt in Anlehnung an den Lebenslagenansatz die folgende Forschungsfrage zugrunde: „Welche Indikatoren lassen sich in Mecklenburg-Vorpommern identifizieren, um Armutslagen der Bevölkerung möglichst regionalbezogen aufzuzeigen?“ Hierfür wurden im Wesentlichen mittels Sekundäranalysen vorliegender Erhebungen, Studien, Forschungsberichten und Statistiken etc. relevante landes- oder sogar regionalbezogene Daten gesammelt und thematisch zusammengefügt. Zu speziellen Fragestellungen wurden einzel- und landesbezogene Sonderauswertungen der DRV, der Deutschen Bundesbank und des IAB genutzt. Es wurde stets die kleinräumigste Ebene dargestellt, für die Daten verfügbar waren. Wozu es keine landesweiten Daten zu erheben gab (z. B. Vermögenssituation), werden Bundesdaten veröffentlicht. In einigen Kapiteln werden zur besseren Hinführung zu den nachfolgend behandelten Sachverhalten allgemeine (z. B. System der gesetzlichen Rentenversicherung) oder deutschlandweite Hinweise vorangestellt. Migranten betreffende Aspekte sind in diesem Berichtsteil überwiegend ausgespart worden. Die wesentlichen Datenquellen sind: Destatis, sisonline, Amtliche Sozialberichterstattung des Bundes und der Länder, Statistisches Amt Mecklenburg-Vorpommern, Statistik der BA, Statistiken der DRV, Erhebungen vom IAB, dem IAQ, dem DIW sowie dem WSI der HansBöckler-Stiftung und Forschungsergebnisse der Bertelsmann Stiftung. Daneben wurde forschungsfragenrelevante Literatur hinzugezogen. 94 2 Grundaussagen zur Armutsgefährdung, Grundsicherung, Wohngeld, verdeckten Armut und Rechtsschutz Die Armutsgefährdungsquote weist den Anteil der Bevölkerung aus, der nicht über 60 Prozent des Medians des Äquivalenzeinkommens (egal aus welchen Quellen) nach der OECDSkala verfügt. Kritisch kann hier angemerkt werden, dass der Wert von 0,3 für Kinder bis 14 Jahre ausdrücken soll, dass man für Kinder mit 30 Prozent des Erwachsenenwertes ein identisches Wohlstandsniveau eines Erwachsenen erreichen könne. Die OECD misst regelmäßig die Armutsquoten (OECD Povertyline after taxesandtransfers). In Deutschland stieg diese OECD-Armutskurve ab ca. 1999 an, flachte 2007/2008 etwas ab, stieg 2009 deutlich an und sank 2010 dann wieder etwas ab (Unger et al. 2013). Bedenklich ist an dieser Entwicklung, dass es trotz eines Beschäftigungsanstiegs nicht zur Abnahme der Armut kommt. Unter Zugrundelegung des Bundesmedians wies Mecklenburg-Vorpommern nach Bremen die höchste Armutsgefährdungsquote mit 23,6 Prozent für 2013 aus (Quelle: Stat. Ämter des Bundes und der Länder). Die Quote stieg trotz einer guten gesamtwirtschaftlichen Lage und eines hohen Beschäftigungsstandes gegenüber den beiden Vorjahren wieder leicht an. Regional betrachtet ergab sich für den Nordosten folgendes Bild: Tab. 1: Armutsgefährdungsquoten nach Raumordnungsregionen Region 2008 2009 2010 2011 2012 2013 Mecklenburgische Seenplatte 23,7 26,9 23,8 23,1 24,5 24,8 Mittleres Mecklenburg / Rostock 23,6 20,7 20,2 21,3 21,1 21,9 Vorpommern 25,7 24,1 24,6 23,9 25,3 27,8 Westmecklenburg 23,1 21,8 21,4 20,4 20,8 20,3 Quelle: Destatis, Tabelle A 1.4.1 Armutsgefährdungsquoten nach Raumordnungsregionen gemessen am Bundesmedian, Basis: Mikrozensus Hiernach wird deutlich, dass in den östlichen Landesteilen (Regionen Seenplatte, Vorpommern) die Armutsgefährdungsquote regional im Verlauf von sechs Jahren anstieg, während im Westteil des Landes und um Rostock herum die Quote sank. Ein noch sehr viel differenziertes Bild entfaltet sich, wenn man soziodemographische Merkmale näher betrachtet (Tab. 2). Tendenziell entwickeln sich hier die meisten Werte nach oben. Personen unter 18 Jahre waren 2013 mit 33,2 Prozent überdurchschnittlich oft armutsgefährdet. Junge Erwachsene zwischen 18 und 25 Jahren wiesen mit 38,7 Prozent einen noch höheren überdurchschnittlichen Wert aus (hierbei sind aber auch die geringen Ausbildungsvergütungen oder Einkünfte von Studierenden zu berücksichtigen). Etwa zwei Drittel der Personen in dieser Gruppe empfanden sich nicht als arm (vgl. 4. ARB 2013, S. 196). Frauen waren durchweg etwas höher armutsgefährdet als männliche Personen, insbesondere in der Altersgruppe der unter 25-Jährigen. 95 Tab. 2: Armutsgefährdungsquoten nach sozialen und demographischen Merkmalen in Prozent Merkmal 2010 2011 2012 2013 unter 18 Jahre 29,9 30,0 33,0 33,2 18 - unter 25 35,1 33,9 35,9 38,7 50 - unter 65 22,1 21,2 21,8 23,6 65 und älter 13,3 13,4 14,0 14,7 männlich 22,2 22,0 22,4 23,2 weiblich 22,6 22,2 23,2 24,0 männlich, 18 - unter 25 33,1 31,4 32,5 36,2 männlich, 65 und älter 11,8 12,0 11,8 13,2 weiblich, 18 - unter 25 37,4 36,7 39,9 41,3 weiblich, 65 und älter 14,4 14,4 15,8 15,8 Singlehaushalt 36,0 37,8 37,9 37,4 alleinerziehend mit Kind(-ern) 53,3 58,0 58,0 55,5 zwei Erwachsene m. drei oder mehr Kindern 40,1 39,1 43,5 39,1 Erwerbstätige 13,2 13,0 12,4 13,3 Erwerbslose 67,4 67,4 70,0 73,0 Nichterwerbspersonen 25,4 26,1 27,3 28,3 davon Rentner/Pensionäre 15,7 16,7 17,2 18,6 niedrig 47,9 46,9 51,0 51,9 mittel 25,7 25,4 25,7 26,2 hoch 8,3 7,9 7,9 8,8 Alter Geschlecht Alter und Geschlecht Haushaltstyp Erwerbsstatus Qualifikationsniveau nach ISCED nach Haupteinkommensbezieher* Quelle: Destatis, Tab. A1.1.08, Armutsgefährdungsquoten nach soziodemographischen Merkmalen nach Bundesmedian; Basis: Mikrozensus; Amtliche Sozialberichterstattung des Bundes und der Länder. * : Qualifikationsniveau entsprechend der internationalen Klassifikation des Bildungswesens; 0-2 = niedrig; 3+4 = mittel; 5+6 = hoch Außerdem wiesen Einpersonenhaushalte und insbesondere Haushalte von Alleinerziehenden (höchster Wert mit 55,5 % in dieser Gruppe) und Haushalte, in denen drei oder mehr Kinder leben (39,1 %), überdurchschnittlich hohe Armutsgefährdungsquoten aus. Hier verbirgt sich ein hoher Anteil der „Kinderarmut“ (s. Kap. 3 in diesem Abschnitt). Betrachtet man den Erwerbsstatus der Personen, so fällt auf, dass 2013 immerhin 13,3 Prozent der Erwerbstätigen und mit leicht steigender Tendenz sogar trotz Arbeit armutsgefährdet waren. Die Armutsgefährdungsquote bei Erwerbslosen ist seit Jahren ansteigend und erreichte 2013 den Spitzen96 wert von 73,0 Prozent. Arbeitslosigkeit stellt somit das größte Armutsrisiko dar. Rentner/Pensionäre wiesen den Wert 18,6 Prozent aus, der zunächst unterdurchschnittlich ausfällt. Allerdings muss hier beachtet werden, dass dieser Wert seit 2010 kontinuierlich und deutlich stieg (wie auch schon in den Jahren 2005 bis 2008). Außerdem kann festgestellt werden, dass Menschen mit niedrigem Bildungsstand einen signifikant höheren Gefährdungsgrad mit zuletzt 51,9 Prozent aufzeigten. Die hohe Armutsgefährdungsquote weist deutlich darauf hin, dass in MecklenburgVorpommern im Vergleich zu anderen Regionen der Bundesrepublik weniger verdient wurde. Die niedrigeren Verdienste haben natürlich auch Auswirkungen auf andere Bereiche, die auch in dieser Studie z. T. beleuchtet werden, und prägen das Gesamterscheinungsbild einer armen Region mit (z. B. bei der Ausstattung mit langlebigen Konsumgütern, der Wohneigentumsquote, gesundheitlichen Aspekten etc.). Hinsichtlich der Situation von armen Alleinerziehenden weisen neuere Studien darauf hin, dass sowohl eine Erwerbstätigkeit als auch der Wechsel in einen Paarhaushalt durch Eingehen einer neuen Partnerschaft Wege aus der Armut sein können. Hierbei ist zu beobachten, dass bei erwerbstätigen Alleinerziehenden die Chancen auf eine neue Partnerschaft steigen. Nichterwerbstätige alleinerziehende Frauen werden eher auch Partner mit geringen ökonomischen Ressourcen finden, was dann nicht unbedingt zur Überwindung einer Armutslage führt (vgl. Kraus 2014, S.54, 241). Diese neueren Erkenntnisse scheinen auch für den Nordosten aufgrund der Arbeitsmarktsituation und der stark geschlechterspezifisch segregierten Binnenmigration virulent zu sein. Ein weiteres Indiz für eine hohe Quantität der Armutspopulation stellt die Mindestsicherungsquote dar. Hiermit wird der Anteil der Bevölkerung dargestellt, der von Transferleistungen der sozialen Mindestsicherungssysteme (SGB II, XII-Leistungen, Grundleistungen nach AsylblG und Kriegsopferfürsorge nach dem BVG) lebt. In den Jahren 2012 und 2013 lebten fast 220.000 Personen (2010 waren es noch 236.035 Personen), entsprechend gleichbleibend 13,7 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes, von derartigen Leistungen. Damit lag Mecklenburg-Vorpommern nach Berlin, Bremen und Sachsen-Anhalt an vierthöchster Stelle im Bundesvergleich. Der Unterschied zwischen Bayern, mit der niedrigsten Quote von 4,3 Prozent, und Mecklenburg-Vorpommern betrug 9,5 Prozentpunkte (Quelle: BA; Stat. Ämter des Bundes und der Länder, Tab. B 1.1). Die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Mindestsicherungsquote sind im Nordosten marginal und lagen 2012 nur einen Prozentpunkt zulasten der Männer auseinander (13/14 %). Die meisten Bezieher erhielten Leistungen nach SGB II (fast 195.000 Personen, entsprechend rd. 88 % der Mindestsicherungsleistungsbezieher), die Grundsicherungsempfänger machten rd. 19.000 Personen, entsprechend 8,7 Prozent, aus. Erfreulich ist, dass in MecklenburgVorpommern die Zahl der Mindestsicherungsempfänger seit 2006 bis 2012 kontinuierlich von über 300.000 auf eben 220.000 sank. Dies entspricht einem Rückgang um rd. 27 Prozent. Bundesweit lag der Rückgang nur bei 12,7 Prozent und in den neuen Bundesländern (einschl. Berlin) bei 19,7 Prozent. Um ein Gespür dafür zu entwickeln, ab welcher tatsächlichen Einkommenshöhe ein Haushalt nach der innerhalb der EU geltenden Armutsdefinition (60 % des Medians des bedarfsgewichteten Nettoäquivalenzeinkommen der Bevölkerung nach der OECD-Skala in Privathaushalten 97 am Ort der Hauptwohnung) die Armutsgefährdungsschwelle in einem Jahr erreicht, wird diese auch jährlich auf Basis von Zensus-Daten errechnet. Für Mecklenburg-Vorpommern ergaben sich 2013 folgende Euro-Werte. Tab. 3: Armutsgefährdungsschwellen Einpersonenhaushalt (Durchschnittswert Neue Bundesländer) Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren (Durchschnittswert Neue Bundesländer) 2010 696 (738) 1.461 (1.550) 2011 718 (754) 1.507 (1.583) 2012 723 (768) 1.518 (1.614) 2013 735 (786) 1.544 (1.651) Quelle: Statistische Berichte Entwicklung Armutsgefährdung in MV, StA MV 2013; Destatis Mecklenburg-Vorpommern nahm hier mit Abstand vor Sachsen-Anhalt die Schlussposition ein und wies damit im Bundesvergleich die niedrigste Armutsgefährdungsschwelle in Euro aus. Allerdings schwanken die Summen z. T. erheblich je nach zugrunde gelegter Datenquelle: EVS 2008: SOEP 2009 EU-SILC 2009 Mirkrozensus 2010 1.063 Euro 993 Euro 952 Euro (ohne selbstgenutzten Wohneigentum) 848 Euro (jährlich erhoben) Alle Werte für Alleinstehende, Bund; Quelle: 4. ARB 2013, S. 457f. Betrachtet man den Gini-Koeffizienten, der die Spreizung der Äquivalenzeinkommen ausdrückt, wird deutlich, dass die Einkommensspreizung im Nordosten mit einem seit 2009 gleichbleibenden Wert von 0,26 eher gering war. Nur Sachsen-Anhalt und Thüringen lagen mit 0,25 noch knapp darunter; den höchsten Wert fanden wir für Hamburg mit 0,32 (Destatis, Tabelle A.2 Äquivalenzeinkommen). ALG II-Bezieher („Hartz IV“) Bundesweit waren im Juni 2013 insgesamt 591.600 Personen, davon rd. 132.000 Personen über 50 Jahre als ALG II-Bezieher sozialversicherungspflichtig beschäftigt, sog. „Aufstocker“. Fast 95.000 von ihnen waren teilzeitbeschäftigt. Gegenüber 2011 nahm die Zahl der Älteren um 13,6 Prozent zu, während die Gesamtzahl nahezu stagnierte. Wirft man einen Blick auf bestimmte Branchen, so ergab sich folgendes Bild: Im Gastgewerbe waren insgesamt fast 72.000 sozialversicherungspflichtige ALG II-Bezieher beschäftigt, davon fast 50.000 in Teilzeit. Im Handel über 91.000, davon über 60.000 in Teilzeit und im Reinigungsgewerbe fast 57.000 mit nahezu 50.000 Teilzeitbeschäftigten. Aber auch im Gesundheits- und Sozialwesen waren über 75.000 dieser ALG II-Bezieher zu finden, davon über 58.000 in Teilzeit (lt. Statistik der BA). Dies lässt z. T. Rückschlüsse auf die in diesen Branchen erzielten Einkünfte zu. Diese Branchen haben auch für Mecklenburg-Vorpommern eine Relevanz. Lt. Erhebungen des WSI gab es 2012 insgesamt 43.331 Aufstocker in MecklenburgVorpommern, die neben ihrem Arbeitsverdienst noch SGB-Leistungen bezogen, um ihren Lebensunterhalt zu decken, davon über 23.900 Frauen. Gegenüber 2011 verringerte sich der 98 Aufstockeranteil um 4,6 Prozent (WSI Datenkarte 2013: Mecklenburg-Vorpommern). Im Nordosten gab es im Januar 2014 dann rd. 44.700 erwerbstätige ALG II-Bezieher, was einer relativ stabilen „Aufstocker-Quote“ im Zeitvergleich von 31,2 Prozent entspricht (Statistik der BA). Tab. 4: SGB II-Quote im Zeitverlauf für Mecklenburg-Vorpommern in Prozent 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 Männer 20,8 19,4 17,7 17,5 16,5 15,8 15,4 15,1 Frauen 20,9 20,0 18,5 17,8 16,8 16,1 15,7 15,4 insgesamt 20,8 19,7 18,1 17,6 16,7 16,0 15,6 15,3 unter 15 J. 33,1 31,8 28,3 27,2 25,6 24,5 24,2 23,9 Quelle: BA, Statistik der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II Die grafische Abbildung verdeutlicht die grundsätzlich abnehmende Tendenz der SGB IIQuote im Nordosten. Bei den Frauen fiel sie verhaltener aus bzw. stagnierte und die Quote lag marginal höher als bei Männern. Abb. 1: Die SGB II-Quote im Zeitverlauf für Mecklenburg-Vorpommern (in %) 25 SGB II-Quote 20 15 10 5 0 2006 2007 Männer 2008 Frauen 2009 2010 Jahre 2011 Linear (Männer) 2012 2013 Linear (Frauen) Quelle: BA, Statistik der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II Die Quote ist aktuell erfreulicherweise weiter deutlich gesunken. Im April 2015 beträgt die SGB II-Quote nur noch 11,2 Prozent im Nordosten. Wie überall in den neuen Ländern ist sie auch in Mecklenburg-Vorpommern gesunken. Der Anteil der Sozialgeldempfänger (§ 20 ff. SGB II) im Alter von unter 15 Jahren beträgt zuletzt 23,9 Prozent, was einen leichten Rückgang gegenüber 2012 bedeutet. Erfreulich ist hier die deutliche Tendenz nach unten im gesamten Zeitverlauf. Allerdings liegt der letzte Wert immer noch zehn Prozentpunkte über dem Bundesdurchschnitt. Insgesamt werden durch die Jobcenter in Mecklenburg-Vorpommern fast 112.000 Bedarfsgemeinschaften (§ 19 i. V. m. § 7 SGB II) betreut. In diesen Bedarfsgemeinschaften lebt eine hohe Anzahl von Kindern (über 20.000). 99 Abb. 2: SGB II Hilfebedürftige nach Bundesländern Quelle und Grafik: Deutscher Landkreistag, April 2015, auf Grundlage der BA Statistik Insgesamt ging die Anzahl der Bedarfsgemeinschaften im Land 2013 gegenüber dem Vorjahr um 2,2 Prozent zurück (Stat. JB MV 2014, StA MV, S. 401). Seit 2006 wird mit dem Panel „Arbeitsmarkt und soziale Sicherung (PASS)“ die soziale und materielle Lage von SGB II-Leistungsbeziehern untersucht, zuletzt die 7. Welle 2013. Dieser aus 23 Items gebildete Deprivationsindex spiegelt Aussagen über die Wohnsituation, Güterausstattung, Befriedigung grundlegender Bedürfnisse (z. B. Einnahme einer warmen Mahlzeit) sowie die Durchführung von Freizeitaktivitäten, die aus finanziellen Gründen nicht wahrgenommen/gekauft werden können, wider. Insgesamt lebten 2013 rd. 4,54 Mio. Personen in nach SGB II-Kriterien definierten Bedarfsgemeinschaften. PASS beleuchtet, dass 61 Prozent der ALG II-Bezieher über keine Ersparnisse verfügten, die Armutsrisikoquote in dieser Bevölkerungsgruppe mit 76,9 Prozent deutlich überdurchschnittlich war, knapp 50 Prozent keine Schulden hatten (dagegen aber über 55 % bei den Nicht-SGB-Beziehern), 42,8 Prozent Schulden bis 20.000 Euro hatten, hiervon 40 Prozent einen Konsumentenkredit, 48,3 Prozent aber privat bei Freunden oder Verwandten verschuldet waren. Sonstige Schulden wurden mit 33,1 Prozent ermittelt, hierbei dürfte es sich auch um einen hohen Anteil an Verbindlichkeiten bei Versandhäusern handeln. Die Zufriedenheit mit dem Lebensstandard wurde mit einem Wert von 5,5 und die Zufriedenheit mit der Wohnung mit 6,6 angegeben (jeweils auf einer Skala von 0 bis 10). Der Deprivationswert erreichte 6,2 hinsichtlich Gegenständen/Aktivitäten gegenüber 1,4 bei Nicht-Beziehern. Die Mehrzahl der Panel-Befragten konn- 100 ten sich aus finanziellen Gründen (6 - 9 Items; 37,9 %) etwas nicht leisten. Einige markante Aussagen: 5 Prozent der SGB II-Bezieher verzichteten aus monetären Gründen auf eine tägliche warme Mahlzeit, 10 Prozent gaben an, keine warme Winterbekleidung erwerben zu können und 40 Prozent verzichteten sogar auf nicht voll von der Krankenkasse übernommene medizinische Leistungen (z. B. Zahnersatz, Brille). Es liegen keine Erkenntnisse vor, die darauf hindeuten, dass in Mecklenburg-Vorpommern mit signifikanten Abweichungen dieser Aussagen zu rechnen wäre (vgl. IAB-Kurzbericht 24/2014). Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Sozialhilfe (SGB XII) Im Jahr 2005 zählten in Mecklenburg-Vorpommern noch mehr Frauen (7.337) als Männer (6.909) zu den Empfängern von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Tab. 5: Die Entwicklung der Grundsicherungsempfänger in MecklenburgVorpommern seit 2005 Jahr jeweils am 31.12. 2005 Gesamtanzahl 2006 Gesamtanzahl 2007 Gesamtanzahl 2008 Gesamtanzahl 2009 Gesamtanzahl 2010 Gesamtanzahl 2011 Gesamtanzahl 2012 Gesamtanzahl Grundsicherungsempfänger männlich/weiblich 6.909 7.337 Erwerbsgeminderte unter 65 Jahre männlich/weiblich 5.305 14.246 7.265 7.598 7.867 5.564 8.251 16.782 8.577 7.742 16.319 9.051 7.850 16.901 9.627 8.222 17.849 10.428 8.652 3.681 6.027 1.701 1.741 9.861 4.118 1.860 4.152 1.798 4.306 1.821 3.544 5.365 4.571 1.954 12.244 8.303 3.590 5.388 11.536 7.673 4.133 5.993 10.931 7.230 4.033 5.774 10.789 6.779 3.917 5.618 3.834 6.671 3.768 5.372 9.245 15.635 8.531 1.604 8.874 14.863 7.768 3.569 Erwerbsgeminderte ab 65 Jahre männlich/weiblich 3.651 5.605 4.844 2.125 3.808 19.080 13.147 5.933 21.009 14.492 6.517 2013 Gesamtanzahl Quelle: BT Drs.18/1013 auf Grundlage Regionaldatenbank der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder zu Leistungsberechtigten von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung; StA MV, Kreisdaten, Öffentliche Sozialleistungen, Tab. 2.12.3 101 Deutliche Veränderungen zeigten sich bei der Altersverteilung zwischen 2009 und 2012: Um rd. 26 Prozent ging die Zahl der 18- bis 25-jährigen Grundsicherungsempfänger zurück. Nahezu konstant blieb dagegen die Zahl der 40- bis 50-Jährigen. Eine 35-prozentige bzw. eine 38-prozentige Zunahme verzeichneten die 30- bis 40-Jährigen bzw. die 50- bis 60-Jährigen. Eine extreme Zunahme gab es bei den 60- bis 65-Jährigen mit 95 Prozent, wohingegen die Zahl der über 65-jährigen Grundsicherungsempfänger lediglich um 10,5 Prozent anstieg. Die enorme Zunahme war insbesondere durch die steigende Anzahl von niedrigen EM-Renten bedingt. Seit 2008 beziehen mehr Männer als Frauen Grundsicherungsleistungen in Mecklenburg-Vorpommern (wie auch in den anderen neuen Ländern; allerdings ist diese Umkehrung nicht in den alten Bundesländern zu beobachten). Die Abbildungen 3 und 4 verdeutlichen die Entwicklungen bei Männern und Frauen in Mecklenburg-Vorpommern, sowohl bei den unter 65-Jährigen als auch den ab 65-Jährigen, die erwerbsgemindert sind. Erwerbsgeminderte unter 65 Jahre Anzahl Abb. 3: 9.000 8.000 7.000 6.000 5.000 4.000 3.000 2.000 1.000 0 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 männlich 5.305 5.564 6.027 6.671 6.779 7.230 7.673 8.303 weiblich 3.569 3.681 3.834 4.118 4.152 4.306 4.571 4.844 männlich weiblich Quelle: StA MV. Erwerbsgeminderte ab 65 Jahre Anzahl Abb. 4: 4.500 4.000 3.500 3.000 2.500 2.000 1.500 1.000 500 0 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 männlich 1.604 1.701 1.741 1.860 1.798 1.821 1.954 2.125 weiblich 3.917 4.033 4.133 3.590 3.544 3.651 3.808 3.768 Jahre männlich weiblich Quelle: StA MV. 102 Insgesamt nahm die Anzahl der Grundsicherungsempfänger in Mecklenburg-Vorpommern zwischen 2005 und 2012 um 33,9 Prozent zu (real um 4.834 Personen). Betrachtet man die Werte näher, so fällt auf, dass die höchsten Zuwachsraten bei Männern auftraten: Zwischen 2005 und 2012 stieg der Anteil der männlichen Grundsicherungsempfänger um 50,9 Prozent, bei Frauen hingegen nur um 17,9 Prozent. Noch differenzierter wird es bei der Betrachtung der Alterskohorten: Bei den unter 65-jährigen Männern lag die Zuwachsrate bei 56,5 Prozent, bei Frauen bei 35,7 Prozent. Noch deutlicher fällt der Unterschied bei den über 65-Jährigen aus: Hier nahm die Anzahl der männlichen Grundsicherungsempfänger um 32,5 Prozent zu, während die Quote bei den Frauen nur um 1,1 Prozent anstieg. Bemerkenswert ist auch, dass ab 2008 die Gesamtzahl der männlichen Hilfeempfänger die der Frauen übersteigt. Somit ist die grundsicherungsalimentierte Armut nicht länger „weiblich“. Es zeichnet sich hier ein Trend hin zu einer zunehmend männlichen (Alters-)Armut ab. Für die Verteilung der Grundsicherungsempfänger nach Geschlecht ergab sich für 2012 folgendes Bild: Grundsicherungsempfänger 12.000 10.000 8.000 Anzahl Abb. 5: 6.000 4.000 2.000 0 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 männlich 6.909 7265 7.768 8.531 8.577 9.051 9.627 10.428 weiblich 7.337 7.598 7.867 8.251 7.742 7.850 8.222 8.652 Jahr männlich weiblich Quelle: StA MV. Männliche Grundsicherungsempfänger: 10.428 (54,7 %) davon 50 - 60 Jahre alt 2.439 (23,7 %) Anzahl aller erwerbsgeminderten Personen unter 65 Jahren 8.303 (79,6 %) 65 Jahre und älter 2.125 (21,4 %) Weibliche Grundsicherungsempfänger: 8.652 (45,3 %) davon 50 - 60 Jahre alt 1.196 (13,8 %) Anzahl aller erwerbsgeminderten Personen unter 65 Jahren 4.844 (56,0 %) 65 Jahre und älter 3.808 (44,0 %) 103 Die Gesamtzahl der Grundsicherungsempfänger Mecklenburg-Vorpommerns im Jahr 2012 betrug 19.080. Altersarmut ist (noch) weiblich: Fast doppelt so viele Frauen wie Männer über 65 Jahre erhalten Grundsicherung im Alter. Dafür erhalten rd. 23 Prozent mehr Männer im Alter unter 65 Jahren diese i. d. R. wegen Erwerbsminderung. Dies wird schon in der Altersgruppe der 50- bis 60-Jährigen deutlich, in der Männer mit rd. 10 Prozent mehr vertreten waren als Frauen. Die Quote der nicht in Einrichtungen Versorgten weichte mit rd. 72 Prozent (Männer) bzw. 74,3 Prozent (Frauen) nicht signifikant ab. Die Anzahl der vollerwerbsgeminderten Personen unter 65 Jahre in Mecklenburg-Vorpommern betrug 2012 insgesamt 10.549. Die Nettozahlungen der Grundsicherungsempfänger außerhalb von Einrichtungen betrugen im Jahr 2012 378 Euro (Männer: 395 €; Frauen: 358 €), für Hilfeempfänger in Einrichtungen lagen die Werte noch etwas niedriger. Die geringere Summe bei den Frauen weist darauf hin, dass sie höhere anrechenbare sonstige Einkünfte als die Männer vorweisen konnten. Die bisherige durchschnittliche Bezugsdauer von Grundsicherungsleistungen lag bei rd. vier Jahren, bei Empfängern in Einrichtungen stieg dieser Wert um rd. ein Jahr. Nichtdeutsche Leistungsempfänger wiesen eine deutlich kürzere Bezugsdauer aus. Die durchschnittlich anerkannten Aufwendungen für Warmmieten (§ 42 Abs.2 SGB XII) lagen insgesamt bei rd. 250 Euro pro Monat, was auf bescheidene Wohnverhältnisse hindeutet (Quelle: StA MV, Sozialhilfe und soziale Grundsicherung in Mecklenburg-Vorpommern 2012, Statistische Berichte K l-j). Die Gesamtzahl der Empfänger von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Mecklenburg-Vorpommern betrug Ende 2013: Insgesamt: außerh. v. Einrichtungen in Einrichtungen 18 bis 64 Jahre 65 Jahre und älter männlich weiblich Abb. 6: Empfänger von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Quelle: StA MV. 104 21.009 15.321 5.688 14.492 6.517 11.541 9.468 Abbildung 6 verdeutlicht die regionale Verteilung der Empfänger von Grundsicherung in Mecklenburg-Vorpommern sehr anschaulich. So war in den Landkreisen die überwiegende Anzahl der Empfänger von Grundsicherung unter 65 Jahre alt, wenn auch teilweise erwerbsgemindert. Lediglich in den beiden kreisfreien Städten, hier insbesondere in der Landeshauptstadt, war der Anteil der über 65-jährigen Grundsicherungsempfängern höher. Dies deutet auf eine höhere altersarme Population in diesen Städten hin. Die Verteilung der Grundsicherungsempfänger im Alter auf die Landkreise in MecklenburgVorpommern fiel für 2012 folgendermaßen aus. Tab. 6: Verteilung der Grundsicherungsempfänger im Alter 65 Jahre und älter 2012 2013 Gebiet Kreisfreie Stadt Rostock 65 Jahre und älter außerhalb von Einrichtungen 2012 2013 65 Jahre und älter in Einrichtungen 2012 2013 1.131 1.220 1.032 1.126 99 94 Kreisfreie Stadt Schwerin 923 947 848 868 75 79 Landkreis Mecklenburgische Seenplatte 703 830 482 534 221 296 Landkreis Rostock 504 518 320 340 184 178 Landkreis VorpommernRügen 654 687 475 504 179 183 Landkreis Nordwestmecklenburg 626 649 503 524 123 125 Landkreis VorpommernGreifswald 779 927 571 631 208 296 Landkreis LudwigslustParchim 613 739 439 525 174 214 Summe MecklenburgVorpommern 5.933 6.517 4.670 5.022 1.263 1.465 Quelle: sisonline, StA MV 2012, Stat. Jahrbuch MV 2014 Hier fällt besonders die überproportionale Steigerungsrate in den Kreisen Mecklenburgische Seenplatte, Vorpommern-Greifswald sowie im Kreis Ludwigslust-Parchim auf: Bei allen Älteren betrug die Steigerung 18, 19 bzw. 20,5 Prozent. Innerhalb von Einrichtungen: 34, 42 sowie 23 Prozent. Insgesamt war der Anstieg mit 16 Prozent binnen Jahresfrist bei den Empfängern in Einrichtungen höher als bei Empfängern außerhalb von Einrichtungen mit 7,6 Prozent. Die Grundsicherungsquote für Empfänger von Grundsicherung im Alter (SGB XII) betrug für das Jahr 2012 in Mecklenburg-Vorpommern 1,6 Prozent. Sie lag damit um 1,1 Prozent unter dem Bundesdurchschnitt von 2,7 Prozent. Allerdings wies Mecklenburg Vorpommern damit die höchste Quote aller neuen Länder aus und lag um 0,4 Prozent über dem Durchschnittswert der neuen Bundesländer. 105 Differenziert nach Frauen und Männern betrachtet, ergibt sich folgendes Bild: Für Frauen wurde die Grundsicherungsquote mit 1,8 Prozent ermittelt; hier kann ein sehr geringer Anstieg um 0,1 Prozent seit 2009 beobachtet werden. Die Quote betrug bei den Männern 1,4 Prozent; hier ist gegenüber 2010 ein geringer Anstieg um 0,2 Prozent zu beobachten, nachdem der Wert seit 2006 unverändert bei 1,2 Prozent lag. Für beide Kohorten lagen die Werte über den Quoten der anderen neuen Länder. Insbesondere für Männer waren sie steigend, wie oben ausgeführt (Destatis Tabelle B3). Für 2013 gab es erneut einen Anstieg (Pressemitteilung Destatis 04.11.2014, 384/14). Sozialhilfe (SGB XII) In Mecklenburg-Vorpommern gab es am 31.12.2012 insgesamt 10.151 Sozialhilfeempfänger (3. Kapitel SGB XII; HLU). Davon waren 5.958 männlich und 4.193 weiblich, der Migrantenanteil lag bei lediglich knapp 1,4 Prozent. Knapp zwei Drittel aller Leistungen wurden für Empfänger in Einrichtungen erbracht. Von 2009 bis 2012 gab es bei den unter 7-Jährigen einen moderaten Anstieg, bei den 7- bis 18-Jährigen einen deutlichen Anstieg um 39 Prozent, ebenso in der Altersgruppe der 50- bis 65-Jährigen, wo die Werte um rd. 41 Prozent anstiegen. Moderat fiel auch die Zunahme in der Altersgruppe der 25- bis 50-Jährigen aus, die Zahlen der ab 65-Jährigen stagnierten. Die durchschnittliche bisherige Hilfegewährungsdauer nahm im gleichen Zeitraum innerhalb von Einrichtungen um ein Jahr auf fast 53 Monate zu, im ambulanten Bereich lediglich um rd. zwei Monate auf gut 20 Monate. Das Durchschnittsalter der Hilfeempfänger in Einrichtungen betrug 2012 über 51 Jahre gegenüber den nicht in Einrichtungen versorgten (36 Jahre), zwischen dem 50 und 60 Lebensjahr findet sich die zahlenmäßig größte Gruppe. 7- bis 11-jährige Kinder wiesen mit fast 30 Monaten die längste bisherige Hilfegewährungsdauer außerhalb von Einrichtungen auf, was auch als ein Indiz für eine verbreitete Kinderarmut im Nordosten gewertet werden kann. Bei den Bedarfsgemeinschaften der Empfänger von HLU außerhalb von Einrichtungen stellten die EM-Rentenempfänger die größte Gruppe mit 1.240 von rd. 3.200 Bedarfsgemeinschaften. Dies weist einmal mehr auf die Problematik der niedrigen EM-Renten hin. Von den rd. 9.800 Bedarfsgemeinschaften insgesamt erhielten über 5.500 (davon fast 5.300 in Einrichtungen) lediglich eine Nettozahlung zwischen 100 und 150 Euro pro Monat (oftmals Taschengeld für Einrichtungsbewohner), lediglich knapp 300 Bedarfsgemeinschaften erhielten Zahlungen über 875 Euro pro Monat. Der durchschnittliche Nettoanspruch lag bei monatlich 245 Euro. Dies verweist auf vorrangige Sozialleistungen, da HLU immer nur subsidiär gewährt wird (StA MV, Sozialhilfe und soziale Grundsicherung in Mecklenburg-Vorpommern 2012, Statistische Berichte K l-j). Bei der Betrachtung der Werte fallen die hohen einwohnerbezogenen Fallzahlen in Schwerin besonders auf. Der Sozialhilfeempfängeranteil im Kreis Mecklenburgische Seenplatte wies den zweithöchsten Wert auf und lag einen Punkt über dem Landesdurchschnitt gefolgt von Vorpommern-Rügen. Dies weist auf die partielle Strukturschwäche (neben der Kreisgröße) dieser Gebietskörperschaften hin. Der Anteil männlicher Hilfeempfänger in Einrichtungen betrug 58,6 Prozent. Auffällig erscheint der unterdurchschnittliche Sozialhilfeempfängeranteil im östlichsten Kreis Vorpommern-Greifswald mit 6,4 Hilfeempfängern je 1.000 Einwohner. 106 Da dieser Kreis bei anderen Sozialleistungen auch deutlich höhere bis überdurchschnittliche Werte auswies, kann hier eine hohe verdeckte Armutsquote vermutet werden. Tab. 7: Empfänger laufender Hilfen zum Lebensunterhalt am 31.12.2013 nach Kreisen bzw. kreisfreien Städten Kreise/kreisfreie Städte Stadt Rostock Insgesamt je 1.000 Einwohner In Einrichtungen Gesamt Männl. Weibl. Nichtdeutsche Durchschnittsalter 1.336 6,6 664 415 249 48 43,4 905 9,9 351 194 157 60 41,3 Mecklenburgische Seenplatte 2.069 7,8 1.333 781 552 7 48,4 Rostock 1.157 5,5 779 435 344 8 47,1 VorpommernRügen 1.556 7,0 1.063 644 419 5 47,3 998 6,4 617 373 244 20 46,6 VorpommernGreifswald 1.527 6,4 1.106 648 458 3 48,7 LudwigslustParchim 1.353 6,4 1.009 566 443 8 47,4 MecklenburgVorpommern 10.901 6,8 6.922 4.046 2.866 159 46,7 Schwerin Nordwestmecklenburg Quelle: Stat. Jahrbuch MV, StA MV 2014, S. 400 Die Verifizierung dieser Annahme müsste weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. Bemerkenswert ist noch die niedrige Anzahl von Personen mit Migrationshintergrund bei den Sozialhilfeempfängern als auch das überdurchschnittlich hohe Alter der Empfänger in den Kreisen (Durchschnittsalter hier 47,6 Jahre) gegenüber denen der beiden kreisfreien Städte (Durchschnittsalter hier 42,4 Jahre). Leistungen nach dem 5. bis 9. Kapitel des SGB XII (Vorbeugende Gesundheitshilfe, Hilfen bei Krankheit und zur Familienplanung und bei Schwangerschaft/Mutterschaft, Eingliederungshilfen für Behinderte, Hilfe zur Pflege (inkl. Pflegegeld), Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten sowie Alten- und Blindenhilfe und in sonstigen Lebenslagen) wurden im Jahre 2012 für insgesamt 36.122 Personen erbracht, 56 Prozent hiervon männlich und 44 Prozent weiblich. Lediglich 1,45 Prozent Nichtdeutsche erhielten entsprechende Leistungen. Seit 2009 gab es einen Anstieg der Empfängerzahlen dieser Hilfen um 9,9 Prozent. Insgesamt 63 Prozent der Leistungen wurden für Empfänger in Einrichtungen erbracht. Die höchsten Zuwächse waren im Bereich der Hilfe zur Pflege mit 53,2 Prozent zu verzeichnen, gefolgt von der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen mit einem Anstieg von 10,6 Prozent. Seit 2010 waren Rückgänge bei der Hilfe zur Gesundheit und den Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten zu verzeichnen. Die Hilfen zur Familienplanung wurden für 2012 mit 126 Fällen außerhalb von Einrichtungen landesweit ausgewiesen. Hier wäre zu untersuchen, ob durch eine verbesserte Leistungsgewährung unerwünschte und insbesondere frühe Schwangerschaften vermieden werden könnten (Mecklen107 burg-Vorpommern hat bundesweit den höchsten Anteil an ledigen Müttern). Es kann vermutet werden, dass ein Großteil der potenziell Berechtigten für diese Hilfe keine Kenntnis darüber hat. Für 2012 wurden landesweit lediglich zwölf Fälle der Gewährung von Altenhilfe (§ 71 SGB XII) ausgewiesen und die aufgewendeten Ausgaben mit 23.000 Euro beziffert. Diese Zahlen sind angesichts der Altersstruktur im Bundesland und der Bedeutung, insbesondere hinsichtlich der gesetzlich beschriebenen Beratungsaufgaben, völlig überraschend, auch wenn im bundesweiten Vergleich überall niedrige Werte für diese Hilfeart vorzufinden sind. Der tatsächliche Hilfe- und Beratungsbedarf für Senioren dürfte um ein Vielfaches höher liegen, zumal die Altenhilfe nach § 71 SGB XII z. B. auch Beratung über altersgerechtes Wohnen umfasst (StA MV, Sozialhilfe und soziale Grundsicherung in Mecklenburg-Vorpommern 2012, Statistische Berichte). Am Ende des Jahres 2012 waren noch 28.340 Hilfeempfänger im Bestand, dies bedeutet, dass bei diesen Hilfearten eine hohe Fallzahldynamik zu verzeichnen ist. Tab. 8: Verteilung von Sozialhilfeempfängern Kreise/kreisfreie Städte Insgesamt je 1.000 Einwohner davon Männl. Weibl. In Einrichtungen Durchschnittsalter Rostock 5.437 27,0 2.991 2.482 249 43,4 Schwerin 2.495 27,3 1.298 1.197 157 41,3 LK Mecklenburgische Seenplatte 6.653 25,2 3.571 3.082 552 48,4 LK Rostock 3.951 18,7 2.281 1.670 344 47,1 LK Vorpommern- Rügen 4.961 22,2 2.922 2.039 419 47,3 LK Nordwestmecklenburg 3.344 21,5 1.989 1.355 244 46,6 LK Vorpommern-Greifswald 5.278 22,1 2.893 2.385 458 48,7 LK Ludwigslust-Parchim 3.967 18,7 2.287 1.680 443 47,4 36.122 22,6 20.232 15.890 2.866 46,7 Mecklenburg-Vorpommern Quelle: Stat. JB MV 2014, StA MV, S. 400 Hier fallen zunächst die überproportional hohen Empfängerzahlen in den beiden kreisfreien Städten auf. Dies hängt u. a. mit der besonderen Infrastruktur der Hilfen in den Städten zusammen. Darauf folgte dann der Kreis Mecklenburgische Seenplatte mit auch überdurchschnittlichen 25,2 Hilfeempfängern je 1.000 Einwohner. Die übrigen Kreise lagen im Durchschnitt bzw. noch deutlich darunter (Landkreis Rostock und Landkreis LudwigslustParchim mit je 18,7 Hilfeempfängern/1.000 Einwohner). Auch hier fällt auf, dass der Anteil der männlichen Hilfeempfänger dieser Leistungen mit 56 Prozent die Anzahl der weiblichen Empfängerinnen überstieg. Diese dargestellten Werte finden ihren Niederschlag auch in den Kommunalfinanzen in Mecklenburg-Vorpommern. So erhöhten sich in der Dekade 2002/2012 die kommunalen 108 Bruttoausgaben für „Jugend und Soziales“ um 16 Prozent und betrugen zuletzt 43 Prozent der kommunalen Gesamthaushalte (Steigerungsraten in den anderen neue Ländern: SachsenAnhalt 8 %, Sachsen und Brandenburg je 15 % und Thüringen 20 %). Die tatsächlichen Aufwendungen schnellten von 990 Mio. Euro (2002) auf 1,626 Mrd. Euro (2012) in die Höhe. Dies entspricht einer Steigerung von 64 Prozent (Bertelsmann Stiftung 2015, S. 69). Die Streuung des Bruttosozialausgabenanteils fiel innerhalb der Kreise/kreisfreien Städte im Nordosten deutlich geringer aus als in anderen Bundesländern und deutet landesweit auf eine relativ ähnlich geschichtete Armutspopulation hin (geringste Ausgabenquote mit 41 % Landkreis Rügen und Schwerin mit 45 %). In Bayern gab es z. B. eine Spreizung von 30 Prozent, in Schleswig-Holstein von 26 Prozent (ebd., S. 79). Bei einer Umrechnung von Sozialausgaben pro Kopf der Landesbevölkerung ergaben sich für 2012 bemerkenswerte Ergebnisse. Tab. 9: Ausgewählte Sozialausgaben pro Kopf KdU pro Kopf HLU pro Kopf Grusi im Alter pro Kopf Hilfe zur Pflege pro Kopf Deutschland 167,04 15,71 61,28 46,20 Mecklenburg-Vorpommern 241,68 19,86 53,64 27,72 Quelle: Henneke 2014, S. 27 Bei den Kosten der Unterkunft (SGB II) lag Mecklenburg-Vorpommern mit über 241 Euro deutlich am höchsten im Vergleich mit allen Flächenländern. Die Aufwendungen für Hilfe zum Lebensunterhalt schlugen fast 20 Euro pro Kopf zu Buche, damit nahm das Land den höchsten Wert unter allen neuen Ländern ein. Bei der Grundsicherung im Alter bekleidete der Nordosten nach Sachsen-Anhalt den zweithöchsten Pro-Kopf-Betrag mit 53,64 Euro im Vergleich der neuen Länder. Und auch bei der Hilfe zur Pflege nahm der Nordosten mit 27,72 Euro den höchsten Wert im Vergleich mit den neuen Ländern ein. Hier war allerdings der Bundesdurchschnittswert deutlich höher und auch bei der Grundsicherung im Alter lag der Pro-Kopf-Wert unter dem Bundesdurchschnitt, was mit den noch relativ hohen Rentenzahlungen im Nordosten zu tun hat (vgl. Kap.4 in diesem Abschnitt). Lediglich bei den SGB II-Leistungen lag das Land zwischen Wakenitz und Oder über dem Bundesdurchschnitt, was auf eine hohe Armutspopulation hinweist. Die überproportional hohen KdU-Kosten fallen besonders auf. Wohngeld Das Wohngeld wird für Mieter von Wohnraum oder als Lastenzuschuss an Eigentümer von selbst genutzten Immobilien auf Antrag gezahlt. Es soll die Miet- bzw. Tilgungsbelastung für die Haushalte senken. Wohngeldbezug wird häufig als Vorstufe zur Armutsgefährdung bezeichnet und verdient daher besondere Beachtung. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Ausführungen in Abschnitt 3 dieses Berichtes verwiesen. Im Jahr 2012 erhielten in Mecklenburg Vorpommern insgesamt 30.601 Haushalte (im Bundesgebiet waren es 2011 insgesamt 770.369 Haushalte) Geldleistungen nach dem Wohngeldgesetz, davon 3.119 als Lastenzuschuss. Das Land wendete hierfür 50,272 Mio. Euro auf. Die 109 Empfängerzahlen sind in den letzten vier Jahren fallend, die Aufwendungen steigen allerdings. Das 2012 durchschnittlich ausgezahlte Wohngeld für Mieter betrug 94 Euro pro Monat, das durchschnittliche Familieneinkommen der Wohngeldempfänger-haushalte 719 Euro. Die größte Gruppe der Wohngeldempfänger stellten als Mieter die Rentner/ Pensionäre mit 16.003 Empfängerhaushalten (55 %), hiervon lebte in über 14.000 Haushalten nur eine Person (Bundesdurchschnitt: 361.686 Rentnerhaushalte, entsprechend 46,9 %). Die zweitgrößte Empfängergruppe stellten Angestellte gefolgt von Arbeitern und Arbeitslosen. Die rd. 30.600 Wohngeldempfänger im Land teilten sich 2012 folgendermaßen auf: Tab. 10: Wohngeldempfängergruppen Empfängergruppen (mit Lastenzuschussempfängern) Anzahl Rentner/Pensionäre 16.097 Angestellte 4.346 Arbeiter 3.384 Arbeitslose 2.640 Stand: 31.12.2012, StA MV. Abb. 7: Empfängergruppen mit Miethöhe, Einkommen, Wohnungsgröße und durchschnittlichem WG-Anspruch (31.12.2012) 1200 1000 800 600 400 200 0 Durchschnittliche Miethöhe (EUR) Durchschnittliches Einkommen (EUR) Durchschnittliche Wohnfläche Durchschnittliches Wohngeld (EUR) Rentner/Pensionäre 301 647 48 72 Angestellte 416 921 73 111 Arbeiter 409 963 76 110 Arbeitslose 359 792 67 106 Rentner/Pensionäre Angestellte Arbeiter Arbeitslose Quelle: StA MV. In Tabelle 10 fällt auf, dass neben dem überproportional hohen Seniorenanteil die Gruppe der Angestellten vor der Gruppe der Arbeiter rangierte, was u. a. auf den ausufernden Niedriglohnsektor mit zurückzuführen sein kann, da hiervon eher Angestellte als z. B. handwerklich tätige Arbeiter betroffen sind. 110 Die Verteilung auf die Kreise und kreisfreien Städte sah 2012 folgendermaßen aus: Tab. 11: Landkreis/ kreisfreie Stadt Wohngeldempfänger nach Kreisen WG-Empfänger Hiervon Lastenzuschuss Anzahl Einpersonenhaushalte Anteil Rentner/ Pensionäre aufgewendete Mittel (in 1.000 Euro) Stadt Rostock 4.413 38 3.162 2.195 8.137 Stadt Schwerin 1.905 21 1.406 1.107 3.420 LK MSE 5.045 645 3.200 2.652 8.330 LK LRO 3.939 526 2.471 2.205 6.522 LK VR 4.850 487 3.212 2.578 7.109 LK NWM 2.682 363 1.645 1.345 4.974 LK VG 4.661 575 3.148 2.277 6.926 LK LUP 3.106 464 2.008 1.741 4.863 Gesamt: 30.601 3.119 20.252 16.100 50.272 Quelle: StA MV, Stand: 31.12.2012 Im größten Flächenkreis gab es erwartungsgemäß die meisten Wohngeldempfänger. In den beiden kreisfreien Städten wurden nur wenige selbst genutzte Immobilien mit Lastenzuschuss gefördert. In Rostock wurde ein hoher Anteil von Rentnern mit Wohngeld unterstützt, was einerseits auf die altersgerechte Attraktivität der Stadt und recht hohe Mietpreise (die durchschnittliche Mietbelastung liegt in Rostock bei den Wohngeldempfängern mit 352 Euro/ mtl. leicht über dem Landesdurchschnitt von 344 Euro/mtl.) hindeutet. Bundesdurchschnittlich wurde ein Wohngeld von 139 Euro pro Monat (2011) gezahlt und rd. 1,9 Prozent aller Haushalte erhielten Wohngeld. In Mecklenburg-Vorpommern betrug diese Quote 4,4 Prozent. Seit Langem hat der Nordosten mit Abstand den höchsten Anteil an Wohngeldempfängerhaushalten von allen Bundesländern. Dieser Sachverhalt ist insofern bemerkenswert, da die Wohngeldempfängerzahlen als „Frühindikator“ für später anfallende weitere Sozialleistungstransfers angesehen werden können. Wer heute als Angestellter oder Arbeiter Wohngeld bezieht, steht in der großen Gefahr im Alter auch in Armut zu leben. Martens legt dar, dass Wohngeldempfänger, neben Empfängern von Grundsicherungsleistungen, unter der relativen Einkommensarmutsschwelle lt. EU liegen. Dies ergibt sich aus zugrunde liegenden Bestimmungen im WoGG. Damit gelten Wohngeldempfänger als einkommensarm (vgl. Martens 2014, S. 97f.). Bei dieser Betrachtungsweise kommt man zu gänzlich anderen aktuellen Zahlen von Menschen, die in Altersarmut leben: Zählt man nämlich die Grundsicherungsempfänger über 65 Jahren außerhalb von Einrichtungen und die Rentner/Pensionäre, die Wohngeld erhalten, zusammen, ergibt sich folgendes Bild: Abgerundet 5.000 Grundsicherungsempfänger und abgerundet 15.000 ältere Wohngeldempfänger ergeben zusammen rd. 20.000 altersarme Menschen in Mecklenburg-Vorpommern. Insgesamt kann festgestellt werden, dass Wohngeldempfängerhaushalte, insbesondere Rentnerhaushalte, eher über kleine Wohnungen verfügen, ein niedriges monatliches Einkommen erzielen und das Wohngeld ein wichtiger Beitrag zur Deckung der Unterkunftskosten dar111 stellt. Ob es bei der Inanspruchnahme von Wohngeld in Mecklenburg-Vorpommern trotz der fast doppelt so hohen Nutzungsquote gegenüber dem Bundesdurchschnitt eine hohe Dunkelziffer gibt, kann hier nicht festgestellt werden und muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben (Quelle: Für alle MV-Daten: Statistische Berichte StA MV 2014, K VII-j; Bundeswerte: Destatis 2014 Fachserie 13, Reihe 4 Sozialleistungen, Wohngeld). Anteil von Wohngeldempfängerhaushalten nach Bundesländern Anteil der Haushalte mit Bezug von Wohngeld* Abb. 8: 5,0% 4,4% 4,5% 4,0% 3,4% 3,2% 3,5% 2,8% 2,6% 3,0% 2,4% 2,1% 2% 2% 1,9% 2,5% 1,8% 1,6% 1,5% 1,5% 1,3% 2,0% 1,1% 1,1% 1,5% 1,0% 0,5% 0,0% Quelle: Destatis; Grafik: Statista Verdeckte Armut und Sozialrechtsberatung, Rechtsschutz Unter „Verdeckter Armut“ oder „Dunkelziffer der Armut“ wird der Anteil von Menschen versucht zu erfassen, der z. B. aus Scham, Unkenntnis, Bürokratieverdrossenheit oder anderen Gründen, die ihm rechtlich zustehenden Sozialleistungstransfers nicht beantragt und somit nicht erhält (Quote der Nichtinanspruchnahme: QNI). Diese Menschen leben dann unter dem sozialstaatlich garantierten Existenzminimum. Es ist schwer, diesen Anteil der Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen zu ermitteln. Es hat immer wieder Forschungen und Schätzungen hierzu gegeben. Einige sind allerdings schon älter, dürften aber in ihren Grundaussagen noch Gültigkeit haben. Zuletzt beschäftigten sich das IAB und die Sozialforscherin Irene Becker mit dieser Thematik. Becker kommt in ihrer letzten Untersuchung zu dem Ergebnis, dass sich zu jedem Grundsicherungsempfänger noch ein Hilfeempfänger gesellt, der seine Ansprüche nicht beantragt. Für 2007 ermittelte sie anhand von SOEP-Daten, dass von 1.075.000 über 64-jährigen Personen mit einem Anspruch auf Grundsicherung diesen lediglich 341.000 Personen einlösten, mithin 734.000 Ältere ihre Rechte nicht geltend machten. Die Dunkelzifferquote war gerade bei über 65-jährigen mit 68 Prozent besonders hoch (Böckler Impuls 13/2012, Grundsicherung erreicht Arme nicht, S. 2). Damit wurden insbesondere ältere Personen, die in verdeckter Armut leben, identifiziert. Zuvor bestimmte Becker zusammen mit anderen Armutsforschern (Becker/Hauser 2005) noch andere Personengruppen, die offenbar eine hohe Armutsdunkelziffer aufwiesen. Auf Grundlage von Mikrosimulationen, basierend auf EVS, SOEP und NIEP-Daten, wurde insgesamt eine Anzahl von 1,5 bis über 2,2 Mio. Haushalten identifiziert, die zustehende (Teil-)Sozialleistungen nicht in Anspruch nahmen. Dies würde einer QNI zwischen rd. 34 bis 50 Prozent, bezogen auf die Leistungsbezieher, entsprechen. Mehr als 40 Prozent verdeckt arme Menschen lebten in Erwerbstätigenhaushalten, was die „Working 112 Poor“-Dimension nochmals beleuchtet. Rund ein Viertel der Betroffenen hatten Kinder. Insgesamt kommen die Autoren abschließend zu der Schätzung, dass im Jahre 2006 gegenüber den faktisch Leistungen nach dem SGB II beziehenden Personen rd. 2,7 Mio. Personen (hiervon 1,89 Mio. Erwerbstätige und rd. 900.000 Kinder unter 15 Jahren) ihre an sich zustehenden Leistungen nicht beantragten (Becker 2007, S. 6ff.). Mögliche Ursache für die NichtInanspruchnahme von zustehenden Sozialleistungen können sein: Kosten-NutzenÜberlegungen, insbesondere wenn nur geringe ergänzende Leistungen erlangt werden könnten, bürokratische Hürden, Stigmatisierungsängste und vor allem Unkenntnis, insbesondere bei älteren Menschen, die zusätzlich noch die (i. d. R. unbegründete) Angst haben, dass die eigenen Kinder für die Bedarfsdeckung herangezogen werden (ebd. S. 15 ff.). Es ist sozialpolitisch geboten, diese „verschämte Armut“, insbesondere bei Älteren, deutlich zu minimieren. Das IAB (2013a) legte im Auftrag des BMAS 2013 eine Studie vor, die sich mit dem Ausmaß der Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen der Grundsicherung beschäftigte. Hier kam man aufgrund verschiedener durchgeführter Simulationsrechnungen (Mikrosimulationsmodell) auf Basis der EVS zu dem Ergebnis, dass die Quote der verdeckten Armut zwischen 34 und 43 Prozent rangierte. Dieser Wert lag eher gleich oder unter den Werten ähnlicher Untersuchungen (Tab. 12): Tab. 12: Quoten der Nicht-Inanspruchnahme (QNI) von Sozialleistungen in Deutschland Quelle: IAB-Forschungsbericht 5/2013, S. 11 Interessant ist jetzt, diese für das Bundesgebiet vorliegenden Werte auf MecklenburgVorpommern zu übertragen. Dies ist nicht ganz einfach, da alle Studien zu wenige landesbezogene Werte aufweisen, um eine eigene Mikrosimulationsberechnung durchführen zu können. Somit kann hier nur eine Schätzung präsentiert werden, die sich an der jüngsten IABUntersuchung orientiert. Die Nutzung von EVS Daten führt zudem aufgrund ihres Mittelstandsbias bei Dunkelziffersimulationen eher zu unterdurchschnittlichen Werten. Andererseits weist das IAB daraufhin, dass die QNI in den neuen Ländern eher um 7 Prozent unter den westdeutschen Werten lag. Dies zugrundelegend, basiert diese Schätzung auf den Simulationsergebnissen mit dem höchsten und dem niedrigsten, „strengen“ Wert (wo insbesondere einzusetzendes Vermögen berücksichtigt ist). Für Mecklenburg-Vorpommern würde dies bedeuten, dass rd. 52.600 Haushalte in verdeckter Armut lebten, d. h. einen ihnen recht113 lich zustehenden Anspruch nicht einlösten. Basiert die Schätzung auf dem „strengen“, niedrigen Wert der IAB-Mikrosimulationsberechnung (abzüglich 7 %), so ergibt dies eine Zahl von rd. 32.500 Haushalten im Nordosten. Tab. 13: Schätzung QNI Mecklenburg-Vorpommern MecklenburgVorpommern Gesamtwerte: QNI Grundsicherung (Haushalte) QNI Grundsicherung (Haushalte) hoher Wert „strenger“, niedriger Wert 52.600 32.500 Quelle: IAB-Forschungsbericht 5/2013, S. 11 Für die einzelnen Landkreise ergeben sich – bei Übertragung dieser Quote auf Landkreise und die beiden kreisfreien Städte unter der Annahme identischer Strukturen – folgende Dunkelziffer-Schätzwerte bei SGB II und SGB XII-Leistungen (gerundet): QNI bei der Grundsicherung (SGB II, XII) nach Kreisen 10.000 9.000 8.000 7.000 6.000 5.000 4.000 3.000 2.000 1.000 0 Haushalte Abb. 9: Stadt Stadt Schweri Rostock n LK MSE LK LRO LK VR LK NWM LK VG LK LUP Hoher Wert 7.480 3.480 8.640 6.000 7.540 5.160 7.850 6.530 "Strenger" niedriger Wert 4.620 2.150 5.340 3.710 4.650 3.190 4.850 4.040 Mittelwert 5.327 5.327 5.327 5.327 5.327 5.327 5.327 5.327 Landkreis / kreisfreie Stadt Hoher Wert "Strenger" niedriger Wert Mittelwert Quelle: IAB-Forschungsbericht 5/2013, S. 11 Bezieht man die von Becker ermittelte QNI von 68 Prozent bei den über 65-Jährigen auf die Anzahl der altersgleichen Senioren hierzulande, so käme für Mecklenburg-Vorpommern eine Zahl von 14.620 Personen ab 65 Jahren heraus, die in verdeckter Armut lebten (am 31.12.2013 erhielten aber nur 6.517 über 65-Jährige Grundsicherung). Die Differenzen dieser beiden Simulationsberechnungen ergeben sich aus den unterschiedlichen zugrunde liegenden Datenbasen (SOEP, EVS), außerdem wird einmal auf Haushalte (IAB) und einmal auf Personen abgestellt (Becker). Beide Untersuchungen gelangen aber zu hohen Dunkelzifferwerten. Aus der IAB Untersuchung ergeben sich auch Hinweise darauf, dass die QNI beim Wohngeld noch erheblich höher liegt (vgl. IAB 2013a, S. 98 ff.). 114 Hierbei handelt es sich um Werte, die nicht länger ignoriert werden können und politisch sowie administrativ eine Herausforderung darstellen, wie die Anspruchsberechtigten in den Genuss der ihnen zustehenden Leistungen kommen. Wichtig erscheint eine verbesserte, leistungsgewährungsunabhängige Sozialrechtsberatung. Tab. 14: Widerspruchsverfahren nach Jobcentern (JC) Fälle stattgegeben/ teilweise stattgegeben Widersprüche insgesamt Feb. Jul. Nov. Feb. Jul. Nov. JC Vorpommern-Greifswald Nord 340 326 222 95 110 73 JC Vorpommern-Greifswald Süd 72 148 98 18 36 11 JC Mecklenburg. Seenplatte Süd 355 379 217 83 97 55 JC Mecklenburg. Seenplatte Nord 174 162 125 57 57 35 JC Rostock (Hansestadt) 336 340 211 137 146 87 JC Bad Doberan 139 110 85 44 52 23 JC Güstrow 157 202 106 61 81 38 JC Schwerin, Landeshauptstadt 218 190 182 64 58 48 JC Nordwestmecklenburg 179 188 181 38 38 18 JC Ludwigslust-Parchim 202 205 251 50 40 70 JC Vorpommern-Rügen 350 331 261 100 80 47 Quelle: BA Statistik, Grundsicherung für Arbeitssuchende; eigene Berechnungen Neben den Personen, die ihnen zustehende Sozialleistungen nicht in Anspruch nehmen, sollten auch diejenigen beachtet werden, denen Leistungen versagt werden. Denn ein beachtenswerter Anteil der Entscheidungen von Sozialbehörden ist rechtlich nicht richtig, wie ein Blick auf die Widerspruchsverfahren bei den Jobcentern und die Klageverfahren vor den Sozialgerichten in Mecklenburg-Vorpommern belegen. Und dies betrifft nur diejenigen, die bereits Anträge gestellt haben. Insgesamt wurden bei den elf Jobcentern des Landes im Jahre 2014 insgesamt 27.783 Widerspruchsverfahren erledigt („Abgang Widerspruchsverfahren“). Hiervon wurden in 29,8 Prozent der Fälle (8.270 Bedarfsgemeinschaften) zugunsten der Beschwerdeführer „stattgegeben/teilweise stattgegeben“ (BA Statistik, Grundsicherung für Arbeitssuchende; eigene Berechnungen). Die Quoten der Widerspruchsverfahren waren im Jahr 2014 bei den Jobcentern in Mecklenburg-Vorpommern ungleich verteilt. Die Verfahrenszahlen und die Quoten für „stattgegeben/teilweise stattgegeben“ schwankten erheblich, wie eine Stichprobe aus dem Jahr 2014 zeigt. Die Spanne der „stattgegebenen/teilweise stattgegebenen“ Widerspruchsverfahren lag zwischen 17,2 und 41,7 Prozent. Die Gesamtzahl der positiv zugunsten der Beschwerdeführer ausgegangenen Widerspruchsverfahren dieser sich auf drei Monate beziehenden Stichprobe betrug über 2.000 Personen. Diese Zahlen sagen nichts über die Qualität der jeweils von den 115 Jobcentern erlassenen und angegriffenen Bescheide aus; dies müsste einer vertiefenden qualitativen weiteren Forschung vorbehalten bleiben. Betrachtet man die Gesamtzahl der erledigten Klageverfahren – 12.040 – der vier Sozialgerichte Mecklenburg-Vorpommerns im Jahre 2013, so betrafen 51,4 Prozent (6.186 erledigte Verfahren) SGB II-Angelegenheiten (vgl. StA MV, Stat. JB 2014, S. 113). SGB-Sachen stellten den höchsten Anteil bei den Sozialgerichten dar. Die Entwicklung der SGB II-Sozialgerichtsverfahren in Mecklenburg-Vorpommern im Einzelnen: Jahr 2008 2009 2010 2011 2012 2013 Angelegenheiten nach dem SGB II: 4.391 6.425 7.241 7.895 8.061 6.186 Quelle: StA MV, Stat. JB 2014, S. 113 Hier fällt insbesondere die deutliche Verfahrenszunahme bis 2012 bei den SGB IIAngelegenheiten auf. Eine Erhebung der SGB II-Klageverfahren des Jahres 2014 für Mecklenburg-Vorpommern zeigt, dass von insgesamt 5.100 erledigten Verfahren („Abgang Klagen“) 37,3 Prozent mit „stattgegeben/teilweise stattgegeben“ zugunsten der Kläger, in diesem Falle über 1.900 betroffene Bürger, ausgingen. Insgesamt kann festgestellt werden, dass der Beseitigung von verdeckter Armut in Mecklenburg-Vorpommern mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Eine verbesserte, ortsnahe und von der Leistungsgewährung unabhängige Sozialrechtsberatung kann dazu beitragen, die QNI zu senken und eine unabhängige Leistungsbescheidprüfung zu gewährleisten. 116 3 Schwerpunktbereich: „Kinderarmut“ 2014 erschien ein Bericht der Hans-Böckler-Stiftung zur Kinderarmut in Deutschland. Demnach lag das Armutsrisiko für Kinder in Deutschland im Jahr 2012 zwischen 11,7 Prozent in Bayern und 33,7 Prozent in Bremen. Mecklenburg-Vorpommern rangierte hier im Bundesvergleich mit 33,5 Prozent nach Bremen an zweiter Negativstelle und ist damit das Flächenland mit dem größten Armutsrisiko für Kinder in Deutschland (vgl. Baumann/Seils 2014). Die Betroffenheit des Landes Mecklenburg-Vorpommern von Kinderarmut wird durch weitere Landesdaten und Studien untermauert, z. B. Bertelsmann Stiftung. Abb. 10: Kinderarmut in Deutschland Quelle und Grafik: WSI 2012, Armutsgefährdete Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren nach Mikrozensus Definition von Kinderarmut Für die Beschreibung von „Kinderarmut“ bzw. „Familienarmut“ ist eine Vielzahl an verschiedenen Definitionen in der Literatur zu finden: Der 4. ARB der Bundesregierung beschreibt Armut in Anlehnung an Amartya Sen als einen Mangel an Teilhabechancen. Nach diesem Verständnis ist Armut kontextabhängig: Nicht nur fehlendes Einkommen, sondern auch der Mangel an Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe sowie das Fehlen individueller Ressourcen, Fertigkeiten und Fähigkeiten, die für eine aktive Lebensgestaltung notwendig sind, führen in eine unsichere Lebenssituation (vgl. 4. ARB). Im 7. Familienbericht des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend werden neben fehlendem Einkommen die Ausgrenzung von einer bedarfsgerechten 117 Gesundheitsversorgung, Bildung und Erziehung, ein fehlender Zugang zum Arbeitsmarkt und eine schlechte Wohnraumqualität als zentrale Armutsdimensionen definiert: „Monetäre Ressourcen allein stellen keine hinreichende Bedingung für das Familienleben dar. Schon gar nicht ist damit ein gelingendes Aufwachsen von Kindern jenseits von Armutslagen garantiert. Gleichwohl wird in marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften die materielle Lebenslage von Familienhaushalten, u. a. in den Dimensionen Wohnen und Bildung, wesentlich vom verfügbaren Einkommen beeinflusst“ (BMFSFJ 2006, S. 167). Die UNICEF hat 2013 fünf Dimensionen von Armut in 29 reichen Industriestaaten unterschieden (materielle Situation, Gesundheit und Sicherheit, Bildung, Familie und Umfeld, Verhalten und Risiken) sowie nach dem subjektiven Wohlbefinden der Kinder die Lebenslagen bewertet: „Nach der aktuellen internationalen UNICEF-Vergleichsstudie zur Lage der Kinder in Industrieländern hat sich das Lebensumfeld für Kinder in Deutschland insgesamt deutlich verbessert. Deutschland liegt auf Platz sechs der Industrienationen, wenn Lebensbedingungen wie relative Armut, Gesundheit oder Bildung der jungen Generation bewertet werden. So erreichen deutsche Schüler bessere Werte bei den PISA-Tests und rauchen deutlich seltener. Im Kontrast zu diesen positiven Entwicklungen steht allerdings die subjektive Sicht der Jugendlichen in Deutschland auf ihre Lebenssituation. Bei der Selbsteinschätzung der Lebenszufriedenheit von Mädchen und Jungen fällt Deutschland dagegen tiefer ab als jedes andere untersuchte Land – und zwar auf Platz 22 von insgesamt 29 untersuchten Ländern. Jeder siebte Jugendliche in Deutschland ist mit sich und seiner Situation eher unzufrieden“ (UNICEF 2013). Die Studien zu Lebenslagen und Zukunftsperspektiven von (armen) Kindern (kurz: AWOISS-Studien) werden seit 1997 im Auftrag der Arbeiterwohlfahrt vom Frankfurter Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik durchgeführt. Die über die Jahre entstandenen Teilstudien widmen sich jeweils einem Lebensabschnitt von Kindern und der Lebenssituation und Lebenslage von armen und nichtarmen Kindern im Vergleich. Forschungsthemen sind dabei: • • • Formen und Folgen von Armut bei Kindern Bewältigung der Armut durch Kinder und deren Familien Zukunftschancen armer Kinder Das Besondere dieser Studien ist, dass damit ebenfalls eine Längsschnitterhebung realisiert wurde, bei der dieselbe Stichprobe im Fokus stand. Dadurch konnten sowohl momentane Folgen und Auswirkungen von Armut in den verschiedenen Lebensabschnitten der Kinder deutlich werden als auch Langzeitfolgen und Entwicklungen der Armut im Kindesalter. Ausgangspunkt der Studien war die Verstetigung des Phänomens der Kinderarmut Ende der 90er Jahre. Ziel dieser Studien ist nicht nur eine reine Sachstanderhebung. Die AWO beteiligt die eigenen Einrichtungen eng an den Studien, um einen Theorie-Praxis-Transfer zu ermöglichen und zu fördern. 118 Für die Betrachtung der Kinderarmut orientiert sich dieser Bericht nicht nur an den durch Zahlen beschreibbaren Armutskriterien, wie Familieneinkommen etc., sondern schließt auch durch die Kinder bzw. Jugendlichen empfundenen Armutskriterien, wie gefühlte Benachteiligung durch mangelnde finanzielle Ressourcen mit ein. Kinderarmut basiert auf familiärer Einkommensarmut, zeigt sich in Auffälligkeiten bzw. Beschränkungen in den Lebenslagendimensionen und führt zu Entwicklungs- und Versorgungsdefiziten sowie zu sozialer Ausgrenzung. Sie beschränkt massiv ein Aufwachsen im Wohlergehen und ermöglicht den Kindern nicht, ihre Potenziale und Ressourcen optimal zu entwickeln. Daraus resultieren Langzeitfolgen für das Individuum und die Gesellschaft (ISS 2012, S. 5f.). Kinder- und Familienrelevante Daten Die Familie im „statistischen Sinn“ umfasst im Mikrozensus – abweichend von früheren Veröffentlichungen – alle Eltern-Kind-Gemeinschaften, d. h. Ehepaare, nicht eheliche gegengeschlechtliche und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften sowie alleinerziehende Mütter und Väter mit ledigen Kindern im Haushalt. Einbezogen sind in diesen Familienbegriff – neben leiblichen Kindern – auch Stief-, Pflege- und Adoptivkinder ohne Altersbegrenzung. Damit besteht eine „statistische“ Familie immer aus zwei Generationen. Nach dieser recht vereinfachten Abgrenzung des Familienbegriffs im Mikrozensus lebten in Mecklenburg-Vorpommern im Jahresdurchschnitt 2011 insgesamt 217.200 Familien. Dazu gehörten 125.600 Ehepaare mit Kindern, 32 600 Lebensgemeinschaften mit Kindern sowie 59.100 Alleinerziehende, davon 51.200 Frauen und 7.900 Männer. Demgegenüber gab es in Mecklenburg-Vorpommern im Jahresdurchschnitt 2011 insgesamt 229.400 Ehepaare ohne im Haushalt lebende ledige Kinder sowie 44.800 Lebensgemeinschaften, die keine Kinder im Haushalt hatten (StA MV 2012). Im Jahr 2011 lebten in den Familien Mecklenburg-Vorpommerns insgesamt 342.670 Kinder bzw. Jugendliche in der Altersspanne von 0 bis 25 Jahren, wobei die Gruppe der 18- bis 25Jährigen mit 127.370 Jugendlichen am stärksten vertreten war: Tab. 15: Verteilung Kinder/Jugendliche an der Gesamtbevölkerung 2011 Unter 3 3-6 6 - 15 15 - 18 0 - 18 18 - 25 0 - 25 Anzahl Kinder bzw. Jugendlicher 38.700 37.360 110.080 29.160 215.300 127.370 342.670 % an der Gesamtbevölkerung 2,4 2,3 6,8 1,8 13,3 7,9 21,2 Quelle: Zensus 2011 2013 lebten 55.800 Minderjährige (24,9 Prozent) im Haushalt eines alleinerziehenden Elternteils, zumeist in dem der Mutter (Mikrozensus 2014). Damit wuchs jedes vierte Kind bei nur einem Erziehungsberechtigten auf. Alleinerziehende sowie ihre Kinder sind häufiger und härter von Erwerbslosigkeit und deren Folgen betroffen als erziehende Ehepaare oder Lebensgemeinschaften. Entscheidend ist das Fehlen eines Partners, der bei Arbeitsplatzverlust weiterhin Erwerbseinkommen erzielen oder ebenfalls die Arbeitsuche aufnehmen kann. Erwerbslosigkeit einer/s Alleinerziehenden betrifft den Haushalt und damit die Kinder somit unmittelbarer und häufig langfristiger. 119 Mehr als ein Geschwisterkind im Haushalt erlebten 2011 in Mecklenburg-Vorpommern lediglich 49.600 Kinder – das entsprach 15,9 Prozent aller in Familienhaushalten lebenden Kinder (ohne Altersbeschränkung). Ein Geschwister hatten 120.100 Kinder (38,5 %) und Einzelkinder in familiären Haushalten waren 142.100 Kinder (45,6 %) (vgl. Mikrozensus 2011). Tab. 16: Verteilung von Kindern nach Lebensformen Lebensgemeinschaften mit ledigen Kindern Familien insgesamt Ehepaare mit ledigen Kindern insgesamt 217.200 125.600 32.500 k. A. mit 1 Kind 142.100 75.300 23.100 mit 2 Kindern 60.100 40.700 mit 3 Kindern 11.600 k. A. MecklenburgVorpommern mit 4 und mehr Kindern Nichtehelich Gleichgeschlechtlich Alleinerziehende insgesamt Mütter Vater 59.100 51.200 7.900 k. A. 43.600 37.200 6.400 7.600 - 11.800 10.900 k. A. 7.500 k. A. - k. A. k. A. k. A. k. A. k. A. - k. A. k. A. - Quelle: Mikrozensus 2011 Die Tabelle verdeutlicht, dass Alleinerziehende vorrangig weiblich waren, die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen im Land dennoch in tradierter Familienform aufwuchsen. Verteilung der Geburten nach Landkreisen In Mecklenburg-Vorpommern wurden 2011 insgesamt 12.638 Kinder geboren. Der Anteil lediger Mütter lag bei annähernd 65 Prozent und kann als Indikator für potenziell von Armut bedrohten Alleinerziehenden gedeutet werden. Der Anteil nicht verheirateter Mütter im Nordosten lag allerdings deutlich unter dem ostdeutschen Wert von 74 Prozent im Jahre 2012 (Destatis 2013, Geburtentrends und Familiensituation in Deutschland). Tab. 17: Lebendgeborene nach Kreisen 2011 Lebendgeborene 2011 Region Rostock insgesamt Jungen Mädchen Ledige Mütter in % 1.793 921 872 1.215 67,76 760 390 370 529 69,60 Mecklenburgische Seenplatte 2.040 1.042 998 1.362 66,76 Rostock 1.625 826 799 958 58,95 Vorpommern-Rügen 1.680 885 795 1.107 65,89 Nordwestmecklenburg 1.278 672 606 756 59,15 Vorpommern-Greifswald 1.867 933 934 1.272 68,13 Ludwigslust-Parchim 1.595 825 770 988 61,94 12.638 6.494 6.144 8.187 64,78 Schwerin Mecklenburg-Vorpommern insgesamt Quelle: sisonline, statistik mv 2011 120 von ledigen Müttern Die Zahlen zeigen eine leichte Dominanz an männlichen Neugeborenen. Dieses Faktum ist auch hinsichtlich der in Abschnitt 3 beschriebenen Migrationsbewegungen im Land bemerkenswert. Fast durchgängig wurden in allen Landkreisen mehr Jungen als Mädchen geboren, was sich in den Folgejahren in den Bildungseinrichtungen widerspiegelt. Im Jahresdurchschnitt 2011 waren von den insgesamt 59.100 alleinerziehenden Personen in Mecklenburg-Vorpommern 38,9 Prozent erwerbslos oder Nichterwerbspersonen und 61,1 Prozent erwerbstätig. Demgegenüber waren bei den 125.600 Kinder erziehenden Ehepaaren in 68,9 Prozent aller Fälle beide Partner erwerbstätig. Die wesentlichen Ursachen sind naheliegend. Männer waren seltener von Erwerbslosigkeit betroffen als Frauen. Da aber der Anteil der Frauen an den Alleinerziehenden 86,6 Prozent (51.200 Frauen) betrug, kommt diese Ungleichheit hier deutlich zum Tragen. Dazu ist die im Vergleich zu zwei Elternteilen schlechtere Position Alleinerziehender auf dem angespannten Arbeitsmarkt MecklenburgVorpommerns zu beachten. Unabhängig davon verteilt sich für Ehepaare mit Kindern das Risiko der Erwerbslosigkeit ohnehin auf zwei mögliche Erwerbspersonen, und auch die Kinderbetreuung kann gemeinsam oder arbeitsteilig erbracht oder als Fremdleistung (z. B. Kita, Tagesmutter) aus dem Familieneinkommen bezahlt werden (vgl. Mikrozensus 2011). Familienkonstellation und -einkommen Die Familienstruktur hat sich im Nordosten in den letzten Jahren grundlegend verändert. Während sich der Anteil der Ehepaare ohne Kinder und der Alleinerziehenden an den Familien insgesamt deutlich erhöhte, sank der Anteil der Ehepaare mit Kindern. Noch deutlicher als die Zahl der Ehepaare mit Kindern insgesamt ging die Zahl der Ehepaare mit minderjährigen Kindern zurück, wobei die Zahl der Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern anstieg. Unter den 229.400 Ehepaaren ohne Kinder des Jahres 2011 befand sich auch eine annehmbar hohe Zahl von Paaren, die zwar Eltern waren, deren Kinder jedoch bereits eigene Haushalte führten. Bei insgesamt 160.100 dieser „kinderlosen“ Ehepaare – das entspricht 69,8 Prozent dieser Gruppe – waren die Ehefrauen 55 Jahre alt oder älter. Bei den Ehepaaren mit Kindern wurde die größte Gruppe durch 43.700 Ehepaare mit Frauen der Altersgruppen zwischen 35 und 45 Jahren gebildet – das entspricht 34,8 Prozent dieser Familienform. Von den 51.200 alleinerziehenden Frauen im Land waren 16.000 bzw. 31,3 Prozent 35 bis 45 Jahre und 12.100 bzw. 24,5 Prozent 25 bis 35 Jahre alt (vgl. Mikrozensus 2011). In allen Altersgruppen unter 20 Jahren stieg der Anteil der Empfänger von Sozialleistungen an. Gegenüber dem Bundesdurchschnitt war die Sozialhilfequote bei Kindern unter sieben Jahren signifikant höher. Insbesondere alleinerziehende Mütter hatten ein sehr hohes Sozialhilferisiko. Geschlechtsspezifische Unterschiede waren dagegen bei der Sozialhilfeempfängerquote nicht festzustellen. Der Anteil der Kinder (0-15 Jahre), deren Erziehungsberechtigte auf Sozialleistungstransfers angewiesen waren, lag bei der nichtdeutschen Bevölkerung deutlich höher als bei der deutschen Bevölkerung. Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass Asylbewerber keine Sozialhilfe, sondern Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung Mecklenburg-Vorpommerns war die Zahl an Transferleistungen für Bewohner mit Migrationshintergrund jedoch gering. Bei der Betrachtung des Bezugs von Sozialgeld bei unter dreijährigen Kindern fällt die deutliche Häufung im östlichen Landesteil auf. 121 Abb. 11: Sozialgeldquote der unter Dreijährigen in Mecklenburg-Vorpommern Quelle: Bertelsmann Stiftung/ZEFIR 2015 Die Verteilung von und die Höhe der Ausgaben für Leistungen der Hilfen zur Erziehung (HzE) im Rahmen des SGB VIII in Mecklenburg-Vorpommern dient der Beschreibung von Problemlagen bei Kindern und Jugendlichen und als Kostenfaktor für Kommunen. Es darf bei diesen Hilfen eine Korrelation mit Armutslagen angenommen werden. Tab. 18: 2012 Anzahl kommunaler Leistungen im Bereich HzE Erziehungsberatung (§ 28 SGB VIII) Anzahl der jungen Menschen MecklenburgVorpommern Bundesgebiet Veränderung zu 2011 (in %) Ambulante Hilfen (§§ 27 Abs.2, 29-32, 35 SGB VIII) Anzahl der jungen Menschen Veränderung zu 2011 (in %) Fremdunterbringung §§ 27 Abs.2, 33-34 SGB VIII) Anzahl der jungen Menschen Veränderung zu 2011 (in %) 2.063 -9,6 5.024 +7,5 1.551 +15,9 307.470 -1,1 155.829 0,0 53.470 +1,8 Quelle: Jugendhilfestatistik MV 2012 Der gegenüber dem Bundesdurchschnitt signifikante Rückgang bei der Erziehungsberatung kann auch auf eine Einschränkung dieses Angebotes im Land zurückzuführen sein. Bemerkenswert sind die Steigerungen bei den ambulanten Hilfen und insbesondere der Fremdunterbringung, die deutlich über dem Bundeswert lagen. Potenziell sind mehr von Armut betroffene Familien Bezieher von Hilfen zur Erziehung, sodass als finanziell arm definierte Kinder bzw. Jugendliche statistisch häufiger ambulant betreut und/oder fremd untergebracht wurden als Kinder aus Familien ohne Bezug von Transferleistungen. Arme Kinder bzw. Jugendliche wurden für die Kommunen somit bei Leistungserbringung nach SGB VIII ein Kostenfaktor (vgl. akjstat 2012). Validere Aussagen hierzu müssten weiteren Forschungen vorbehalten bleiben. 122 Bedarfe von Kindern, Jugendlichen und Familien Augenscheinlich weisen Familien mit Kindern unterschiedlichen Alters identische Bedarfe unabhängig von Familieneinkommen auf. Die tatsächlichen Bedarfe bezüglich Bildung und Freizeitverhalten formulieren beispielsweise Familien aus unterschiedlichen Bildungsschichten dennoch differenzierter. Für die Betrachtung der Armut von Kindern und Jugendlichen in Mecklenburg-Vorpommern werden folgende vier grundlegende Bedarfe exemplarisch bewertet: Bildung, Gesundheit, Wohnen und Freizeit bzw. Kultur. Bildung Familien brauchen Bildungs- und Betreuungseinrichtungen für die unterschiedlichen Altersgruppen der Kinder. Möglichst im sozialen Nahraum der Familien gelegen, sollen diese die Eltern in ihrer Erziehungsarbeit unterstützen bzw. ergänzen und den Bildungsauftrag des Landes erfüllen. Krippen oder Tagespflegeeinrichtungen, Kitas, Vorschulen, Grund- und weiterführende Schulen sollen nicht nur bezahlbar sein, sondern auch qualitativ hochwertige Arbeit im Sinne einer Dienstleistung erbringen, damit Eltern dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen können. Jedes Kind hat in Mecklenburg-Vorpommern ab seinem dritten Geburtstag, unabhängig von der Ausbildungs- und Erwerbssituation seiner Eltern, einen Rechtsanspruch auf einen Platz in der Kindertagesbetreuung, und zwar auf sechs Stunden tägliche Betreuungszeit. Zusätzlich gibt es seit dem 1. August 2013 für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz (Bundesregierung 2015). Die Mehrzahl der anspruchsberechtigten Kinder nutzt dieses Angebot. Im Jahr 2010 besuchten in Mecklenburg-Vorpommern fast 94 Prozent der drei- bis unter sechsjährigen Kinder eine Kita und knapp 2 Prozent eine Kindertagespflege; dieser Anteil lag über dem Bundesdurchschnitt (etwa 93 %). Mit über 60 Prozent der Kinder dieser Altersgruppe in Kitas besuchte die Mehrzahl diese Einrichtung über sieben Stunden täglich und damit erheblich mehr als im Bundesdurchschnitt (über 35 %). Die übrigen Kinder nahmen zumeist fünf bis zu sieben Stunden tägliche Betreuungszeit in Anspruch (ca. 35 %). Auch von den Kindern unter drei Jahren waren fast 50 Prozent in einer Kita oder Kindertagespflege. Dies waren mehr als doppelt so viele wie im Bundesdurchschnitt (über 23 %). Bei diesen jüngeren Kindern in Kitas war für etwa 61 Prozent eine ganztägige Betreuung vereinbart (StA MV 2011). 2012 gab es im Nordosten ca. 1.050 Kindertageseinrichtungen, in denen 97 Prozent der Kinder zwischen dem vollendeten dritten Lebensjahr bis zum Schuleintritt betreut wurden. 35 Prozent der unter Dreijährigen wurden ebenfalls in den Kitas betreut. 67 Prozent der Zweibis Dreijährigen besuchten eine Krippe. Außerdem wurden von ca. 1.600 Tagespflegepersonen rund 5.400 Kinder betreut (StA MV 2013). Die Betreuungsquoten sind tendenziell positiv steigend. Im Bereich der Kinderbetreuung scheint Mecklenburg-Vorpommern allein in der Betrachtung der Kapazitäten sehr gut aufgestellt. Bei näherer Begutachtung fällt jedoch die Diskrepanz von Betreuungsangebot und arbeitsbedingter Nachfrage auf, was sich negativ auf die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben auswirkt. So können die zahlreichen Kitas und Betreuungseinrichtungen nicht den 123 Bedarf von Arbeitnehmerinnen im Schichtsystem decken. 24-Stunden-Kitas sind nur sporadisch in den Landkreisen zu finden. Tourismusbranche und Dienstleistungssektor erfordern aber andere Arbeitszeiten, als es Regelkitas ermöglichen. Mit dem Eintritt in die Grundschule stellt sich die Frage, welche Betreuungsumfänge für Kinder in welchen Angebotsformen bereitgestellt werden. In Mecklenburg-Vorpommern nutzten 61 Prozent der Schüler der Primarstufe ein ganztägiges Angebot, überwiegend in einem Hort. Die übrigen Schüler besuchten fast alle eine gebundene Ganztagsschule (vgl. Bertelsmann Stiftung 2010). 2012 gab es in Mecklenburg-Vorpommern 568 allgemeinbildende Schulen, davon 495 in öffentlicher Hand und 73 Schulen in freier Trägerschaft. In insgesamt 6.469 Klassen wurden 134.876 Schüler unterrichtet, wovon 66.157 weiblich waren. Lediglich 2.297 Schüler hatten einen Migrationshintergrund (2,7 %). Tab. 19: Anzahl der Schulen nach Landkreisen im Jahr 2014 Anzahl der allgemeinbildenden Schulen Region Schulen in freier Trägerschaft Öffentliche Schulen Rostock 41 9 Schwerin 18 9 LK Mecklenburgische Seenplatte 86 16 LK Rostock 61 13 LK Vorpommern-Rügen 74 11 LK Nordwestmecklenburg 52 5 LK Vorpommern-Greifswald 81 9 LK Ludwigslust-Parchim 79 4 492 76 Mecklenburg-Vorpommern Quelle: Regierungsportal MV 2015 Hier wird im Verlauf von zwei Jahren eine leichte Verschiebung hin zu freien Schulen sichtbar. Hinsichtlich der erreichten Schulabschlüsse in Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 2012 fallen zwei gegenläufige Entwicklungen auf: Bei den Schulabgängerquoten mit allgemeiner Hochschulreife nahm das Land eher einen Mittelwert ein und lag z. B. vor Bayern, Niedersachsen oder Sachsen-Anhalt. Der Anteil der Abiturienten mit einem Notendurchschnitt zwischen 1,0 und 1,9 lag in Mecklenburg-Vorpommern mit 25 Prozent im oberen Drittel im Ländervergleich. Die Durchfallquote beim Abitur tendierte gegen null (vgl. Bertelsmann 2014). Bei der Quote der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss nahm MecklenburgVorpommern flächendeckend, zusammen mit Sachsen-Anhalt, einen negativen Spitzenplatz ein. Die Quote der Schulabgänger ohne Abschluss ist einer der Indikatoren im Bestandsranking, um die Wirtschaftlichkeit des Standorts in den Bundesländern zu ermitteln. Mit einer Quote von 4,9 Prozent belegte Bremen den ersten Platz im Vergleich der Bundesländer, wäh124 rend Mecklenburg-Vorpommern mit 13,7 Prozent den letzten Platz einnahm im Bestandsranking der Bundesländer (vgl. IW Bildungsmonitor 2014). Diese Zahlen korrelieren mit den Aussagen zur Ausbildungssituation im Land. Bei der Bewertung der Schulqualität in den Bundesländern nach dem Bildungsmonitor 2014 erreichte Sachsen mit einer Punktzahl von 95,0 Punkten im Vergleich mit den anderen Bundesländern das beste Ergebnis. Die Schulqualität wird dabei an den durchschnittlichen Schülerkompetenzen in Mathematik, den Naturwissenschaften sowie im Lesen der Schüler gemessen. Mecklenburg-Vorpommern rangierte mit 46,3 Punkten im unteren Drittel der Liste und zeigt hier Verbesserungspotenzial (vgl. IW Bildungsmonitor 2014). Der Anteil der Klassenwiederholer lag im Schuljahr 2013/2014 in Mecklenburg-Vorpommern bei 3,2 Prozent der Schüler an allgemeinbildenden Schulen. Damit wurde Mecklenburg-Vorpommern lediglich durch Bayern mit 3,8 Prozent vom Negativplatz der Liste verdrängt (vgl. ebd.). Tab. 20: Übersicht Schulabgänger ohne Abschluss und Förderschüler in Mecklenburg-Vorpommern (in Prozent) Förder- und Sonderschüler Region 2012 2013 Schulabgänger ohne Abschluss 2012 2013 Ausländische Schüler 2012 2013 Rostock 7,8 7,0 9,15 11,47 2,89 3,28 Schwerin 8,78 7,94 10,17 10,88 3,82 4,41 LK Mecklenburgische Seenplatte 5,6 5,4 k. A. k. A. 1,3 1,4 LK Rostock 6,5 6,1 k. A. k. A. 0,8 1,0 LK Vorpommern-Rügen 6,3 5,2 k. A. k. A. 0,7 0,8 LK Nordwestmecklenburg 5,5 5,6 k. A. k. A. 1,4 1,5 LK Vorpommern-Greifswald 6,7 6,5 k. A. k. A. 2,8 3,4 LK Ludwigslust-Parchim 5,3 5,4 k. A. k. A. 0,9 1,2 Mecklenburg-Vorpommern 6,42 6,03 10,85 9,61 1,70 1,98 Deutschland 4,15 4,08 5,60 5,55 7,34 7,21 Erklärungen: Anteil der Förderund Sonderschüler an allen Schülern allgemeinbildenden Schulen Anteil der Abgänger ohne Hauptschulabschluss, gemessen an den Siebtklässlern vor zwei bzw. drei Jahren Anteil der ausländischen Schüler an allen Schülern der allgemeinbildenden Schulen Quelle: Caritas 2015, Bildungschancen vor Ort Einen erhöhten Förderbedarf hatten im Jahr 2011/2012 30,4 Prozent der Schüler an sogenannten Regelschulen (Regionale Schulen) in Mecklenburg-Vorpommern, was sich zwar im deutschen Durchschnitt als mittelmäßig darstellt, da beispielsweise in Bremen 55,5 Prozent der Schüler einen höheren Förderbedarf an Regelschulen aufwiesen. Perspektivisch könnten diese Schüler aber auch einen späteren Förderbedarf im Rahmen der Berufsausbildung aufweisen (vgl. ebd.). 125 Die Studie des Deutschen Caritasverbandes zu Bildungschancen vor Ort entstand im Jahr 2012 in Zusammenarbeit mit dem Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung und zeigt die unterschiedlichen Entwicklungen in den Landkreisen und kreisfreien Städten. Die beiden kreisfreien Städte Rostock und Schwerin wiesen nicht nur den höchsten Anteil an Förder- und Sonderschülern auf, sondern belegten auch mit dem Anteil von Schulabgängern ohne Abschluss die negativen Spitzenplätze im Landesvergleich. Erfreulich ist der Trend des leichten Rückgangs sowohl bei den Förderschüleranteilen als auch bei den Schülern ohne Abschluss. Der Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen ist unter anderem von ihrer sozialen und ethnischen Herkunft abhängig(vgl. IW Bildungsmonitor 2014). Auch die Zahlen der Caritasstudie zu Bildungschancen zeigen Zusammenhänge zwischen dem höheren Anteil an ausländischen Schülern im Landesvergleich und dem Anteil an Förder- bzw. Sonderschülern und Schulabgängern ohne Abschluss (vgl. Caritas 2015). In Bezug auf den Migrationshintergrund von Kindern und Jugendlichen sind die Ursachen für die erhöhte Kinderarmut in dieser Bevölkerungsgruppe weit gefächert. Mangelnde Sprachkenntnisse sind hier genauso zu nennen, wie geringere Berufsqualifikationen, institutionelle Diskriminierung und fehlende Integration in soziale Netzwerke. Jeder dieser Faktoren wirkt sich negativ auf die Erwerbstätigkeit der Eltern aus und führt dadurch zu einem höheren Risiko von Kinderarmut bedroht oder betroffen zu sein (vgl. Hübenthal 2009, S. 18). Gesundheit Die Erreichbarkeit von Einrichtungen zur medizinischen Versorgung, wie Kinderärzte, Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin, Familienhebammen, Therapeuten, Psychologen, etc., spielen vor allem für Familien mit jüngeren Kindern eine große Rolle. Familien wünschen sich gesunde Ernährung und die Einhaltung von Hygienestandards nicht nur innerhalb der Familie, sondern auch in den Betreuungs- und Bildungseinrichtungen. Bei in Armut lebenden Kindern haben Beeinträchtigungen und Beschädigungen der psychischen und physischen Gesundheit zugenommen. Einige typische Krankheitsbilder können auf eine familiäre Notlage hinweisen. Konkret spielen Infektionskrankheiten, Asthma, Zahnerkrankungen sowie Magenschmerzen eine Rolle. Daneben sind Verhaltensstörungen, Aggressivität, Konzentrationsunfähigkeit, motorische Unruhe, Ess- oder Befindlichkeitsstörungen feststellbar und können als typische Beschwerdekomplexe sozial benachteiligter Kinder angesehen werden. Solche psychosozialen Armutsfolgen resultieren auch aus negativen Gleichaltrigenbeziehungen, z. B. durch Zurückweisungen seitens anderer Kinder oder das Erleben von Benachteiligungen bei Geburtstagen, Freizeitaktivitäten und Schulausflügen. Es überrascht daher kaum, dass arme Kinder in ihren emotionalen Fähigkeiten erhebliche Schwächen aufweisen. Nicht nur in den Gleichaltrigenbeziehungen kann es zu Schwierigkeiten kommen, arme Grundschulkinder zeigen auch größere Schwierigkeiten, Vertrauen zu Erwachsenen aufzubauen. Spezielle kinder- und jugend-psychiatrische Angebote werden durch verschiedene Träger realisiert (vgl. Weimann 2010, S. 9ff.). Auf die steigende Zahl an verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen reagieren die Bildungseinrichtungen, wie Kita und Schule und die Betreuungseinrichtungen im Bereich der Hilfen zur Erziehung, durch eine enge Zusammenarbeit mit therapeutischen Einrichtungen, wie beispielsweise die Tageskliniken der Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik. Studien, wie beispiels126 weise die KiGGs Studie des RKI, beschreiben armutsbedingte Krankheiten und Suchtverhalten bei Kindern und Jugendlichen und deren prognostizierbare Spätfolgen sowie gesunde und ungesunde Lebensstile im Zusammenhang von Einkommen und Bildung der Eltern und geben so Anhaltspunkte für den Zusammenhang von Gesundheit und gesunder Lebensweise und dem Familieneinkommen sowie der Familienkonstellation. Das negative Gesundheitsverhalten wird durch das signifikant schlechtere Ernährungsverhalten verschärft. Die Ernährung von armen Grundschulkindern ist oft hinsichtlich Qualität, Ausgewogenheit und Regelmäßigkeit suboptimal. Eine Änderung des Ernährungsverhaltens ist für die Regeneration von armutsbedingten Belastungen und die langfristige Gesunderhaltung von besonderer Wichtigkeit. Präventive Angebote bieten hierfür die örtlichen Krankenkassen und Kinderärzte. In Mecklenburg-Vorpommern kommen auf je 100.000 Kinder bzw. Jugendliche unter 18 Jahren rd. 55 niedergelassene Kinderärzte. Damit ist Mecklenburg-Vorpommern zwar besser aufgestellt als der Bundesdurchschnitt mit 43,3 Kinderärzten pro 100.000 Einwohner unter 18 Jahren. Die Verteilung der Kinderärzte im Land, insbesondere im peripher-ländlichen Raum, kann nicht positiv bewertet werden. Ebenso ist der hohe Altersdurchschnitt der Kinderärzte perspektivisch betrachtet besorgniserregend, da sich kaum junge Mediziner in ländliche Regionen niederlassen wollen (vgl. MAGuS MV 2015). Die Säuglingssterblichkeit ging in den letzten Jahrzehnten deutlich zurück. MecklenburgVorpommern lag auch im internationalen Vergleich auf einem Spitzenplatz, wobei die regionale Betrachtung der Säuglingssterblichkeit deutliche Unterschiede aufwies, hier als Armutsfolge für Mecklenburg-Vorpommern aber vernachlässigt werden kann. Die aktuellen Auswertungen der Schuleingangsuntersuchungen aus dem Schuljahrgang 2010/2011 zeigen, dass in Bezug auf einige Indikatoren keine signifikanten Veränderungen erzielt werden konnten. Das betrifft z. B. den Anteil der Kinder mit Übergewicht oder Adipositas, die Häufigkeit von Auffälligkeiten im Bereich des psychosozialen Verhaltens oder psychophysischen Belastbarkeit. Der Anteil der Kinder, die wegen Sprachauffälligkeiten in Behandlung waren, erhöhte sich sogar deutlich (vgl. LAGuS MV 2014). Die entspricht auch den Ergebnissen der KiGGS Basiserhebung des RKI von 2007. Die KiGGS-Studie kam zwar zu dem Ergebnis, dass es den meisten Kindern und Jugendlichen in Deutschland gut geht. Die Untersuchungen zur Gesundheit und zum Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen zeigen aber auch, dass in den Handlungsfeldern psychosoziale Gesundheit, Ernährung, Bewegung, Suchtmittelgebrauch, Sprache und Sprachentwicklung weiterhin Handlungsbedarf besteht. Sie müssen deshalb nach wie vor im Mittelpunkt präventiver Bemühungen stehen. Die Studie deckt sozial bedingte Unterschiede auf. So zeigen die Ergebnisse, dass Kinder aus Familien mit niedrigem Sozialstatus seltener Allergien aufwiesen, weniger Arzneimittel nahmen und häufiger geimpft waren als Gleichaltrige aus Familien mit höherem sozialen Status. Kritisch zu bewerten sind andererseits die geringe Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen, der schadhaftere Zahnstatus und die Gefährdung der Gesundheit durch Mangel- oder Fehlernährung (vgl. KIGGS 2007). Bei der Verbesserung der Grob- und Feinmotorik müssen vorrangig die Jungen Beachtung finden. Bei der Beeinflussung des Rauchverhaltens sollten hingegen die Mädchen und jungen Frauen gerade im Hinblick auf spätere Schwangerschaften ins Blickfeld rücken (vgl. MAGuS 127 MV 2012). Die stagnierenden und teilweise steigenden Erkrankungswerte von Karies bei drei- bis sechsjährigen Kindern zeigen noch deutlichen Handlungsbedarf im Rahmen gesundheitlicher Aufklärung. Dabei muss neben gezielten Prophylaxeaktivitäten bereits bei den nullbis dreijährigen Kindern einschließlich der rechtzeitigen Zahnarztvorstellung ebenso angestrebt werden, den Sanierungsgrad im Milchgebiss deutlich zu verbessern. Ein bekanntes Problem ist, wie bei anderen Erkrankungen, die Sozialschichtabhängigkeit des Kariesbefalls (vgl. ebd.). Die Ergebnisse einer Forsa-Umfrage im Auftrag der DAK zum Thema „Motorische Defizite und Übergewicht bei Kindern“ aus dem Jahr 2010 dokumentieren die möglichen Ursachen von Adipositas. Rund 99 Prozent der befragten Kinderärzte vermuteten, dass eine schlechte oder falsche Ernährung bei Schulkindern für die Zunahme von Übergewichtigkeit verantwortlich sei. Die Ergebnisse der Befragung der Kinderärzte in ganz Deutschland sind auf Mecklenburg-Vorpommern übertragbar (vgl. DAK 2010). In diesem Zusammenhang ist auf fehlende Untersuchungen zur Qualität der Verpflegung von Kindern und Jugendlichen in Betreuungs- und Bildungseinrichtungen hinzuweisen. Eine ausführliche Betrachtung der Essensversorgung in Kitas und Schulen nach Qualität, Quantität und Kosten ist im Zusammenhang von gesundheitlicher Aufklärung und armutsbedingter Fehlernährung wünschenswert. Abb. 12: Gründe für Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen Zu wenig Sport an Schulen Niedriger Bildungs- und Einkommenstand der Eltern Fernsehkonsum und PCNutzung Ursachen von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen Eltern regen die motorische Entwicklung kaum an Schlechte oder falsche Ernährung 0% 20% 40% 60% 80% 100% 120% Zu wenig Bewegung, kaum Sport Quelle und Grafik: DAK 2010, Kinderärztliche Befragung Es gibt für Mecklenburg-Vorpommern jedoch auch positive Tendenzen im Bereich Gesundheit von Jugendlichen. Nach Angaben des Statistischen Amtes sank die Raucherquote der 15bis 19-Jährigen in Mecklenburg-Vorpommern 2013 auf 19,2 Prozent und halbierte sich damit fast gegenüber 2005 (38,2 %) (vgl. StA MV 2015). Wohnen Familien benötigen Wohnraum in entsprechender Größe und Ausstattung. Das Wohnumfeld soll dem Alter der Kinder entsprechend Zugang zu Spielplätzen, Sportstätten etc. bieten. Die Infrastruktur des Nahraums (Wohnviertel, Stadtgebiet o. ä.) soll gut ausgebaut sein, um die Erreichbarkeit von öffentlichen Einrichtungen und Einrichtungen des täglichen Bedarfs zu ermöglichen. Familien leben zunehmend lieber in Städten und urban geprägten Gemeinden als im peripheren Raum. 128 Das Zuhause ist in der Regel der wichtigste Lebensraum eines Kindes. Die Wohnverhältnisse haben einen erheblichen Einfluss darauf, wie Kinder Armut erleben und verarbeiten. Eine förderliche Wohn- bzw. Wohnstandortqualität beinhaltet Komponenten, bestehend aus ruhigem Wohnumfeld, guter Erreichbarkeit und einer sozial homogenen Nachbarschaft. Geraten Familien in Armut, so sind sie häufig gezwungen, ihren Wohnraum zu reduzieren oder hohe Mietbelastungen durch den Umzug in preisgünstigere Wohngegenden zu umgehen. Eine sozialräumliche Segregation bedeutet meist eine unattraktive, beengte Lage sowie eine unzureichende Infrastruktur. Solche Wohnumgebungen gefährden die kindliche Entwicklung, da sie oft auf destruktive Effekte treffen und ihre Teilhabemöglichkeiten eingeschränkt sind. Eine Ghettoisierung von armutsgefährdeten und armutsbetroffenen Familien in größeren Städten ist bereits erkennbar. So unterliegen Stadtteile beispielsweise in Rostock, Schwerin, Stralsund, Neubrandenburg dem Stigma eines „Ghettos für Arme“. Stadtviertel, wie Großer Dreesch, Lütten Klein, Schönwalde oder Reitbahnviertel, stehen für Plattenbauweise mit geringem Mietpreis. In eben solchen Wohnquartieren leben Familien mit geringem Einkommen und begrenzter Mobilität. Hier ist der Alltag zwar fußläufig bestreitbar, da Discounter, Kitas, Schulen und Ärzte im Nahbereich sind, dennoch sind diese Wohngegenden eher verkehrsreich geprägt, was eine hohe Beteiligung von Kindern und Jugendlichen bei Verkehrsunfällen erklärt. Zudem erleben Kinder und Jugendliche tendenziell eher und stärker Gewalt in beengten Wohngegenden ohne Freiflächen und Erlebnisräumen (vgl. Rehrmann 2009). Freizeit Familien legen Wert auf freizugängliche Spielplätze, Sportstätten und Vereine möglichst in Wohnortnähe. Offene Jugendarbeit, Jugendklubs etc. Diskotheken sind weniger relevant für die Wohnortwahl von Familien, wie die Erreichbarkeit von Kinos, öffentlichen Parkanlagen und Naherholungsgebieten. Tab. 21: Anzahl der eingetragenen Sportvereine nach Landkreisen 2012 Landkreis, kreisfreie Stadt Anzahl der Sportvereine Rostock 182 Schwerin 103 LK Mecklenburgische Seenplatte 327 LK Rostock 222 LK Vorpommern-Rügen 286 LK Nordwestmecklenburg 160 LK Vorpommern-Greifswald 365 LK Ludwigslust-Parchim 250 Vereine insgesamt 1.895 Quelle: Landessportbund 2015 2012 waren in Mecklenburg-Vorpommern 75.217 Kinder und Jugendliche (von insgesamt rund 215.300) im Altersbereich der 0- bis 18-Jährigen Mitglieder in einem Sportverein. Somit sind gut ein Drittel der 0- bis 18-Jährigen aktive Mitglieder in Sportvereinen des Landessportbundes. 129 Bei der Verteilung der Kinder bzw. Jugendlichen in Sportvereinen nach Altersklassen und Geschlecht wird deutlich, dass in allen Alterskategorien männliche Kinder und Jugendliche stärker vertreten sind als weibliche. Tab. 22: Verteilung von Kindern nach Alter und Geschlecht in Sportvereinen 0 bis 6 7 bis 14 6.942 männlich und 6.170 weiblich Gesamt: 3.112 15-18 28.641 männlich und 19.005 weiblich 9.409 männlich und 5.050 weiblich 47.646 14.459 Quelle: Landessportbund 2015 Neben den Sportvereinen bieten freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe Angebote zur Freizeitgestaltung. Die Trägerstrukturen in den einzelnen Landkreisen bieten zum Beispiel Möglichkeiten der Freizeitgestaltung an: Jugendklubs, Tagesgruppenbetreuung, Ferienfreizeiten, Nachmittagsbetreuung, kreative Angebote, Angebote zur Gesundheitsförderung, Beratung und Unterstützung bei Lernschwierigkeiten, Schulsozialarbeit, Ausbildung zu ehrenamtlichen Tätigkeiten, wie beispielsweise Sanitätsdienst oder Wasserwacht. Kommerzielle Möglichkeiten des Bildungserwerbs und der Freizeitgestaltung, wie Museen, Kinos, Freizeitparks oder Zoos, stehen finanziell armen Familien nur in geringem Umfang zur Verfügung, obgleich zahlreiche Einrichtungen ermäßigte Eintrittspreise bieten und einige Kommunen spezielle Familienpässe für die Besuche von familiengerechten Einrichtungen anbieten, wie beispielsweise der Familienpass des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte. Deutlich wird bei Betrachtung der Erreichbarkeit und der Kosten für die Nutzung von Konsumangeboten im Bereich Freizeit ein Stadt-Land-Gefälle. Aufgrund finanzieller Restriktionen und unterschiedlicher Präferenzen nehmen nicht alle Familien in gleichem Umfang kommerzielle Bildungs- und Freizeitangebote wahr. Auch regionale Unterschiede, die den Zugang zu solchen Angeboten, deren Verfügbarkeit und die öffentliche Förderung der Angebote betreffend, beeinflussen das Nutzungsverhalten und die Ausgabenhöhe von Familien (vgl. Schröder/Spiess/Storck 2015). Bedeutung von Armut im Zusammenhang mit den vier Bedarfskriterien Familien mit niedrigem Einkommen und Familien, die ihr Leben aus Transferleistungen bestreiten müssen, sind zumeist auf kommunal subventionierten Wohnraum angewiesen, was Auswirkungen auf Wohnortwahl und demnach auch auf die Wahl der Betreuungs- bzw. Bildungseinrichtung hat. Häufig werden Kinder einkommensschwacher Familien marginalisiert, weil sie im „Markenkult-Rennen“ nicht mithalten können. Armen Kindern wird z. B. die Integration in die Gleichaltrigengruppe versagt, weil sie die entsprechende Konsumausstattung, wie z. B. ein Handy oder bestimmte Kleidung, nicht besitzen (vgl. Weimann 2010, S.11). Mobbing als Folge von Armut in Form von Exklusion aus der Gleichaltrigengruppe zieht weitere psychische Folgen nach sich. Teilhabe im Sinne von emotionaler Gesundheit wird durch die Bereitstellung des Teilhabepaketes nicht erzielt. Teilhabe von Kindern und Jugendlichen an Freizeitmöglichkeiten, Nachhilfe und kulturellen Angeboten auf Grundlage des sog. „Bildungs- und Teilhabepakets“ ist über eine Antragstel- 130 lung beim zuständigen Amt möglich, stellt für viele Familien aber eine unangemessene Hürde dar und wird in der Folge nur mäßig in Anspruch genommen. Das Bildungs- und Teilhabepaket, das seit 2011 Kindern aus Familien, die Sozialgeld oder ggf. ALG II, Sozialhilfe, den Kinderzuschlag oder Wohngeld erhalten, „eine bessere Chance in Deutschland“ ermöglichen soll, steht in Mecklenburg-Vorpommern wegen des hohen bürokratischen Aufwandes und den damit entstehenden Verwaltungskosten bei Sozialverbänden und Parteien stark in der Kritik. Tab. 23: Übersicht Bildungs- und Teilhabepaket Region Quote der Anspruchsberechtigten an den unter 25Jährigen (in %) Auszahlungen je Anspruchsberechtigten 2012 in EUR Anteil der Verwaltungskosten 2012 an den Gesamtausgaben Rostock 28,81 137,00 35,97 Schwerin 33,36 149,90 24,33 LK Mecklenburgische Seenplatte 32,50 152,30 29,46 LK Rostock 26,70 170,50 31,50 LK Vorpommern-Rügen 30,01 113,02 37,24 LK Nordwestmecklenburg 26,27 134,80 27,27 LK Vorpommern-Greifswald 31,05 152,01 32,35 LK Ludwigslust-Parchim 23,49 129,39 33,80 Mecklenburg-Vorpommern (Median) 29,41 143,45 31,93 Quelle: Die Linke 2014 Hier fallen die sehr unterschiedlich hohen Verwaltungskostenanteile auf (Differenz zwischen höchstem und niedrigstem Anteil fast 13 Prozent). Durchschnittlich erhielten die Anspruchsberechtigten knapp 12 Euro pro Monat aus dem Bildungs- und Teilhabepaket. Die finanzielle Armut der Eltern zeigt sich bei den Kindern und Jugendlichen nicht nur in einer materiellen Armut, sondern auch im Bereich der Gesundheit. Mangelernährung, Versäumnis der Vorsorgeuntersuchungen, Nichtinanspruchnahme von ärztlicher Hilfe, Therapien und Kuren etc. zeigen sich vermehrt bei Kindern in monetär ärmeren Familien. Abb. 13: Exemplarische Darstellung sich bedingender Armutsfaktoren bei Kindern, Jugendlichen und Familien Kinderarmut und Bildung Finanzielle Kinderarmut und Gesundheit Armut der Eltern Kinderarmut und Wohnqualität Kinderarmut und Freizeitgestaltung Eigene Darstellung. 131 Eine finanzielle Armut der Eltern wegen geringfügiger beruflicher Qualifikation führt aufgrund der daraus resultierenden materiellen Armut für die Kinder zu Chancenungleichheit in der Entwicklung. Die „Bildungsarmut“ der Eltern bedingt gesundheitliche Risiken bei den Kindern, die sich durch ein der Armut angepasstes Wohnumfeld und mangelnden Freizeitausgleich summieren. Im Ergebnis schaffen es in Armut aufgewachsene Kinder selten, den Kreis der Armut zu durchbrechen. Stattdessen reproduzieren sie das Leben ihrer Eltern, wie schon andere Studien belegen (z. B. Michel-Schwartze/Freigang 2011), die sich mit den Auswirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit auf die zweite Generation der Betroffenen beschäftigen. Auch Weimann betont: „Wenn Eltern mit finanziellen und sozialen Problemen belastet sind, können sie ihren Kindern kaum vermitteln, wie wichtig das Streben nach Bildung ist. Die Entwicklungsunterschiede beim Schulstart können drei bis vier Jahre betragen.“ (Weimann 2010, S. 11). Sichtbare und unsichtbare Armut bei Kindern Armut kann sich unterschiedlich zeigen. Massive Auffälligkeiten wie Hunger, Gewalt oder erhebliche Vernachlässigung sind eindeutig erkennbar und führen – wenn sie öffentlich werden – sofort zu einer eindeutigen Reaktion. Weniger klar erkennbar sind die „unauffälligen Auffälligkeiten“, hinter denen die materielle Notlage einer Familie nicht deutlich wird. Armut führt bei den Betroffenen zu Scham, weshalb nach außen sichtbare Anzeichen meist gut versteckt, sichtbare Konsummuster dagegen möglichst spät aufgegeben werden. Dennoch offenbaren sich bei genauem Hinsehen in den verschiedenen Lebensbereichen eines Kindes Indikatoren für Armut. Ein Kind kann nicht nur objektiv feststellbar in einem Lebensbereich unterversorgt sein. Möglicherweise liegen auch subjektive Unterversorgungsmerkmale vor, wenn ein Kind in einem Lebensbereich einen Mangel empfindet. Das subjektive Empfinden kann sich vom Erleben der Eltern deutlich unterscheiden, z. B. wird ein Kind bei ausbleibenden Unterhaltszahlungen weniger die finanzielle Not und damit Armut und das resultierende sorgenbelastete Familienklima empfinden als die emotionalen Folgen der elterlichen Trennung. Sie überlagern die Notsituation und erfordern eine andere Reaktion. Die unterschiedlichen „Gesichter von Armut“ zeigen sich als Unterversorgung in den verschiedenen Merkmalen des Kinderlebens, hierzu gehören die Bereiche Wohnen, Gesundheit und Ernährung, das subjektive Wohlbefinden und die soziale Einbindung (vgl. Weimann 2010, S. 10). Armut wird nicht selten in einer gestörten Eltern-Kind-Beziehung deutlich: Ein abstiegs- und sorgenbelastetes Familienklima wird auch in der Schule sichtbar. Manche Kinder berichten offen über ihre Ängste und Nöte, andere vertrauen sich lieber anonym einem „Kummerkasten“ an. Zusammenfassend lässt sich oft ein wenig zuwendungsvolles Erziehungsverhalten der Eltern feststellen. Auslöser kann die Aufgabe eigener Interessen und Hobbys sein, um finanzielle Verpflichtungen zu reduzieren. Dadurch kommt es zu einer Verschlechterung der Netzwerke, was zu einer „Vergleichgültigung der Eltern-Kind-Beziehung“ führen kann (vgl. Weimann 2010, S. 10f.). 132 Erhöhte Risiken einer Armutsgefährdung im Lebensverlauf von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bestehen, • wenn Eltern langzeitarbeitslos und/oder alleinerziehend sind • oder über keinen oder einen gering qualifizierten Berufsabschluss verfügen • und Geringverdiener sind, • wenn Familien in wirtschaftlich schwach entwickelten Regionen leben • und über mangelnde Mobilität verfügen, • zudem Probleme in der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit haben • und einen Migrationshintergrund besitzen. In Anlehnung an das Deprivationsmodell nach Maria Jahoda, welches das Fehlen von Erfahrungsmöglichkeiten im Kontext einer negativen Entwicklung betont (vgl. Jahoda 1983, S. 45) erfüllen zahlreiche Familien in Mecklenburg-Vorpommern einige der oben genannten Risikofaktoren und sind demnach nicht nur von Armut bedroht, sondern mit ihren Kindern von Armut direkt betroffen. 133 4 Schwerpunktbereich „Altersarmut“ – Altersrenten, private Vorsorge, Erwerbsminderungsrenten Das heutige Rentensystem geht zurück auf die sog. „Bismarckschen Sozialgesetze“. Das seinerzeitige Ziel für die Einführung eines Rentengesetzes im Jahre 1889 war primär die Absicherung im Invaliditätsfall, da die bis dato zur Verfügung stehen Hilfsinstrumentarien (Kirche, Familie, Handwerksbetriebe) nicht mehr in der Lage waren, diese Risiken abzudecken. Tendenziell wurde gearbeitet, bis es nicht mehr ging. Die Regelaltersgrenze lag damals bei 70 Jahren. Die Rente verstand sich als Zuschuss zur Überlebenssicherung. Es war ein kapitalgedecktes Modell, die Rentenversicherungsanstalten sammelten und verwalteten die paritätisch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufgebrachten Beträge. Später wurden diese Gelder im ersten Weltkrieg zur Finanzierung des Krieges missbräuchlich verwandt. Nach dem zweiten Weltkrieg waren die Renten sehr gering und es herrschte eine weitverbreitete Altersarmut. Erst durch die große Rentenreform von 1953 wurde die Rente von einer Überlebenssicherung auf eine Lebensstandardsicherung umgestellt. Dies ging einher mit der Umstellung auf das Umlageverfahren. Die GRV hat seither laufend legislative Anpassungen erfahren, womit der Gesetzgeber auf sich ändernde Rahmenbedingungen reagiert hat. Die wichtigsten Änderungen sind u. a. die Absenkung des allgemeinen Rentenniveaus auf 43 Prozent als Untergrenze im Jahr 2030 (Niveausicherungsklausel) und die Erhöhung des Renteneintrittsalters sowie die nachgelagerte Besteuerung der Renten (vgl. umfassende Übersicht bei Steffen 2015, Internetquelle). 2014 lag das Rentenniveau bei 48 Prozent (BMAS 2014). Musste ein Durchschnittsverdiener 2012 rd. 27 Jahre arbeiten, um eine Rente auf Sozialhilfeniveau zu erhalten, so wird ein Neurentner im Jahre 2030 dafür schon 35 Jahre benötigen (IAB-KB 15/2012 unter Bezugnahme auf Schmähl). Um nachvollziehen zu können, welche Parameter wie für die Berechnung der Rente relevant sind, soll zunächst einleitend die sog. Rentenformel, die zur Berechnung der individuellen Rente herangezogen wird, vorgestellt werden. Folgende Faktoren spielen dabei eine Rolle: Entgeltpunkte, Rentenartfaktor, Versicherungszeitraum, ggf. Abschlagsfaktor sowie, ganz wichtig, der aktuelle Rentenwert, der jährlich angepasst wird. In die Ermittlung dieses Wertes fließen der sog. „Riester-Faktor“, der die demographischen Herausforderungen berücksichtigt, und der Nachhaltigkeitsfaktor ein. Die Rentenformel lautet: Ep x aRw x RaF x ZF Ep= Entgeltpunkte; aRw= aktueller Rentenwert; RaF= Rentenartfaktor; ZF= Zugangsfaktor Entgeltpunkte werden pro Jahr ausgewiesen, in dem Rentenbeiträge entrichtet wurden. Wenn ein Arbeitnehmer genau den Durchschnittswert an Rentenbeiträgen aller Rentenbeitragszahler entrichtet hat, so erhält er hierfür 1 Ep angerechnet. Wer z. B. nur 80 Prozent des Durchschnittswertes selbst als Rentenbeiträge in einem Jahr entrichtet hat, erhält dafür 0,8 Ep. Für die sog. „Eckrente“ werden 45 Ep (lt. gesetzlicher Änderung vom 09.11.1989) zugrunde gelegt. Der Rentenartfaktor bezeichnet durch eine Ziffer die Art der Rente und damit ihre Höhe (z. B. 1,0 für Altersrente; Witwen-/Waisenrente 0,55). Der Zugangsfaktor führt zu einer 134 Verminderung bei vorzeitigem Renteneintritt (0,3 Prozentpunkte pro Monat) und erhöht den Rentenbetrag bei späterem Renteneintritt als dem Regelaltersrenteneintritt. Der aktuelle Rentenwert wird jährlich in Relation zur volkswirtschaftlichen Lohnentwicklung für Westund Ostdeutschland getrennt festgelegt. Durch diese Dynamisierung wird eine Anpassung an die jeweilige Lohnentwicklung erreicht. In die Berechnung des aRW (s. u.) werden jetzt mit dem Riester- und dem Nachhaltigkeitsfaktor auch die demographische Entwicklung berücksichtigt. Der aRw wird wie folgt berechnet: aRw West/Ost x LF x RF X NHF Vorjahr LF= Lohnfaktor (aktuelle Lohnentwicklung); RF= sog. „Riesterfaktor“; NHF= Nachhaltigkeitsfaktor Der 2001 in die Berechnung des aRw aufgenommene sog. „Riesterfaktor“ berücksichtigt Belastungen von Erwerbstätigen für ihre Aufwendungen zur privaten und der gesetzlichen Altersvorsorge. Der 2004 eingeführte Nachhaltigkeitsfaktor stellt eine Relation zwischen den Äquivalenzrentnern und den Äquivalenzbeitragszahlern her. Dieser Faktor ist im Wesentlichen dafür verantwortlich, dass die Rentenbeitragsobergrenzen zur GRV von 20 Prozent bis 2020 und 22 Prozent bis 2030 eingehalten werden und ist insofern der maßgebliche Indikator für ein beitragssatzorientiertes Rentensystem gegenüber einem bis dahin leistungsorientierten Versicherungssystem. Somit entscheidet die Beitragssatzhöhe (paritätisch von Arbeitnehmern und Arbeitgebern aufgebracht) maßgeblich über die Rentenhöhe. Beispielhaft soll hier die Rente für einen Arbeiter in Mecklenburg-Vorpommern im Jahre 2014 berechnet werden. Der Mann geht mit 62 Jahren in Rente. Hierfür müssen 36 Monate x 0,3 Prozentpunkte (= 10,8 %) beim Zugangsfaktor abgezogen werden: 1,0 - 0,108 = 0,892. Der Mann hat Rentenversicherungsbeiträge über 45 Jahre aufgrund seiner Erwerbstätigkeit selbst erbracht, die unter dem Durchschnittswert aller ostdeutschen Beitragszahler liegt (0,8 Ep p. a.). So kommen insgesamt 36 Ep zusammen (45 x 0,8). Eine Renten-Musterberechnung sähe dann so aus: 36 Ep x 26,39 EUR aRw (Ost) x 1,0 x 0,892 = 847,44 Euro monatliche Rente Es wird an diesem Beispiel deutlich, dass neben dem aktuellen Rentenwert, die individuelle Lebensarbeitszeit bzw. auch von der Rente zu berücksichtigende (Ausfall-)Zeiten und der Zeitpunkt der Berentung maßgeblich sind. Für die Berechnung der sog. Eckrente werden 45 Versicherungsjahre, in denen genau jeweils ein durchschnittliches Entgelt aller Beitragszahler bezogen wurde und die Berentung zum gesetzlich festgelegten Zeitpunkt erfolgt, zugrunde gelegt. So kommt dieser fiktive Rentenbetrag zustande. Hat man weniger als 45 Jahre gearbeitet bzw. anrechenbar, hat man weniger als der zugrunde gelegte Durchschnittsverdienst erzielt und geht noch früher in Rente, so reduziert sich der Rentenbetrag. Wer vorzeitig in Rente geht, verliert damit max. 18 Prozent seiner Rente (0,3 % pro vorzeitigem Monat; 3,6 % pro vollem Jahr), bei EM- und sog. Witwenrenten beträgt die Höchstgrenze der Abschläge max. 10,8 Prozent. Die verfügbare Eckrente wegen Alters für ostdeutsche Bundesländer eines Durchschnittsverdieners mit 45 Versicherungsjahren, nach Abzug KVdR und PVdR, als Synonym für: Stan- 135 dardrente netto vor Steuern, stellt sich gegenüber der Brutto-Eckrente im Zeitverlauf wie folgt dar: Tab. 24: Verfügbare Eckrente Jahr Eckrente, brutto Verfügbare Eckrente 01.07.2005 1.034 937 01.07.2006 1.034 939 01.07.2007 1.039 940 01.07.2008 1.050 949 01.07.2009 1.086 977 01.07.2010 1.086 978 01.07.2011 1.097 985 01.07.2012 1.121 1.007 01.07.2013 1.158 1.039 01.07.2014 1.188 1.065 Quelle: DRV, Rentenversicherung in Zeitreihen 2014 Damit liegt der durchschnittliche Rentenzahlbetrag deutlich unter der zu versteuernden „Eckaltersrente“ i. H. v. 1.188 Euro (Wert für Ostdeutschland; ab 01.07.2014), von der die KVdR/PVdR-Beiträge abgezogen werden. Der Anteil der GRV-Renten am gesamten Alterseinkommen in Ostdeutschland beträgt weit über 90 Prozent. Damit stellt die Rente das zentrale Alterseinkommen in den neuen Bundesländern dar; in Westdeutschland liegt dieser Wert bei rd. 85 Prozent (vgl. DZA Report Altersdaten 1/2013, S. 5; auf Basis EVS; DRV, Rentenversicherung in Zeitreihen 2014). Die nachfolgenden Belege zeigen, dass gerade in Mecklenburg-Vorpommern ein sehr hoher Anteil von Rentnern mit deutlich niedrigeren Renteneinkünften leben muss. Rentner in Mecklenburg-Vorpommern Aufgrund der Regelungen des Einigungsvertrages wurden 1989 rd. 4 Mio. Rentner und etwa 8.Mio. Versicherte aus der ehemaligen DDR in das Rentensystem erfolgreich integriert (vgl. Rasner 2014). Bei der DRV sind mehr als 35,7 Mio. Personen aktiv versichert. Mitte 2013 gab es in Deutschland 25, 1 Mio. Rentner (davon gut 4 Mio. Mehrfachrentner). Gut 4 Mio. Rentner leben in den neuen Bundesländern. Jährlich kommen gut 1,2 Mio. Rentner bundesweit neu hinzu (Zugangsrenten). Am 31.12.2013 wurden im Nordosten annähernd 719.000 aktive Versicherte gezählt. In Mecklenburg-Vorpommern lebten am 01.07.2013 insgesamt über 584.000 Rentner (alle Rentenarten; ohne Waisenrentenempfänger). Die Werte im Einzelnen: 136 Tab. 25: Rentenbestand und Rentenhöhen in Mecklenburg-Vorpommern 2013 EUR* Renten wg. Tod (Witwenrenten) EUR* 29.402 654 132.417 464 665 28.548 655 132.595 466 30.675 650 28.074 653 131.353 470 660 29.624 659 27.056 673 131.439 476 58.907 667 30.994 655 27.913 681 130.847 497 685 60.269 663 31.824 647 28.445 680 130.148 497 229.167 692 62.530 633 32.981 645 29.549 683 134.120 500 1.038 227.626 711 63.956 673 33.522 652 30.434 697 133.917 511 159.420 1.060 225.405 737 65.590 689 34.103 665 31.487 716 134.164 528 +0,2 +5,0 -1,0 +15,2 +7,8 +3,3 + 8,5 -2,1 +7,1 +9,5 +1,3 +13,8 EUR* AltersRenten insges. EUR* EMRenten insges. EUR* Männer EUR* Frauen EUR* Männer EUR* Frauen 574.043 701 380.804 789 153.059 1.010 227.745 640 60.822 667 31.420 679 2006 575.280 702 383.203 790 155.039 1.004 228.164 644 59.482 660 30.934 2007 573133 702 383.031 789 155.908 998 227.123 645 58.749 652 2008 571.714 709 383.595 795 156.724 1.001 226.871 653 56.680 2009 576.380 734 386.626 824 158.258 1.030 228.368 682 2010 577.426 733 387.009 823 158.289 1.023 228.720 2011 583.963 734 387.313 827 158.146 1.022 2012 584.094 750 386.221 845 158.595 2013 584.579 772 384.825 871 +1,8 +10,1 +1,1 +10,4 Renten insges. 2005 Jahr Veränderung -en** Quelle: DRV Rentenversicherung in Zeitreihen 2014; * = Durchschnittszahlbetrag; ** = Veränderungen in % 2005/2013 137 Diese Übersicht zeigt, dass der Gesamtrentenbestand insgesamt (alle Rentenarten) nur moderat um 1,8 Prozent zunahm. Unterdurchschnittlich war die Zunahme bei den Altersrenten bei Männern, rückläufig bei den Frauen. Gerade sie hatten aber die höchsten Rentenzuwächse zu verzeichnen mit 15,2 Prozent. Den mit Abstand höchsten Zuwachs bei den Rentenarten gab es bei den Erwerbsminderungsrenten mit fast 8 Prozent. Hier lag die Quote bei den Männern bei 8,5 Prozent und fiel mit 7,1 Prozent bei den Frauen moderater aus. Bemerkenswert ist hier, dass der durchschnittliche Zahlbetrag sich bei Männern um über 2 Prozent auf 665 Euro mtl. reduzierte. Gegenläufig die Entwicklung bei den Frauen: Sie erhielten zuletzt eine um 9,5 Prozent höhere EM-Rente als 2005. Eine ebenfalls unterdurchschnittliche Zunahme gab es bei den (meist weiblichen) Empfängern der Rente wegen Todes, der sog. Witwenrente, mit 1,3 Prozent. Trotz einer deutlichen prozentualen Erhöhung der Zahlbeträge lagen sie mit 528 Euro mtl. insgesamt am niedrigsten. Die Entwicklung bei den EM-Renten verdient eine besondere Beobachtung, da an unter 65-Jährige ausgezahlte EM-Renten bei Erreichen der Regelaltersgrenze diese automatisch in gleicher Höhe verbleibend in Altersrenten „umfirmiert“ wurden und sie mithin ein (zusätzliches) Potenzial für Altersarme darstellen. Vergleicht man diese Rentenbestandszahlen für Mecklenburg-Vorpommern mit dem Bundesdurchschnitt, so ergibt sich folgendes Bild (2013): Deutschland Mecklenburg-Vorpommern prozentuale Differenz gegenüber Deutschland gesamt Anteil der Rentenbezieher an Gesamtbevölkerung 36,5 % 584.579 31,3 % 25.164.401 + 5,2 % Anteil der Altersrentenbezieher an Gesamtbevölkerung 22,1 % 17.687.745 24,1 % 384.825 + 2,0 % Anteil der EM-Rentenbezieher an Gesamtbevölkerung 4,1 % 65.590 2,1 % 1.719.346 + 2,0 % Anteil der Witwenrentenbezieher 7,2 % 5.757.310 8,4 % + 1,2 % 134.164 Quelle: DRV, Rentenversicherung in Zeitreihen 2014; Rundungsdifferenzen Bei allen Rentenarten verzeichnete der Nordosten gegenüber dem Bundesdurchschnitt höhere Bezieherwerte. Insgesamt bezogen deutlich mehr als ein Drittel der Bevölkerung Mecklenburg-Vorpommerns Renten, damit lag dieser Anteil gegenüber dem Bundesdurchschnitt um über 5 Prozent höher. 138 Die Entwicklung bei den Rentenzugängen und den Rentenhöhen insgesamt (unter Berücksichtigung der Rentenzahlbeträge, die unter dem Grundsicherungsniveau lagen) stellt sich wie folgt dar: Tab. 26: Jahr Renten insgesamt 2005 Rentenzugänge und deren durchschnittliche Rentenhöhen in Mecklenburg-Vorpommern EUR* Renten wg. Tod (Witwen -renten) in 1.000 EUR* 2.118 637 8.504 398 608 2.097 634 8.577 410 2.812 587 2.196 607 8.556 409 577 2.943 563 2.301 596 8.549 403 5.735 587 3.150 570 2.585 608 8.535 430 686 6.078 590 3.331 575 2.747 609 8.507 432 6.925 676 6.200 587 3.407 570 2.793 607 8.523 431 894 5.419 754 5.801 597 3.052 571 2.749 626 8.541 444 904 5.133 796 5.898 611 3.024 590 2.874 632 8.789 465 EUR* AltersRenten insges. EUR* EMRenten insges. EUR* Männer EUR* Frauen EUR* Männer EUR* Frauen 25.994 631 12.819 785 7.012 896 5.807 652 4.671 629 2.553 622 2006 23.632 620 10.326 795 5.572 907 4.754 664 4.729 619 2.632 2007 24.678 612 11.114 775 5.806 893 5.308 645 5.008 596 2008 25.799 612 12.006 775 5.985 886 6.021 665 5.244 2009 25.702 615 11.432 767 5.381 874 6.051 673 2010 26.368 616 11.783 762 5.050 863 6.733 2011 26.692 610 11.969 750 5.044 852 2012 25.641 647 11.299 827 5.880 2013 26.303 670 11.616 856 6.483 Veränderungen** 2005 - 10 - 0,5 - 11,3 + 1,9 - 5,7 - 8,4 - 2,6 - 14,2 2013 - 13,2 - 1,7 - 14,7 + 8,0 - 11,3 - 11,7 - 11,7 - 11.9 Quelle: DRV, Rentenversicherung in Zeitreihen 2014) * = Durchschnittszahlbetrag; ** = Veränderungen gegenüber den Bestandsrenten der Jahre 2005 und 2013 bei den Neuzugängen in % Im Jahre 2005 erhielten alle Rentenneuzugänge durchschnittlich 10 Prozent niedrigere Renten als die Bestandsrentner. Dieser Abstand baute sich bezogen auf alle Rentenarten auf über 13 Prozent aus. Die Differenzierung bei den einzelnen Rentenarten fiel unterschiedlich aus. 139 Die Niveauabsenkung wirkt bei den Altersrenten nicht erheblich, stellt sich jedoch ganz anders da, wenn geschlechterspezifisch geschaut wird: Hier erhielten die Männer bereits 2005 um über 11 Prozent niedrige Rentenzahlungen gegenüber den Bestandsrentnern und dieser Abstand baute sich auf fast 15 Prozent aus. Ganz anders bei den Frauen: Hier lag der durchschnittliche Rentenzahlbetrag der Zugangskohorte schon 1,9 Prozent über dem Bestandsdurchschnitt und erhöhte sich weiter auf beachtliche 8 Prozent. Dies deutet auf eine zunehmend bessere Erwerbsbeteiligung der Frauen hin, gleichwohl lagen ihre Altersrenten noch deutlich unter denen der Männer. Diese Entwicklung bei den Frauen bildet sich auch bei der Inanspruchnahme von Grundsicherung im Alter ab. Die Entwicklung bei den Altersrenten der Männer im Nordosten ist ernst, auch wenn noch höhere Altersrenten als bei den Frauen erzielt wurden. Besonderes Augenmerk verdient die Entwicklung bei den EM-Renten: Nachdem im Jahre 2005 mit einer fast 6 Prozent niedrigeren Rentenzahlung gestartet wurde (gegenüber den Bestandsrenten) baute sich hier der Abstand am deutlichsten um fast 6 Prozent aus. Bei den Männern war dieser Trend schon bei den Bestandsrenten erkennbar. Hier fiel das Auseinanderdriften der Rentenhöhe bei den Frauen mit einer deutlichen Zunahme um über 9 Prozent am höchsten aus. Diese Entwicklung bei den Frauen kann als besorgniserregend bezeichnet werden. Ebenfalls mit deutlich niedrigeren Werten gegenüber den Bestandsrenten fielen die neuen Witwenrenten im Jahre 2005 aus, die ohnehin durch niedriges Niveau auffallen. Der Abstand hat sich dann allerdings auf niedrigem Niveau abgeflacht. Ohne weitere (Renten-)Einkünfte ist dieser Personenkreis auf Grundsicherungsleistungen angewiesen. Eine klare Tendenz zeichnet sich ab: Fast durchgängig fallen die Zahlungen der Rentenzugänge niedriger aus als die Bestandsrenten. Die Zahlbeträge der Bestandsrentner belegen, dass Rentner in den neuen Ländern, aufgrund der meist durchgehenden, ununterbrochenen DDRErwerbsbiografien noch höhere Renten erhalten als Rentner in den alten Ländern. Abb. 14: Rentenzugänge 2013 nach SGB VI wegen Alters nach Anzahl und durchschnittlichem Rentenzahlbetrag, Alter bei Rentenbeginn und Geschlecht (Mecklenburg-Vorpommern) durchschnittlicher Rentenzahlbetrag 1.100,00 € Anzahl der Rentenzugänge 3.000 2.500 1.000,00 € 2.000 900,00 € 1.500 800,00 € 1.000 700,00 € 500 600,00 € 0 60 61 62 63 Lebensalter Anzahl der Männer 64 65 Anzahl der Frauen Rentenhöhe der Männer Rentenhöhe der Frauen Quelle: DRV, Rentenzugänge 2013, Tab. 301.00 Z Mecklenburg-Vorpommern 140 Die Darstellung macht deutlich, dass diejenigen Rentner im Nordosten, die 2013 bereits mit 63 Jahren in Rente gingen, über eine rd. 900 Euro hohe Altersrente verfügen konnten, während die mit 65 Jahren in den Ruhestand eingetretenen Rentner eine niedrigere Rente hinnehmen mussten. Auffällig auch, dass bei beiden Geschlechtern der Rentenzahlbetrag im 64 Lebensjahr jeweils am höchsten war, aber die Anzahl der Menschen, die zu diesem Zeitpunkt in Rente gingen, eher gering ausfiel. Abb. 15: Rentenzugänge 2013 nach SGB VI wegen Alters; Anzahl der Empfänger nach Höhe des Rentenzahlbetrag und nach Alter bei Rentenbeginn und Geschlecht (Mecklenburg-Vorpommern) Zugangsrenten insgesamt 1000 800 600 1800 - <… 800 - < 900 600 - < 700 400 - < 500 200 - < 300 unter 100 1600 - <… Männer 0 1400 - <… 200 1200 - <… Frauen 1000 - <… 400 Rentenzahlbetrag in Euro Quelle: DRV, Rentenzugänge 2013, Tab. 302.00 Z Mecklenburg-Vorpommern Diese Darstellung verdeutlicht die Verteilung der Rentenhöhe bei den Zugangsrenten im Jahre 2013 im Nordosten. Gut ein Drittel aller Rentner könnte auf ergänzende Grundsicherungsleistungen oder auch Wohngeld angewiesen sein, wenn nicht noch andere Alterseinkünfte zur Verfügung standen. Eine niedrige GRV-Rente bedeutet nicht automatisch Altersarmut, es kommt stets auf das gesamte „Ensemble der Alterseinkünfte“ an. Allerdings spielt die gesetzliche Altersrente in Mecklenburg-Vorpommern hierbei eine zentrale Rolle. Bereits Rentenhöhen ab 1.200 Euro fallen bei der Verteilung eine marginale Bedeutung zu. Ein Blick auf die Witwen-/Witwerrenten zeigt, dass die erreichten Rentenansprüche noch niedriger ausfallen: Rentenzugänge 2013 in Mecklenburg-Vorpommern, Große Witwen- /Witwerrente Altersgruppe Altersgruppe 80 - 84 85 - 80 - 84 75 - 79 70 - 74 65 - 69 60 - 64 55 - 59 50 - 54 0,00 € 75 - 79 200,00 € 70 - 74 Männer 65 - 69 400,00 € 60 - 64 Frauen 55 - 59 600,00 € 1400 1200 1000 800 600 400 200 0 50 - 54 800,00 € - 49 Frauen Männer Anzahl der Betroffenen 85 - Durchschnittlicher Rentenzahlbetrag - 49 Abb. 16: Quelle für beide Übersichten: DRV, Rentenzugänge 2013, Tab. 402.00 Z Mecklenburg-Vorpommern 141 Hier fällt zunächst auf, dass die hochaltrigen Frauen die höchsten Rentenbeträge erhielten. Witwerrenten bewegen sich allgemein auf einem sehr niedrigen Niveau und auch die Fallzahlen liegen deutlich unter denen der Frauen (aufgrund der höheren Lebenserwartung von Frauen). Neben Renten wegen Todes werden i. d. R., insbesondere bei Älteren, immer noch eigene (Alters-)Einkünfte erzielt. 142 Tab. 27: Entwicklungen der Rente wegen Alter in Mecklenburg-Vorpommern, Männer 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 153.059 155.039 155.908 156.724 158.258 158.289 158.146 158.595 +3,6 % durchschn. Zahlbetrag f. Bestandsrenten in € 1.010 1.004 998 1.001 1.030 1.023 1.022 1.038 +2,8 % Zugangsrenten im Jahr 7.012 5.572 5.806 5.985 5.381 5.050 5.044 5.880 -15,2 % Anzahl Zugangsrenten mit Abschlägen 4.534 3.324 3.397 3.388 2.788 2.973 3.098 2.915 -35,7 % durchschn. Zahlbetrag f. Zugangsrenten in € 896 907 893 886 874 863 852 894 -0,2 % Anzahl Rentenhöhe 692 621 872 1.041 1.210 1.171 1.385 1.520 +119,7 % unter Grundsicherung*** (605 €) (613 €) (629 €) (645 €) (663 €) (668 €) (686 €) Anteil unter Grusi. in % 9,9 11,1 15,0 17,4 22,5 23,2 27,5 25,9 +161,4 % Versicherungsjahre** 45,2 44,9 45,0 44,9 44,0 44,0 44,0 44,1 -1,1 Jahre Entgeltpunkte** **** 1,005 1,017 1,000 0,987 0,978 0,950 0,933 0,930 -8,1 % durchschn. Anzahl der** Abschlagsmonate 36,65 32,80 32,67 31,74 33,96 32,63 29,92 23,91 12,7 durchschn. Bruttoabschlag in €** 115,61 104,20 102,92 99,95 105,29 101,57 93,19 77,31 38,30 € durchschn. Zugangsalter** 62,4 62,9 62,9 63,0 63,1 62,9 63,0 63,6 +1,2 Jahre Bestand am 31.12 Verändg. Hinweise= *: Veränderungen in % gegenüber dem Ausgangsjahr 2005, wenn keine anderen Einheiten angegeben; **: Wert bezieht sich auf die neuen Bundesländer; ***: In Klammern wird der jeweilige durchschnittliche Bruttobedarf in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung außerhalb von Einrichtungen in € angegeben; ****: bezogen auf Altersrenten insgesamt Quelle: DRV, Rentenversicherung in Zeitreihen 2014; DRV Statistik, Sonderauswertung Rentenzugang lt. BT Drs. 18/1013 v. 18.06.2014 143 Tab. 28: Entwicklungen der Rente wegen Alter in Mecklenburg-Vorpommern, Frauen 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 227.745 228.164 227.123 226.871 228.368 228.720 229.167 227.626 640 644 645 653 682 685 692 711 Zugangsrenten im Jahr 5.807 4.754 5.308 6.021 6.051 6.733 6.925 5.419 4,7 % Anzahl Zugangsrenten mit Abschlägen 3.864 3.071 3.749 4.519 4.630 5.355 5.669 3.506 9,3 % 652 664 645 665 673 686 676 754 2.652 2.105 2.754 3.150 3.300 3.628 3.963 2.539 (605 €) 45,7 (613 €) (629 €) (645 €) (663 €) (668 €) (686 €) (706 €) 44,3 51,9 52,3 54,5 53,9 57,2 46,9 +13,9 % Versicherungsjahre** 41,1 41,4 41,7 42,1 41,3 42,2 42,3 42,6 +1,5 Jahre Entgeltpunkte** **** 0,815 0,826 0,817 0,810 0,823 0,803 0,797 0,817 unv. 45,0 43,62 45,55 44,59 46,75 45,77 44,66 33,22 11,8 Mon. durchschn. Bruttoabschlag in €** 109,87 106,74 111,31 110,19 117,88 116,41 114,68 92,24 17,63 € durchschn. Zugangsalter** 61,4 61,7 61,6 61,7 61,6 61,6 61,6 62,8 +1,4 Jahre Bestand am 31.12 durchschn. Zahlbetrag f. Bestandsrenten in € durchschn. Zahlbetrag f. Zugangsrenten in € Anzahl Rentenhöhe unter Grundsicherung*** Anteil unter Grusi. in % durchschn. Anzahl der** Abschlagsmonate Verändg. unv. +11,1 % +15,6 % -4,3 % Hinweise= *: Veränderungen in % gegenüber dem Ausgangsjahr 2005, wenn keine anderen Einheiten angegeben; **: Wert bezieht sich auf die neuen Bundesländer; ***: In Klammern wird der jeweilige durchschnittliche Bruttobedarf in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung außerhalb von Einrichtungen in € angegeben; ****: bezogen auf Altersrenten insgesamt Quelle: DRV, Rentenversicherung in Zeitreihen 2014; DRV Statistik, Sonderauswertung Rentenzugang lt. BT Drs. 18/1013 v. 18.06.201 144 Die Betrachtung dieser Zeitreihen gibt Aufschluss darüber, dass sich die Anzahl der männlichen Bestandsrenten erhöhte, während diese bei den Frauen annähernd stabil blieb. Dies überrascht nicht, da während des gesamten Betrachtungszeitraums der männliche Anteil an der Gesamtbevölkerung in Mecklenburg-Vorpommern stets höher war als der weibliche Anteil. Außerdem war der Anstieg bei den Zugangsrenten ungleich: Er nahm bei den Frauen im betrachteten Zeitraum um fast 5 Prozent, bei den Männern sogar um über 15 Prozent ab. Der durchschnittliche Zahlbetrag der Altersbestandsrenten an Frauen stieg in dem dargestellten Achtjahreszeitraum um über 11 Prozent, hingegen bei den Männern nur um knapp 3 Prozent. Allerdings betrug die reale Differenz der an Männer und Frauen gezahlten Renten durchgängig deutlich über 300 Euro zugunsten der Männer, nahm aber kontinuierlich ab (Differenz 370 € im Jahre 2005, 327 € im Jahre 2012). Die Differenz nahm bei den an Männer und Frauen ausgezahlten Renten um 11,7 Prozent zugunsten der Frauen ab. Die niedrigeren Rentenzahlbeträge bei Frauen erklären sich aus den niedrigeren Entgeltpunkten, die im Zeitverlauf bei den Frauen stabiler blieben als bei den Männern. Allerdings nahm die Anzahl der für die Rentenhöhe auch maßgeblichen Versicherungsjahre bei Frauen um 1,5 Jahre zu (bei den Männern sank sie um 13 Monate), dies wirkte sich in einer fast identischen Erhöhung des Rentenzugangsalters der Frauen um 1,4 Jahre aus. Männer gingen 2012 durchschnittlich 1,2 Jahre später in Rente als 2005. Das Renteneintrittsalter entwickelte sich aber bei Männern und Frauen unterschiedlich: Bei Frauen gab es im Zeitraum von 2005 bis 2011 keine signifikanten Änderungen, zwischen 2011/2012 erfolgte aber ein Anstieg von 1,2 Jahren. Dies dürfte mit der guten gesamtwirtschaftlichen Lage und dem hohen Beschäftigungsgrad zusammenhängen. Bei Männern verlief diese Phase uneinheitlicher. Der Anteil von den Zugangsrenten, die mit Abschlägen (wegen eines Rentenbezugs vor Erreichen der Regelaltersgrenze) ausgezahlt wurde, nahm bei den Frauen im Betrachtungszeitraum um gut 9 Prozent ab, bei Männern sogar um fast 36 Prozent. Dies dürfte mit der gestiegenen Zahl der EM-Renten zusammenhängen, die bei Erreichen der Regelaltersgrenze in Altersrenten umgewandelt werden und bei denen durch die Berücksichtigung von Zurechnungszeiten keine Abschläge anfallen. Die Zahl der angerechneten Abschlagsmonate (für jeden Monat Rentenbezug vor Erreichen der Regelaltersgrenze werden 0,3 % von der Rente abgezogen) verkürzte sich bei Frauen um fast 12 Monate und bei Männern um fast 13 Monate. Allerdings lag der Wert von über 33 Abschlagsmonaten bei Frauen im Jahre 2012 deutlich über dem der Männer (23,91) und entspricht etwa dem männlichen Wert des Jahres 2010. Die Anzahl von Altersrenten, deren Höhe unter einem (nur bedingt aussagekräftigen) ermittelten durchschnittlichen Bruttobedarf in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung lagen (Haushalte können neben der Rente noch andere Einkünfte ausweisen, allerdings stellt in Ostdeutschland die Altersrente mit deutlichem Abstand die Haupteinnahmequelle im Alter dar), nahm bei Frauen um über 4 Prozent ab. Allerdings sind durchweg über oder annähernd 50 Prozent der Zugangsrenten eines Jahres bei Frauen unter dem Grundsicherungsniveau. Bei Männern stieg der Anteil um fast 120 Prozent an und betraf rd. ein Viertel aller Zugangsrentner. Dies deutet eine Zunahme von Altersarmut, die bereits heute existiert, an. Die Summe der erreichten Entgeltpunkte bestimmt maßgeblich die Höhe der späteren Rente. Die durchschnittlich in Ostdeutschland zuletzt erreichten Werte sahen wie folgt aus, und dürften tendenziell auch für Mecklenburg-Vorpommern gelten: 145 Tab. 29: Übersicht erreichter Entgeltpunkte Männer Frauen EM-Renten Männer Frauen Altersrenten insges. 2010 0,808 0,781 0,950 0,803 2011 0,793 0,773 0,933 0,797 2012 0,787 0,770 0,930 0,817 2013 0,780 0,761 0,913 0,807 Quelle: DRV, Rentenversicherung in Zeitreihen 2014 Diese Werte sind noch maßgeblich durch DDR-Beschäftigungsverhältnisse mitbeeinflusst. Die Werte bei den Frauen lagen über denen in Westdeutschland, bei den Männern knapp darunter. Auffallend ist für beide Geschlechter der stetige Abwärtstrend bei den Entgeltpunkten. Trischler (2012, S. 255) hat die angesammelten Entgeltpunkte unterschiedlicher Geburtsjahrgänge jeweils im 43. Lebensjahr für verschiedene Einkommenperzentile untersucht. Für Männer und Frauen in Ostdeutschland zeigt sich, dass die jüngeren Geburtskohorten, obwohl gleichaltrig, deutlich weniger Entgeltpunkte aufweisen als die früher geborenen Jahrgänge. Im unteren Einkommensdezil lag die Höhe der Entgeltpunkte bei den Jüngeren (1961-1962 geboren) bei beiden Geschlechtern unter 10 Entgeltpunkten, bei den Frauen sogar deutlich darunter. Hier zeigen sich deutlich die Auswirkungen von unterbrochenen Erwerbsbiografien. Noch interessanter ist der Blick auf die durchschnittlichen Entgeltpunkte nach kumulierter Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland: Tab. 30: Durchschnittliche Entgeltpunkte nach kumulierter Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland Männer, Ostdeutschland durchschn. Ep Arbeitslosigkeit Anteil in % Frauen, Ostdeutschland durchschn. Ep 44. Lebensjahr (Kohorte 1961-1965) Keine 20,6 34 23,3 1 – 11 Monate 20,4 23 21,1 12 – 23 Monate 20,0 11 20,9 24 – 47 Monate 17,4 16 20,7 48 Monate u. mehr 14,5 16 19,1 54. Lebensjahr (Kohorte 1951-1955) Keine 32,2 37 33,6 1 – 11 Monate 31,1 16 30,6 12 – 23 Monate 27,7 12 30,0 24 – 47 Monate 27,8 13 29,4 48 Monate u. mehr 23,7 22 28,3 Quelle: Trischler 2014, S. 280; Basis: FDZ RV, Versichertenkontenstichprobe 2009 146 Diese Werte dürften aufgrund der überdurchschnittlich hohen Arbeitslosenquote in Mecklenburg-Vorpommern eher noch höher ausfallen. Es fällt zunächst auf, dass der Anteil an Frauen in beiden Kohorten, die keine Zeiten der Arbeitslosigkeit auswiesen, höher war als bei den Männern. Allerdings fiel die Quote der Langzeitarbeitslosen (ab 48 Monaten) bei den Frauen höher aus. In der jüngeren Kohorte sogar fast doppelt so hoch als in der älteren. Insgesamt waren Männer stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als Frauen, dies hat Auswirkungen auf die Rentenanwartschaften. Der Rentenversicherungsbericht 2014 wies für den 5-Jahreszeitraum 2013 bis 2018 eine Steigerung der aktuellen Rentenwerte für die neuen Länder von 25,75 Euro auf 29,51 Euro (entsprechend 14,65 % Zuwachs) aus (BMAS 2014). Rechnet man mit diesem Steigerungswert für die nächsten 5 Jahre weiter, so kommt man auf einen anzunehmenden aktuellen Rentenwert von 33,83 Euro im Jahr 2023. Unterstellt man für die Teilgruppe mit 48 und mehr Monaten Arbeitslosigkeit der Kohorte im 54. Lebensjahr, dass in den nächsten zehn Jahren pro Jahr 0,5 Ep erworben werden (was eher eine sehr positive Annahme darstellt) und legt man bei der Teilgruppe ohne bisherige Arbeitslosigkeitsphasen die jeweils durchschnittlich jährlich in den neuen Ländern erreichten Entgeltpunkte zugrunde, so könnten sich für einen Renteneintritt mit 64 Jahren im Jahre 2023 folgende fiktiven Altersrenten ergeben: Tab. 31: Simulationsberechnung möglicher künftiger Altersrenten 64. Lebensjahr (Kohorte 1951 – 1955) Ostdeutschland Männer Frauen Arbeitslosigkeit EGP 54.Lebensj. zzgl. neuer Ep* EndEp ZF in % RentenBetrag 2023: EGP 54.Lebensj. zzgl. neuer Ep* EndEp ZF Rentenbetrag 2023: 48 Monate u. mehr 23,7 5,0 28,7 -3,6 935,97 28,3 5,0 33,3 -3,6 1.085,99 Keine 32,2 9,852 42,2 -3,6 1.376,23 33,6 8,033 41,6 -3,6 1.356,66 eigene Berechnung; Ep: Entgeltpunkte lt. voriger Tabelle, ZF: Zugangsfaktor (hier: - 0,3 % pro Monat = - 3,6 %) für ein Jahr vorzeitigen Rentenbeginn; * = 0,5 EGP p. a. bei Personen, die schon mal Arbeitslos waren; 0,9852 durchschnittl. EGP p. a. für Männer, 0,8033 durchschnittl. EGP p. a. für Frauen, die noch keine Arbeitslosigkeitsphasen hatten (lt. Rentenversicherungsbericht 2014; Rechtsgrundlage 2014) Diese mit mehreren Unwägbarkeiten behaftete Simulationsberechnung zeigt, wie sehr sich Zeiten der Arbeitslosigkeit negativ auf die Rentenhöhe auswirken. Zu berücksichtigen ist, dass von dem für 2013 ausgewiesenen Rentenbetrag noch RVdR-/PVdR-Beiträge zu entrichten sind und 83 Prozent der Renteneinkünfte zu versteuern sind. Es wird zudem deutlich, dass künftig Männer, mit häufigen Arbeitslosigkeitsphasen, zunehmend zu einer Armutsgruppe werden. Diese Modellberechnung deutet für Mecklenburg-Vorpommern an, mit welchem Ausmaß an Altersarmut zukünftig zu rechnen ist. Genauere Simulationsergebnisse wären unter Zuhilfenahme einer VSKT von Rentenversicherten aus Mecklenburg-Vorpommern zu gewinnen; dies muss einer vertieften Forschung vorbehalten bleiben. Krenz et al. ziehen die Armutsgrenze für Personen, die zwischen 2020 und 2022 das 65. Lebensjahr erreichen, bei 30 Renten-Entgeltpunkten für Singles und 48 für Paare, was ihren Berechnungen nach dann in etwa dem Niveau der Grundsicherung entsprechen dürfte (vgl. 147 Krenz et al. zit. nach Kumpmann et al. 2010, S. 9). Die sog. „Babyboomer-Generation“ (zwischen 1956-1965 Geborene 14) muss – wie oben dargestellt – aufgrund diversifizierter und diskontinuierlicher Erwerbsverläufen mit geringeren Rentenanwartschaften rechnen. Dies gilt insbesondere auch für Ostdeutschland mithin auch für den Nordosten (vgl. Simonson et al. 2012). Doch auch heute sind Senioren im Land schon von Armut betroffen: In MecklenburgVorpommern erhielten am Ende des Jahres 2012 insgesamt fast 136.000 Rentenempfänger eine Altersrente unter dem damaligen Grundsicherungsniveau von 706 Euro pro Monat (bezogen auf eine alleinstehende Person). Die Verteilung im Nordosten konkret (2012): Tab. 32: Altersrenten unter Grundsicherungsniveau, Mecklenburg-Vorpommern 2012 Bestand insgesamt Anzahl mit Zahlbetrag unter 706 Euro Anteil Männer 158.595 15.526 9,80 % Frauen 227.626 120.316 52,90 % Quelle: DRV Statistik, Sonderauswertung Rentenbestand; lt. BT Drs. 18/1013 v. 18.06.2014 Hier fallen die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Land deutlich auf. Dies kann darauf hindeuten, dass heutige Rentner noch von ihren ununterbrochenen DDR-Berufsbiografien partizipieren, wohingegen Rentnerinnen nach der Wende länger arbeitslos waren und sich dadurch ihre Rentenzahlbeträge minimiert haben. Im Bundesdurchschnitt erhielten 18,2 Prozent der Männer und 66,5 Prozent der Frauen Rentenzahlungen unter dem Wert von 706 Euro pro Monat. Damit lagen die Werte im Nordosten deutlich besser als im Bundesdurchschnitt. Da unser Rentensystem primär erwerbsorientiert ausgerichtet ist, wirkt sich dies auf die Rentenhöhe aus. Eine Prognose der künftigen Rentenhöhe auf Basis einer Datenfusion von SOEP und einer VSKT des DIW kommt auch zu dem Ergebnis, dass sich insbesondere bei ostdeutschen Männern eine drastische Reduzierung der Rentenanwartschaften ergeben wird. Maßgeblich sind hierfür die langen Phasen individueller Arbeitslosigkeit in den Nachwendejahren. Hiervon werden Männer in Mecklenburg-Vorpommern aufgrund der wirtschaftlichen Strukturschwäche und der hohen Arbeitslosenquote deutlich betroffen sein. Für die ostdeutschen Frauen wird dies abgeschwächt eintreten aufgrund einer höheren Erwerbsbeteiligungsquote (vgl. Rasner 2014). Die rückläufigen Zahlwerte der GRV sind auch vor dem Hintergrund der abzuführenden Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge der Rentner (KvdR, PVdR) zu sehen. Für beide Versicherungen werden vor der Auszahlung durch den Rententräger insgesamt 10,25 Prozent als Sozialversicherungsbeiträge abgezogen (derzeit 7,3 % für die Krankenversicherung zzgl. eventuell anfallender Zuschläge der jeweiligen Krankenkasse, einen Zusatzbeitrag i. H. v. 14 Die „Babyboomer-Generation“ ist nicht einheitlich definiert, zumal sich die am stärksten besetzten Kohorten regional unterschiedlich abgrenzen. Mehrere Autoren der Bevölkerungsgeographie greifen die Gruppe großzügiger auf, zumeist die von Anfang der 50er bis Ende der 70er Jahre Geborenen (siehe auch Kapitel 5). 148 0,9 % und den Beitrag für die Pflegeversicherung). Die sog. Eckrente wird immer um diese reduzierten Werte, also Nettorente vor Steuern, ausgewiesen. Seit 2005 wird die Rente nachgelagert besteuert. Wer erstmals im Jahre 2005 eine Rente bezog, muss diese zu 50 Prozent besteuern, für Rentenzahlungen im Jahre 2011 lag der Steuersatz bei 62 Prozent und steigt seither weiter um zwei Prozentpunkte jährlich bis 2021, danach jeweils um einen Prozentpunkt bis 2040 dann 100 Prozent zu versteuerndes Renteneinkommen erreicht sein werden (vgl. ASID 2012, S. 28). Für viele Rentner in Mecklenburg-Vorpommern bleibt dies zunächst bedeutungslos, wie mit einer überschlägigen Berechnung aufgezeigt werden kann: Wer die für Männer im Jahre 2014 bei den Rentenneuzugängen durchschnittlich erreichte Altersrente von 944,78 Euro im Jahre 2015 zu versteuern hätte, bräuchte keine Steuern zahlen. Der steuerliche Grundfreibetrag 2015 beträgt 8.472 Euro. In diesem Jahr beträgt der steuerpflichtige Anteil der Rente 70 Prozent (entspricht im Beispiel 7.929 €). Hiervon wären die KVdR-/PVdR-Beiträge, Arbeitnehmer-Pauschbetrag und ggf. weitere Sonderausgaben abzusetzen, sodass letztlich die zu versteuernde Summe unter dem Grundfreibetrag liegen würde. Bei Rentenzahlungen, auch aus verschiedenen Quellen, i. H. v. 1.500 Euro würde sich im Jahre 2015, je nach Umfang der absetzbaren Beträge, eine Gesamtsteuerschuld von ca. 200 Euro p. a. ergeben. Kompliziert ist dieses Verfahren insofern, als dass jedes Jahr der zu versteuernde Anteil steigt. Es gibt Anzeichen dafür, dass Rentner hiermit teilweise überfordert sind und entweder zu wenig abführen, was zu Nachforderungen seitens der Finanzämter führen kann, oder die Rente zu ihrem Nachteil bereits jetzt 100 Prozent versteuern. Die Finanzämter bekommen seit Oktober 2009 die Daten aus über 120 Millionen Rentenbezugsmitteilungen zur Überprüfung. Dies ist durch § 22a EStG legitimiert. Alle Rententräger (also auch private Versicherungsunternehmen und Pensionskassen) müssen für jede Rente eine Kontrollmitteilung an das Finanzamt übermitteln. Zum 1. Juli 2014 trat das Rentenversicherungs-Leistungsverbesserungsgesetz mit der sog. „Mütterrente“ in Kraft: Für nach dem 1. Januar 1992 geborene Kinder erhalten Mütter (auf Antrag alternativ auch Väter) einen zweiten Entgeltpunkt als Kindererziehungszeit, in Ostdeutschland 27,05 Euro (Wert ab 01.07.2015) mehr. Hiermit verbessert sich die Rentensituation speziell für Mütter etwas, je nach individuellen Verhältnissen (z. B. Gesamtentgeltpunktanzahl). Private Altersvorsorge Aktuell sind in Deutschland insgesamt rd. 16 Mio. Riesterverträge abgeschlossen. 2007 hatten erst knapp 20 Prozent aller bundesdeutschen Haushalte einen Riestervertrag abgeschlossen. Seit 2012 hat sich die Abschlussrate deutlich abgeflacht. Bei den meisten Riesterprodukten handelt es sich um Lebensversicherungsverträge, deren Garantiezinsen 2014 gesenkt wurden (s. u.). Das BMAS schätzt die Anzahl der „ruhend gestellten Verträge“ auf knapp ein Fünftel. Diese Situation tritt häufig dann ein, wenn die Verträge nicht mehr ordnungsgemäß bedient werden können durch die Sparer. Es liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass sich dieses Verhältnis in Mecklenburg-Vorpommern positiver darstellt. 149 Abb. 17: Anzahl Riesterverträge in Deutschland und Verteilung auf Vertragsformen Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales Tab. 33: Detaillierte Verteilung der Riesterverträge 2014, bundesweit (in 1.000) Versicherungsverträge Banksparverträge Investmentfonds WohnriesterProdukte Gesamtanzahl 10.915 814 3.071 1.377 16.177 Quelle: BMAS Eine Untersuchung des DIW kommt zu dem Ergebnis, dass für die private Altersvorsorge neben hinreichender Bildung, Informiertheit und ggf. noch Migrationshintergrund insbesondere die Sparfähigkeit entscheidend ist. Gerade letztere fällt oft bei niedrigem Bildungsstand deutlich niedriger aus. Außerdem scheinen keine Anreize für eine private zusätzliche Alterssicherung gegeben zu sein, wenn potenziell Förderberechtigte davon ausgehen, dass sie mit gesetzlicher Altersrente und zusätzlicher Riester-Rente das Grundsicherungsniveau nicht überschreiten, da beide Leistungen nach geltendem Recht auf die Grundsicherung angerechnet werden (vgl. Geyer 2011). Da die Grundsicherungsleistungen durch den Bund finanziert werden, gibt es auf Landesebene keine Anreize hier gegenzusteuern. Würden die Leistungen aus Riester-Renten bei der Berechnung von Grundsicherung anrechnungsfrei bleiben und würde die Vertragsgestaltung vereinfacht, z. B. dergestalt, dass man auch direkt bei der DRV „riestern“ könnte und würden die Informationen transparenter gestaltet, so könnte sich die Inanspruchnahme bei der geförderten privaten 150 Altersvorsorge gerade im unteren Einkommensbereich deutlich erhöhen (vgl. auch Simonson et al. 2012, S. 13). In Mecklenburg-Vorpommern existierten 2010 knapp 223.000 geförderte Riesterverträge, davon 134.527 von Frauen und 88.302 von Männern abgeschlossen. Lediglich knapp 16.700 hatten zwei oder mehr Verträge in Mecklenburg-Vorpommern kontraktiert, davon fast doppelt so viele von Frauen. 2011 entsprach die Quote aller im Nordosten abgeschlossen Verträge rd. 2 Prozent mit leicht abnehmender Tendenz. Dies kann auf fehlende Mittel zur Aufbringung der eigenen Sparleistung hinweisen. Tab. 34: Personen mit geförderten Altersvorsorgeverträgen MecklenburgVorpommern Beitragsjahr Mecklenburg-Vorpommern Männer Frauen Gesamt 2010 88.302 134.527 222.829 2011 89.492 129.311 218.803 Deutschland Männer Frauen 4.776.651 6.092.340 Tab. Z III Fördervolumen Altersvorsorgeverträge; Quelle: Auskünfte ZfA der DRV 2013, 2015 Die von der Zentralen Zulagenstelle für Altersvermögen (ZfA) bei der DRV ausgezahlten Förderbeträge in den Jahren 2010 und 2011 waren im Nordosten unterdurchschnittlich, wie nachfolgende Tabelle ausweist: Tab. 35: Personen mit geförderten Altersvorsorgeverträgen am 15.05.2013/2014 nach dem Wohnort und durchschnittliche Förderung für Altersvorsorgeverträge für die Beitragsjahre 2010 und 2011 Beitragsjahr Mecklenburg-Vorpommern Deutschland Männer Frauen gesamt Männer Frauen 2010 210,62 319,70 276,47 267,46 358,91 2011 207,08 319,45 273,49 273,84 363,37 Tab. ZIII Fördervolumen Altersvorsorgeverträge; Quelle: Auskünfte der ZfA der DRV 2013, 2014 Diese Übersicht zeigt das tendenziell fallende Fördervolumen in Mecklenburg-Vorpommern, welches sich gegen den Bundestrend abzeichnet. Zwar blieben die Förderbeträge bei den Frauen stabil, allerdings fielen sie leicht bei den Männern. Die Fördersumme in MecklenburgVorpommern entsprach nur 84,5 Prozent des gesamtdeutschen Förderniveaus. Insgesamt betrachtet waren Riesterverträge unter ostdeutschen Hilfebeziehern aber weiter verbreitet als in den alten Bundesländern. Lt. EVS nutzten 53 Prozent der Rentnerhaushalte in Mecklenburg-Vorpommern keine private Altersvorsorge, da sie diese nicht abgeschlossen hatten. Lediglich 47 Prozent verfügten darüber (Enquete-Kommission „Älter werden in Mecklenburg-Vorpommern“, Protokoll Nr. 11, S. 11/44). Auch junge Menschen zwischen 17 und 27 Jahren sind sich durchaus der Notwendigkeit, etwas für die Altersvorsorge zu tun, bewusst. Das Vertrauen in die privatwirtschaftlich organisierte Altersvorsorge ist, nicht zuletzt durch die Finanzmarktkrisen, 151 deutlich gesunken. Zunehmend entwickeln junge Menschen eine Affinität zu BAV-Angeboten, was auch daran deutlich wird, dass es in dieser Altersgruppe kaum Zuwächse bei den Riesterprodukten gibt. Allerdings fällt auch auf, dass die tatsächliche Sparquote für die Alterssicherung rückläufig ist, was auch damit zusammenhängen kann, dass keine ausreichend freien Mittel hierfür vorhanden sind in der „Generation Praktikum“. Zudem wünschen sich junge Menschen eine bessere finanzielle Allgemeinbildung, um sich marktrational verhalten zu können (vgl. Hurrelmann/Karch 2013). Diese Aussagen dürften auch für junge Menschen im Nordosten tendenziell zutreffen. Die Profitabilität der Riester-Rente ist abhängig von den angesparten Mitteln, Verteilung der staatlichen Förderung, Ausmaß der Verwaltungskosten und der Anlagerendite. Letztere ist sehr unterschiedlich; die Verwaltungskosten sind deutlich höher als bei der GRV. Die steuerliche Förderung als Sonderabgabenabzug ist nur für Besserverdienende interessant. Nachgelagerte Besteuerung auch von Riesterprodukten ist für „Gering-Rentenbezieher“ i. d. R. unproblematisch wg. der Höhe von steuerlichen Freibeträgen. Grundsätzlich könnten Riesterprodukte für Geringverdiener und Kindererziehende vorteilhaft sein, da sie bestenfalls mit einem Mindesteigenbetrag von 60 Euro p. a. die höchste Förderung erhalten (Grundförderbetrag 154 € p. a. und 300 € pro Kind, das nach 2008 geboren wurde (vor 2008 geborene Kinder: 185 € p. a.). Es fällt auch auf, dass Hilfebezieher etwa 50 Prozent weniger oft „riestern“ als andere einkommensarme Haushalte im unteren Einkommensquintil, die allerdings keine SGB II-Leistungen beziehen. Da die ausgeschütteten Beträge im Alter aber bei der Beantragung von Grundsicherung angerechnet werden, stellen sie für viele arme Menschen keine sinnvolle Alterssicherungsinvestition dar. So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass im höchsten Einkommensquintil (ab 2.150 €/mtl. bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen nach neuer OECD Skala) insgesamt 64 Prozent „riestern“, wohingegen es im untersten Quintil nur 35 Prozent sind. Hierfür sind auch die steuerlichen „Mitnahmeeffekte“, die sich bei höheren Einkommen positiver auswirken, maßgeblich (sog. „Matthäus Prinzip“: Wer hat, dem wird gegeben). Kritisiert wird immer wieder, dass Riesterverträge zu kompliziert und unübersichtlich sind und potenzielle Alterssparer abschrecken. So ist es nicht verwunderlich, dass un- oder nur angelernte Arbeitskräfte signifikant seltener „riestern“ als Menschen mit Berufsabschlüssen. Im Rahmen der PASS-Auswertungen wurde ermittelt, dass Riesterprodukte „sozial stark selektiv [genutzt] und für ein Gutteil der Menschen mit niedrigem Einkommen nicht gegeben“ ist (IAB-KB 15/2015, S. 7). Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass „tendenziell eher Ostdeutsche, Jüngere, Personen die bereits in Deutschland geboren sind, die mindestens über eine abgeschlossene betriebliche Ausbildung verfügen, die lange Zeit im Arbeitsmarkt integriert waren, oder aktuell noch sind“ eher die Riestersparer sind (ebd., S. 7). Das IAB weist darauf hin, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, trotz aller Zuschüsse, von großer Bedeutung für den Aufbau einer privaten Altersversorgung („dritte Säule“) ist (vgl. IAB-KB 15/2012). Dies wird auch vom BMAS bestätigt: „Für fast ein Viertel (23 %) der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von 25 bis unter 65 Jahren sind fehlende finanzielle Mittel der Grund für den Verzicht auf einen Riester-Vertrag. Entsprechend häufig wird dieser Grund von Geringverdienern (unter 1.500 €: 42 %) im Vergleich zu Besserverdienenden (4.500 € und mehr: 6 %) genannt“ (BMAS 2011, S. 43). 152 Auch darf nicht nur die Zahl der abgeschlossenen Riesterverträge betrachtet werden. Nicht jeder kontraktierte Vertrag wird auch vertragskonform bis zum Ende bedient: „Immerhin knapp 1,1 Mio. sozialversicherungspflichtig Beschäftigte (4 %) von 25 bis unter 65 Jahren haben zwar früher einmal einen Riester-Vertrag besessen, diesen in der Zwischenzeit aber wieder gekündigt. Die verbleibenden 59 Prozent der Grundgesamtheit (Männer: 61 %; Frauen 56 %) haben noch nie im Rahmen eines solchen Vertrags für das Alter vorgesorgt“ (BMAS, 2011, S. 34). Es liegen keine Erkenntnisse darüber vor, ob diese Quote im Nordosten höher ausfällt. Es lohnt auch ein Blick auf die abgeschlossenen Produkte bei sog. Riesterverträgen. 2012 waren über 62 Prozent aller Riesterverträge bei Versicherungsgesellschaften abgeschlossen, mit fast 18 Prozent folgten Verträge bei Kapitalanlagegesellschaften. Pensionskassen und fonds brachten es zusammen nur auf 1,8 Prozent. Seit Langem sind die Probleme der Assekuranzbranche, bei den abgeschlossenen Lebensversicherungsverträgen aufgrund des insgesamt niedrigen Zinsniveaus die Garantiezinsen zu erwirtschaften, bekannt. Zum 1. Januar 2015 wurde der Garantiezins innerhalb kurzer Zeit erneut gesenkt und beträgt nur noch 1,25 Prozent; zu Beginn 1988 betrug der Garantiezins 5,88 % (Die Welt, 21.04. 2014). Insgesamt schlossen die Deutschen über 92 Mio. Lebensversicherungsverträge ab, sie stellen damit die beliebteste Altersvorsorge dar, die immer mehr „zum Glücksspiel“ wird (vgl. Böckler impuls, 9/2013, S. 1). Der bei der BaFin ansässige Ausschuss für Finanzstabilität hat einen „regulatorischen Rahmen“ gefordert, der die „Risikofähigkeit“ der Lebensversicherer stärkt – was so viel bedeutet wie, der Assekuranzbranche Margen zu ermöglichen, die machbar sind und dies auch zulasten der Sparer, aber dem Ziel dienend, Insolvenzen und damit hohe Verluste bei Alterssicherungsanlagen zu vermeiden. Schon heute sind die Erträge von Riesterprodukten sehr unterschiedlich und können sicher nicht von allen abschließenden Kunden übersehen werden. Diese Form der Alterssicherung steht vielfach in der Kritik: „Diese Instrumente verstärken vor allem die bereits heute erkennbare Spreizung der verfügbaren Einkommen der Rentnerhaushalte im Sinne einer Polarisierung zwischen denen am oberen und denen am unteren Rand, denn die private Vorsorge wird vor allem von denen genutzt, die bereits heute eine hohe Sparquote haben, während gerade die Geringverdiener auf diese zusätzliche Absicherung verzichten – und von den erwartbar negativen Auswirkungen der Niedrigzinsphase auf die, die ihr Geld in kapitalgedeckte Produkte angelegt haben, ganz zu schweigen“ (Sell 2013, Internetquelle). Mackenroth-These Als Mackenroth-These wird die von dem Kieler Prof. Gerhard Mackenroth 1952 formulierte Aussage bezeichnet, dass alle Sozialausgaben einer Volkswirtschaft immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode erbracht werden müssen (vgl. Mackenroth 1952, S.41). Daraus folgt, dass ein Rentensystem nicht zwangsläufig als Kapitaldeckungsverfahren organisiert sein muss, sondern eben auch als Umlageverfahren organisiert werden kann. Diese These hatte vor der großen Rentenreform von 1953 Bedeutung. Heute gibt es seitens der Verfechter kapitalgedeckter Alterssicherungsprodukte Kritik an dieser These, da sie davon ausgeht, dass immer genügend Kinder geboren werden, die das Umlageverfahren 153 sicherstellen. Aber die Leistungen, die Rentner benötigen, können immer nur in der Gegenwart, und zwar durch die Arbeitenden erbracht werden. Somit kann bei unsteten Erwerbsbiografien oder mit niedrigen Einkünften kein solider Kapitalstock als Altersvorsorge gebildet werden. Zudem können deutliche Anlageverluste heute nicht mehr ausgeschlossen werden und außerdem sind höhere Kosten und deutliche Gewinnmargen mitzufinanzieren bei dieser Form der Altersvorsorge. Volkswirtschaftlich betrachtet ist ein privatwirtschaftlich organisiertes Kapitaldeckungsverfahren zur Alterssicherung teurer und unsicherer als ein Umlageverfahren zur Rentenfinanzierung. Die privatwirtschaftlich organisierte, neoliberal geprägte Einführung der dritten Säule der Alterssicherung hatte denn wohl auch andere Beweggründe (z. B. Stärkung des Börsenplatzes Frankfurt/M., da die meisten Unternehmen, die Riesterprodukte anbieten, börsennotiert sind). Betriebliche Altersvorsorge Die Betriebliche Altersvorsorge (BAV) spielt in Mecklenburg-Vorpommern bisher nur eine geringe Rolle. Nur rd. fünf Prozent der Arbeitnehmer können später von einer BAV profitieren (ASID 2012, S. 35). Auf der bundespolitischen Agenda stehen Überlegungen zur Stärkung der betrieblichen Altersversorgung, speziell für kleine und mittlere Betriebe. Dies ist insbesondere zu sehen vor dem Hintergrund der umstrittenen Absenkung des Rentenniveaus, um eine Beitragssatzstabilität zu erreichen. Dem Aufbau der sog. zweiten Säule der Alterssicherung kommt daher eine wichtige Bedeutung zu. Die gesetzliche Rente wird künftig nicht mehr ausreichen, um den im Erwerbsleben erreichten Lebensstandard zu sichern (vgl. Sozialbeirat o. J., S. 8). Auch in den öffentlich geförderten Arbeitsbereichen scheint die BAV nicht sehr ausgeprägt zu sein: In Mecklenburg-Vorpommern gibt es z. B. nur 17 Mitgliedsunternehmen bei dem „Versorgungsverband bundes- und landesgeförderter Unternehmen e. V.“ (VBLU). Dies ist im Bundesländervergleich eine sehr schwache Verbreitung. Sozialverbände oder auch Forschungseinrichtungen, die öffentlich finanziert werden, können beim VBLU für ihre Mitarbeiter Versorgungsverträge zum Aufbau einer zusätzlichen Altersvorsorge abschließen. Altersarmut Von Altersarmut wird hier gesprochen bei Personen ab 65 Jahren (analog der amtlichen Sozialberichterstattung). Im Gefolge der großen Rentenreform von 1953 glaubte man, die Altersarmut überwunden zu haben. Seit einigen Jahren nimmt die Diskussion um drohende bzw. bereits eingetretene Altersarmut vehement zu. Derzeit deuten Befunde darauf hin, dass es akut kein extremes Problem der Altersarmut gibt (a. A.: Butterwegge et al. 2012; ders. 2014): Verschiedene empirische Belege zeigen, dass derzeit bei den Älteren ein etwas niedrigeres Armutsrisiko als beim Rest der Bevölkerung existiert (z. B. Armutsgefährdungsquote). Allerdings deuten unübersehbare Faktoren darauf hin, dass sich dies in den nächsten Jahren ändern wird (vgl. Noll/Weick 2011). Dennoch wird das Thema der drohenden Altersarmut noch kontrovers diskutiert. Seitens der DRV wird auf erheblichen Forschungsbedarf hinsichtlich der Einschätzung künftiger Altersarmut hingewiesen (vgl. Faik/Köhler-Rama 2011). Bäcker weist in diesem Zusammenhang auf verschiedene Faktoren hin, die hinsichtlich möglicher Prognosen von Altersarmut zu berücksichtigen sind, z. B. arbeitsmarktliche Aspekte (Niedriglohnbeschäftigung, Teilzeitbeschäftigung, Unterbre154 chungen von Erwerbsverläufen, Langzeitarbeitslosigkeit), insbesondere in Ostdeutschland. Ein Wandel der Lebensformen, was z. B. zu einer Zunahme von Haushalten mit Alleinlebenden führt, die Einkommensrisiken schwerer kompensieren können, ist zu beobachten. Aber auch die als „interne Risiken“ bezeichneten gesetzlichen Reformen im Rentensicherungssystem zählen dazu (z. B. Senkung des Rentenniveaus, Umstellung auf kapitalgedeckte „Riesterprodukte“, Abschläge für vorzeitigen Rentenbezug oder Änderungen bei der Rentenformel). Diese Faktoren müssen zusammen betrachtet werden, um künftige Altersarmut taxieren zu können (vgl. Bäcker zit. nach Geyer 2014). Verschiedene Simulationen kommen u. a. zu dem Ergebnis, dass insbesondere jüngere ostdeutsche Kohorten aufgrund unsicherer Erwerbsverläufe niedrige GRV-Renten beziehen werden (ebd.). Die Einkommen aus der GRV werden im Alter insbesondere für bestimmte Risikogruppen, die bereits heute finanziell entbehrungsreich leben müssen (z. B. Langzeitarbeitslose, Niedriglohnbeschäftigte), allein nicht mehr ausreichen, um ein Niveau über Grundsicherung zu erzielen. Zu dieser Auffassung gelangt auch eine Studie des DIW: „Die Entwicklung der Rentenanwartschaften zukünftiger Rentnergenerationen ist im Hinblick auf die Lebensstandardsicherung und die Vermeidung von Altersarmut besorgniserregend“ (Rasner 2014, S. 984). Es spricht sehr viel dagegen, dass diese Lücke durch private Vorsorge geschlossen werden kann. Damit ist für eine größere, nicht genau zu quantifizierende Gruppe von Menschen Altersarmut in einigen Jahren vorprogrammiert, wenn nicht umgesteuert wird. Daher kann sich die Politik heute nicht zurücknehmen, da sie dann, wenn die Probleme virulent werden, nicht mehr im Obligo ist. Möglicherweise hemmend auf die Entwicklung von regionalen (kommunalen oder landesweiten) Programmen wirkt sich auch aus, dass die Grundsicherungsleistungen vom Bund getragen werden. Die Armutsquote steigt bei den über 75-jährigen ostdeutschen Frauen wieder an und übersteigt die Bundes-Frauenquote. Dies erklärt sich mit der höheren Lebenserwartung von Frauen, die nach dem Tode ihrer Partner von niedrigeren Einkünften (z. B. Witwenrente) leben müssen. Für die weitere Betrachtung des Themas ist es wichtig zu berücksichtigen, dass heute die jüngsten Rentner die höchsten Armutsquoten aufweisen (vgl. Seils 2013, S. 364). Unterbrechungen in den Erwerbsbiografien nehmen ebenso zu wie Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigung und eine wachsende Lohnspreizung. Ausbildungszeiten werden länger. Die Sammlung von Entgeltpunkten wird ungleicher. Wie bereits erwähnt, ist die Lohnquote tendenziell rückläufig. Wer weniger netto verdient, aber andererseits zunehmend für die eigene Altersversorgung (Riesterverträge) selbst vorsorgen soll, kann dies oftmals nicht. Diese de facto Teilumstellung vom Umlageverfahren auf ein Kapitaldeckungsverfahren ist insbesondere Beziehern niedriger Einkommen, trotz Förderung, über einen konsequent langen Zeitraum oft nicht möglich. Zudem unterliegt eine kapitalgedeckte Vorsorge den Risiken des Finanzmarktes. Die Politik hat auf den demographischen Wandel, der auch gern für Kürzungen und Restriktionen im sozialen Leistungsnetz missbraucht wird, mit der Rentenanpassungsformel (Nachhaltigkeitsfaktor, sog. „Riesterfaktor“; s. o.) reagiert. Selbst nach regierungsamtlichen Berechnungen werden diese Formeländerungen bis 2023 zu Rentenkürzungen i. H. v. 7,4 Prozent führen (BMAS 2009). All diese Faktoren führen zu dem Ergebnis, dass die Rentenansprüche, insbesondere in Ostdeutschland, deutlich abnehmen werden. Für MecklenburgVorpommern, als Bundesland mit den niedrigsten Einkommen und relativ hohen Arbeitslo155 sigkeitsquoten, sind diese Erkenntnisse relevant und deuten eine künftige „SeniorenMänner-Single-Armut“ als neues Spezifikum an (vgl. auch Hoffmann/Gordo 2013, die im Rahmen von Haushaltsbudgetanalysen von Ruheständlern zu ähnlichen Ergebnissen kommen). Der Deutsche Alterssurvey (DEAS) belegt dies ebenso: Mit 12 Prozent als höchstem Wert gaben allein lebende Rentenbezieher an, nicht genügend Geld zu haben, um ihre Bedürfnisse erfüllen zu können; Pensionsbeziehende kennen hiernach gar keine Geldnot (ebd. S. 23). Ehepaare und Lebensgemeinschaften verfügen eher über ein höheres Alterseinkommen, da meist beide Partner über Zuflüsse verfügen. Zusammenfassend betrachtet sind die Ursachen für eine weiter zunehmende Altersarmut: • • • • • unzureichende Höhe einer Erwerbsminderungsrente und die steigende Zahl von EMRentnern, unstetige Erwerbs- und damit zusammenhängend Versicherungsverläufe sowie gelegentlich Phasen von (Schein-)Selbstständigkeit ohne hinreichende Altersvorsorge, Langzeitarbeitslosigkeit und ungenügende Bewertung von ALG II-Bezugszeiten, langjährige Tätigkeit im Niedriglohnsektor, Versorgungsdefizite im Bereich der dritten Säule (Private Altersvorsorge) und insbesondere der zweiten Säule der Alterssicherung (betriebliche Altersvorsorge) speziell in den neuen Ländern (vgl. Kreikebohm/Kolakowski 2013, S. 367). Die OECD ergänzt, dass die Rentenansprüche stärker als in anderen Ländern an das Einkommen gekoppelt sind und dass eine sehr geringe Lohnmobilität von unten nach oben besteht. Insbesondere bei einer prekären Selbstständigkeit (z. B. Kurierfahrern) erhöht sich das Altersarmutsrisiko infolge der unzureichenden Altersvorsorgemöglichkeiten (OECD 2014, S. 118f.). Diese Merkmale treffen auf eine hohe Anzahl von Personen im Nordosten zu. Auch die regelmäßig durchgeführten SAVE-Panelbefragungen des MEA am MPI, die speziell Fragen der Zukunftserwartungen und der Vorsorge der Bevölkerung untersuchen, unterstreichen diese Ergebnisse. Tendenziell fühlten sich Paare besser abgesichert als Alleinlebende. Im untersten Einkommensquartil fühlten sich fast drei Viertel der Befragten nicht genügend für das Alter absichert (SAVE 2010, Internetquelle). Abb. 18: Anteil der Haushalte, die sich nicht ausreichend abgesichert fühlen Quelle und Grafik: SAVE 2010 156 Am besten fühlten sich Paare im obersten Quartil abgesichert: Nur ein Viertel von ihnen sieht im Alter finanzielle Probleme auf sich zukommen. Für jüngere Kohorten stellte sich die gesetzliche Rentenabsicherung im Alter zunehmend als Problem dar. Bei den unter 35Jährigen waren die diesbezüglichen Annahmen am ausgeprägtesten (SAVE 2010). Hier stellt sich die Frage, wie sich diese „Hypothek“ für den weiteren Lebensweg junger Menschen auswirkt: Befördert sie Leistungswillen, egoistisches Vorgehen oder resignatives Verhalten (s. hierzu auch Teil 1 dieser Studie). Weitere gezielte Untersuchungen hierzu wären sinnvoll. Abb. 19: Meine erwartete staatliche Absicherung Quelle und Grafik: SAVE 2010 Im „Mittelalter“-Segment der 35- bis 55-Jährigen sank der Anteil derer, die ihre GRVRentensituation im Alter als nicht ausreichend ansah, um 14 auf 60 Prozent gegenüber der jüngsten Kohorte. Dies verdeutlicht, dass ein hoher Anteil der Bevölkerung sich der Eigenvorsorge bewusst ist. Wenn diese dennoch unterbleibt, deutet vieles darauf hin, dass es an fehlenden Mitteln hierfür liegen kann. Gerade für Einwohner im Nordosten dürfte dies zutreffen. Nach eigenem Bekunden fehlen über 40 Prozent der Befragten die Mittel für (zusätzliche) private Altersvorsorge. Dies deckt sich auch mit der Erkenntnis, dass im einkommensschwächsten Quartil die Verbreitung von Riesterverträgen am niedrigsten ist (SAVE 2010). Abb. 20: Einschätzung der eigenen Altersvorsorge Quelle und Grafik: SAVE 2010 157 Nicht einmal die Hälfte der Befragten hielt die eigene private Altersvorsorge für ausreichend und über ein Drittel sogar für nicht ausreichend. Wenn private Altersvorsorge propagiert wird, müssen die Menschen hierzu auch in der Lage sein. Dies wird maßgeblich von der aktuellen Einkommenssituation bestimmt. Diese stellt sich in Mecklenburg-Vorpommern deutlich unterdurchschnittlich dar. Erwerbsminderungsrenten Besonders zu erwähnen sind die steigende Anzahl und das fallende Leistungsniveau bei den Erwerbsminderungsrenten (EM-Renten). Dies ist insofern zu beachten, da (niedrige) Erwerbsminderungsrenten bei Erreichen der Regelaltersgrenze in Altersrenten umgewandelt werden, ohne dass sich der Zahlbetrag ändert. Mithin sind diese umgewandelten Altersrenten in den Statistiken über die Höhe der Zugangsrenten eines Jahres enthalten. 2011 erhielten rd. 180.000 Personen bundesweit erstmals eine EM-Rente, Durchschnittsalter 50,5 Jahre (vgl. Bäcker 2012, S. 365). Der Frauenanteil stieg, insbesondere ist eine Zunahme bei den psychischen Erkrankungen zu beobachten (ebd. S. 367). Die Hauptgründe für die Gewährung von EM-Renten lagen im Bereich psychischer Verhaltensstörungen (über 1/3), gefolgt von Muskel-Skelett-Erkrankungen und Bindegewebskrankheiten (knapp 1/5) sowie HerzkreislaufKrankheiten mit gut 10 Prozent (vgl. Nakielski 2012, S. 375). Bei der Berechnung von EM-Renten ist auch eine Zurechnungszeit zu berücksichtigen. Sie gehört zu den beitragsfreien Zeiten und bezeichnet eine Zeit, die bei einer Rente wegen Erwerbsminderung (oder auch bei einer Rente wegen Todes) den vom Versicherten zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten hinzugerechnet wird, wenn der Versicherte noch nicht das 60. Lebensjahr vollendet hat. Dieses Prozedere soll jene Beiträge ersetzen, welche die Erwerbsminderung bis zum Eintritt in das Regelrentenalter verhindert haben. Ohne dieses Auffüllen würde die Rente quasi ihre Eigenschaft als adäquaten Einkommensersatz verlieren. Dadurch wird vermieden, dass ein junger Versicherter, der früh erwerbsgemindert wurde, keinen oder nur einen stark reduzierten Altersrentenanspruch erhält. Ende 2013 erhielten 34.103 Männer und 31.487 Frauen in Mecklenburg-Vorpommern eine EM-Rente. Der durchschnittliche Zahlbetrag betrug 665,13 Euro bei den Männern und 715,54 Euro bei Frauen (DRV, Rentenbestand am 31.12.2013, Renten nach SGB VI, Tab. 52.00 G). Die in Abbildung 21 dargestellten Werte für den EM-Rentenbezug sind die mit Abstand höchsten im gesamten Bundesgebiet (Bundesdurchschnittswert: 23,3 % Männer; 22,0 % Frauen). Damit machten im Nordosten die EM-Renten über ein Drittel aller Versichertenrenten aus. Aufgrund der regelmäßig niedrigen EM-Rentenzahlbeträge sind die stetig steigenden Zahlen bei der Grundsicherung nachvollziehbar. Seit der Reform der Erwerbsminderungsrenten im Jahr 2000 wird die Summe der persönlichen Entgeltpunkte durch Abschläge bis zu einer maximalen Höhe von 10,8 Prozent vermindert, wenn der Bezug einer Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 63. Lebensjahres erfolgt. 158 Abb. 21: Anteile des Rentenzugangs bei den Versichertenrenten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit: Mecklenburg-Vorpommern (nur Inlandsfälle) 45,0 40,0 35,0 in % 30,0 25,0 20,0 15,0 10,0 5,0 0,0 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Männer 28,0 28,5 26,7 32,1 32,6 33,0 36,9 39,7 40,3 34,2 Frauen 22,3 23,7 26,7 30,6 29,3 27,6 29,9 29,0 28,7 33,7 Jahre Männer Frauen Quelle: DRV Statistik, Sonderauswertung Rentenzugang, lt. BT Drs. 18/2013 v. 18.06.2014 159 Tab. 36: Zeitreihe des Neuzugangs von EM-Renten mit Darstellung von Zahlbeträgen unterhalb des Grundsicherungsniveaus für Alleinstehende in Mecklenburg-Vorpommern (voll erwerbsgemindert im Alter von 18 bis 65 Jahren) Männer Frauen 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 insgesamt 2.553 2.632 2.812 2.943 3.150 3.331 3.407 3.052 2.118 2.097 2.196 2.301 2.585 2.747 2.793 2.749 davon Anzahl unter Grusi 1.128 1.307 1.595 1.913 2.128 2.185 2.386 2.167 818 886 1.175 1.427 1.597 1.726 1.854 1.790 Grusi in €/mtl* 605 € 613 € 629 € 645 € 663 € 668 € 686 € 706 € 605 € 613 € 629 € 645 € 663 € 668 € 686 € 706 € Quote in %** 44,2 49,7 56,7 65,0 67,6 65,6 70,0 71,0 38,6 42,3 53,5 62,0 81,8 62,8 66,4 65,1 Quelle: DRV Statistik, Sonderauswertung Rentenzugang lt. BT Drs. 18/1013 vom 18.06.2014; * : Wert der Bruttogrundsicherungsbeträge außerh. v. Einrichtungen in dem jeweiligen Jahr; **: Anteil von EM-Renten unter der Armutsgefährdungsgrenze bezogen auf Grundsicherungsniveau für das jeweilige Jahr Bei näherer Betrachtung dieser Zahlenwerte fällt auf, dass sich die Anzahl der EM-Rentenzugänge bei Männern und Frauen unterschiedlich entwickelte: Zwischen 2005 und 2012 stieg diese bei Männern um 19,5 Prozent an, bei Frauen dagegen um 29,8 Prozent. Noch deutlicher fällt die Differenz hinsichtlich des geschlechtsspezifischen Anteils bei den EM-Renten auf, deren Höhe unter der Grundsicherungsschwelle (lt. SGB XII) lag: Im gleichen Zeitraum stieg diese Quote bei den Männern um 92 Prozent und bei den Frauen um 118, 9 Prozent an. Betrachtet man den EM-Rentenbestand am Ende des Jahres 2012 (33.522 Männer und 30.434 Frauen = 63.956 EM-Renten insgesamt), so erhielten davon 19.670 Männer eine EM-Rente unter 706 Euro pro Monat (entsprechend 58,7 %) und 15.735 Frauen (entsprechend 51,7 %). Dies entspricht einem Gesamtanteil von 55,4 Prozent EM-Renten in Mecklenburg-Vorpommern, deren Höhe unter dem Grundsicherungsniveau lag (35.405 Renten). Betrachtet man diese Zahl mit der Empfängerzahl von Grundsicherung bei Erwerbsminderung im Nordosten im Jahre 2012 – die bei 13.147 Personen lag – so kann dies einen weiteren Hinweis auf versteckte Armut liefern und lässt auf eine hohe Dunkelziffer der Armut schließen. Wobei natürlich auch zu berücksichtigen ist, dass EM-Rentenempfängerhaushalte noch andere Einnahmequellen haben können. Insgesamt belegen diese Werte, dass der dauerhafte Bezug einer Erwerbsminderungsrente oft der Einstieg in ein Leben in Armut ist, da die spätere Altersrente auch kein anderes Niveau hat. 160 Die EM-Rentenzugangszahlen entwickelten sich 2013 wie folgt weiter: Tab. 37: Aktuelle EM-Rentenzugangszahlen Jahr Gesamtzugang Durchschnitt. Zahlbetrag € Zugang bei Männern Durchschnitt. Zahlbetrag € Zugang bei Frauen Durchschnitt. Zahlbetrag € 2013 26.303 670 3.024 590 2.874 632 Quelle: DRV, Rentenversicherung in Zeitreihen 2014 Die Zahl bei den Männern ging marginal zurück, bei den Frauen stieg sie wieder an. Die durchschnittlichen Zahlbeträge lagen unter dem Grundsicherungsniveau Wie aufgezeigt wurde, ist die Entwicklung bei den EM-Renten besorgniserregend, da ihre Bezieher vielfach im Alter das niedrige Niveau nicht anders ausgleichen können und auch nach Erreichen der Regelaltersrentengrenze auf Grundsicherungsleistungen angewiesen sein werden. Dies führt langfristig zu deutlichen Kaufkraftverlusten im Land mit entsprechenden infrastrukturellen Verschlechterungen (s. hierzu auch Teilbericht Weiß/Corthier). Aufgrund der nach wie vor noch hohen Arbeitslosigkeit im Land, die sich, wie ausgeführt, eklatant auf die Summe der Entgeltpunkte auswirkt, da Zeiten der Arbeitslosigkeit nicht bei der Rentenberechnung berücksichtigt werden, stehen insbesondere Menschen mit häufigen oder lang anhaltenden Unterbrechungen bei sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen in besonderer Weise in der Gefahr, später in die Altersarmnut abzugleiten. Hiervon sind insbesondere Männer betroffen. Das insgesamt (zu) niedrige Lohnniveau im Nordosten schlägt sich in rückläufigen Entgeltpunkten bei den Rentenversicherten nieder und wird im Alter längst nicht mehr für eine auskömmliche Rente reichen. Durch diese gegenwärtige materielle Situation ist es vielen Menschen nicht möglich, eine private Altersvorsorge aufzubauen. Der rasche Aufbau der sog. „Dritten Säule“ der Alterssicherung, der Betrieblichen Altersvorsorge, muss gestärkt werden. Aufgrund einer Überalterung der Bevölkerung, der Arbeitsplatzsituation und der niedrigen Verdienste steuert Mecklenburg-Vorpommern auf eine Situation zu, deren Ausmaße an Altersarmut heute nur erahnbar sind. Es scheint nicht mehr die Frage „ob“, sondern „in welchem Ausmaß“ der Nordosten von Altersarmut betroffen sein wird. 5 Arbeitslosigkeit, Arbeit und Beschäftigungsentwicklung Arbeitslosigkeit Arbeitslosigkeit und die damit verbundene monetäre Situation stellt eines der Hauptrisiken für Armut dar (vgl. Kap. 2 in diesem Abschnitt). Die Jahresdurchschnittswerte der Arbeitslosigkeit präsentierten sich für das nordöstlichste Bundesland von 2005 bis 2014 wie folgt: Tab. 38: Zeitverlauf Arbeitslosenquote und Personenanzahl Mecklenburg-Vorpommern Jahr Jahresdurchschnittliche Arbeitslosenquote in Prozent Personenanzahl 2005 20,3 180.900 2006 19,0 167.900 2007 16,5 145.700 2008 14,1 124.100 2009 13,5 118.000 2010 12,7 109.800 2011 12,5 107.500 2012 12,0 101.900 2013 11,7 99.000 2014 11,2 k.A. Quelle: BA Statistik Tab. 39: Verteilung der Arbeitslosigkeit in Mecklenburg-Vorpommern, März 2015 Anzahl Quote in % 17.169 14,3 19.451 14,2 21.088 9,9 22.188 9,0 Stralsund (Stralsund, Grimmen, Bergen/Rügen, Ribnitz-Damgarten) 16.257 14,4 Gesamt: 96.153 11,6 Agenturbezirke mit Geschäftsstellen Greifswald (Greifswald, Pasewalk, Ueckermünde, Anklam, Wolgast) Neubrandenburg (Neubrandenburg u. Umland, Altentreptow, Demmin, Röbel, Waren, Neustrelitz, Malchin) Rostock (Rostock, Bad Doberan, Bützow, Güstrow, Teterow) Schwerin (Schwerin, Gadebusch, Grevesmühlen, Hagenow, Lübz, Ludwigslust, Parchim, Sternberg, Wismar) Quelle: BA Statistik 162 Die großen Sprünge beim Abbau der Arbeitslosigkeit lagen in den Jahren 2007/2008. Dies hängt aber auch mit Umstellungen bei der Statistik zusammen. Seither flachte sich die Kurve deutlich ab, insbesondere seit 2010, auch wenn die Zahlen tendenziell weiter zurückgingen. In Tabelle 39 ist der Bestand an Arbeitslosen und die jeweilige Arbeitslosenquote in den Agenturbezirken für den Monat März 2015 beispielhaft dargestellt. Diese exemplarische Darstellung verdeutlicht, wie unterschiedlich die Arbeitslosigkeit in Mecklenburg-Vorpommern verteilt war: Der östliche Landesteil lag fast fünf Prozentpunkte über den städtischen Agenturbezirken und fast drei Prozentpunkte über dem Landesdurchschnitt. Neben dem West-Ost-Gefälle wurde auch der eher prosperierende Landesteil um Rostock recht gut sichtbar. Die Unterbeschäftigungsquote (hierbei werden registrierte Arbeitslose und z. B. Teilnehmer an einer Maßnahme der Arbeitsförderung zusammengerechnet) lag landesweit bei 14,7 Prozent. Im September 2014 betrug die durchschnittliche Vakanz-Zeit für die Wiederbesetzung offener Stellen in Mecklenburg-Vorpommern bei sozialversicherungspflichtigen Arbeitsstellen 69 Tage und bei geringfügigen Arbeitsstellen 59 Tage. Stellen in eher niedrig entlohnten Bereichen, wie Handel und Gastgewerbe, wurden deutlich schneller besetzt als Stellen im Baugewerbe oder der Sicherheitsbranche (BA Statistik, Analyse der gemeldeten Arbeitsstellen in Mecklenburg-Vorpommern im September 2014). Der Anteil der 50- bis unter 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung betrug Ende 2012 rd. 407.000, davon 254.000 in der Altersgruppe 55 bis unter 65 Jahre. Die Erwerbsquoten Älterer betrugen Ende 2012 in Mecklenburg-Vorpommern 84,8 Prozent in der Gruppe der 50- bis unter 55-Jährigen und 77,2 Prozent im nächsten 5-Jahresbereich bei den 60- bis unter 65- Jährigen 45 Prozent. Dies ist der höchste Wert seit 2002 und die Tendenz zeigt kontinuierlich nach oben. Fast 95.000 der älteren Arbeitnehmer waren teilzeitbeschäftigt. Auch der Anteil der Arbeitnehmer über 65 Jahre nahm kontinuierlich zu: Von Dezember 2011 mit 1.770 Beschäftigten in dieser Altersgruppe auf fast 2.500 im Dezember 2013. Hierfür dürften auch die Veränderungen im Rentenrecht maßgeblich sein. Fast 37.000 Menschen in dieser Altersgruppe sind im März 2015 als arbeitslos erfasst (BA Statistik). Betrachtet man die altersmäßige Gesamtstruktur der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Mecklenburg-Vorpommern, so waren rd. 187.000 Personen in der Altersgruppe zwischen 50 und 64 zu finden. Deren Quote, gemessen an der Gesamtbeschäftigtenzahl, betrug 35,8 Prozent. Dies war im Bundesvergleich die zweithöchste Quote (nach Sachsen-Anhalt mit 36,1 %). Bei den 60- bis unter 65-Jährigen betrug die Beschäftigtenquote noch 32,5 Prozent. Dies hing sicher auch mit der Überalterung der Bevölkerung zusammen. Die Zuwächse bei den Beschäftigungsquoten der über 50-Jährigen lagen über denen der jüngeren Arbeitnehmer. Bundesweit kann heute die höchste Beschäftigungsquote seit Jahrzehnten beobachtet werden. Insbesondere besser qualifizierte Frauen und Männer sind vermehrt in Beschäftigung. Zuvor nahm schon die Erwerbsbeteiligung älterer männlicher Arbeitnehmer, als Reaktion auf die geänderte Rentengesetzgebung, zu. Frauen stellen heute rd. 46 Prozent aller Arbeitnehmer bundesweit, allerdings arbeitet fast die Hälfte der Frauen in Teilzeit. Der steigende Frauenanteil an den Beschäftigten wird auch durch einen sektoralen Wandel begünstigt, da Bereiche, 163 in denen Frauen eher arbeiten, stärkere Zuwächse verzeichnen als das männerdominierte produzierende Gewerbe (vgl. Brenke 2015). Im September 2014 gab es in Mecklenburg-Vorpommern insgesamt rd. 554.800 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte (ohne Auszubildende), davon rd. 405.500 in Vollzeit. Über 40.000 Beschäftigungsverhältnisse wurden neu aufgenommen, in knapp 10.000 Fällen davon war die BA bei der Vermittlung eingeschaltet (lt. BA Statistik). Obwohl in Mecklenburg-Vorpommern die Anzahl der Betriebe im Jahr 2012 auf rd. 48.000 leicht anstieg, stieg dagegen die Beschäftigtenzahl nur moderat. Der Frauenbeschäftigtenanteil betrug 48 Prozent im Nordosten und war damit leicht überdurchschnittlich (IAB Betriebspanel 2012, 17. Welle). Beschäftigtenquote Die Beschäftigtenquote (Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Wohnort am 30.06.2012 an der Bevölkerung im Alter von 15 bis 64 Jahren am 31.12. des Vorjahres) wies für Mecklenburg Vorpommern einen unteren Mittelwert im Bundesvergleich aus und verteilte sich innerhalb des Landes wie folgt: Abb. 22: Beschäftigungsquote Mecklenburg-Vorpommern, 30.06.2012 Quelle: Destatis Die beiden westlichen Landkreise Ludwigslust-Parchim und Nordwestmecklenburg wiesen die höchste Beschäftigungsquote im Land aus, der östlichste Kreis Vorpommern-Greifswald die niedrigste. Hier wird das weithin zu beobachtende West-Ost-Gefälle im Land sichtbar. Allerdings nahm der Anteil von Beschäftigten in sog. atypischen Beschäftigungsverhältnissen (Teilzeit, Befristung, Leiharbeit) im Jahr 2013 gegenüber 2012 zu. Lt. WSI-Erhebungen waren im Nordosten 2013 insgesamt 253.265 Personen (darunter 174.100 Frauen) atypisch beschäftigt (WSI Datenkarte 2014: Mecklenburg-Vorpommern). Insgesamt 71 Prozent aller Betriebe nutzten wenigstens eine atypische Beschäftigungsform. Der Flexibilisie- 164 rungsgrad war insbesondere im Dienstleistungsbereich (wozu auch gastronomischtouristische Betriebe zählen) mit über 51 Prozent sehr ausgeprägt. Die deutliche Zunahme der atypischen Beschäftigung in Mecklenburg-Vorpommern, insbesondere seit 2011, verdeutlicht die nachfolgende Übersicht: Abb. 23: Entwicklung Atypischer Beschäftigungsverhältnisse in MecklenburgVorpommern Quelle und Grafik: Hans-Böckler-Stiftung 2015, Atypische Beschäftigung in Mecklenburg-Vorpommern Etwa 50 Prozent der Frauen hatten ein Normalarbeitsverhältnis, aber 78 Prozent der Männer, wobei das Normalarbeitsverhältnis für sie im Jahre 2005 noch bei 84 Prozent lag. Im Zeitraum von 1996 bis 2012 legte der Anteil an allen Beschäftigten, die Teilzeit arbeiten, in Mecklenburg-Vorpommern von 13 Prozent um 15 Punkte auf 28 Prozent zu. Dies war nach Sachsen-Anhalt die zweithöchste Steigerungsrate im Bund. Der Nordosten lag zwei Prozent hinter dem westdeutschen Wert und einen Punkt über dem Ostdeutschen. Dies betraf ca. 175.000 Personen in Mecklenburg-Vorpommern. Im Jahr 2012 arbeiteten 16 Prozent aller Beschäftigten mit einer vereinbarten Wochenarbeitszeit von über 24 Stunden pro Woche (Westdeutschland: 8 %) (lt. WSI). Es kann davon ausgegangen werden, dass ein hoher Anteil von Teilzeitbeschäftigten gern mehr arbeiten würde, mithin ungewollt weniger arbeitet: Lt. Destatis soll dieser Anteil 16 Prozent aller Teilzeitbeschäftigen ausmachen. Atypische Beschäftigungsverhältnisse zeigten im Nordosten folgende Merkmale: Insgesamt arbeiteten 2014 in einem solchen Arbeitsverhältnis rd. 231.000 Personen (37 % aller Beschäftigten), davon 23,4 Prozent in Teilzeit und relativ konstant im Zeitverlauf zwölf Prozent ausschließlich in Mini-Jobs (Hans-Böckler-Stiftung 2015). Der ökonomische Wert für Unternehmen durch atypische Beschäftigungsverhältnisse ist umstritten, es gibt durchaus negative Motivationsauswirkungen, die sich auf die Unternehmens165 performance auswirken können (vgl. Schiersch 2014). Erfreulich ist, dass in MecklenburgVorpommern gegenüber westlichen Bundesländern der Anteil atypisch Beschäftigter insgesamt betrachtet unterdurchschnittlich war: Abb. 24: Verteilung Atypischer Beschäftigungsverhältnisse nach Bundesländern Quelle und Grafik: Böckler Impuls 14/2014 Relativ konstant war der Anteil der befristet Beschäftigten in Mecklenburg-Vorpommern mit rd. 60.000 Beschäftigten (9 %). Deutlich gestiegen war der Anteil von Betrieben, die befristet Beschäftigte einstellen von 13,1 Prozent auf fast 23 Prozent. „Befristete Arbeitsverträge wirken wie die Anti-Baby-Pille“ (Schwesig). Etwa 53 Prozent der Neueinstellungen im Jahr 2012 waren im Nordosten befristet (rund 45 % übriges Bundesgebiet), damit verzeichnete der Nordosten die höchste Quote öffentlich ungeförderter Befristungen. Damit lag die Befristungsquote über 8 Prozent höher als in Westdeutschland. Bei Frauen lag die Befristungsquote höher als bei Männern. Über 50 Prozent der Befristungen entfielen auf den Dienstleistungsbereich, nur etwa 5 Prozent auf das produzierende Gewerbe. Nur jedem dritten Beschäftigten gelang nach der Befristung eine Festeinstellung (vgl. IAB-Betriebspanel 2012, 17. Welle). Der Anteil von Arbeitsplätzen für „einfache Tätigkeiten“ war in Mecklenburg-Vorpommern mit 15 Prozent im Vergleich zu Westdeutschland (23 %) deutlich niedriger. Entsprechend 166 höher der Anteil von Arbeitsplätzen, die einen Berufsabschluss voraussetzten: Im Nordosten 66 Prozent, in Ostdeutschland 62 Prozent und Westdeutschland 58 Prozent (IAB-Betriebspanel 2012, 17. Welle). Dies kann auf Probleme hindeuten, die Arbeitslose derzeit haben, wieder in den Arbeitsprozess integriert zu werden: Nach aktuellen IAB-Erhebungen war der Anteil von Arbeitslosen, die lediglich Helfertätigkeiten ausüben können, sehr hoch, aber nur jede siebte Arbeitsstelle entsprach diesem Profil. In Ostdeutschland lag die Arbeitslosenquote bei Personen für Helfertätigkeiten bei 35 Prozent gegenüber 22 Prozent im Westen. In Mecklenburg-Vorpommern lag die spezifische Helfer-Arbeitslosenquote in den beiden kreisfreien Städten sowie den östlichen Kreisen Vorpommern-Greifswald, Vorpommern-Rügen und Mecklenburgische Seenplatte am höchsten (IAB 2014a). Tab. 40: Arbeitslosigkeit bei Helferberufen nach Kreisen in MecklenburgVorpommern 2013 Kreise / kreisfreie Städte Arbeitslosenquote für Helferberufe (in %) Rostock 35,6 Schwerin 35,2 LK Mecklenburgische Seenplatte 41,7 LK Rostock 33,2 LK Vorpommern-Rügen 38,6 LK Nordwestmecklenburg 36,4 LK Vorpommern-Greifswald 42,4 LK Ludwigslust-Parchim 30,8 Landesdurchschnitt 38,2 % Quelle: IAB-Sonderauswertung Mecklenburg-Vorpommern Die Verteilung auf die verschiedenen Qualifikationssparten in Mecklenburg-Vorpommern sah 2013 so aus: Tab. 41: Arbeitslose nach Qualifikationssparten in Mecklenburg-Vorpommern Qualifikationssegment sv-Beschäftigte* Arbeitslose AL-Quote Helfer 60.527 35.046 36,67 Fachkraft 308.109 39.022 11,24 Spezialist 53.493 3.280 5,78 Experte 60.273 2.852 4,52 *sozialversicherungspflichtig Beschäftigte (ohne Auszubildende und geringfügig Beschäftigte) im Alter von 25 bis 64 Jahren und mit gültigen Angaben zum Anforderungsniveau ausgewählt. Mecklenburg-Vorpommern wies nach Berlin den höchsten Arbeitslosenanteil für Helferberufe aus. Die IAB Analyse zeigt, dass in prosperierenden Regionen auch der Arbeitsmarkt für Helfertätigkeiten aufnahmefähiger ist, als in Regionen, die von einer hohen Arbeitslosigkeit betroffen sind. Hieraus lassen sich besondere Qualifikationsherausforderungen für Arbeitslose in Mecklenburg-Vorpommern ableiten, da ein möglichst hoher Bildungs- und Ausbildungsgrad als bester Schutz vor Arbeitslosigkeit angesehen wird (vgl. z. B. IAB 167 2013b). Will man dieses „Helferberufe-Segment“ im Nordosten gezielt in Beschäftigung bringen, so scheint es geboten, hierfür speziell „Arbeit zu erfinden“: Z. B. nach Erstellung eines landesweiten Alteisen-Katasters, die Entfernung von Altmetall aus dem Boden entlang der Schienen- und Straßennetze, etwa durch ein landeseigenes Beschäftigungsunternehmen ggf. als Joint Venture mit der Deutschen Bahn. Hierfür wären niedrig qualifizierte Arbeitnehmer gut einsetzbar. Das Ergebnis solcher „Aufräumarbeiten“ käme dem Tourismusland Mecklenburg-Vorpommern sehr entgegen. Abb. 25: Arbeitslosenanteile bei Helferberufen nach Bundesländern Quelle und Grafik: IAB Midi-Jobs (als Midi-Job oder Gleitzonenfall werden nach § 20 Abs. 2 SGB IV Beschäftigungsverhältnisse bezeichnet, wenn das daraus erzielte Arbeitsentgelt zwischen 450,01 Euro und 850,00 Euro im Monat liegt und die Grenze von 850,00 Euro im Monat regelmäßig nicht überschritten wird) wurden von 20 Prozent aller Betriebe in Mecklenburg-Vorpommern angeboten und machten ca. 4 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse aus. Jeder sechste MidiJobber lag mit seinem Bruttolohn unter 800 Euro (IAB Betriebspanel 2012, 17. Welle, S. 40). Die Leiharbeitsquote spielte mit rd. 1,5 Prozent keine Rolle im Nordosten und war erfreulicherweise die niedrigste in Gesamtdeutschland. Unklar ist, wie es sich mit (Schein-)Werkverträgen in Mecklenburg-Vorpommern verhielt. Bundesweit gab es keine gesicherten Erkenntnisse hierüber, aber es scheint einen Trend zu geben, dass Werkverträge die Leiharbeit als Nachfolgemodell zur Umgehung von Tarifverträgen verdrängen (z. B. in Schlachthöfen, Brotfabriken, Brauereien). Legale Werkverträge werden z. B. in Supermärkten zum Befüllen von Regalen eingesetzt, allerdings auch unter deutlich schlechteren Konditionen als für die ohnehin schon meist schlecht bezahlte Stammbelegschaft. Auch Logistikdienstleistungen, bei denen z. B. nach extrem niedrigen Stückpreisen pro Paket gezahlt wird, fallen hierunter. Oftmals geht es hierbei schlicht um Lohndumping. Die Beschäftigten können i. d. R. keine angemessene Altersvorsorge betreiben. Es lagen keine Erkenntnisse darüber vor, dass dies in Mecklenburg-Vorpommern nicht angewandt wird (vgl. Arbeitnehmerkammer Bremen 2014). Die Ausbildungssituation in Mecklenburg-Vorpommern kann als prekär bezeichnet werden: 2012 konnten 40 Prozent der Ausbildungsstellen nicht besetzt werden. Dieser Wert lag im 168 Bundesvergleich am höchsten (deutlich vor Ost- bzw. Westdeutschland mit 32 % bzw. 15 % unbesetzter Stellen). Dies könnte zum einen an einer fehlenden, tatsächlichen Berufsreife, dem Ausbildungsstellenangebot (hoher Anteil in der Gastronomie) und möglicherweise auch schon einer ausbildungsbedingten Binnenmigration liegen. Die Ausbildungsbeteiligung war mit ebenfalls 40 Prozent der ausbildungsberechtigten Unternehmen in Mecklenburg-Vorpommern (Ausnahme die wenigen Großbetriebe in Land) deutlich niedriger als in Westdeutschland (53 %). 2013 wurden fast 8.000 Ausbildungsverträge neu abgeschlossen (was einem Rückgang zum Vorjahr um 4,3 % entsprach), allerdings blieben fast 1.300 Ausbildungsplätze unbesetzt (WSI Datenkarte 2014: Mecklenburg-Vorpommern). Die Ausbildungsquote (Anteil der Auszubildenden an allen Beschäftigten) lag 2012 bei 4,7 Prozent und damit knapp über dem ostdeutschen Wert von 4,3 Prozent. Die Ausbildungsquote war außerdem, wie fast im gesamten Bundesgebiet, rückläufig. Tab. 42: Ausbildungsquote im Zeitverlauf in Mecklenburg-Vorpommern MecklenburgVorpommern 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 8,7 8,6 8,4 7,9 7,3 6,2 5,3 4,7 Quelle: Statistik der BA, zit. nach Brenke 2013 Nur 47 Prozent aller Ausbildungsabsolventen in Mecklenburg-Vorpommern wurden nach Ausbildungsende übernommen (59 % in Ostdeutschland, 66 % in Westdeutschland). Dies kann als ein weiteres Indiz für die Binnenmigration angesehen werden, da außerhalb von Mecklenburg-Vorpommern höhere Einkünfte erzielt werden können (vgl. IAB Betriebs-panel 2012, 17. Welle). Bemerkenswert ist auch der hohe Anteil von Ausbildungs-abbrechern: Über ein Drittel der Jugendlichen beendete 2011 eine begonnene Lehraus-bildung nicht. Mit dieser Quote belegte der Nordosten den letzten Platz im Bundesvergleich (Abb. 26). Abb. 26: Anteil abgebrochener Ausbildungen in den Bundesländern im Jahr 2011 Quelle: BIBB; Grafik: Statista 169 Langzeitarbeitslose Bei einer Betrachtung des Anteils von Langzeitarbeitslosen (Anteil von Personen, die ein Jahr und länger arbeitslos sind) fällt auf, dass erfreulicherweise im Zeitraum von 2005 bis 2013 die Gesamtquote von 13,5 Prozent auf 5,4 Prozent zum Jahresende 2013 kontinuierlich fiel. Allerdings liegt Mecklenburg-Vorpommern an letzter Stelle aller Bundesländer. Betrachtet man die Langzeitarbeitslosenquoten getrennt nach Geschlechtern, so fällt auf, dass sich beide Quoten kontinuierlich verringerten, allerdings die Quote der männlichen Langzeitarbeitslosen seit 2011 wieder anstieg und im Jahr 2013 gegenüber dem Vorjahr eine Zunahme von 0,7 Prozentpunkte auf 6,0 Prozent zu verzeichnen war. Die Quote der weiblichen Langzeiterwerbslosen sank durchgängig seit 2005, zuletzt gegenüber 2012 um 0,9 Prozentpunkte auf den niedrigsten Wert seit 2005 (4,8 %). Dies kann darauf hindeuten, dass (männliche) Langzeitarbeitslose auch in Zeiten mit einem hohen Beschäftigungsanteil und einer relativ hohen Nachfrage schwerer in Arbeit zu vermitteln sind (Destatis, Arbeitskräfteerhebung, Tabelle D 3). Der prozentuale Anteilswert von Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen im Jahre 2013, aufgeschlüsselt nach Landkreisen, stellte sich wie folgt dar: Abb. 27: Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen nach Landkreisen 2013 Quelle: BA Statistik Jugendarbeitslosigkeit Der Anteil junger, arbeitsloser Menschen (im Alter von 15 bis 24 Jahren, sog. „Jugendarbeitslosigkeit“, SGB II, III) lag im März 2015 bundesweit zwischen 2,9 Prozent und 10,4 Prozent, bezogen auf alle zivilen Erwerbspersonen gleichen Alters. Mecklenburg-Vorpommern nahm einen Platz mit den höchsten Werten und innerhalb der neuen Länder den letzten Rang ein. Hiervon waren im Frühjahr 2015 insgesamt 8.881 junge Menschen betroffen (Statistik der 170 BA). Regional sind insbesondere die östlichen Landesteile mit den Kreisen VorpommernGreifswald, Vorpommern-Rügen und Mecklenburgische Seenplatte betroffen. Die Quote der Jugendarbeitslosigkeit ist seit Jahren rückläufig. Dafür waren aber weniger strukturelle Gründe am Arbeitsmarkt als vielmehr demographische Gegebenheiten, nämlich der schrumpfende Jugendanteil, verantwortlich (vgl. Brenke 2013). Die Quote der Jugendarbeitslosigkeit sinkt nur leicht. Im März 2015 sind fast 2.000 junge Menschen länger als sechs Monate arbeitslos in Mecklenburg-Vorpommern (Statistik der BA). Im Ländervergleich stellte sich die Jugendarbeitslosigkeit für 2014 wie folgt dar (Abb. 28): Abb. 28: Jugendarbeitslosenquote (15 bis unter 25 Jahre) in Deutschland nach Bundesländern im Jahr 2014 Quelle: BA Statistik; Grafik: Statista Mecklenburg-Vorpommern rangierte auch hier im hinteren Bereich. Diese Zahlen korrespondieren mit denen der Schulabschlüsse und Ausbildungsabbrüchen. Gerade der nachhaltige Abbau von Jugendarbeitslosigkeit ist wichtig, um tradierte „Hartz-Karrieren“ zu verhindern bzw. zu überwinden, die auch Auswirkungen auf künftige Altersarmut haben. 171 6 Einkommen, Löhne und Gehälter, Mindestlohn, Reichtum und Vermögen Die Einkommenserzielung ist, monetär betrachtet, entscheidend dafür, ob ein Haushalt in die Armut gerät oder nicht. Daher sollen zunächst einige allgemeine Anmerkungen zur Einkommensentwicklung in Deutschland in den letzten Jahren und Jahrzehnten vorangestellt werden. Zunächst ist zwischen dem Markteinkommen (Bruttolöhne/-gehälter, Unternehmergewinne, Vermögenseinkommen) und dem verfügbaren Einkommen (Markteinkommen zzgl. Renten und Sozialleistungstransfers abzüglich Steuern und Sozialabgaben) zu unterscheiden. Außerdem spielt die Lohnquote eine wichtige Rolle. Diese sinkt seit den 80er Jahren in den meisten westeuropäischen Ländern (z. B. Niederlande, Frankreich, Österreich, Spanien, Italien) mit Ausnahme von Großbritannien. Als einen entscheidenden Grund wird hierfür die „Finanzialisierung“, d. h. die Dominanz des wirtschaftlichen Geschehens durch die Finanzmärkte, neben lohnsenkenden Folgen der Globalisierung oder wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen angeführt. In der Eurozone sanken die Lohnquoten um ca. 10 Prozent. Seit etwa 2000 flachte sich die Lohnquote ab und seit dem Jahr 2003 (etwa Beginn der Agenda 2010-Politik) stiegen die Unternehmens- und Vermögensgewinne stark an (mit einem kurzen, kräftigen finanzkrisenbedingten Einbruch 2009 und einer raschen Erholung bereits wieder im Jahre 2011). In Deutschland nahm lt. OECD-Berechnungen die Einkommensungleichheit zwischen Mitte der 1990er Jahre und 2005 stärker zu als in allen anderen 34 OECD-Mitgliedsstaaten. 2010 lag der Gini-Koeffizient in Deutschland für das verfügbare Einkommen bei 0,29 (Dänemark 0,24, Großbritannien 0,34). Die Zunahme des Markteinkommens seit Beginn der 1990er Jahre nahm, bezogen auf den Gini Koeffizienten, um beträchtliche 0,06 zu, hingegen war der Anstieg beim verfügbaren Einkommen bis 2010 mit 0,03 deutlich geringer, was auf Ausgleichszahlungen des Sozialsystems bzw. dämpfende steuerliche Regelungen hinweist. Betrachtet man nun die personelle Einkommensverteilung in Deutschland, nach Quartilen (Vierteln) oder Dezilen (Zehnteln), so fällt durchgängig auf, dass das oberste Einkommens-Quartil (Q4) oder das oberste Dezil (D10) z. T. deutliche Einkommenszuwächse hatten. Nach 2005 kam es zu einem Rückgang der Einkommensungleichheit, wofür gesunkene Vermögenserträge oder eine gestiegene Erwerbsbeteiligung der Menschen in den unteren und mittleren Quartilen eine Rolle spielen könnten (vgl. Grabka/Goebel/Schupp 2012). Das Q4 erzielte zwischen 1992 und 2010 mit 18,7 Prozent die höchsten Steigerungen beim Markteinkommen (Q3 nur 8,7 %, und Q2 stagniert, Q1 sinkt). Betrachtet man die Entwicklung der Stundenlöhne, so fällt auf, dass seit ca. 1999 eine weitgehende Stagnation in fast allen Quartilen eintrat, bzw. sogar ein Absinken (Q1). Demgegenüber stiegen die Löhne im Q4 seit 2009 an, wenn man das D10 betrachtet sogar beträchtlich. Im Q1 sanken die Löhne ab 2009 deutlicher als der Anstieg im obersten Quartil ausfiel. Die dynamische Entwicklung bei den atypischen Beschäftigungsverhältnissen dürfte hierfür maßgeblich sein. Allerdings ist hierbei zu berücksichtigen, dass der Anteil der Minijobber im Q2 am höchsten war, aber zu stagnieren schien, während erst an dritter Stelle die Minijobber aus dem Q1, allerdings mit deutlich steigender Tendenz seit 2009, auftraten. Der Beschäftigungs- oder Arbeitsarmut fällt daher ein besonderes Augenmerk zu. Die Erosion der sog. Normalarbeitsverhältnisse spielt hierbei eine Rolle, aber sie erklärt nicht umfassend die Arbeitsarmut. Der Blick fällt dann auf die niedrigen Löhne (gele- 172 gentlich auch als Lohndumping bezeichnet). Dass der 2015 in Kraft getretene Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde nur sehr begrenzt zur Armutsminderung taugt, wird hier aufgezeigt. Gleichwohl ist er ein Schritt in die richtige Richtung. Lt. IAQ soll ein Fünftel aller Beschäftigten ab 2015 Anspruch auf eine Lohnerhöhung auf das Mindestlohnniveau haben (vgl. Kalina/Weinkopf 2013). Das DIW geht von ca. 4,5 Mio. Beschäftigten aus, die eine ca. 30- bis 45-prozentige Lohnerhöhung auf Mindestlohnniveau bundesweit erhalten müssten (vgl. Brenke 2014). Einer Sonderauswertung des Mikrozensus zufolge gab es 2012 in folgenden Branchen Armutsgefährdungsquoten (zugrunde lag ein durchschnittliches, branchenübliches Einkommen für Arbeitnehmer, die mindestens 36 Stunden arbeiteten und ihr Einkommen überwiegend aus der Erwerbstätigkeit bezogen. Die Armutsgefährdungsquote wird nach dem bedarfsgewichteten Einkommen unter 60 % der jeweiligen Personengruppe ermittelt): Tab. 43: Armutsgefährdungsquoten nach Branchen Branche Armutsquote Nettoeinkommen Herstellung von Nahrungs- u. Genussmitteln 12,5 % 2.219 EUR Herstellung von Gummi, Kunststoff, Glas ... 5,3 % 1.873 EUR Wasserversorgung 7,3 % 1.854 EUR Baugewerbe 8,2 % 1.707 EUR Gastgewerbe 35,8 % 1.287 EUR Grundstücks- u. Wohnungswesen 9,5 % 2.154 EUR Erziehung und Unterricht 9,5 % 2.380 EUR Gesundheitswesen 9,4 % 1.903 EUR 20,6 % 1.491 EUR Heime und Sozialwesen Quelle: Sonderauswertung Mikrozensus durch IT.NRW zit. auszugsweise nach WSI Report 10/2013, S. 50. 2012 Hier fallen insbesondere die hohen Armutsquoten im, gerade auch für MecklenburgVorpommern relevanten, Gastgewerbe mit extrem hohen 35,8 Prozent (hier muss allerdings berücksichtigt werden, dass am 01.09.2013 eine deutliche 5,0-prozentige Lohnsteigerung mit dem Entgelttarifvertrag für das Hotel- und Gaststättengewerbe in Mecklenburg-Vorpommern vereinbart wurde) sowie die Quote im Bereich Heime und Sozialwesen mit hohen 20,6 Prozent auf. Um zu verstehen, wie diese Quoten zustande kommen, soll nachfolgend zur Illustration eine vom WSI durchgeführte Modellrechnung, die auf den Parametern der Mikrozensusdaten für das Jahr 2012 basiert, zitiert werden: „Das niedrige Einkommensniveau im Gastgewerbe hat enorm hohe Armutsrisikoquoten der Haupteinkommensbezieher in dieser Branche zur Folge, welche auch die Fachkräfte erreichen. Dies kann anhand einer Hotelfachfrau an der Mecklenburgischen Seenplatte gezeigt werden. Sie ist verheiratet und hat eine Tochter im Alter von 15 Jahren, welche das Gymnasium besucht. Ihr Mann erwirtschaftet kein eigenes Einkommen. Ihr Stundenlohn liegt bei nur 8,78 Euro. Bei einer Arbeitszeit von 39,8 Stunden in der Woche kommt sie auf einen Bruttolohn von 1.413 Euro. Nach den Abzügen für die Sozialversicherung verbleibt ein Netto von etwa 1.124 Euro, welches zuzüglich Kindergeld und Wohngeld zu einem verfügbaren Einkommen von 1.372 Euro führt. Letztendlich muss die Hotelfachfrau in diesem Beispiel aber ebenfalls SGB II beantragen, ohne dass sie 173 dadurch der Arbeitsarmut entrinnen könnte. Zusammenfassend lässt sich auf der Basis dieser Modellrechnungen feststellen, dass nicht nur atypisch Beschäftigte, sondern auch Vollzeitbeschäftigte beiderlei Geschlechts in verschiedenen Regionen, Haushaltskonstellationen, Wirtschaftszweigen in Armut geraten können. In Anbetracht der Tatsache, dass die Stundenlöhne in allen Fällen über der Marke von 8,50 Euro liegen, lässt sich schließen, dass der derzeit avisierte Mindestlohn nur ein erster Schritt auf dem richtigen Weg ist.“ (WSI Report 10/2013, S. 54) Bemerkenswert an diesem Beispiel aus Mecklenburg-Vorpommern ist, dass trotz eines zugrunde gelegten Stundenlohnes über dem Mindestlohn (hier: 8,78 EUR) aufgrund verschiedener Haushaltskonstellationen oder Branchen ein Abrutschen in die Armut erfolgen kann. Hier ist insbesondere die Lohn- und Arbeitsmarktpolitik gefordert, für eine angemessene Partizipation der Beschäftigten an der wirtschaftlichen Entwicklung zu sorgen. Dies kann auch durch eine bessere tarifvertragliche Absicherung erfolgen, allerdings nahm die Tarifbindung in Deutschland in den letzten 15 Jahren von ca. 75 Prozent auf nur noch 58 Prozent der Beschäftigten im Jahre 2012 ab. Im Nordosten waren nur 10,6 Prozent aller Erwerbstätigen in einer DGB-Gewerkschaft organisiert. Lt. IAB Betriebspanel 2012 galt die Tarifbindung in Westdeutschland nur noch für 33 Prozent der Betriebe, in Mecklenburg-Vorpommern waren nur rd. 22 Prozent der Unternehmen tarifgebunden (vgl. Unger et al. 2013). Diese auf Kollegen des WSI basierenden Aussagen und Analysen unterstreichen die Bedeutung des Erwerbseinkommens zur materiellen Armutsvermeidung für Privathaushalte. Dies ist entscheidend für eine Reihe anderer Faktoren, die zum aktuellen oder zu einem späteren Lebenszeitpunkt armutsmaßgeblich sind. Grundsätzlich gelten diese Erkenntnisse auch für MecklenburgVorpommern, wobei hier von einer höheren Quartilspopulation in den unteren und mittleren Einkommens-Quartilen ausgegangen werden muss als in Westdeutschland. Zudem fällt die sehr geringe Aufwärtsmobilität der unteren Einkommen (bei Erwerbslosen- und Niedrigeinkommenshaushalten) in Deutschland – und hier besonders in Ostdeutschland – auf. Dies kann auch zu einer Armutszunahme führen (vgl. OECD 2014, S. 96 f.). Die Entwicklung der Jahres-Bruttolöhne und -gehälter in Mecklenburg-Vorpommern stellte sich wie folgt dar: Tab. 44: Bruttojahresgehälter im Zeitverlauf Mecklenburg-Vorpommern Jahr EUR 2005 20 469 2006 20 475 2007 20 744 2008 21 119 2009 21 527 2010 22 076 2011 22 926 2012 23 685 2013 23 999 2014 24 915 Quelle: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, Länderergebnisse, Bd. 2, Tab. 6.1 174 Trotz einer über dem Bundesdurchschnitt liegenden Steigerung von 21,7 Prozent in einer Dekade blieb der Nordosten seit Jahren das Schlusslicht beim Einkommen. Für 2014 sah der Ländervergleich so aus: Tab. 45: Jahresbruttoverdienste nach Bundesländern Bundesländer EUR Baden-Württemberg 33 702 Bayern 33 695 Berlin 31 413 Brandenburg 26 055 Bremen 32 341 Hamburg 38 259 Hessen 35 174 MecklenburgVorpommern 24 915 Nordrhein-Westfalen 29 053 Niedersachsen 32 056 Rheinland-Pfalz 30 284 Saarland 30 371 Sachsen 25 863 Sachsen-Anhalt 25 518 Schleswig-Holstein 27 836 Thüringen 26 084 Deutschland (gesamt) 31 578 Alte BL (m. Berlin) 27 062 Neue BL (ohne Berlin) 25 758 Quelle: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, Länderergebnisse, Bd. 2, Tab. 6.1 Der Abstand zwischen dem Bundesland mit dem höchsten Einkommenswert (Hamburg) und Mecklenburg-Vorpommern betrug über 53 Prozent, der Abstand zum zweiten Bundesland im Länderranking (Baden-Württemberg) immerhin noch über 35 Prozent. Bundesweit arbeiteten fast ein Viertel aller Beschäftigten im Niedriglohnbereich (in Ostdeutschland insgesamt ca. 1,32 Mio. Personen; würde man von einer bundeseinheitlichen Armutsschwelle ausgehen, würde dieser Wert um ca. 1 Mio. steigen). Die bundeseinheitliche Niedriglohnschwelle im Jahr 2011 betrug 9,14 Euro, für Ostdeutschland wurde sie mit 7,11 Euro definiert. Im selben Jahr betrug der durchschnittliche Stundenlohn in diesem Sektor in Ostdeutschland 6,21 Euro. Zwischen 2001 und 2011 stieg insbesondere die Gefahr, in den Niedriglohnbereich zu geraten, für vollzeitbeschäftigte Männer mit abgeschlossener Berufsausbildung sowie Migranten und unter 25-Jährige am stärksten. Die große Mehrheit der Niedriglohnbeschäftigten verfügte über eine abgeschlossene Berufsausbildung oder gar einen akademischen Abschluss. Über 60 Prozent waren weiblich, und der Anteil der über 55-Jährigen stieg (um 3,5 % zwischen 2001 und 2011). 175 Interessant ist auch die Lohnspreizung in Ostdeutschland in diesem Sektor (2011): unter 5 €/Std: 579.000 5 €/Std bis unter 6 €/Std: 328.000 6 €/Std bis unter 7 €/Std: 377.000 7 €/Std bis unter 8 €/Std: 433.000 8 €/Std bis unter 8,50 €/Std: 167.000 Gesamt: 1.884.000 Personen Damit arbeitete die zahlenmäßig größte Kohorte für Löhne unter 5 Euro. Zudem leiden Niedriglohnbeschäftigte, insbesondere Minijobber auch unter zahlreichen anderen Benachteiligungen (z. B. keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, kein bezahlter Urlaub). Es liegen keine Erkenntnisse vor, die darauf hindeuten, dass in Mecklenburg-Vorpommern hiervon gravierend abgewichen wird (vgl. Kalina/Weinkopf 2013). Auf die Einführung des Mindestlohns wird weiter unten eingegangen. In Mecklenburg-Vorpommern werden seit langem, wie schon dargestellt, die niedrigsten Einkünfte erzielt. Die Verteilung der verfügbaren Einkommen (aus allen Quellen) je Einwohner war in den verschiedenen Regionen des Landes unterschiedlich verteilt (2012): Tab. 46: Einkommensverteilung nach Kreisen Kreisfreie Stadt, Landkreis 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Rostock 14329 14477 14734 15072 15175 15352 15951 16067 16221 16352 Schwerin 14743 14932 15184 15418 15377 15634 16247 16477 16671 16965 Mecklenburgische Seenplatte 13987 14618 14679 14829 14809 15338 15806 16050 16740 16943 Landkreis Rostock 13924 14389 14795 15256 15489 16052 16523 16866 17435 17877 Vorpommern-Rügen 13642 13989 14312 14692 14823 15320 15866 16180 16650 17012 Nordwestmecklenburg 13822 14204 14515 14961 15215 15599 15894 16108 16561 16945 VorpommernGreifswald 13198 13494 13779 14094 14203 14588 15065 15409 15578 16173 Ludwigslust-Parchim 14326 14806 15185 15604 15826 16368 16731 17045 17611 18058 MecklenburgVorpommern 13923 14316 14595 14935 15062 15500 15973 16245 16675 17036 Quelle: StA MV Für 2012 fällt auf, dass lediglich in den Kreisen Ludwigslust-Parchim und Rostock ein überdurchschnittliches Haushaltseinkommen erzielt wurde. In den Vorjahren war dies auch immer in Schwerin der Fall, erstmals 2012 wurde dort ein unterdurchschnittliches Einkommen erzielt. Die Einwohner des Kreises Ludwigslust-Parchim profitierten bei ihren Einkünften offenbar von der Nähe Hamburgs und Schwerins. Im Landkreis Rostock als auch in Ludwigslust-Parchim machte sich das „Speckgürtelsyndrom“ bemerkbar, da Besserverdienende oft in das städtische Umland zogen. Auch im Zeitverlauf betrachtet wurde im östlichsten Kreis Vorpommern-Greifswald durchgängig das niedrigste Haushaltseinkommen erreicht. Dieser 176 Landkreis verfügt über Hochschulstädte (Studenteneinkünfte) und ist preripher-ländlich geprägt sowie strukturschwach. In der kreisfreien Hansestadt Rostock nahm das Haushaltseinkommen tendenziell in der letzten Dekade ab, 2012 lag es in der Seehafenstadt an vorletzter Stelle im Landesvergleich. In den Großstädten lebten überproportional viele Grundsicherungsempfänger, zudem ist Rostock die größte Universitätsstadt des Landes, was mit zu diesem Wert beiträgt. Im Land erhöhte sich das Haushaltseinkommen seit 2002 um 25,56 Prozent, dies entspricht einer jährlichen Zunahme von rd. 2,3 Prozent. Der Monatsdurchschnittsbetrag beim Einkommen lag 2012 im Land bei rd. 1.420 Euro. Die Spreizung im Land betrug 1.885 Euro p. a. bzw. 157 Euro monatlich zwischen oberem und unterem Wert. Der Anteil empfangener Sozialleistungen (z. B. Renten, ALG I, Sozialhilfe, Wohn- und Kindergeld) in Prozent am Haushaltseinkommen war in Mecklenburg-Vorpommern folgendermaßen verteilt: Tab. 47: kreisfreie Stadt, Landkreis Anteil Sozialleistungen am Haushaltseinkommen nach Kreisen Anteil Sozialleistungen am Einkommen (Bundesdurchschnitt: 28,5%) 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 Rostock 41,5 42,4 43,5 44,1 44,2 42,4 41,0 39,5 39,0 40,9 41,0 40,0 Schwerin 39,8 40,6 40,9 41,6 41,6 41,1 40,8 40,0 39,7 41,3 41,1 40,1 Mecklenburgische Seenplatte 42,7 43,9 44,8 44,2 42,8 41,5 40,6 39,5 38,5 40,4 40,1 39,7 Landkreis Rostock 37,7 38,2 39,4 39,5 38,8 37,1 35,6 33,8 32,9 35,1 34,8 33,6 Vorpommern-Rügen 43,2 44,2 45,0 45,3 44,7 42,9 41,3 39,6 38,8 40,6 40,3 39,2 Nordwestmecklenburg 39,0 38,7 39,2 38,9 38,2 37,2 36,5 34,9 34,7 36,8 36,7 35,8 VorpommernGreifswald 44,6 45,8 46,8 46,8 46,4 44,3 42,7 41,0 40,3 42,5 41,6 39,5 LudwigslustParchim 36,7 36,4 37,2 37,1 36,3 35,7 35,0 33,4 32,7 34,8 34,4 33,3 MecklenburgVorpommern 40,9 41,6 42,4 42,4 41,8 40,3 39,2 37,7 37,0 39,0 38,7 37,5 Quelle: StA MV Im Nordosten lag der Bezug von Sozialleistungen zuletzt rd. 9 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. In Vorpommern-Greifswald war der größte Rückgang mit 4,4 Prozent zu verzeichnen. In der Landeshauptstadt stieg die Quote leicht. Im Landesdurchschnitt ging die Sozialleistungsquote um 3,6 Prozent zurück, lag aber 8,8 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. 177 Die Deutsche Bundesbank ermittelte im Rahmen Ihrer PHF-Befragung (s. unten) für 2011, dass der Bruttoeinkommens-Medianwert bei 24.280 Euro und der NettoeinkommensMedianwert (allerdings basierend auf einer Selbsteinschätzung der Befragten) bei 18.000 Euro jeweils p. a. in Ostdeutschland lag (Deutsche Bundesbank 2013). Betrachtet man den Abstand der in Mecklenburg-Vorpommern erzielten Einkünfte aus allen Quellen zum Bundesdurchschnitt, so zeichnet sich folgende Entwicklung ab (in % bezogen auf den Bundesdurchschnitt): Tab. 48: Verfügbares Einkommen je Einwohner in % bezogen auf Bundesdurchschnitt kreisfreie Stadt, Landkreis Verfügbares Einkommen je Einwohner in % bezogen auf Bundesdurchschnitt 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 Rostock 85,0 84,5 85,5 84,8 84,2 83,9 83,9 83,1 81,8 85,1 83,1 80,8 Schwerin 87,5 86,6 87,7 87,2 86,8 86,5 85,8 84,2 83,3 86,7 85,2 83,1 Mecklenburgische Seenplatte 80,5 80,7 81,8 82,8 85,0 83,6 82,5 81,1 81,7 84,3 83,0 83,4 Landkreis Rostock 81,3 81,9 82,3 82,4 83,7 84,2 84,9 84,8 85,5 88,2 87,2 86,9 VorpommernRügen 80,2 80,3 80,6 80,7 81,3 81,5 81,7 81,2 81,6 84,7 83,7 82,9 Nordwestmecklenburg 81,3 81,7 82,0 81,8 82,6 82,7 83,2 83,3 83,1 84,8 83,3 82,5 VorpommernGreifswald 77,9 77,6 78,0 78,1 78,5 78,5 78,4 77,8 77,7 80,4 79,7 77,6 LudwigslustParchim 83,5 84,4 84,7 84,8 86,1 86,5 86,8 86,7 87,2 89,3 88,2 87,7 MecklenburgVorpommern 81,5 81,7 82,3 82,4 83,2 83,1 83,1 82,5 82,6 85,2 84,0 83,1 Quelle: StA MV; Deutschland = 100 Die Jahre 2009/2010 waren bezogen auf das Land insgesamt die beiden mit dem niedrigsten Abstand zum Bundesdurchschnitt, danach wurde der Abstand wieder größer. Der Abstand zwischen Gesamtdeutschland und den Städten in Mecklenburg-Vorpommern vergrößerte sich: Sowohl in Rostock als auch in Schwerin ist das verfügbare Haushaltseinkommen bezogen auf Gesamtdeutschland deutlich zurückgegangen, und liegt um 5,3 bzw. 4,8 Prozent hinter dem Wert des Jahres 2000. Im Kreis Vorpommern-Greifswald erfolgte nur eine Steigerung um 1 Prozent. Insgesamt lag das Haushaltseinkommen in Mecklenburg-Vorpommern rd. 17 Prozent unter dem Bundesdurchschnitt. 178 Tab. 49: Zusammenfassung der Einkommenssituation 2012 Verfügbares Einkommen Verfügbares Einkommen je Einwohner in Mio. EUR darunter Anteil der empfangenen Sozialleistungen in % EUR MV = 100 D = 100 Rostock 3.345 39,9 16.352 96,0 79,7 Schwerin 1.615 40,3 16.965 95,6 82,7 LK Mecklenburgische Seenplatte 4.567 38,6 16.943 99,5 82,6 LK Rostock 3.830 33,4 17.877 104,9 87,2 LK VorpommernRügen 3.896 39.0 17.012 99,9 83,0 LK Nordwestmecklenburg 2.696 35,5 16.945 99,5 82,6 LK VorpommernGreifswald 3.933 40,2 16.173 94,9 78,9 LK LudwigslustParchim 3.904 33,1 18.058 106,0 88,1 MecklenburgVorpommern 27.782 37,3 17.036 100 83,1 Landkreis / kreisfreie Stadt Quelle: StA MV, Presseinformation 52/2014 Zu den eher prosperierenden Bereichen im Land zählten hiernach die Kreise LudwigslustParchim und Rostock, Schlusslicht war der Kreis Vorpommern-Greifswald und die Hansestadt Rostock. Die übrigen Kreise und Schwerin lagen leicht unterdurchschnittlich dazwischen. Im Jahr 2013 sank das verfügbare durchschnittliche Einkommen in MecklenburgVorpommern auf 16.874 EUR und erreichte nur noch 82,4 % des gesamtdeutschen Niveaus (D = 100; Pressemitteilung StA MV, 33/2015). Die in Mecklenburg-Vorpommern erzielten Löhne und Gehälter waren dabei die niedrigsten im Bundesvergleich. Laut IAB Betriebspanel 2012 stellte sich die Lohnentwicklung in der Dekade 2003 bis 2012 wie folgt dar (Abb. 29): Im Jahr 2012 sank der Bruttodurchschnittslohn im Nordosten lt. IAB auf 2.220 Euro, dies entspricht einer Angleichungsquote gegenüber dem Durchschnittsverdienst in Westdeutschland von nur 73 Prozent gegenüber einem Durchschnittswert von fast 74 Prozent für den Zeitraum von 1996 bis 2012. In den beiden Jahren 2010/2011 lag die Angleichungsquote schon bei 76 Prozent. Mecklenburg-Vorpommerns Durchschnittsverdienste lagen 2012 auch 170 Euro unter dem ostdeutschen Durchschnitt. Für 2013 wies Destatis für Mecklenburg Vorpommern einen durchschnittlichen Bruttoverdienst von 15,02 Euro (gleichauf mit Thüringen) aus, der auch im Bundesdurchschnitt an letzter Stelle stand und eine Angleichungsquote von 76,44 Prozent gegenüber dem Bundesdurchschnittslohn von 19,65 EUR bedeutete. Hierfür könnte die niedrige Tarifbindungsquote 179 in Mecklenburg Vorpommern mit ausschlaggebend sein (lt. WSI waren 2013 nur knapp 80.000 Personen Mitglied einer DGB-Gewerkschaft im Land). Abb. 29: Lohnentwicklung 2003 - 2012 im regionalen Vergleich Quelle und Grafik: IAB Betriebspanel Mecklenburg-Vorpommern 2012, S. 93 Der Produktivitätsabstand zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Westdeutschland lag seit 2009 relativ konstant bei rd. 67,5 Prozent, bewegte sich aber auf dem Niveau der ostdeutschen Länder (lt. IAB-Betriebspanel 2012). In Mecklenburg-Vorpommern ist ein großer Anteil sozialversicherungspflichtig Beschäftigter im Sozialsektor tätig, der damit einen wichtigen Beschäftigungsbereich darstellt. Wie sieht es hier mit der Entlohnung aus? Viele Organisationen des sozialen Sektors unterliegen keiner Tarifbindung, oder operieren mit sog. Haustarifverträgen. Der TVöD als sog. „Leitwährung“ erleidet einen Bedeutungsverlust. Der öffentliche Sektor geht zunehmend dazu über, soziale Dienstleistungen auszuschreiben, was zur Abgabe von Dumpingangeboten führen kann. Diese Lohnabwärtsspirale im Sozialsektor ist nachvollziehbar, wirkt aber längerfristig betrachtet kontraproduktiv. Denn schlechte Entlohnung spricht sich herum und wird die ohnehin schwierige Nachwuchsgewinnung zusätzlich erschweren. Eine Gehaltserhebung der Hochschule Neubrandenburg aus dem Jahre 2011 ergab, dass akademisch ausgebildete Sozialarbeiter/Sozialpädagogen im Nordosten durchschnittlich 2.251 Euro brutto und 1.475 Euro netto verdienten (Boettner/Groth 2011). Eine neuere Expertise der FES beschäftigte sich mit den Einkünften von Sozialberuflern vor dem Hintergrund der Alterssicherung und Verhinderung von Altersarmut. Für zwei ausgewählte Berufsfelder sollen deren Ergebnisse hier vorgestellt werden. Für Mitarbeiterinnen in Kindertageseinrichtungen (Frauenanteil über 95 %) überwog eine Teilzeitbeschäftigung (rd. 60 % im Bundesdurchschnitt). Insgesamt wurden am 01.03.2014 über 13.000 Beschäftigte in Kindertagesbetreuungseinrichtungen im Nordosten gezählt, davon über 10.600 weibliche pä180 dagogische Fachkräfte. Der Männeranteil lag hier bei 4,2 Prozent. Über 9.400 waren ausgebildete Erzieherinnen. Die Quote der mit unter 38,5 Stunden pro Woche Beschäftigten lag bei 78,2 Prozent (vgl. Destatis, Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe 2014). Das Einstiegsgehalt nach TVöD SuE Entgeltgruppe 6, Stufe 2 beträgt 2.528, 98 Euro (2014), das in Mecklenburg-Vorpommern aber nur selten gezahlt werden dürfte. Es liegt unter dem Durchschnittswert der Rentenversicherung, d. h. unter dem Durchschnittseinkommen der gesetzlich Rentenversicherten. Erst mit Übernahme z. B. einer Kita-Leitungsaufgabe wird dieses erreicht oder übersteigt es leicht. Auch vor dem Hintergrund der hohen Teilzeitbeschäftigungsquote ist der Aufbau einer auskömmlichen Rente schwerlich möglich. Das durchschnittliche Renteneinstiegsalter liegt bei den Erziehungsberufen bei 59 Jahren. Zudem verbleibt ein nicht unerheblicher Teil der Beschäftigten aufgrund der sehr belastenden Arbeitsbedingungen nicht bis zum Rentenalter in diesem Arbeitsfeld (vgl. Blank/Schulz 2015). Ende 2011 waren knapp 18.500 Personen in der ambulanten und stationären Pflege in Mecklenburg-Vorpommern beschäftigt, hiervon der größte Anteil in Teilzeit (Destatis, Pflegestatistik 2011). Der Frauenanteil lag bei über 85 Prozent. Für examinierte Altenpfleger beträgt das Einstiegsgehalt nach TVöD-K Entgeltgruppe 7a, Stufe 1 2.192,63 EUR (2014). Das durchschnittliche Einkommen von Pflegefachkräften liegt unter dem Durchschnittswert der Rentenversicherung. Nur bei langer, stabiler Beschäftigung wäre über die GRV eine auskömmliche Alterssicherung zu erzielen, dem steht aber der hohe Anteil von Teilzeitbeschäftigten entgegen (vgl. Blank/Schulz 2015). Zusammenfassend kommen Blank / Schulz (2015) zu dem Ergebnis, dass insbesondere der Faktor Arbeitszeit (d. h. der hohe Anteil an Teilzeitbeschäftigungen) eine angemessene Alterssicherung erschwert. Dem kann durch eine betriebliche Altersversorgung mit entgegengewirkt werden, die allerdings dann auch pflegesatzwirksam refinanzierbar sein muss. In diesem Zusammenhang wird auch nochmals auf den geringen Verbreitungsgrad der BAV im Nordosten verwiesen (s. Kapitel 4 in diesem Abschnitt). Mindestlohn Die Auswirkungen hinsichtlich der Reduzierung von Armut durch die Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 sind umstritten. Einerseits wurde eine erhebliche Zunahme der Arbeitslosigkeit befürchtet infolge von Entlassungen, da Unternehmen (angeblich) nicht in der Lage wären den Mindestlohn zu zahlen. Dies ist nicht eingetreten. Andererseits wird von Kaufkraftzuwachs und Mehreinnahmen in den Sozialkassen gesprochen bzw. Einsparungen bei Aufstockern. Werfen wir zuerst global einen Blick auf die fiskalischen Auswirkungen durch Einführung des Mindestlohns zum 01.01.2015. Einkommenssteuermehreinnahmen sowie von Arbeitgebern und Arbeitnehmern erbrachte Sozialversicherungsbeiträge sollten sich nach einer Simulationsberechnung des IAB zusammen auf rd. 2,5 Mrd. Euro belaufen. Die vorsichtige Berechnung (Untergrenze der Einsparungen) bei SGB II-Leistungen belief sich auf knapp 400 Mio. Euro bundesweit (IAB, Aktuelle Berichte, 24.07.2013). Ob diese Werte tatsächlich zutreffen, müssen aktuelle Auswertungen belegen. Die OECD gab den Anteil der abhängig Beschäftigten, die von der Einführung des Mindestlohns profitieren würden, mit 15 Prozent an, für die neuen Bundesländer mit 23 Prozent 181 (OECD 2014, S. 37). Das IAB hat folgende Einschätzung veröffentlicht (Abb. 30): Hiernach hätten 12 bis 14 Prozent der Beschäftigten im Nordosten vom Mindestlohn profitieren sollen, der höchste Anteil davon im Gastgewerbe sowie dem Einzelhandel. Abb. 30: Beschäftigte mit Mindestlohn nach Bundesländern Quelle und Grafik: IAB-KB 6/2015 Es liegen noch keine detaillierten, empirischen Erkenntnisse über die Mindestlohneinführung vor. Es scheint sich allerdings abzuzeichnen, dass auch im Nordosten vielfach lediglich die Arbeitsstunden reduziert wurden, nicht mehr vergütet und die zu leistende Arbeit offenbar auch nicht reduziert wurde. Weitere Erkenntnisse müssen vertieften Untersuchungen vorbehalten blieben. Klar dürfte allerdings schon jetzt sein, dass der Mindestlohn allein noch nicht ausreichend ist, um prekäre Lebenslagen zu vermeiden und Altersarmut zu verhindern. Reichtum und Vermögen Die Kehrseite von Armut heißt Reichtum. Daher ist es auch angebracht, wie es auch der ARB der Bundesregierung hält (allerdings ohne Reichtum näher zu quantifizieren), einen Blick auf den Reichtum zu werfen, was hinsichtlich der sehr dürftigen regionalen Datenlage dezidiert für Mecklenburg-Vorpommern unmöglich ist: „Reichtum ist ein scheues Reh“ (Huster). Es werden daher hier nur Daten für Ostdeutschland allgemein ausgewiesen. Die Einkommensreichtumsquote gibt Auskunft über den Anteil der Bevölkerung, der über mehr als 200 Prozent des Medians des Äquivalenzeinkommens verfügt. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse des Bundesmedians schnitt Mecklenburg-Vorpommern mit 2,7 Prozent am schlechtesten ab. Die Differenz zu dem Bundesland mit dem höchsten Wert (Hamburg mit 11,3 %) betrug 8,4 Prozent. Die anderen neuen Länder wiesen alle eine stabile ansteigende Quote auf. Mecklenburg-Vorpommern wies die geringste Steigerungsrate unter den neuen 182 Ländern aus. Thüringen erzielte die höchste Steigerungsrate und lag 1,0 Prozentpunkte vor Mecklenburg-Vorpommern. Tab. 50: Einkommensreichtumsquoten Bundesmedianwerte 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 Mecklenburg-Vorpommern 2,5 2,4 2,3 2,3 2,6 3,0 3,0 2,8 2,7 Deutschland 7,7 7,8 7,7 7,7 7,8 8,1 8,1 8,1 8,2 Quelle: Destatis, Mikrozensus Tabellen A 4.1, 4.2 Dies macht noch einmal deutlich, dass in Mecklenburg-Vorpommern die niedrigsten Einkommen im Bundesdurchschnitt erzielt wurden und auch eine niedrigere Einkommensspreizung als in anderen Bundesländern anzutreffen war. Außerdem gab es weniger Einkommensreiche im Nordosten als im übrigen Bundesgebiet (Destatis, Mikrozensus Tabellen A 4.1, 4.2). Da zum Vermögensreichtum nur sehr rudimentäre Daten vorliegen, wird hier der Fokus insbesondere, wie in der sozialwissenschaftlichen Forschung üblich, auf den Einkommensreichtum gelegt. Von „einkommensreich“ wird ab einem Einkommen, welches 200 Prozent über dem Median des bedarfsgewichteten Äquivalenzeinkommens liegt, gesprochen. Als „sehr einkommensreich“ gelten Personen, deren Einkommen 300 Prozent über dem bedarfsgewichteten Äquivalenzeinkommen liegt. Seit Beginn der 1990er Jahre gab es eine deutliche Zunahme der Einkommensreichen in Deutschland, die seit etwa Mitte der 2000er Jahre auf hohem Niveau stagnierte. Zwischen 1991 und 2011 hat der Anteil der Einkommensreichen an der Gesamtbevölkerung von 5,6 auf 8,1 Prozent (also um 2,5 Prozentpunkte) zugenommen. Um einen Prozentpunkt von 0,9 auf 1,9 Prozent stieg im selben Zeitraum der Anteil der sehr Einkommensreichen. Die reale Nettoeinkommensentwicklung verlief allerdings für diese beiden Gruppen uneinheitlich: Bei den Einkommensreichen stieg das Einkommen um 5 Prozent (bei der nicht einkommensreichen Bevölkerung 4 Prozent), bei den sehr Einkommensreichen allerdings um über 20 Prozent (vgl. Spannagel/Seils 2014, S. 625). Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung erreichen je nach Erfassungsszenario zwischen 63 und 74 Prozent am gesamten Nettovermögen in Deutschland. Die Verteilung ist „rechtsschief“, der größte Anteil des Vermögens befindet sich rechts des Medians. Etwa 73 Prozent aller Haushalte verfügen über ein unterdurchschnittliches Vermögen (lt. Bundesbank, PHF). Diese Schätzungen sind aber mit hoher Unsicherheit behaftet, da entsprechende Haushaltsbefragungen die „Superreichen“ eher sehr unterrepräsentiert erfassen. Das reichste ein Prozent (dies entspricht rund 400.000 Haushalten) der Bevölkerung verfügt über rd. einem Drittel am gesamten Nettovermögen (vgl. Grabka 2015). Dies unterstreicht die sehr disparitätische Vermögensverteilung in Deutschland. Der hierfür verwendete Gini-Koeffizient wurde für 2012 mit dem relativ hohen Wert von 0,78 für Deutschland angegeben (vgl. Grabka 2014). Die Deutsche Bundesbank errechnete im Rahmen ihrer PHF-Erhebung (s. u.) die folgenden GiniWerte: Deutschland (insgesamt): 75,8 Prozent, Westdeutschland: 73,9 Prozent und Ostdeutschland 76,6 Prozent (unter Verwendung einer Gini-Tabelle von 0-100; lt. pers. Auskunft der Deutschen Bundesbank auf Grundlage PHF-Erhebung, Bezugsjahr 2010/11). Dieser Wert 183 für Ostdeutschland deutet überraschenderweise auf eine leicht höhere Vermögensspreizung in diesen Bundesländern hin. Das DIW ermittelte auf Grundlage einer Auswertung der EVS und SOEP-Daten, dass ostdeutsche Haushalte 2013 durchschnittlich über ein Nettovermögen von 67.400 Euro verfügten (inkl. Immobilienbesitz), damit lagen sie um 44 Prozent hinter den westdeutschen Haushalten (Durchschnittsvermögen 153.200 EUR). Immobilien stellen die wichtigste Vermögenskomponente dar: 73 Prozent des ostdeutschen Vermögens entfallen auf Grund- und Immobilienbesitz (im Westen 85 Prozent). Die Gesamtschuldenlast betrug 2013 in Ostdeutschland 24 Prozent des Nettovermögens. Allerdings war die Eigentümerquote in Ostdeutschland immer noch niedriger als im Westen: Nur rd. ein Drittel aller Haushalte lebte in selbst genutztem Eigentum gegenüber rd. 50 Prozent im anderen Landesteil. Auch die Verkehrswerte der Immobilien lagen etwa um die Hälfte unter denen in Westdeutschland. Dies verwundert nicht vor dem Hintergrund des niedrigen Einkommensniveaus und einer erhöhten Arbeitslosigkeit, die dem Vermögensaufbau entgegenstehen. Zu berücksichtigen ist auch, dass nach der Wende am 1. Juli 1990 im Rahmen der Währungs- und Wirtschaftsunion Sparguthaben im Verhältnis 2 : 1 umgestellt wurden. Altersbezogene Sparbeträge konnten teilweise auch 1: 1 umgestellt werden: 2.000 Mark pro Kind bis 14 Jahre; 4.000 Mark für bis 59-jährige Personen und 6.000 Mark für ab 60-jährige Personen (vgl. Grabka 2014b).Die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland verfügte 2012 nur über ein Nettovermögen von unter 17.000 Euro; Alleinerziehende mit zwei oder mehr Kindern wiesen mit lediglich rd. 1.450 Euro Pro-Kopf-Median Nettovermögen den niedrigsten Sparbetrag auf (vgl. Grabka 2014). Auch ein allgemeiner Blick auf die Entwicklung der Sparquoten in Deutschland ist erhellend. Die Lohnentwicklung hat Auswirkungen auf die Sparquoten: Das oberste Einkommensquartil konnte diese weitgehend mit ca. 9,5 Prozent stabil halten, während sie in den anderen drei Quartilen rückläufig war (allerdings im untersten Quartil seit 2009 wieder deutlich ansteigt). Die Sparquote betrug 2012 in Mecklenburg-Vorpommern 7,4 Prozent (zum Vergleich: Baden-Württemberg 11,2 Prozent; vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder). Diese niedrige Sparquote sank 2013 weiter ab und erreichte nur 5,4 % und blieb damit die niedrigste im Bundesgebiet (StA MV, Presseinformation 35/2015). Dies hat, wie beschrieben, Auswirkungen auf die Vermögensverteilung und die Fähigkeit, eine private Altersvorsorge zu realisieren. Die Deutsche Bundesbank ermittelte folgende Spareinlagenhöhen pro Kopf der Bevölkerung nach Bundesländern für die Jahre 2012 und 2013. Hier zeigt sich, dass die Bewohner im Nordosten weniger zurücklegen konnten als Bewohner in anderen Regionen. 2013 betrug das durchschnittliche Sparvermögen in Mecklenburg-Vorpommern knapp 10.800 Euro (Abb. 31). Die Deutsche Bundesbank, als Teil des europäischen Systems der Zentralbanken im Gemeinschaftsprojekt „Household Financeand Consumption Survey“ (HFCS), führte 2010/11 eine Haushaltsbefragung (Vermögenssurvey: „Private Haushalte und ihre Finanzen“ (PHF) durch, um ein besseres Bild über die Vermögenslage der Deutschen zu gewinnen. Hierzu wurden über 3.500 Haushalte, davon ein knappes Viertel aus Ostdeutschland, befragt. Leider war es nicht möglich, aufgrund des extrem niedrigen regionalen Datenbestandes, spezifische Er- 184 kenntnisse über die Vermögenssituation in Mecklenburg-Vorpommern zu erhalten, sodass hier auch wieder nur auf ostdeutsche Daten Bezug genommen werden kann. Abb. 31: Spareinlagenhöhen privater Haushalte nach Bundesländern Quelle: (Deutsche Bundesbank, Grafik: Statista) Hiernach betrug das Nettovermögen in ostdeutschen Haushalten im Mittelwert 67.480 Euro, der Medianwert lag bei 21.440 Euro. Das Finanzvermögen (inkl. Riesterverträge) wurde für Ostdeutschland mit 26.310 bzw. 8.530 Euro (Mittelwert, Median) angegeben. Auf ostdeutschen Sparkonten lagen als Medianwert 5.850 Euro, Bausparverträge wiesen 3.000 Euro und kapitalbildende Lebensversicherungen 6.560 Euro auf, jeweils als Medianwerte und inkl. Riesterverträgen. Ein genauer Blick auf die private Altersvorsorge förderte als Medianwert 2.620 Euro zutage. Schaut man sich allerdings nur die geförderten Verträge an, so verringerte sich dieser Wert auf lediglich 1.480 Euro. Die Studie führt aus, dass 73 Prozent der deutschen Haushalte ein unterdurchschnittliches Vermögen hatten und Mieter-Haushalte weniger sparen als Immobilienbesitzer. Aktienbesitz war in Ostdeutschland weniger verbreitet als im westlichen Landesteil. Entsprechend der Lebenszyklushypothese, wonach z. B. in jungen Jahren weniger gespart wird und ein Entsparen eher im Alter stattfindet, ließen sich für bestimmte Lebensaltersspannen auch unterschiedliche Sparmotive identifizieren. 185 Abb. 32: Haushalte nach wichtigstem Sparmotiv und Altersklassen in Prozent Quelle und Grafik: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht 06/2013, S. 37 Bemerkenswert ist an dieser Darstellung, dass bestenfalls nur knapp ein Drittel der Haushalte Altersvorsorgesparen betrieb, oder betreiben konnte, und dies auch erst recht spät im Lebenszyklus. So bleibt fraglich, ob mit der PAV wirklich die Deckungslücke bei den Altersbezügen kompensiert werden könnte. Allerdings kann das Sparen für den Erwerb einer Immobilie auch dem Altersvorsorgesparen zugerechnet werden. Das Vorhalten des sog. „Notgroschens“ zur Überbrückung von Notlagen ist in allen Altersphasen opportun, eine wichtige Bedeutung hat auch das „Ausbildungssparen“ für Kinder oder Enkel. Für Ostdeutschland allein betrachtet dürfte sich aufgrund „faktischen Unvermögens“ infolge fehlender Mittel für das Sparen ein anderes Bild ergeben. Aber auch innerhalb Westdeutschland gab es ein erhebliches Gefälle zwischen dem Süden (Bayern, Baden-Württemberg, Hessen) und den „Nordländern“ (Quelle aller Daten dieses Abschnitts: Deutsche Bundesbank 2013). Als ein Hinweis auf die relative „Vermögenslosigkeit“ im Nordosten mag auch gelten, dass lt. Angaben des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen im Jahre 2013 nur eine neue Stiftung im Lande errichtet wurde. 186 7 Gesundheitsaspekte und Pflegesituation Die Korrelation zwischen Armutslebenslagen und Gesundheit wird immer wieder hervorgehoben. So wird vom RKI konstatiert, dass „(…) ein enger Zusammenhang zwischen der sozialen und gesundheitlichen Lage besteht. Viele Krankheiten, Beschwerden und Risikofaktoren kommen bei Personen mit niedrigem sozioökonomischen Status, gemessen zumeist über Angaben zu Einkommen, Bildung und Beruf, häufiger vor, als bei Personen mit höherem sozioökonomischen Status“ (Lambert/Krull 2014, S.1 und siehe auch Teilbereich Weiß/Corthier). Auch der 4. ARB der Bundesregierung zeigte, dass die armutsgefährdete Personengruppe mit einem Netto-Äquivalenzeinkommen bis zu 60 Prozent des Durchschnitts am häufigsten gesundheitliche Beeinträchtigungen aufwies (vgl. 4. ARB, S. XXXVI). Die Panelbefragung Leben in Europa (EU-SILC) erhebt auch gesundheitsrelevante Daten. Die Haushaltsbefragung, die auf freiwilliger Basis seit 2005 durchgeführt wird, dient dazu, europäisch harmonisierte und vergleichbare Indikatoren zur Messung sozialer Exklusion und Armut in der EU zu ermitteln (vgl. Destatis, Wirtschaftsrechnungen, Leben in Europa, Fachserie 15, Reihe 3). Dort wird z. B. im Rahmen einer Selbsteinschätzung erhoben, wie viele Personen aus finanziellen Gründen nicht zum (Zahn-)Arzt gehen. Im Jahre 2012 gingen demnach bundesweit über 487.000 Personen aus finanziellen Gründen nicht zum Zahnarzt, obwohl dies aus gesundheitlichen Gründen nötig gewesen wäre und immerhin noch rd. 267.000 Personen gingen aus denselben Gründen nicht zu einem Arzt, obwohl es aus gesundheitlicher Sicht opportun gewesen wäre. Überträgt man diese Werte auf Mecklenburg-Vorpommern, so ergibt sich für 2012 folgendes Bild: Verzicht auf Zahnarztbesuch: 15.300 armutsgefährdete Personen Verzicht auf Arztbesuch: 8.800 armutsgefährdete Personen In diesem Zusammenhang ist auch bemerkenswert, dass sich der Personenanteil gesetzlich Krankenversicherter, die über eine ergänzende Zusatzversicherung, insbesondere für zahnärztliche Leistungen, verfügten, bundesweit seit 2000 auf 13 Mio. mehr als verdoppelte. Im Wesentlichen handelte es sich hierbei um Bezieher höherer Einkommen mit einem höheren Bildungsabschluss (vgl. Grabka 2014). Dies trägt weiter zu einer sozialen Spreizung im Gesundheitswesen bei, die auch im Nordosten zu beobachten ist. Als ein weiteres Indiz für die Korrelation zwischen Armut und Gesundheit können auch die Krankenstände herangezogen werden. In Mecklenburg-Vorpommern ist der Krankenstand höher als in anderen Bundesländern: Die AOK verzeichnete für 2013 einen Krankenstand von 5,4 Prozent (Bundesdurchschnitt: 5,1 Prozent). Die DAK weist für 2014 einen überdurchschnittlichen Krankenstand für den Nordosten von 4,8 Prozent aus. Diese Daten werden durch den BKK-Gesundheitsreport bestätigt: Die dort Versicherten waren 2013 an 21,4 Tagen arbeitsunfähig geschrieben (Zunahme gegenüber Vorjahr: 1,6 Tage). Dies war der dritthöchste Wert vor Sachsen-Anhalt und Brandenburg (BKK-Gesundheitsreport 2014, S. 49). Die BARMER GEK wies für 2013 auch einen überdurchschnittlichen Krankenstand von 5,61 Prozent, entsprechend 20,5 AU-Tage aus, was fast 19 Prozent über dem Bundesdurchschnitt lag (BARMER GEK 2014). Diese Krankenkasse legte für 2012 auch einen dezidierten Krankenstand für die Altkreise in Mecklenburg-Vorpommern vor, der die höchsten AU-Werte für die folgenden Regionen auswies (Tab. 51). 187 Tab. 51: Ausgewählte Arbeitsunfähigkeitswerte im räumlichen Vergleich, 2012 Regionen: UeckerRandow Parchim Demmin Nordwestmecklenburg Güstrow Hansestadt Stralsund in % 37,5 30,4 27,2 24,5 23,8 20,8 Quelle: BARMER GEK 2014 Hier fällt insbesondere der extrem hohe Wert für den östlichsten Kreis Uecker-Randow auf, einer sehr strukturschwachen Region mit einer hohen Arbeitslosenquote. Insgesamt betrachtet waren Personen ohne Schul-/Berufsabschluss deutlich häufiger krank als z. B. Personen mit Universitäts-/FH-Abschluss (ebd. S. 32). Nach Erkenntnissen des BKK Dachverbandes waren insbesondere ältere Arbeitslose signifikant häufiger krank als Arbeitnehmer. Abb. 33: Arbeitsunfähigkeit der Empfänger von Arbeitslosengeld nach Alter und Krankheitsarten (Tage) Quelle und Grafik: BKK Dachverband, Zahlen, Daten Fakten 2013 Auffällig ist, dass gerade die psychischen Störungen (graue Linie) bis etwa zum 52. Lebensjahr die häufigste Ursache für eine Arbeitsunfähigkeit bei Arbeitslosen darstellten. Dies korreliert auch mit den Gründen für den Bezug von EM-Renten. Dieser Rentenbezug führt häufig zum Grundsicherungsbezug. Exemplarisch werden hier die Werte der Techniker Krankenkasse (TKK) vorgestellt, die diesen Trend auch untermauern. Demnach liegt der Krankenstand der TKK-Versicherten mit 18,4 Tagen im Nordosten über dem Bundesdurchschnitt und auch die depressionsbedingten Fehltage sind höher (TKK Depressionsatlas 2015). In Abb. 34 fällt auf, dass in den Städten der Depressionsanteil niedriger als in den ländlichen Regionen, insbesondere im Kreis Mecklenburgische Seenplatte, ausfiel. Dies kann mit materiell bedingten Problemen der dort leben Menschen zusammenhängen. Eine valide Aussage hierzu muss aber weiteren Forschungen vorbehalten bleiben. 188 Abb. 34: Räumlicher Vergleich der Häufigkeit depressionsbedingter Fehltage nach Landkreisen/kreisfreien Städten in Mecklenburg-Vorpommern 2013 Quelle: TKK Depressionsatlas 2015 Die negativen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die Gesundheit sind durch verschiedene Studien belegt (z. B. Badura/Schellschmidt/Vetter 2006; Kroll/Lampert 2012). Neuere Untersuchungen weisen darauf hin, dass die Arbeitslosigkeit eines Partners auch die psychische Gesundheit des anderen Partners beeinträchtigt (Näheres hierzu: Marcus 2014). Diese Aspekte sind relevant angesichts des in Mecklenburg-Vorpommern hohen Krankenstandes und der Zunahme von psychischen Erkrankungen, die zur Erwerbsminderung führen. Die Kosten der Arbeitslosigkeit könnten hierdurch unterschätzt werden. Die Empfehlung der Studie „Arbeitsmarktpolitik und Gesundheitspolitik“ sollten besser verzahnt werden. Insofern deutet das BA-GKV-Kooperationsprojekt „Gesundheitsorientierung in der Integrationsarbeit“, welches im Jobcenter Mecklenburgische Seenplatte Nord durchgeführt wird, einen interessanten Weg zur Gesundheitsprävention in Mecklenburg-Vorpommern an. Daten der BARMER GEK belegen, dass ALG I-Empfänger am häufigsten Antidepressiva/ Psychopharmaka verordnet bekamen und mit 41,7 Prozent überdurchschnittlich oft von psychischen Erkrankungen betroffen waren (gefolgt von Sozialberufen mit 32,6 % und Ordnungs- und Sicherheitsberufen mit 31,1 %). Bemerkenswert ist auch, dass bei den ab 50jährigen Männern und Frauen die Quote der an psychischen Störungen leidenden Menschen am höchsten war und bei Männern sogar bei den über 60-Jährigen nochmals anstieg. Im Nordosten wurden bundesweit die wenigsten Psychotherapien abgerechnet, was mit dem dünnen Fachkräftenetz oder einer Behandlungsscheu zusammenhängen kann (BARMER GEK 2014, S. 87 ff.; bezogen auf 2012). Auch bleibt die Frage unbeantwortet, ob dieser Anstieg im Alter etwas mit der sich meist nicht mehr ändernden materiellen Situation zu tun hat. 189 Ausgabenplus bei psychischen Erkrankungen Am höchsten war der Gesundheits-Kostenanstieg 2002 bis 2006 mit 3,3 Milliarden Euro bei psychischen und Verhaltensstörungen. Im Jahr 2006 lagen sie mit 26,7 Milliarden Euro auf Rang drei der kostenintensivsten Krankheitsarten. Berechnungen von Destatis zufolge könnten die Kosten durch diese Krankheiten bis 2030 um 20 Prozent auf rund 32 Milliarden Euro anwachsen. Grundlage der Rechnung war ein Status quo-Szenario, bei dem sämtliche Bedingungen bis auf die demographische Entwicklung konstant gehalten wurden. Die Ausgangswerte dazu stammten aus der 11. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder. Diese Hinweise deckten sich weitgehend auch mit den Gründen für den Bezug einer Erwerbsminderungsrente (vgl. Destatis, Gesundheit auf einen Blick 2009, S. 35). Im Jahr 2007 starben bundesweit fast 15.000 Personen, überwiegend Männer, an alkoholbedingten Erkrankungen. Diese führen zu einem früheren Ableben als beim Rest der Bevölkerung: Mehr als ein Fünftel der Betroffenen verstarb bereits vor Erreichen des 45. Lebensjahrs. Das durchschnittliche Sterbealter lag bei dieser Personengruppe bei 59,3 Jahren und damit 17,9 Jahre unter dem Sterbealter von natürlich Verstorbenen (vgl. Destatis, Gesundheit auf einen Blick 2009, S. 24). Diese Aussagen wurden tendenziell auch durch die Statistik vollstationärer Patienten in Krankenhäusern Mecklenburg-Vorpommerns bestätigt: Tab. 52: Ausgewählte Diagnosen vollstationärer Patienten 2010: Vergleich Mecklenburg-Vorpommern - Deutschland Diagnose- Krankheitsart Schlüssel Fallzahl Deutschland C00-D48 Neubildungen C18 des Dickdarmes C50 Fälle je 10.000 Einwohner MV Deutschland MV 1.847.685 42.071 226,0 256,2 87.536 1.871 10,7 11,4 Brustkrebs 141.273 2.457 17,3 15,0 D50-D90 Blut-/Stoffwechselkrankheiten 126.375 3.262 15,5 19,9 E10-E14 Diabetes 213.559 7.528 26,1 45,8 F00-F99 Psychische und Verhaltensstörungen 1.163.613 26.275 142,3 160,0 F10 durch Alkohol 333.357 10.263 40,8 62,5 I00-I99 Kreislaufkrankheiten 2.775.473 65.102 339,5 396,4 I20-I25 Ischämischer Herzerkrankungen 665.737 16.281 81,4 99,1 J00-J99 Atmungserkrankungen 1.128.441 26.148 138,0 159,2 J45-J46 Asthma 26.751 557 3,3 3,4 J12-J18 Pneumonie 279.684 7.184 34,2 43,7 I00-I99 Kreislaufkrankheiten 2.775.473 65.102 339,5 396,4 K00-K93 Verdauungskrankheiten 1.786.520 39.324 218,5 239,4 M00-M99 Skeletterkrankungen 1.699.694 31.202 207,9 190,0 M05-06 Arthrose 448.125 8.352 Quelle und Grafik: AOK Nord nach Destatis 54,8 50,9 Besondere Abweichungen werden hier bei alkoholbedingten Verhaltensstörungen sichtbar mit einer über 53-prozentigen Quote über dem Bundesdurchschnitt. Damit wird eine besondere 190 Alkoholproblematik im Nordosten deutlich. Außerdem fällt die noch extremer vom Bundesdurchschnitt abweichende Quote bei Diabetes mellitus auf: Über 75 Prozent. Dies ist sicherlich auf Ernährungsgewohnheiten maßgeblich mit zurückzuführen. Auch die Interviews, die im Rahmen dieser Studie geführt wurden (s. Abschnitt 1), bieten hierzu Anhaltspunkte. Einerseits dürften materielle Ursachen hierfür zu suchen - andererseits möglicherweise auch immaterielle, eher edukative Gründe, entscheidend sein. Dies hat weitreichende Auswirkungen. Tab. 53: Diabetes melliltus-Erkrankungen in Mecklenburg-Vorpommern Jahr Krankenhausfälle weiblich männlich Rentenzugänge wegen verminderter Erwerbsfähigkeit weiblich männlich Sterblichkeit weiblich männlich je 100 000 2008 449 498 7 16 31,0 21,3 2009 438 503 9 16 36,5 25,3 2010 415 500 6 17 34,7 25,1 2011 429 524 6 16 30,5 19,7 2012 429 530 5 13 33,6 23,7 2013 414 529 6 18 33,5 39,3 Quelle: Gesundheitsberichterstattung des Landes MV, Gesundheitsindikatoren, Tab. 3.078 Gerade bei den Diabetes-Erkrankungen fällt die Zunahme der Mortalität bei Männern auf. Hier waren die krankheitsbedingten EM-Rentenzugänge auch klar höher als bei den Frauen. Abb. 35: Entwicklung der ferneren Lebenserwartung ab 65 Jahre von männlichen Rentenversicherten zwischen 1995 und 2008 Quelle und Grafik: DRV Bund; zit. nach Lambert/Kroll, a. a. O., S. 7 191 „Die bislang vorliegenden Forschungsergebnisse sprechen dafür, dass in Deutschland erhebliche soziale Unterschiede in der Mortalität und Lebenserwartung bestehen. Diese Unterschiede finden sowohl in der Lebenserwartung bei Geburt als auch in der ferneren Lebenserwartung ab dem 65. Lebensjahr einen Ausdruck (...). Einige Studien weisen darauf hin, dass die Überlebenschancen auch nach dem Auftreten von schwerwiegenden Erkrankungen, wie z. B. einem Herzinfarkt oder Diabetes mellitus, zuungunsten der sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen variieren. Neben einem niedrigen Einkommen sind eine niedrige Bildung und ein niedriger beruflicher Status mit einem höheren Mortalitätsrisiko und einer geringeren Lebenserwartung assoziiert“ (Lambert/Kroll 2014, S. 9). Diese Aussagen scheinen sich für Mecklenburg-Vorpommern zu bestätigen (siehe auch Teilbericht Weiß/Corthier). Zwar verbesserte sich die Situation für tendenziell einkommensarme Menschen in den neuen Ländern, ihre Lebenserwartung blieb aber immer noch hinter den finanziell besser situierten Personen in Westdeutschland zurück (Abb. 35). Aufgrund der Überalterung der Bevölkerung im Nordosten sollte dem Thema Alterssuizid mehr Beachtung geschenkt werden, wie die Suizidratenübersicht für Mecklenburg-Vorpommern 2013 zeigt: Tab. 54: Suizidratenübersicht Mecklenburg-Vorpommern 2013 Alter in Jahren* Gestorbene infolge vorsätzlicher Selbstbeschädigung(X60 - X84) weiblich Anzahl 10 - 14 je 100 000. männlich Anzahl 0,0 je 100 000. darunter: infolge von Medikamenten und Drogen(X60 - X64) weiblich männlich Anzahl Anzahl 0,0 15 - 19 1 3,9 1 3,7 20 - 24 3 7,8 8 19,0 1 1 25 - 29 2 4,2 4 7,4 0 0 30 - 34 4 8,8 6 11,6 2 1 0,0 10 22,7 0 1 35 - 39 40 - 44 5 10,6 3 5,9 4 0 45 - 49 4 6,1 10 14,7 1 2 50 - 54 3 4,0 15 19,7 0 1 55 - 59 7 10,3 16 23,4 3 1 60 - 64 7 11,8 10 17,4 2 0 65 - 69 3 7,8 8 22,5 0 1 70 - 74 4 6,8 16 32,5 1 2 75 - 79 4 7,9 12 32,4 2 80 - 84 4 12,4 14 72,1 0 85 und mehr 6 22,4 10 113,5 1 57 7,0 143 18,2 17 Insgesamt standardisiert an Europabevölkerung, alt: 5,4 14 Quelle: Gesundberichtserstattung des Landes MV, Gesundheitsindikatoren, Tab. 3.088 192 10 Die Suizidmortalitätsrate in Mecklenburg-Vorpommern lag, insbesondere bei Männern, bei langfristiger Betrachtung über der (alten) altersstandardisierten Europabevölkerung. Zu den Ursachen kann hier nichts ausgesagt werden, dies bedarf einer vertieften Untersuchung. „Aus der Todesursachenstatistik 2007 geht hervor, dass über ein Drittel aller Suizide ab dem 65. Lebensjahr verübt wurden – das entsprach 3.384 registrierten Fällen. Suizide waren in diesem Alter mit 20,6 Sterbefällen je 100.000 Einwohner doppelt so häufig wie bei den Jüngeren. Die Ergebnisse zeigen, dass die Sterbeziffer durch Selbsttötungen ab dem 65. Lebensjahr stetig zunimmt und ab dem 90. Lebensjahr mit 31,2 je 100 000 Einwohner ihren Höchststand erreicht. Im Vergleich zu den Haupttodesursachen sind Alterssuizide jedoch selten: Am häufigsten verstarben über 64-Jährige an natürlichen Todesursachen wie chronische ischämische Herzkrankheit (Sterbeziffer je 100.000 Einwohner: 442,0), akuter Myokardinfarkt (297,1) und Herzinsuffizienz (293,3)“ (Destatis, Gesundheit auf einen Blick 2009, S. 13). In der Literatur finden sich auch Hinweise auf den sog. „Rentnertod“: So soll der Renteneintritt die Sterbewahrscheinlichkeit bis zum 67. Lebensjahr erhöhen. Das von Grossmann (1972) entwickelte Gesundheitskapital-Modell geht davon aus, dass die durch die Verrentung eintretende Einkommensreduzierung dazu führt, dass Investitionen in die eigene Gesundheit, z. B. in Form von gesundem Essen, medizinische Pflege, Sport oder Vorsorge, unterbleiben. Dies könnte auf eine Vielzahl von Niedrigeinkommensbeziehern (künftig auch vermehrt Rentner) zutreffen. Anderslautende Studien kommen zu entgegengesetzten Ergebnissen, die belegen, dass Rentner gesünder leben (weniger Stress, mehr schlafen, Sport treiben etc.), was sich positiv auf die Gesundheit auswirkt. Insgesamt lässt sich der sog. „Rentnertod“ empirisch nicht belegen (Eibich 2014). Die Herausforderungen für die medizinische Versorgung in Mecklenburg-Vorpommern wurden vielfach beschrieben, z. B. im Rahmen der Arbeit durch die Enquete-Kommission „Älter werden in Mecklenburg-Vorpommern“. Es wird immer schwieriger, für sog. Landarztpraxen Nachfolger zu finden. Dies kann dazu führen, dass die Erreichbarkeit von (Fach-)Ärzten, insbesondere für mobilitätseingeschränkte Personen erschwert wird (vgl. hierzu auch Teilbericht Weiß/Corthier). Neue Ansätze für eine bedarfsgerechte medizinische Versorgung sind beschrieben, z. B. für die Planungsregion Vorpommern: Neben Telemedizin werden auch zentrale Gesundheitshäuser (wie etwa in Woldegk bereits entstanden) oder auch Delegationsmodelle, etwa nach dem AGnES-Modell, vorgeschlagen (vgl. Regionaler Planungsverband Vorpommern 2011). Diese Überlegungen gilt es, zeitnah in den peripheren Regionen des Landes zu realisieren, auch um eine größtmögliche räumliche Nähe der potenziellen Patienten mit den Versorgungsangeboten sicherzustellen. In Mecklenburg-Vorpommern lebten am 31.12.2013 insgesamt 172.237 schwerbehinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung zwischen 50 und 100 Prozent. Der höchste Anteil von ihnen hatte einen 50-prozentigen Behinderungsgrad (32 %), gefolgt von den Personen mit einem 100-prozentigen Behinderungsgrad (21,8 %). Die Aufteilung im Land sieht wie folgt aus: 193 Tab. 55: Schwerbehinderte nach Grad der Behinderung und Landkreisen / kreisfreien Städten in Mecklenburg-Vorpommern 2013 Quelle: Stat. JB MV 2014, StA MV, S.401 Die prozentuale Aufteilung spiegelt größtenteils die Kreisgröße bzw. eine gute Infrastruktur (z. B. in Rostock) wider. Schwerbehinderte Menschen können in prekären materiellen Verhältnissen leben. Pflege Mit einem Anteil von 4,1 Prozent wies Mecklenburg-Vorpommern bundesweit die höchste Pflegequote (Anteil pflegebedürftiger Menschen an der Bevölkerung) aus, was mit der Altersstruktur im Land zusammenhängt. Die Verteilung auf die Kreise sieht folgendermaßen aus: Tab. 56: Pflegestatistik nach Landkreisen / kreisfreien Städten in MecklenburgVorpommern Pflegequote Anteil der ab 75 jährigen an der Bevölkerung Anteil vollstationärer Dauerpflege an allen Pflegebedürftigen Auslastung der vollstationären Dauerpflege Rostock 3,4 10,0 32,3 96,6 Schwerin 4,5 11,0 32,8 96,5 LK Mecklenburgische Seenplatte 4,1 10,3 24,0 98,6 LK Rostock 4,2 9,2 27,6 94,7 LK Vorpommern-Rügen 5,0 10,5 22,3 97,5 LK Nordwestmecklenburg 3,9 9,5 27,0 97,2 LK Vorpommern-Greifswald 4,0 10.4 26,9 95,8 LK Ludwigslust-Parchim 4.0 9,6 26,0 96,8 Mecklenburg-Vorpommern 4,1 10,0 26,6 96,7 Region Quelle: Destatis, Pflegestatistik 2011, S. 21 Die höchste Pflegequote im Land war 2011 im Kreis Vorpommern-Rügen, gefolgt von der Landeshauptstadt, zu finden. Der Anteil hochaltriger Menschen ist in den östlichen Landkreise etwas höher als im Westteil des Landes. Pflegebedürftige Menschen können erheblich von materieller Deprivation betroffen sein. Diese Situation kann künftig auch zu Problemen bei der Gewinnung von Fachkräften führen, da ein steigender Bedarf zu verzeichnen sein wird. 194 Daher sind Überlegungen zur Steigerung des Ansehens und der Attraktivität von Pflegeberufen wichtig (Näheres hierzu: Universität Greifswald/Universitätsmedizin Greifswald/Hochschule Neubrandenburg 2014). Abb. 36: Übersicht der Pflegebedürftigen nach Bundesländern Pflegebedürftige je 10.000 Einwohner 450 413,3 400 350 300 384,6 380,5 370,6 341,7 336 335,4 327,7 323,6 308,2 307 305,6 282,7 281,9 262,4 261,5 258 250 200 150 100 50 0 Quelle: Stat. Ämter des Bundes und der Länder; Grafik: Statista Neben der professionellen Pflege nahm aber auch die informelle Pflege immer weiter zu: Zwischen 2001 und 2012 stieg der Anteil Erwerbstätiger an allen informell Pflegenden unter 65 Jahren von rd. 53 Prozent auf annähernd 66 Prozent. Aufgrund demographischer Entwicklungen wird der Bedarf an informeller Pflege zunehmen, so stellt sich für Erwerbstätige zunehmend die Frage, wie diese besser neben einer Berufstätigkeit zu realisieren ist (vgl. Geyer/ Schulz 2014). Informelle Pflegetätigkeiten sind eine zentrale Stütze des deutschen Pflegesystems, insbesondere angesichts der alternden Bevölkerung und des damit einhergehenden steigenden Pflegebedarfs. Zwischen fünf und sechs Prozent aller Erwachsenen leistete regelmäßig informelle Pflege, wie das DIW Berlin auf Grundlage von Daten des SOEP für die Jahre 2001 bis 2012 berechnet hat. Rund 60 Prozent dieser Frauen und Männer waren im erwerbsfähigen Alter. Der Anteil der Erwerbstätigen an allen informell Pflegenden unter 65 Jahren stieg von knapp 53 auf fast 66 Prozent. Bei den Vollzeitbeschäftigten war der Anstieg stärker als bei den Teilzeitbeschäftigten, wenngleich Vollzeitbeschäftigte im Durchschnitt wesentlich seltener Pflege und Beruf kombinierten. So stellt sich die Frage, wie Erwerbs- und Pflegetätigkeit besser miteinander vereinbart werden können. Denn der Bedarf an (informeller) Pflege wird infolge des demographischen Wandels weiter steigen. Diese Frage ist auch vor dem Hintergrund der Vermeidung von eigener Altersarmut bei den Pflegenden zu stellen. Für Mecklenburg-Vorpommern stellt sich die Entwicklung wie folgt dar: 195 Abb. 37: Pflegebedürftige in Mecklenburg-Vorpommern nach Art der Pflege 40.000 34.788 35.000 32.274 30.000 28.722 26.351 25.000 23.565 23.399 22.529 19.060 20.000 17.186 15.696 15.000 13.817 12.380 11.504 10.368 18.09918.597 16.77117.024 15.389 14.784 13.743 10.000 5.000 0 ambulant Stationär 2001 2003 2005 durch Angehörige 2007 2009 2011 2013 Quelle: Gesundberichtserstattung des Landes MV, Gesundheitsindikatoren, Tab. 3.048 Tabelle 57 unterstreicht die Bedeutung der informellen Pflege in Mecklenburg-Vorpommern. Tab. 57: Pflegebedürftige in Mecklenburg-Vorpommern im Regionalvergleich 2013 weiblich männlich Anzahl je 100 000 weibl. Einw. je 100 000 männl. Einw. SMR* Anzahl je 100 000 Einwohner Rostock 5.041 4.853 86,1 2.719 2.731 82,7 7.760 3.815 Schwerin 3.087 6.425 98,7 1.479 3.397 95,3 4.566 4.986 LK Mecklenburgische Seenplatte 7.771 5.809 98,3 4.263 3.314 100,4 12.034 4.586 LK Rostock 6.285 5.952 109,5 3.533 3.366 106,7 9.818 4.663 LK Vorpommern-Rügen 8.112 7.150 121,7 4.521 4.123 121,3 12.633 5.662 LK Nordwestmecklenburg 4.181 5.362 96,2 2.291 2.964 93,9 6.472 4.168 LK Vorpommern-Greifswald 6.508 5.368 91,0 3.758 3.213 97,7 10.266 4.310 LK Ludwigslust-Parchim 5.800 5.461 96,8 3.096 2.928 95,2 8.896 4.197 46.785 5.775 100,0 25.660 3.263 100,0 72.445 4.538 Region MecklenburgVorpommern SMR* Anzahl insgesamt Quelle: Statistisches Amt Mecklenburg-Vorpommern, Pflegestatistik, * StandardizedMorbidity Ratio: standardisiert an der Rate der Pflegebedürftigen des Landes Hier fallen wiederum die hohen Pflegewerte bei Frauen je 100.000 Einwohner im Kreis Vorpommern-Rügen auf, der auch absolut betrachtet die höchste Anzahl zu Pflegender auswies. In einem Bundesland mit einer hohen Alterspopulation und dem höchsten Durchschnittsalter im Länderdurchschnitt stellt der Pflegebereich insgesamt ein wichtiges Thema dar. Vor dem 196 Hintergrund der demographischen Entwicklung ergeben sich hier zentrale Herausforderungen, weshalb ein Blick auf die stationäre Pflege und die Personalsituation nötig ist. Tab. 58: Daten aus der stationären Pflege nach Landkreisen / kreisfreien Städten in Mecklenburg-Vorpommern 2011 Städte / Landkreise PflegebedürftiPersonal je 100 Plätze in PflegePersonal je 100 ge Pflegebedürftige in heimen je 1.000 Pflegebedürftige in je 1.000 Ew. ab der ambulanten Ew. ab 65 Jahren der stat. Pflege 65 Jahren Pflege Stadt Rostock 153,3 57,2 45,0 71,8 Landeshauptstadt Schwerin 192,3 70,9 35,9 65,9 Landkreis Mecklenburgische Seenplatte 187,4 51,2 46,0 77,1 Landkreis Rostock 204,7 65,0 41,7 77,9 Landkreis Vorpommern-Rügen 217,1 53,4 38,9 67,8 Landkreis Nordwestmecklenburg 191,8 57,2 36,4 74,8 Landkreis VorpommernGreifswald 182,4 55,7 51,1 62,4 Landkreis Ludwigslust-Parchim 194,3 56,6 42,2 76,1 Quelle: Destatis, Pflegestatistik 2011 Die Zahl der Pflegebedürftigen ab 65-jährigen (Spalte 2) lag in Mecklenburg-Vorpommern flächendeckend am höchsten (mit Brandenburg und dem niedersächsischen Landkreis Cloppenburg). Die Personalsituation in der stationären Pflege war in Mecklenburg-Vorpommern, wie in allen neuen Ländern, eher unterdurchschnittlich, die Personalausstattung in der ambulanten Pflege nahm dagegen im Bundesdurchschnitt einen Mittelplatz ein. Es zeichnet sich ab, dass hier in der Zukunft Herausforderungen liegen werden, um eine bedarfsdeckende Pflege mit Fachpersonal zu organisieren. Gleichzeitig drängt sich die Frage nach der Aufbringung der Pflegekosten in einer zunehmend alternden Gesellschaft in Mecklenburg-Vorpommern besonders auf, nicht zuletzt auch vor der beschriebenen Alterseinkünftesituation. Apotheken Die derzeit 410 öffentlichen (Haupt- und Filial-)Apotheken in Mecklenburg-Vorpommern versorgen die Bevölkerung mit Arznei- und Heilmitteln. Damit kommen rd. 25,6 Apotheken auf je 100.000 Einwohner (Bundesdurchschnitt 25 je 100.000; EU-Durchschnitt 31 je 100.000 Einwohner; lt. ABDA 2015). Mecklenburg-Vorpommern verfügt damit über ein leicht überdurchschnittlich dichtes Apothekennetz, was sicher mit der dezentralen, ländlichen Struktur zu erklären ist. Apotheken bieten z. T. Botendienste an und liefern Arznei auch aus; dies wird sicher in peripheren Gegenden des Landes vermehrt nachgefragt. Hierfür entstehende Mehrkosten dürften primär mobilitätseingeschränkte, ärmere Menschen treffen, sodass künftig diesbezüglich anfallende Kosten von der GKV übernommen und gleich bei der Rezeptausfertigung attestiert werden sollten. Dies würde der grundgesetzlichen Vorgabe hinsichtlich der „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ (Art. 72 Abs.2 GG) entsprechen und kann ein kleiner Beitrag sein, um erkrankten Menschen in peripheren Gebieten das Leben zu erleichtern. 197 8 Weitere lebenslagenorientierte Aspekte: Konsum und Konsumarmut, Überschuldung, Verkehr, Wohnen In Mecklenburg-Vorpommern gibt es insgesamt 28 Tafeln mit insgesamt über 50 Ausgabestellen. Die Tafeln verstehen sich nach eigenen Aussagen als unterstützende Hilfseinrichtung, die keine Vollversorgung anbieten können und wollen. Bundesweit wird beobachtet, dass zunehmend auch Migranten, Studenten und Niedriglohnbeschäftige zu den Tafel-Kunden zählen. Oftmals bestehen in den einzelnen Tafelausgabestellen keine Wahlmöglichkeiten für die Tafel-Kunden oder es können nur fertig abgepackte Tüten abgeholt werden. Dieses Ausgabeverfahren erinnert an klassische Modelle der Armenfürsorge. Neben der Unterstützung für arme Menschen, die mithilft „über die Runden zu kommen“, und deshalb von den TafelKunden zumeist sehr geschätzt wird, stellen die Tafeln für die unterstützenden Lebensmitteldiscounter aber auch eine sehr preiswerte Entsorgungsmöglichkeit für unverkäufliche Frischwaren und überlagerte Produkte dar (vgl. Hartmann 2012). Einige Zahlen aus Tafeln im Nordosten, die auf Nachfrage ermittelt werden konnten: Die Greifswalder Tafel versorgt etwa 400 Personen wöchentlich, die von rd. 25 Ehrenamtlichen betreut werden, meist eine 1-Euro-Kraft darunter. Es werden auch Sachspenden (z. B. Geschirr) ausgegeben. Die Tafel Wismar versorgt täglich (5 Tage geöffnet) mit ca. 27 Ehrenamtliche etwa 300 Personen, davon rd. 30 % Kinder, die ihre Bezugsberechtigung über einen Berechtigungsschein nachweisen müssen. Es wird eine Warteliste geführt. Bei Deutschen besteht nach Aussagen des Tafelmitarbeiters die Sorge, dass Migranten die wenigen verfügbaren Waren abschöpfen. Täglich werden ca. 1 Tonne Lebensmittel mit zwei Transportern (davon ein Kühlfahrzeug) herangeholt. Durch die Tafel Gützkow werden rd. 90 Personen regelmäßig versorgt, die aus der Stadt und den umliegenden Gemeinden kommen. Mit verschiedenen Unternehmen im Land gibt es (örtliche) Kooperationen: z. B. Lidl, Marktkauf, Rewe, Netto, Norma, Getränkeland, Bäckerei Junge, einer örtlichen Molkerei. Insgesamt wünschen die Tafeln nach eigenem Bekunden mehr Unterstützung und Anerkennung durch die regionalen Verwaltungen und die Politik. Auch Anerkennungen in Form von z. B. ermäßigten ÖPNV-Fahrkarten etc. werden von den dortigen Mitarbeitern gewünscht. Eine weitere Einkaufsquelle, mit einem hohen Potenzial an sozialen Kontakten, stellen die Kleiderkammern, oder sog. charity Shops, dar. Das DRK ist in Mecklenburg-Vorpommern ein großer Anbieter dieser Dienstleistung. In insgesamt 659 im Land aufgestellten Sammelcontainern wurden 2013 insgesamt über 2.250 t getragene Kleidung und Schuhe gesammelt. Hiervon wurden annähernd 530.000 Stücke (85.000 Stk. Herrenbekleidung, 199.000 Stk. Damenbekleidung, 126.000 Stk. Kinderbekleidung) über die insgesamt 43 DRK-Kleiderkammern im Bundesland an rd. 105.340 „Betreuungsfälle“ abgegeben. Pro Kreisverband im Land entspricht dies rd. 6.580 „Betreuungsfällen“. Insgesamt waren in den Kammern rd. 56 hauptamtliche Personen beschäftigt (Durchschnitt 18 Wochenstunden) außerdem sind ehrenamtlich Tätige involviert (lt. DRK LV, KK-Statistik 2013; eigene Berechnungen). 198 Tab. 59: DRK-Kleiderkammer Statistik nach Landkreisen und kreisfreien Städten in Mecklenburg-Vorpommern 2013 Landkreis / kreisfr. Stadt Anzahl KK/MA Stückzahl Kl./Schuhe Betreu.fälle Hansestadt Rostock 1 (1) 93.550 17.740 Landeshauptstadt Schwerin 1 (1) 3.860 630 Mecklenburg. Seenplatte 8 (11) 111.360 19.000 Landkreis Rostock 13 (2,38) 107.000 16.550 Vorpommern-Rügen 5 (20) 29.370 10.100 Nordwestmecklenburg 4 (7) 40.300 12.420 Vorpommern-Greifswald 6 (10) 96.600 17.000 Ludwigslust-Parchim 5 (4) 47.300 11.900 Quelle: DRK LV KK-Statistik 2013; eigene Berechnungen. KK=Kleiderkammer, MA=Hauptamtl. Mitarbeiter Hier fällt, insbesondere in Relation zu den hohen Sozialleistungsquoten in der Landehauptstadt, die geringe Betreuungszahl in Schwerin auf. Dies kann an sonstigen SecondHandangeboten in der Stadt liegen. Markant ist auch die hohe Zahl der Betreuungsfälle in der Stadt und dem Landkreis Rostock. Die Stückzahlen und Höhe der Betreuungsfälle in den Kreisen Mecklenburgische Seenplatte und Vorpommern-Greifswald überraschen nicht, sie decken sich mit anderen höheren armutsbezogenen Werten dort. Auffallend ist, dass im Bereich des DRK Kreisverbandes Rügen zwar 15 hauptamtliche Kräfte in einer Kleiderkammer wirken, aber nur 560 Betreuungsfälle auf der Insel verzeichnet sind. Es kann festgestellt werden, dass für diese „atypische Einkaufsmöglichkeiten“ für arme Menschen offenbar eine deutliche Nachfrage in Mecklenburg-Vorpommern besteht. Innovativ wäre heute sicher auch ein „electronic charity Shop“, in dem arme Menschen sich sehr günstig mit elektronischen (Alt-)Geräten (Mobiltelefone, smartphones, internetfähigen Computern etc.) versorgen könnten. Dies würde einer stigmatisierenden „Technik-Exklusion“, insbesondere bei Jugendlichen oder auch Senioren, entgegen wirken und schulische Defizite ausgleichen können oder soziale Teilhabe über soziale Netzwerke ermöglichen. MecklenburgVorpommern weist eine der niedrigsten Internetnutzerquoten bundesweit aus. Überschuldung Lt. Angaben der SCHUFA gab es Ende 2013 einen Gesamtbestand an 17,7 Mio. Krediten in Deutschland (2012: 17,4 Mio.), neuaufgenommen wurden 7,7 Mio. Kredite. Die Ausfallquote beträgt insgesamt lediglich 2,5 Prozent, mithin werden 97,5 Prozent aller Kredite ordnungsgemäß beglichen. Die Ausfälle betragen aber bei jungen Kreditnehmern (18-24 jährige) bis zu 3,6 Prozent. Die durchschnittliche Höhe der neu aufgenommenen Kredite lag 2013 bei rd. 8.000 Euro. Bemerkenswert ist der Anstieg der durchschnittlichen Kredithöhen im Jahre 2013 in den höheren Altersgruppen (ab 60 Jahre), die deutlich über denen der anderen Altersgruppen lagen (SCHUFA 2014, S.27). Auch andere Studien weisen auf ein beachtliches Verschuldungsengagement bei Älteren hin (vgl. IFF 2014), diese Entwicklung sollte man im Auge behalten. Auch dürften vertiefte Untersuchungen über die Gründe hierfür wichtig sein, um zu erhellen, ob Kredite beispielsweise aufgenommen werden, um „über die Runden“ zu kommen im Alter. Bundesweit gelten über 6,6 Mio. Personen als überschuldet d. h. auf Dauer reichen ihre Einkünfte nicht aus, die eingegangenen Verbindlichkeiten zu bedienen, ohne eine einfa199 che Lebensführung zu gefährden. Überschuldung wird heute nicht mehr als ein gesellschaftliches Randproblem betrachtet, dem ein rein individuelles Versagen im Bereich rationaler Haushaltsführung zugrunde liegt (vgl. BT Drs. 18/2391). Die Anzahl überschuldeter Haushalte und die Struktur ihrer Verbindlichkeiten kann als ein weiteres Indiz für die Armut in einem Bundesland angesehen werden. Alle empirischen Erkenntnisse belegen, dass nach dem Eingehen von Verbindlichkeiten auftretende kritische Lebensereignisse zu einer prekären finanziellen Lage führen können (vgl. Destatis, Statistik zur Überschuldung privater Personen 2013). Die Deutsche Bundesbank gibt die Verschuldungsquote für Deutschland mit 47 % aller Haushalte an. An „unbesicherten Krediten“ (Konsumentenkredite, Bafög-Darlehen, Überziehungskredite etc.) wird für Ostdeutschland ein Nutzungsgrad von 37 % der Haushalte ausgewiesen und der Schuldenmedianwert mit 2.800 EUR angegeben. Wird die Verschuldung insgesamt betrachtet (inkl. Immobilienfinanzierung), so steigt dieser Medianwert auf 6.660 EUR für die neuen Bundesländer an (Mittelwert bei 35.200 EUR). Hierfür dürfte die niedrige Eigentümerquote in Ostdeutschland mit ausschlaggebend sein, da der Mittelwert in Süddeutschland fast doppelt so hoch ist (vgl. Deutsche Bundesbank 2013). Leider ist die Datenlage aufgrund des Überschuldungsstatistikgesetzes, welches eine jährliche freiwillige Datenerhebung in den über 1.000 Schuldnerberatungsstellen bundesweit regelt, nicht repräsentativ, da einige Bundesländer fehlen. Auch aus Mecklenburg-Vorpommern liegt trotz einer im Bundesvergleich noch beachtenswerten Landesförderung keine flächendeckende Beteiligung im Rahmen dieses Statistikverfahrens vor. Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge hat eine höhere Beteiligungsquote gefordert und Vorschläge hierfür veröffentlicht (Deutscher Verein 2014). Für 2013 haben sich nur rd. 26 % der Schuldnerberatungsstellen bundesweit an dem elektronischen Erhebungsverfahren beteiligt. Die LAG-SB Mecklenburg-Vorpommern gibt jährlich einen eigenen statistischen Jahresbericht zusammen mit der Liga FW heraus. Auf den Bericht 2013 wird hier Bezug genommen. Um eine Relativierung der Angaben des LAG-Berichtes zu sichern, die in den Daten aus allen 25 geförderten Schuldnerberatungsstellen des Landes einfließen, werden Daten aus Schleswig-Holstein beigezogen. Die dortigen Beratungsstellen beteiligen sich zu 100 % an der Destatis-Erhebung. Der Vergleich ist nicht immer einfach, da die statistischen Merkmale nicht kompatibel sind. Insgesamt wurden über 21.600 Beratungskontakte in Mecklenburg-Vorpommern durchgeführt, hiervon waren über 8.400 sog. Kurzberatungen. Jede der 77 Schuldnerberatungsfachkräfte hatte durchschnittlich 199 aktenkundige Fälle sowie rd. 130 Kurzberatungsfälle zu bearbeiten. 4.142 Klienten wurden 2013 neu aufgenommen und 4.577 Fälle abgeschlossen. Die Zahlen belegen die Wichtigkeit dieses Arbeitsbereiches. Die erhobene Struktur der Überschuldeten ergibt folgendes Bild: Knapp ein Drittel der Ratsuchenden war zwischen 27-65 Jahre alt und über zwei Drittel hatten eine abgeschlossene Berufsausbildung. Rentner machten nur 5 Prozent der Ratsuchenden aus. Der Anteil alleinlebender Ratsuchender beiderlei Geschlechts liegt im Nordosten höher als im Bundesdurchschnitt. Den größten Anteil mit fast 50 % stellen Überschuldete mit ALG I, II-Bezug nach den Beschäftigten mit 28 %. Vor diesem Hintergrund ist die Zuweisung von nur 110 Fällen aus den Jobcentern überraschend, da diese Behörde aufgrund von rechtlichen Regelungen im SGB an Schuldnerberatungsstellen mit Kostenübernahme verweisen kann. Es wird überwiegend armes Klientel in der Schuldnerberatung betreut. Bis zu einer Einkommenshöhe von 920 EUR 200 verfügten 41,9 % (bis 900 EUR: 50,0 % Bund; 35,6 % Schleswig-Holstein) und bis zu 1.280 EUR fast 22 % (bis 1.300: 26,2 % Bund; 22,9 % Schleswig-Holstein) der Klienten. Bei den Auslösern der Überschuldung fällt in Mecklenburg-Vorpommern der hohe Wert von Menschen mit (falschem) „Konsumverhalten“ neben der „unwirtschaftlichen Haushaltsführung“ auf: Fast 24 % fallen lt. Einschätzung der Beratungsfachkräfte auf diese Auslöser. In Schleswig-Holstein (wo im Rahmen der Bundesstatistik nur die „unwirtschaftliche Haushaltsführung“ abgefragt wird) liegt dieser Wert bei 11,5 % und in der Bundeserhebung bei 11,2 %. Die Abweichung in Mecklenburg-Vorpommern ist auf die geringe individuelle Kompetenz der beratenen Menschen oder dem subjektiven Beraterempfinden zurückzuführen (Zur Ermittlung von hauswirtschaftlichen Kompetenzen in der Schuldnerberatung: Groth 2014, S. 22ff.). Pro neu aufgenommenen Fall lag die durchschnittliche Schuldenhöhe bei rd. 24.300 EUR, was etwa 2.300 EUR je Einzelforderung ausmacht bei durchschnittlichen 10,5 Gläubigerforderungen pro Fall. Die höchsten Summen vereinen Banken/Sparkassen auf sich. Miet- und Energieschulden, die als existenzbedrohende Primärschulden bezeichnet werden, beliefen sich im Nordosten im Jahre 2013 auf knapp 2.500 EUR bei der rückständigen Miete und auf rd. 700 EUR bei den Verbindlichkeiten bei EVU. Die entsprechenden Werte fallen in SchleswigHolstein mit durchschnittlichen rd. 790 EUR bei den rückständigen Mieten und gut 350 EUR bei den EVU deutlich niedriger aus. Bei den unter 27-jährigen beliefen sich die Telekommunikationsschulden auf knapp 1.100 EUR im Nordosten. Die Beratungsstellen bestritten mit 1.828 von 1.923 gestellten Anträgen auf Durchführung des gerichtlichen Verbraucherinsolvenzverfahrens gegenüber etwa 100 von sog. geeigneten Personen (z. B. Rechtsanwälten) den Löwenanteil, was die hohe sozialpolitische Bedeutung der Schuldnerberatung unterstreicht. Bundesweit ist 2013 die Zahl der Verbraucherinsolvenzverfahren von 119.786 Verfahren auf 115.337 im Jahre 2014 zurückgegangen. Dies entspricht einem Rückgang um rd. 4 %. Gegenläufig die Entwicklung in Mecklenburg-Vorpommern: Im Jahre 2014 ist es gegenüber dem Vorjahr zu einem Anstieg um 4,7 % bei den Verbraucherinsolvenzen gekommen. Die regionale Verteilung der Verbraucherinsolvenzverfahren 2014 stellt sich wie folgt dar: Tab. 60: Verbraucherinsolvenzen nach Landkreisen und kreisfreien Städten in Mecklenburg-Vorpommern 2014 Stadt / Landkreis Anzahl Rostock 283 Schwerin 127 Mecklenburgische Seenplatte 606 LK Rostock 226 Vorpommern-Rügen 237 Nordwestmecklenburg 158 Vorpommern-Greifswald 212 Ludwigslust-Parchim 165 Quelle: StA MV, Zahlenspiegel April 2015 Hier fallen insbesondere die niedrigen Zahlen in den beiden westlichen Landkreisen auf: Diese sind begründbar mit mehrmonatigem krankheitsbedingten Ausfall von Beratungsfachkräf201 ten. Dieser Hinweis unterstreicht, was passieren würde, wenn dieses wichtige Beratungsangebot im Nordwesten ausgedünnt würde (vgl. Pressemitteilung der LAG-SB vom 23.04.2015). Gerade in einem armen Bundesland stellt die Schuldnerberatung, neben einer unabhängigen Sozialrechtsberatung, ein äußerst wichtiges und effizientes Hilfsangebot dar, dessen positiver Nutzen sich auch beziffern ließe (vgl. die in Österreich durchgeführte SORI-Analyse (Social Return on Investment-Analyse), die zutage brachte, dass sich jeder in die Schuldnerberatung investierte Euro fünffach rechnet; Horak-Böck/ More-Hollerweger 2014, S.252 ff.). Beachtlich ist auch der hohe Anteil an Verbraucherinsolvenzen im Kreis Mecklenburgische Seenplatte, der sich sicher nicht nur mit der Kreisgröße erklären lässt. Bemerkenswert ist noch, dass im Bereich der Unternehmensinsolvenzen eine ganz andere Tendenz beobachtbar ist: Hier nimmt der Nordosten im Jahr 2014 mit 55 Insolvenzen je 10.000 Unternehmen nach Baden-Württemberg und Bayern (40 bzw. 49/10.000 Unternehmen) einen positiven Spitzenplatz ein (Destatis, Insolvenzstatistik). Leider hat sich der Bund vor Jahren gänzlich aus der Überschuldungsforschung zurückgezogen und überlässt dieses Feld Gläubigerorganisationen (wie der SCHUFA, Creditreform oder Bürgel), die ihre Erkenntnisse primär aus eigenem Datenbestand ziehen. In Ermangelung anderer Quellen werden hier Ergebnisse der Creditreform Wirtschaftsforschung und der SCHUFA gezeigt, um Anhaltspunkte für Mecklenburg-Vorpommern zu gewinnen. Die sog. Schuldnerquote bildet Personen ab, die als überschuldet oder „nachhaltig zahlungsgestört“ gelten. Tab. 61: Schuldnerquoten (in %; Personen älter als 18 Jahre) nach Kreisen und kreisfreien Städten in Mecklenburg-Vorpommern und Deutschlandweit Landkreise / kreisfreie Städte 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 Deutschland 10,11 9,09 9,50 9,38 9,65 9,81 9,90 Rostock 12,70 11,47 11,55 10,89 11,34 11,46 11,34 Schwerin 13,82 11,91 12,17 12,10 12,65 13,42 13,80 Rostock (Landkreis) 12,70 11,47 11,55 10,89 11,34 11,46 11,34 Mecklenburgische Seenplatte 10,34 9,48 9,93 9,80 10,27 10,50 10,73 Vorpommern-Rügen 10,41 9,48 9,79 9,58 10,30 10,72 11,02 Vorpommern-Greifswald 9,79 8,98 9,32 9,00 9,59 9,78 9,96 Nordwestmecklenburg 11,14 9,36 9,85 9,62 9,94 10,20 10,33 Ludwigslust-Parchim 10,31 8,86 9,12 9,12 9,28 9,59 9,86 Quelle: Creditreform Wirtschaftsforschung, Schuldner Atlas Deutschland 2014 Die Daten der Creditreform deuten darauf hin, dass in fast allen Regionen Mecklenburg-Vorpommerns die Schuldnerquote über dem Bundesdurchschnitt liegt. Diese sagt nichts aus über die Höhe der Verbindlichkeiten, wohl aber darüber, dass kreditierter Konsum im Nordosten, naheliegenderweise infolge fehlender liquider Mittel, häufiger als im Bundesdurchschnitt benötigt wird, um Anschaffungen oder Dienstleistungen zu finanzieren. Schwerin weist mit fast 14 % den höchsten Wert aus, die Kreise Vorpommern-Greifswald und Ludwigslust-Parchim liegen eher im Bundesdurchschnitt (bezogen auf 2014). 202 Die SCHUFA hat einen differenziert berechneten „Privatverschuldungsindex“ (PVI) auf Grundlage von 682 Mio. Informationen zu über 66,3 Mio. gespeicherten erwachsenen Personen entwickelt. „Zur Erstellung des PVI wird eine Kombination aus negativen kreditrelevanten Informationen für die Wohnbevölkerung individuell betrachtet und gewichtet. Daraus ergibt sich ein Gesamtwert. Zur Berechnung des PVI dienen die sogenannten weichen und harten Negativmerkmale“ (SCHUFA 2014, S.22). Der PVI wird in vier Kategorien unterteilt. Bezogen auf die einzelnen Bundesländer ergibt sich für 2013 folgendes Bild: Tab. 62: Übersicht des Privatverschuldungsindex der SCHUFA 2013 Quelle und Grafik: SCHUFA 2014, Rangliste des PVI nach Bundesländern 2013 Tab. 63: Privatverschuldungsindex nach Kreisen, Mecklenburg-Vorpommern Ranking PVIWert Veränderung 2012/2013 (%) Ranking 2012 LK Ludwigslist-Parchim 261 1.092 -0,18 258 LK Vorpommern-Greifswald 274 1.107 -2,04 274 ↑ LK Rostock 310 1.185 -1,41 312 ↑ LK Nordwestmecklenburg 310 1.185 0,17 299 LK Vorpommern-Rügen 313 1.187 -2,46 291 LK Mecklenburgische Seenplatte 346 1.283 -0,93 342 Stadt Rostock 358 1.316 -3,31 363 ↑ Stadt Schwerin 390 1.529 2,21 381 ↓ Region Deutschland (gesamt) Trend ↑ 1.083 Quelle: SCHUFA 2014, Rangliste des PVI nach Kreisen 2013; eigene Darstellung 203 Mecklenburg-Vorpommern ist eines von zwei Flächenländern, die mit dem negativsten landesbezogenen PVI ausgewiesen werden. Die signifikant auftretenden Armutsmerkmale lassen so eine enge Korrelation zwischen Armut und PVI vermuten. Die PVI-Werte werden alljährlich auch in einem Landkreis-Ranking veröffentlich, der für 2013 insgesamt 402 Positionen enthält. Schwerin gehört als eine von 6 Städten aus den neuen Ländern zu den letzten 30 Städten im Ranking (dort tauchen keine Landkreise auf) die den negativsten PVI ausweisen. Die Grundaussagen des SCHUFA PVI-Ranking decken sich mit den Werten der Creditreform-Daten. Wie hoch kann nun die Zahl der überschuldeten Haushalte im Nordosten angegeben werden? Deutschlandweit ergibt sich für 2014 zunächst folgendes Bild: Einwohner: 80,74 Mio., davon ab 18 Jahren: 67,43 Mio.; überschuldete Personen: 6,67 Mio. Dies entspricht rd. 3,36 Mio. Haushalten. Überträgt man diese Bundeswerte auf das Land Mecklenburg-Vorpommern, so muss man von mindestens 150.000 überschuldeten Personen ausgehen. Man kann die Zahl der überschuldeten Haushalte in Mecklenburg-Vorpommern auf mindestens 72.000 schätzen (rd. 8,5 % aller Haushalte; genauere Werte sind schwerlich zu generieren, seit sich der Bund, wie bereits erwähnt, aus der Überschuldungsforschung zurückgezogen hat; vgl. auch Creditreform 2014). Mit einem Anteil von gut 8.600 aktenkundigen Fälle (= entsprechenden Schuldnerhaushalten) betrug die Betreuungsquote der durch die Schuldnerberatungsstellen im Land beratenen Haushalte 2013 rd. 12 %. Dies ist im Bundesvergleich ein ansehnlicher Wert. Dabei darf allerdings nicht die periphere Lage, die dünne Besiedlung und das überdurchschnittliche Armutspotenzial im Land außer Acht gelassen werden. Das hohe Interesse der Haushalte an ihrer Finanzsituation wird auch an der Zahl der kostenfreien SCHUFA Selbstauskünfte deutlich: Diese betrugen im Jahre 2013 insgesamt über 688.300 Anfragen (vgl. BT Drs. 18/2391). Linear umgerechnet auf Mecklenburg-Vorpommern kommt man hier auf rd. 13.700 Anfragen nach diesen Selbstauskünften, wobei Mehrfachanfragen einer Person möglich sind. Eine finanzielle Rehabilitation stellt oftmals eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Arbeitsintegration dar. Hierfür können auch, wie an vielen anderen Stellen im Bundesgebiet zu finden, präventiv ausgerichtete Maßnahmen der finanziellen Allgemeinbildung wichtig sein, über die der Jahresbericht der LAG-SB nichts aussagt. Pkw-Dichte Die Ausstattung mit Pkw im Jahre 2013 stellt sich im dünnbesiedelten Mecklenburg-Vorpommern wie folgt dar: Insgesamt waren am 01. Januar 2013 820.717 Personenkraftwagen angemeldet (ein Jahr später waren es 821.255). Abbildung 65 verdeutlicht, dass die PkwAusstattungsquote in Mecklenburg-Vorpommern gegenüber dem Bundesdurchschnitt unterdurchschnittlich ist. Dies kann mit der finanziellen Ausstattung der Haushalte zusammenhängen. Die „Abwrackprämie“ hat 2009 keine erkennbare Wirkung im Nordosten gezeigt. 204 Abb. 38: Bestand an PKW pro 1.000 Einwohner, Vergleich Deutschland – Mecklenburg-Vorpommern 560 540 520 500 480 460 440 420 473 2008 517 509 503 500 477 2009 2010 Bundesgebiet 2011 513 502 499 494 487 545 531 525 2012 2013 2014 Mecklenburg-Vorpommern Quelle: KBA Tab. 64: Verteilung PKW-Bestand auf die einzelnen Landkreise MecklenburgVorpommerns 2012 PKW Bestand gesamt Region 2013 Dichte auf 1.000 Einwohner PKW Bestand gesamt 2014 Dichte auf 1.000 Einwohner PKW Bestand gesamt Dichte auf 1.000 Einwohner Rostock, Stadt 78.702 388 79.705 390 79.991 394 Schwerin, Stadt 41.036 431 41.411 435 41.705 457 Mecklenburgische Seenplatte 140.634 515 140.238 518 139.861 529 Rostock Landkreis 116.788 540 117.189 545 117.406 557 Vorpommern-Rügen 115.888 502 115.865 505 115.938 518 83.460 520 83.816 526 84.163 540 Vorpommern-Greifswald 121.134 493 120.719 494 120.374 503 Ludwigslust-Parchim 121.933 558 121.774 562 121.817 574 Mecklenburg-Vorpommern 819.576 499 820.717 502 821.255 513 42.927.647 525 43.431.124 531 43.851.230 545 Nordwestmecklenburg Bundesgebiet Quelle: KBA; Dichte von PKW auf 1.000 Einwohner in den Regionen Die beiden Städte weisen den niedrigsten Pkw-Bestand auf, mit Abstand sticht hier Rostock als größte Stadt des Landes typischerweise hervor. Dies entspricht dem bundesweiten Trend, dass die Kfz-Dichte in Großstädten, aufgrund der durchweg besseren ÖPNV-Infrastruktur, am niedrigsten ist. Unterdurchschnittlich ist die Pkw-Dichte im Landesvergleich ansonsten nur im Kreis Vorpommern-Greifswald, was ursächlich auch mit der materiellen Ausstattung der Haushalte dort zusammenhängen kann. Die höchste Pkw-Dichte findet sich im Kreis Ludwigslust-Parchim, was mit einer hohen Pendlerzahl nach Schwerin und in die Metropolregion Hamburg zusammenhängen dürfte. In Tabelle 67 wird die Verteilung der sog. „Kleinwagen“ (bis 1.399 ccm), die i. d. R. in Anschaffung und Unterhalt preiswerter sind als Fahrzeuge der Mittel- und Oberklasse, auf Landkreisebene dargestellt. Hier fällt zunächst der im Nordosten durchgängig höhere Anteil von 205 diesen Fahrzeugen gegenüber dem Bundesdurchschnitt auf. Die Differenz zum Bundesdurchschnitt verringert sich zwar von fast 3 % in 2012 auf gut 2 % im Jahre 2014. Dies kann auch auf ein preisbewussteres Verhalten insgesamt in Deutschland hinweisen. Deutlich wird allerdings auch, dass in Mecklenburg-Vorpommern prozentual mehr Kleinwagen unterwegs sind, als im übrigen Bundesgebiet, was auch mit den zur Verfügung stehenden Mitteln für die KfzNutzung zusammenhängen kann. Bei genauer Betrachtung fällt zudem auf, dass im größten Landkreis Mecklenburgische Seenplatte und in den Kreisen Vorpommern-Rügen und Ludwigslust-Parchim die Kleinwagenquote nahezu konstant bleibt. Unter dem Landesdurchschnitt liegen 2014 die Quoten im Landkreis Rostock („Speckgürtel“: Hier dürfte nicht die Finanzausstattung dafür maßgeblich sein) und in Rostock und Schwerin (im Bundestrend liegend, dass in Großstädten immer weniger Pkw als in Kreisen angemeldet sind aufgrund einer besseren ÖPNV-Infrastruktur) sowie in den Kreisen Mecklenburgische Seenplatte, Vorpommern-Greifswald und Ludwigslust-Parchim. Tab. 65: Kleinwagenquote nach Kreisen Region 2012 PKW Bestand gesamt 2013 Bis 1.399 ccm % PKW Bestand gesamt Bis 1.399 ccm 2014 % PKW Bestand gesamt Bis 1.399 ccm % Rostock, Stadt 78.702 26.888 34,2 79.705 27.535 34,6 79.991 28.186 35,2 Schwerin, Stadt 41.036 13.821 33,7 41.411 14.203 34,3 41.705 14.523 34,8 LK Mecklenburgische Seenplatte 140.634 48.166 34,3 140.238 48.189 34,2 139.861 48.332 34,6 LK Rostock 116.788 39.593 33,9 117.189 40.018 34,2 117.406 40.401 34,4 LK Vorpommern-Rügen 115.888 42.327 36,5 115.865 42.514 36,7 115.938 42.709 36,8 LK Nordwestmecklenburg 83.460 30.865 37,0 83.816 31.139 37,2 84.163 31.556 37,5 LK VorpommernGreifswald 121.134 42.331 34,9 120.719 42.280 35,0 120.374 42.600 35,3 LK Ludwigslust-Parchim 121.933 42.480 34,8 121.774 42.375 34,8 121.817 42.550 34,9 MecklenburgVorpommern 819.576 286.471 35,0 820.717 288.253 35,1 821.255 290.857 35,4 42.927.647 13.841.010 32,2 43.431.124 14.205.753 32,7 43.851.230 14.569.919 33,3 Bundesgebiet Quelle: KBA; Anteil von PKW bis 1.399 ccm am PKW-Gesamtbestand in den Regionen Die Fahrleistung mit rd. 12.740 KM je Pkw im Jahre 2013 ist in Mecklenburg-Vorpommern mit am höchsten. Dies deutet einerseits auf große Entfernungen zwischen den Zentren sowie einer hohen Anzahl von Pendlern und andererseits auf eine geringe Inanspruchnahme des ÖPNV bzw. nicht bedarfsgerecht vorhandenen ÖPNV hin. 206 Abb. 39: Durchschnittliche jährliche Fahrleistung der Personenkraftwagen in Deutschland nach Bundesländern (Stand: Mai 2013); in Kilometer 14000 12.739 12.725 12.253 12.183 12.169 12.110 12.052 11.919 Fahrleistung in Kilometer 12000 11.777 11.777 11.671 11.547 11.365 11.159 10.862 10.107 10000 8000 6000 4000 2000 0 Quelle: Toptarif, Grafik: Statista Das ÖPNV-Netz, bestehend aus Schienen-, (Überland-) Bus- und innerorts auch Straßenbahnverbindungen, ist partiell engmaschig. Mecklenburg-Vorpommern weist bundesweit allerdings die geringste Nutzungsdichte bei Bussen/Straßenbahnen im ÖPNV aus (Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Tab. Beförderte Personen im Linienverkehr). Oftmals können mobilitätseingeschränkte und auch aus finanziellen Gründen auf den ÖPNV angewiesene Menschen die niedrig frequentierten ÖPNV-Angebote, vor allem außerhalb der Städte, nicht oder nur sehr bedingt mit ihren Bedürfnisse bzw. notwendigen Terminen (z. B. Arztbesuche) vereinbaren (Tab. 68). Tab. 66: Beispielstrecken ÖPNV Verbindungsbeispiele Mecklenburg-Vorpommern Anlass Verk.mittel Verbindung Abfahrt Umsteigen Ankunft Plau am See Schwerin Theaterbesuch: 18.00 bis 20.00Uhr Bus/Bahn Hinweg 15:05Uhr 4 18:00Uhr Bus/Bahn Rückweg 05:52 Uhr Folgetag 4 09:18Uhr Dargun - Wolgast Facharztbesuch: Termin 9.15Uhr Bahn Hinweg 16:23Uhr Vortag 2 20:26Uhr Vortag Wredenhagen – Rechlin, Altenheim Kaffeebesuch im Altenheim Gevezin (Blankenhof) - Penzlin Besuch einer Diskothek Rückweg Keine Verbindung Bus Hinweg 13:23Uhr 1 14:08Uhr Bus Rückweg Spät. 16:01 Uhr, sonst Folgetag 0 16:51Uhr -- Hinweg Keine Verbindung -- Rückweg Keine Verbindung Quelle: Eigene Erhebung 207 Die Übersicht belegt den mobilitätswichtigen Besitz eines Pkw. Allein auf den ÖPNV angewiesene Menschen leiden im Land unter einem erheblichen Mobilitätsproblem. Hiervon sind arme Haushalte existenziell betroffen. Bei zunehmend steigendem Durchschnittsalter werden Mobilitätsprobleme (ärmerer) älterer Menschen, die nicht mehr Auto fahren können oder wollen, zunehmend virulent (vgl. auch Bruns-Philipps/Zühlke 2015, S. 23 f). Wohnen, Wohnkosten und Wohnungsleerstand In Mecklenburg-Vorpommern gab es 2011 insgesamt 889.790 Wohnungen. Hiervon waren 308.341 Eigentumswohnungen (34,7 %), 504.152 sind Mietwohnungen (56,7 %) und 22.672 stehen als Ferienwohnung zur Verfügung. Für 2013 wird ein Wohnungsbestand von 886.286 angegeben (StA MV). Tab. 67: Wohneigentumsquote im Vergleich der neuen Länder (in %) Ostdeutsche Länder 2003 2008 2013 Brandenburg 35,7 41,4 37,5 MecklenburgVorpommern 28,5 34,4 35,1 Sachsen 31,0 32,1 31,9 Sachsen-Anhalt 36,0 38,2 37,7 Thüringen 41,0 43,0 44,2 Quelle: Destatis 2013, Fachserie 15 Sonderheft 1 auf Grundlage EVS Damit weist der Nordosten mit 6,6 % (schwarze Zahlen) die höchste Steigerungsrate unter den neuen Ländern bei der Wohneigentumsquote aus. Allerdings ist MecklenburgVorpommern auch vom geringsten Niveau aus auf „Aufholjagd“ gegangen. Dies kann neben einem Nachholbedarf auch auf günstige Erstellungskosten und insbesondere preiswertes Bauland hindeuten (2013 betrug der Durchschnittspreis für baureifes Land in MecklenburgVorpommern 48,25 EUR/qm, dies ist vor Sachsen-Anhalt und Thüringen der drittniedrigste Wert; Bundesdurchschnitt: 134,34 EUR/qm; Destatis, Fachserie 17). Die bundesweit höchste Neubauquote wies die Stadt Neubrandenburg aus. Lt. SOEP betrug 2012 die Differenz des durchschnittlichen Haushaltseinkommens zwischen Wohneigentümern und Mietern in Ostdeutschland 820 EUR (2.495 EUR zu 1.675 EUR bei Mietern). Damit wird der westdeutsche Differenzwert nur um 24 EUR unterschritten (Westdeutschland: 2.965 EUR zu 2.121 EUR bei Mietern). Der Leerstand bei Mietwohnungen (auch vermietete Häuser) betrug 54.622 (Stat. Ämter des Bundes und der Länder 2013, Mikrozensus 2011). Die Leerstandsquote lag mit 6,15 % über dem Bundesdurchschnitt von 4,83%. Für 2011 wurde von Destatis für Geschosswohnungen eine Leerstandsquote von 8 % angegeben. Lt. CBRE-empirica-Leerstandsindex fand man 2011 die höchste Leerstandsquote für diese Wohnart in Schwerin mit 9,9 % (CBRE 2013). Die sog. „marktaktive Leerstandsquote“ (d. h. leer stehende Wohnungen die sofort disponibel, oder deren kleine Mängel in weniger als 6 Monaten zu beseitigen sind; dagegen ist die sog. „totale Leerstandsquote“ höher, da hier auch Objekte mit hohem Renovierungsaufwand über 6 Monaten gezählt werden) betrug dagegen 2011 in Mecklenburg-Vorpommern 5,1 % (dies 208 entspricht 27.000 Geschosswohnungen). Diese Quote sank 2012 auf 4,9 % und 25.700 Objekte (ebd.). Ältere Menschen in Mecklenburg-Vorpommern weisen im Vergleich zum Bundesdurchschnitt deutliche „Beharrungstendenzen“ in Hinblick auf die derzeitige Wohnsituation auf: Über 41 % von ihnen wohnt seit über 30 Jahren in derselben Wohnung, nur knapp 15 % zogen in der letzten Dekade um (KDA 2013, S. 8). Dies kann auf einen enormen Modernisierungsstau und z. T. nötige altersgerechte Umbauten hindeuten. Aufgrund der besonderen demographischen Entwicklung im Land stellt dies eine Herausforderung dar. Die Wohnkosten (bruttowarm) in den neuen Ländern wurden 2012 für gemieteten Wohnraum lt. SOEP mit 463 EUR/mtl. angegeben. Dies entspricht einem Wert von 7,42 EUR/qm. Destatis wies eine Mietpreissteigerung von 4,99 im Jahre 2007 auf 5,44 EUR/qm im Jahr 2013 aus. Destatis gab die durchschnittliche Bruttokaltmiete für 2010 in Mecklenburg-Vorpommern mit 5,80 EUR/qm (Gesamtdeutschland: 6,37 EUR/qm) auf Basis Mikrozensus an. Damit führt der Nordosten die Kaltmiete im Vergleich mit allen neuen Ländern an, was sicher auch auf eine deutliche Spreizung der Mieten z. B. zwischen küstennahen Bestlagen und peripheren Regionen zurück zu führen ist. Neben den Mietpreisen spielt auch die sog. „zweite Miete“ eine zentrale Rolle bei der Ermittlung des Gesamtwohnaufwandes. Hier fällt auf, dass in Mecklenburg-Vorpommern die Trinkund Abwassergebühren überdurchschnittlich hoch sind (allerdings weist der Nordosten hier die niedrigsten Werte aller neuen Länder aus): Für Mecklenburg-Vorpommern wurden sie für das Jahr 2010 mit 516,09 EUR/Haushalt ausgewiesen (Bundesdurchschnitt: 440,99 EUR/ Haushalt; lt. Destatis). Die Strompreise in Deutschland sind mit durchschnittlich 29,81 Cent/KWh nach Dänemark (30,42 Cent/KWh) die höchsten im Vergleich mit allen EULändern. Die deutschen Erdgaspreise liegen mit durchschnittlich 6,78 cent/ KWh im europäischen Vergleich im oberen Bereich (Eurostat, Energiestatistik). Die Energiekostenbelastung für Privathaushalte (s. auch unten) ist, insbesondere für einkommensarme Haushalte, enorm gestiegen (darüber können auch keine Strompreissenkungen in Mecklenburg-Vorpommern zu Beginn des Jahres 2015, z. B. bei den Stadtwerken Neubrandenburg, hinwegtäuschen). Die Müllabfuhrpreise lagen im Jahre 2008 in Mecklenburg-Vorpommern deutlich unter dem Bundesdurchschnitt. Aktuellere Werte waren nicht zu ermitteln. Lt. SOEP beurteilen 24,8 % der Mieter die Wohnkostenbelastung in Ostdeutschland als zu hoch (in Westdeutschland liegt dieser Wert bei 19,2 %). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass man in Mecklenburg-Vorpommern, bei Betrachtung des Durchschnitts, nicht so günstig warm wohnen kann, wie es die Einkommenssituationim Land vermuten lässt. Allerdings ist von einer enormen Spreizung bei den Mieten auszugehen, weniger allerdings bei den Nebenkosten. Zunehmend wird in der sozialpolitischen Diskussion von „Energiearmut“ gesprochen. Die EU-Kommission hat Energiearmut im Rahmen der Richtlinie RL 2009/72/EG behandelt und fordert die EU-Mitgliedsstaaten auf, der Energiearmut, insbesondere für „schutzbedürftige Kunden“, zu begegnen. Woran kann dies z. B. festgemacht werden? Die EU-Mitgliedsländer sind gehalten, diese schutzbedürftigen Kunden zu definieren; dies ist in Deutschland noch 209 nicht geschehen (vgl. Hubert 2015, S. 4). Problematisch ist insbesondere der Preisanstieg für Strom (aber auch Gas) für Haushaltskunden in der sog. Grundversorgung (i. d. R. über den örtlichen Hauptanbieter, z. B. Stadtwerke). Selbst durch einen Anbieter- oder Tarifwechsel lassen sich die Preissteigerungen nicht kompensieren. Die Kosten pro KWh sind bundesweit betrachtet von 18,9 Cent im Jahre 2006 auf 30,5 Cent im Jahre 2013 für Grundversorgungsvertragskunden angestiegen (Bundesnetzagentur, o J., S. 162). Der Preisanstieg hat sich zuletzt abgeflacht betrug aber von 2006 – 2014 für Grundversorgungskunden, welche die größte Gruppe von Kunden ausmachen, 61,4 % bzw. 47,2 % für Kunden mit Sonderverträgen beim Grundversorger. Im selben Zeitraum sind Löhne, Renten und Sozialleistungen in weitaus geringerem Maße gestiegen, so dass gerade für einkommensarme Haushalte die Begleichung von Energierechnungen immer problematischer werden kann. Als ein wesentlicher Indikator hierfür kann die Anzahl der angedrohten und tatsächlich durchgeführten Unterbrechungen bei Grundversorgungskunden bei Elektrizität und Gas, die i. d. R. infolge Zahlungsverzugs erfolgen, gelten. Die Bundesnetzagentur erfasst diese Unterbrechungen seit dem Jahr 2011 regelmäßig. Danach ergibt sich folgendes Bild für die Elektrizitätsversorgung: Abb. 40: Androhung, Beauftragung und Unterbrechung in der Grundversorgung (Elektrizität) Quelle: Monitoringbericht 2014, Bundesnetzagentur, S. 150 Die Zahl der Unterbrechungsandrohungen ist deutlich gestiegen, dies ist auf Zahlungsrückstände zurückzuführen. Die tatsächlichen Unterbrechungen sind aber nur moderat gestiegen. Auffällig ist, dass die durchschnittlichen Zahlungsrückstände nicht hoch sind: Im Jahr 2013 lagen sie bei rd. 169 EUR bei säumigen Stromkunden (Bundesnetzagentur, o. J., S.151). Durchschnittlich werden Kosten i.H.v. 31 EUR von den EVU für die Elektrizitätsanlagensperrung berechnet, im Einzelfall betragen diese auch bis 155 EUR (vgl. Hubert 2015, S. 27). Die Situation für Gaskunden zeigt Abbildung 39. 210 Abb. 41: Androhung, Beauftragung und Unterbrechung in der Grundversorgung (Gas) Quelle: Monitoringbericht 2914, Bundesnetzagentur, S. 262 Es sind deutlich weniger Haushalte hiervon betroffen. Auffällig ist hier, dass die Unterbrechungsandrohungen rückläufig sind, die tatsächlichen Unterbrechungen allerdings von 2011 bis 2013 um 36,6 % zugenommen haben. Auch hier sind die durchschnittlichen Zahlungsrückstände nicht hoch: Im Jahr 2013 lagen sie bei rd. 115 EUR (Bundesnetzagentur o. J., S. 262). Leider weist der Monitoringbericht keine länderbezogenen Daten aus. Es scheint dringend geboten, die Problematik der „Energiearmut“ auch in MecklenburgVorpommern gezielt zu fokussieren. Es gibt bereits Projekte (z. B. in NRW), die sich für eine bessere Energienutzung einsetzen als auch Forderungen, den Anteil für Elektrizität in den Regelsätzen zu erhöhen (vgl. Hubert 2015). Seniorengenossenschaften Aufgrund der immer stärker von Älteren geprägten Bewohnerstruktur in Mecklenburg-Vorpommern gilt es, sich mit speziellen Konzepten altersgerechten Wohnens und Lebens sowie haushaltsnahen Unterstützungsdienstleistungen zu beschäftigen. Die Enquete-Kommission des Landtages „Älter werden in Mecklenburg-Vorpommern“ hat sich dieses Themas bereits verdienstvollerweise angenommen. Weitere Anregungen bietet die Sammlung „Regionale Aspekte der demographischen Alterung“ des DZA (2010). Insbesondere sei in diesem Zusammenhang auf das Modell der Seniorengenossenschaften verwiesen, welches schon in verschiedenen Bundesländern erfolgreich praktiziert wird (z. B. Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hessen, NRW, Sachsen). Durch die Änderung des Genossenschaftsgesetzes 2006 ist die Gründung dieser Genossenschaften mit der entsprechenden sozialen Zweckbestimmung noch einfacher geworden. In den 1990er Jahren wurde diese Idee von Lothar Späth aus den USA nach Deutschland eingeführt und die erste derartige Einrichtung wurde im badenwürttembergischen Riedlingen gegründet. Das Konzept beruht auf der Idee des „generalisierten Austauschs“, dass der französische Soziologe Claude Lévi-Strauss 1949 beschrieb als einen Austausch, bei dem erbrachte Leistungen „Gaben-Charakter“ besitzen, weil sie erst mit einem zeitlichen Abstand und vielleicht auch von einer anderen Person vergolten werden. 211 Konkret wirken die Seniorengenossenschaften heute auf Basis eines solidarischen, bürgerschaftlichen Engagements. So wird etwa (barrierefreies) betreutes Wohnen, Haushaltshilfen, Essen auf Rädern, Fahrdienste, Beratung, Kontakttelefone und Besuchsdienste etc. angeboten. Nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit engagieren sich die Genossenschaftsmitglieder in einem Unterstützungsnetzwerk und lassen sich die Zeit gutschreiben. Diese können sie zu einem späteren Zeitpunkt, wenn sie selbst einmal Hilfe benötigen, in Form von Diensten in Anspruch nehmen. Es kann aber auch ein entsprechendes Entgelt ausgezahlt werden. Dem Prinzip der Selbsthilfe entsprechend werden Seniorengenossenschaften selbstständig verwaltet und finanziert. Gerade aufgrund der peripheren Struktur in Mecklenburg-Vorpommern und aufgrund der zu erwartenden Altersarmut erscheint es überaus angebracht sich hier im Lande mit diesem solidarischen Modell näher zu beschäftigen und mit einer Anschubförderung des Landes und Unterstützung der freien Wohlfahrtspflege ein Pilotprojekt mit wissenschaftlicher Begleitung zu initiieren (vgl. auch http://seniorengenossenschaft.info, eine Website der TH Nürnberg Georg Simon Ohm, die bereits die Wirkweise solcher Seniorengenossenschaften untersucht). 212 9 Zusammenfassung In Mecklenburg-Vorpommern lässt sich eine ausgeprägte Armutstopografie ausmachen, die durch zahlreiche Indizien und Indikatoren darstellbar ist. Sehr häufig nimmt der Nordosten einen hinteren Spitzenplatz im Vergleich mit den anderen Bundesländern ein. Einige Merkmale: • Mecklenburg-Vorpommern wies 2013 nach Bremen die höchste Armutsgefährdungsquote mit 23,6 Prozent aus; für Arbeitslose betrug sie sogar 73 Prozent und für Alleinerziehende 55,5 Prozent. Frauen waren dabei noch armutsgefährdeter als Männer. • Im Nordosten ist die Mindestsicherungsquote mit 13,7 Prozent und an viertletzter Stelle im Bundesvergleich gegenüber 2012 unverändert hoch. • Trotz fallender SGB II-Quoten bezogen im Januar 2014 noch deutlich über 44.000 Beschäftigte als Aufstocker SBG II-Leistungen. • Seit 2008 erhalten mehr Männer als Frauen in Mecklenburg-Vorpommern Grundsicherungsleistungen. Dies wird insbesondere durch den Anstieg bei den unter 65Jährigen bewirkt. Etwa 21.000 Menschen erhielten Ende 2013 Grundsicherungsleistungen. • In keinem anderen Bundesland erhalten prozentual betrachtet so viele Menschen Wohngeld wie im Nordosten: 4,4 Prozent gegenüber 1,9 Prozent im Bundesdurchschnitt. Die meisten Wohngeldempfänger stellen Senioren. • Schätzungsweise leben in Mecklenburg-Vorpommern zwischen gut 30.000 bis gut 50.000 Menschen in verdeckter Armut, wenn man entsprechende Simulationsberechnungen für die Bundesebene auf das Land überträgt. • Die Quote der Geburten von ledigen Müttern liegt bei 65 Prozent im Land und eine überdurchschnittlich hohe Sozialgeldbezugsquote bei bis Dreijährigen in den östlichen Landesteilen und Schwerin ist auffällig. • Es gibt im Bereich HzE überdurchschnittlich hohe Aufwendungen im Land. Der Anteil von Schulabgängern ohne Schulabschluss ist signifikant hoch im Nordosten. • Die Arbeitslosigkeit halbierte sich innerhalb der letzten zehn Jahre annähernd, und auch die Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmer nahm zu. Gleichwohl rangiert der Nordosten mit den verbliebenen Arbeitslosen im Bundesvergleich auf hohem Niveau. Insbesondere die Quote für ungelernte Helferberufe ist signifikant hoch. • In Mecklenburg-Vorpommern kann eine Zunahme von atypischen Beschäftigungsverhältnissen beobachtet werden, wenngleich sich das Niveau dieser Beschäftigungen unter dem der alten Bundesländer bewegt. • Die Ausbildungssituation in Mecklenburg-Vorpommern ist prekär und der Anteil abgebrochener Ausbildungen bundesweit am höchsten. • Im Nordosten werden die geringsten Einkünfte im gesamten Bundesgebiet erzielt. Das erzielte Jahresdurchschnittseinkommen betrug hier 2014 nur 24.914 Euro (gegenüber mehr als 38.000 € in Hamburg). 213 • Der Zweidrittel-Anteil von Sozialleistungen am gesamten Haushaltseinkommen lag 2011 um 9 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. • Das verfügbare Einkommen je Einwohner in Mecklenburg-Vorpommern lag 2011 bei gut 83 Prozent des Bundesdurchschnitts und zuletzt wieder zwei Punkte niedriger als 2009, wo es bei über 85 Prozent lag. • Bei der Vermögensbildung schneidet der Nordosten am schlechtesten ab: Hier findet sich die niedrigste Sparquote und alle weiteren ostdeutschen Parameter deuten ebenfalls einen deutlich geringeren Vermögensbestand, einschließlich der Eigentumsquote, an. • Dies hat Auswirkungen auf das Vorsorgeverhalten im Rahmen der PAV, die für einen hohen Anteil der Nordost-Bevölkerung nicht realisierbar ist. • Die Zugangsrenten der Neurentner fallen gegenüber denen der Bestandsrentner, die z. B. zeitnah nach der Wende berentet wurden, niedriger aus. Dieser Trend wird sich deutlich fortsetzen. Unser Rentensystem, welches primär auf die Einkommenshöhe und die Dauer der Beitragszahlungen abstellt, bewirkt niedrigere Renten für gering verdienende Menschen mit Erwerbsunterbrechungen, wie sie gehäuft in MecklenburgVorpommern zu finden sind. Daher kann eine zunehmende Altersarmut für den Nordosten prognostiziert werden. • Es gibt vom Bundesdurchschnitt signifikant abweichende Gesundheitsmerkmale bei der Bevölkerung, auch schon bei Kindern, im Nordosten zu beobachten, die, aufgrund ungesunder armutsbedingter Ernährungsweise, auch mit der monetären Ausstattung der Haushalte in Verbindung stehen dürften. • Aufgrund des ländlich-peripher geprägten Landes Mecklenburg-Vorpommern gibt es deutliche Mobilitätsprobleme. Die Ausstattungsquote mit Kleinwagen (bis 1.400 ccm) ist überdurchschnittlich, was darauf hindeuten kann, dass auch innerhalb der armen Landbevölkerung versucht wird, so lange wie möglich durch die Nutzung eines eigenen Pkw die Mobilität mit hohen Kilometer-Fahrleistungen sicherzustellen. • Ein hoher Anteil der Bevölkerung ist offenbar auf kreditierten Konsum, z. B. Ratenkäufe, angewiesen, worauf die hohen Fallzahlen der Schuldnerberatungsstellen und die Klassifizierungen von Gläubigerschutzeinrichtungen schließen lassen. Diese zusammenfassende Aufzählung von einigen in diesem Abschnitt dargestellten Indizien mag genügen, um auf eine unübersehbar große Armutspopulation in Mecklenburg-Vorpommern hinzuweisen. Auch Maßnahmen zum Gegenwirken wurden verschiedentlich angedeutet, z. B. eine unabhängige Sozialrechtsberatung, Schaffung einfacher, aber für das Land wichtiger Arbeitsangebote oder auch die Einrichtung von Seniorengenossenschaften, insbesondere für den ländlichen Raum. Armut ist auch ein Inklusionsthema. Die Inklusionsdebatte nimmt in Mecklenburg-Vorpommern Fahrt auf. Arme Menschen sind in vielfältiger Weise exkludiert, wie hier aufgezeigt wurde. Der Berücksichtigung von Interessen und Bedürfnissen armer Menschen wird u. E. noch zu wenig Beachtung geschenkt im Kontext der Inklusionsdiskurse. Dem sollte dringend abgeholfen werden. 214 Literatur akj stat (Hrsg.) (2012): Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJ Stat), Dortmund. Arbeitnehmerkammer Bremen (Hrsg.) (2014): Werkverträge als neue Form der prekären Beschäftigung, Ausgabedatum: 07.01.2014, Bremen. ASID (2012): Alterssicherung in Deutschland 2011, Forschungsbericht 431/Z vom BMAS/TNS Infratest Sozialforschung, München. Bäcker, G. (2012): Erwerbsminderungsrenten im freien Fall, Zahlen und Fakten zu einem drängendem sozialpolitischen Problem, in: Soziale Sicherheit 11/2012, S. 365 – 373. Badura, B.; Schellschmidt, H.; Vetter, C. (2006): Fehlzeiten-Report 2006, Berlin/Heidelberg. Barmer GEK (Hrsg.) 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Personen älter als 18 Jahre) nach Kreisen und kreisfreien Städten in Mecklenburg-Vorpommern und Deutschlandweit Tabelle 62: Übersicht des Privatverschuldungsindex der SCHUFA 2013 Tabelle 63: Privatverschuldungsindex nach Kreisen, Mecklenburg-Vorpommern Tabelle 64: Verteilung PKW-Bestand auf die einzelnen Landkreise Mecklenburg-Vorpommerns Tabelle 65: Kleinwagenquote nach Kreisen Tabelle 66: ÖPNV Verbindungsbeispiele Mecklenburg-Vorpommern Tabelle 67: Wohneigentumsquote im Vergleich der neuen Länder (in %) Abbildungen Abbildung 1: Die SGB II-Quote im Zeitverlauf für Mecklenburg-Vorpommern (in %) Abbildung 2: SGB II Hilfebedürftige nach Bundesländern Abbildung 3: Erwerbsgeminderte unter 65 Jahre Abbildung 4: Erwerbsgeminderte ab 65 Jahre Abbildung 5: Grundsicherungsempfänger 221 Abbildung 6: Empfänger von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Abbildung 7: Empfängergruppen mit Miethöhe, Einkommen, Wohnungsgröße und durchschnittlichem WGAnspruch (31.12.2012) Abbildung 8: Anteil von Wohngeldempfängerhaushalten nach Bundesländern Abbildung 9: QNI bei der Grundsicherung (SGB II, XII) nach Kreisen Abbildung 10: Kinderarmut in Deutschland Abbildung 11: Sozialgeldquote der unter Dreijährigen in Mecklenburg-Vorpommern Abbildung 12: Gründe für Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen Abbildung 13: Exemplarische Darstellung sich bedingender Armutsfaktoren bei Kindern, Jugendlichen und Familien Abbildung 14: Rentenzugänge 2013 nach SGB VI wegen Alters nach Anzahl und durchschnittlichem Renten zahlbetrag, Alter bei Rentenbeginn und Geschlecht (Mecklenburg-Vorpommern) Abbildung 15: Rentenzugänge 2013 nach SGB VI wegen Alters; Anzahl der Empfänger nach Höhe des Rentenzahlbetrag und nach Alter bei Rentenbeginn und Geschlecht (Mecklenburg-Vorpommern) Abbildung 16: Rentenzugänge 2013 in Mecklenburg-Vorpommern, Große Witwen- / Witwerrente Abbildung 17: Anzahl Riesterverträge in Deutschland und Verteilung auf Vertragsformen Abbildung 18: Anteile der Haushalte, die sich nicht ausreichend abgesichert fühlen Abbildung 19: Meine erwartete staatliche Absicherung Abbildung 20: Einschätzung der eigenen Altersvorsorge Abbildung 21: Anteile des Rentenzugangs bei den Versichertenrenten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit: Mecklenburg-Vorpommern (nur Inlandsfälle) Abbildung 22: Beschäftigungsquote Mecklenburg-Vorpommern, 30.06.2012 Abbildung 23: Entwicklung Atypischer Beschäftigungsverhältnisse in Mecklenburg-Vorpommern Abbildung 24: Verteilung Atypischer Beschäftigungsverhältnisse nach Bundesländern Abbildung 25: Arbeitslosenanteile bei Helferberufen nach Bundesländern Abbildung 26: Anteil der abgebrochenen Ausbildungen nach Bundesländern im Jahr 2011 Abbildung 27: Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen nach Landkreisen 2013 Abbildung 28: Jugendarbeitslosenquote (15 bis unter 25 Jahre) in Deutschland nach Bundesländern im Jahr 2014 Abbildung 29: Lohnentwicklung 2003 - 2012 im regionalen Vergleich Abbildung 30: Beschäftigte mit Mindestlohn nach Bundesländern Abbildung 31: Spareinlagenhöhen privater Haushalte nach Bundesländern Abbildung 32: Haushalte nach wichtigstem Sparmotiv und Altersklassen in Prozent Abbildung 33: Abbildung 34: Arbeitsunfähigkeit der Empfänger von Arbeitslosengeld nach Alter und Krankheitsarten (Tage) Räumlicher Vergleich der Häufigkeit depressionsbedingter Fehltage nach Landkreisen/ kreisfreien Städten in Mecklenburg-Vorpommern 2013 Abbildung 35: Entwicklung der ferneren Lebenserwartung ab 65 Jahren von männlichen Rentenversicherten zwischen 1995 und 2008 Abbildung 36: Übersicht der Pflegebedürftigen nach Bundesländern Abbildung 37: Pflegebedürftige in Mecklenburg-Vorpommern nach Art der Pflege Abbildung 38 Bestand an PKW pro 1.000 Einwohner Deutschland – Mecklenburg-Vorpommern Abbildung 39: Durchschnittliche jährliche Fahrleistung der Personenkraftwagen in Deutschland nach Bundesländern (Stand: Mai 2013); in Kilometer Abbildung 40: Androhung. Beauftragung und Unterbrechung in der Grundversorgung (Elektrizität) Abbildung 41: Androhung. Beauftragung und Unterbrechung in der Grundversorgung (Gas) 222 Abkürzungsverzeichnis a. A. anderer Ansicht ABDA Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände AOK Allgemeine Ortskrankenkasse ARB Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung AU Arbeitsunfähigkeit BaFin Bundesamt für Finanzaufsicht BAV Betriebliche Altersvorsorge BKK Bundesverband der betrieblichen Krankenversicherungen BMAS Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung BT Drs. Bundestagsdrucksache Destatis Statistisches Bundesamt, Wiesbaden DIW WB Deutsches Institut für Wirtschaftsförderung, Wochenbericht DRK Deutsches Rotes Kreuz DRV Deutsche Rentenversicherung DZA Deutsches Zentrum für Altersfragen EGP Entgeltpunkte EM Erwerbsminderung EU-SILC European Survey of Income and Living conditions EVS Einkommens- und Verbrauchsstichprobe EVU Energieversorgungsunternehmen Ew Einwohner FDZ-RV Forschungsdatenzentrum der Rentenversicherung, Berlin/Würzburg FES Friedrich-Ebert-Stiftung HLU Hilfe zum Lebensunterhalt IAB-KB Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung - Kurzbericht IAQ Institut Arbeit und Qualifikation an der Uni Essen-Duisburg IKK Innungskrankenkasse IT.NRW Landesbetrieb Information und Technik in NRW JC Jobcenter KBA Kraftfahrtbundesamt KDA Kuratorium Deutsche Altershilfe KdU Kosten der Unterkunft KVdR Krankenversicherung der Rentner LAG-SB Landesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung, Mecklenburg-Vorpommern Liga FW LK Liga der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege in Mecklenburg-Vorpommern Landkreis KWh Kilowattstunde MEA Munich Center for the Economics of Aging am MPI MPI Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik NIEP Niedrigeinkommens Panel OECD Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 223 ÖPNV Öffentlicher Personennahverkehr PAV Private Altersvorsorge PHF Vermögenssurvey: „Private Haushalte und ihre Finanzen“ der Deutschen Bundesbank PVdR Pflegeversicherung der Rentner RKI Robert-Koch-Institut SCHUFA Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung, Wiesbaden SOEP Sozioökonomisches Panel StA MV Statistisches Amt Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin TH Technische Hochschule TVöD Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst VSKT Versicherungskontenstichprobe WSI Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler Stiftung ZfA Zentrale Zulagenstelle für Altersvermögen der DRV 224 Anhang Übersicht Kreisdaten Bundesland Mecklenburg-Vorpommern Fläche:23.211,05 km² Dichte: 69 Einwohner pro km² 2011 2013 2014 1.634.734 1.596.505 1,599.000 davon männlich 809.203 (49,5%) 786.333 (49,3%) davon weiblich 825.531 (50,5%) 810.172 (50,7%) Alter (�̅ ���.) 47,9 Einwohner (Grundges.) ∗ Einwohner <20J. 2012 ∗∗ 240.441 (14,7%) 245.002 (15.3%) 6,42% Förder-/ Sonderschüleranteil 6,03% 29,41% Einwohner ≥65 J. 359.058 (22,0%) davon Grundsicherung davon in Einrichtung Pflegequote 358.123 (22,4%) 5.933 6.517 1.263 (21,3%) 1.465 (22,5%) 4,1% 32.500 (o. J.) QNI (strenger Wert) Verfügbares Einkommen je Ew./ % v. Bundesdurchschn. 16.675 (83,1%) 17.036 (83,1%) k.A. 10,26% 10,50% 10,67% 107.534 101.891 98.950 81.988 *** davon SGB III 30.502 (28,4%) 30.272 (29,7%) 29.977 (30,3%) 22.036 (26,9%) davon SGB II 77.032 (71,6%) 71.619 (70,3%) 68.973 (69,7) 59.952 (73,1%) Schuldnerquote Arbeitslose davon Langzeit-AL in % 33,3% Helfer-Arbeitslosenquote 38,2% Beschäftigungsquote 54,8% Schwerbehind. ≥50% (% GG) 173.237 (10,9%) Empfänger nach §27 SGB XII 10.901 Empf. 5.-9. Kap. SGB XII 36.122 Wohngeld-Empfänger 30.601 ∗ gewichtetes arithmetisches Mittel bez. Grundgesamtheit. Kategorie „75 und mehr“ entspricht �̅ =87,5 keine vergleichbaren Daten vorhanden *** Stand 09/2014 ∗∗ 225 Kreisfreie Hansestadt Rostock Fläche:181,26km² Dichte: 1.122 Einwohner pro km² 2011 2012 2013 204.206 203.431 davon männlich 100.478 (49,2%) 99.559 (48,9%) davon weiblich 103.728 (50,8%) 103.872 (51,1%) Alter (�̅ ���.) 45,2 Einwohner (Grundges.) ∗ Einwohner <20J. 28.850 (14,2%) 7,8% TeilhabepaketInanspruchnahmequote Einwohner ≥65 J. ∗∗ 27.501 (13,5%) Förder-/ Sonderschüleranteil 7,0% 28,81% 46.587 (22,8%) davon Grundsicherung davon in Einrichtung 46.353 (22,8%) 1.131 1.220 99 (8,8%) 94 (7,7%) 4.600 (o. J.) QNI (strenger Wert) Verfügbares Einkommen je Ew./ % v. Bundesdurchschn. Schuldnerquote 16.221 (80,8%) 16.352 (79,7%) 10,89% 11,34% 11,46% 11,34% Pflegequote 3,4% Arbeitslose 13.408 12.528 12.019 10.614 *** davon SGB III 3.015 (22,5%) 2.797(22,3%) 2.782 (23,1%) 2.382 (22,4%) davon SGB II 10.394 (77,5%) 9.731(77,7 %) 9.238 (76,9 %) 8.232 (77,6%) davon Langzeit-AL in % 33,9% Helfer-Arbeitslosenquote 35,6% Beschäftigungsquote 52,6% Schwerbehind. ≥50% (% GG) 19.193 (9,4%) Empfänger nach §27 SGB XII 1.336 Empf. 5.-9. Kap. SGB XII 5.473 Wohngeld-Empfänger ∗ 2014 4.413 gewichtetes arithmetisches Mittel bez. Grundgesamtheit. Kategorie „75 und mehr“ entspricht �̅ =87,5 keine vergleichbaren Daten vorhanden *** Stand 09/2014 ∗∗ 226 Kreisfreie Landeshauptstadt Schwerin Fläche:130,52km² Dichte: 702 Einwohner pro km² 2011 2012 2013 95.300 91.583 davon männlich 45.813 (48,1%) 43.536 (47,5 %) davon weiblich 49.487 (51,2%) 48.047 (52,5%) Alter (�̅ ���.) 46,7 ∗∗ 13.487 (14,2%) 14.084 (15,4%) Einwohner (Grundges.) ∗ Einwohner ≤ 20J. 8,78% Förder-/ Sonderschüleranteil TeilhabepaketInanspruchnahmequote Einwohner ≥65 J. 7,94% 33,36% 22.639 (23,8%) davon Grundsicherung davon in Einrichtung Pflegequote 22.515 (24,6%) 923 868 75 (8,1%) 79 (9,1%) 4,5% 2.100 (o. J.) QNI (strenger Wert) Verfügbares Einkommen je Ew./ % v. Bundesdurchschn. 2014 16.667 (83,1%) 16.965 (82,7%) 12,10% 12,65% 13,42% 13,80% 6.084 6.017 5.665 5.155 *** davon SGB III 1.231 (20,2%) 1.332 (22,1%) 1.366 (24,1%) 1.079 (20,9%) davon SGB II 4.853 (79,8%) 4.685 (77,9%) 4.298 (75,9%) 4.076 (79,1%) Schuldnerquote Arbeitslose davon Langzeit-AL in % 32,2% Helfer-Arbeitslosenquote 35,2% Beschäftigungsquote 55,9% Schwerbehind. ≥50% (% GG) 12.138 (13,3%) 905 Empfänger §27 SGB XII 2.495 Empf. 5.-9. Kap. SGB XII Wohngeld-Empfänger 1.905 ∗ gewichtetes arithmetisches Mittel bez. Grundgesamtheit. Kategorie „75 und mehr“ entspricht �̅ =87,5 keine vergleichbaren Daten vorhanden *** Stand 09/2014 ∗∗ 227 Landkreis Mecklenburgische Seenplatte Fläche:5.470,03km² Dichte: 48 Einwohner pro km² 2011 2012 2013 270.685 262.412 davon männlich 133.592 (49,4%) 128.641 (49,0%) davon weiblich 137.093 (50,6%) 133.771 (51,0%) Alter (�̅ ���.) 45,0 Einwohner (Grundges.) ∗ Einwohner ≤ 20J. 5,4% 32,50% 59.997 (22,2%) davon Grundsicherung davon in Einrichtung Pflegequote 39.914 (15,2%) 5,6% TeilhabepaketInanspruchnahmequote Einwohner ≥65 J. ∗∗ 39.766 (14,7%) Förder-/ Sonderschüleranteil 60.013 (22,9 %) 703 830 221 (31,4%) 296 (35,7%) 4,1% 5.300 (o. J.) QNI (strenger Wert) Verfügbares Einkommen je Ew./ % v. Bundesdurchschn. 16.740 (83,4%) 16.943 (82,6%) Schuldnerquote 9,80% 10,27% 10,50% 10,73% Arbeitslose 21.282 20.060 19.564 16.156 *** davon SGB III 5.595 (26,3%) 5.617(28,0%) 5.525 (28,2%) 4.055 (25,1%) davon SGB II 15.687 (73,7%) 14.443 (72,0%) 14.039 (71,8%) 12.101 (74,9%) davon Langzeit-AL in % 38,0% Helfer-Arbeitslosenquote 41,7% Beschäftigungsquote 53,7% Schwerbehind. ≥50% (% GG) 32.783 (12,5%) Empfänger §27 SGB XII 2.069 Empf. 5.-9. Kap. SGB XII 6.653 Wohngeld-Empfänger ∗ 2014 5.045 gewichtetes arithmetisches Mittel bez. Grundgesamtheit. Kategorie „75 und mehr“ entspricht �̅ =87,5 keine vergleichbaren Daten vorhanden *** Stand 09/2014 ∗∗ 228 Landkreis Rostock Fläche:3.422,23km² Dichte: 62 Einwohner pro km² 2011 2012 2013 214.889 210.555 davon männlich 107.449 (50,0%) 104.956 (49,8%) davon weiblich 107.440 (50,0%) 105.599 (50,2%) Alter (�̅ ���.) 46,2 Einwohner (Grundges.) ∗ Einwohner <20J. 6,1% 26,70% 44.676 (20,8%) davon Grundsicherung davon in Einrichtung Pflegequote 34.211 (16,2%) 6,5% TeilhabepaketInanspruchnahmequote Einwohner ≥65 J. ∗∗ 33.542 (15,6%) Förder-/ Sonderschüleranteil 44.855 (21,3%) 504 518 184 (36,5%) 178 (34,4%) 4,2% 3.700 (o. J.) QNI (strenger Wert) Verfügbares Einkommen je Ew./ % v. Bundesdurchschn. 2014 17.435 (86,9%) 17.877 (87,2%) 10,89% 11,34% 11,46% 11,34% 11.735 10.794 10.358 8.228 *** davon SGB III 3.495 (29,8%) 3.345 (30,1%) 3.224 (31,1%) 2.315 (28,1%) davon SGB II 8.240 (71,2%) 7.449 (69,9%) 7.134 (68,9%) 5.913 (71,8%) Schuldnerquote Arbeitslose davon Langzeit-AL in % 31,6% Helfer-Arbeitslosenquote 33,2% Beschäftigungsquote 55,7% Schwerbehind. ≥50% (% GG) 17874 (8,5%) Empfänger §27 SGB XII 1.157 Empf. 5.-9. Kap. SGB XII 3.951 Wohngeld-Empfänger 3.939 ∗ gewichtetes arithmetisches Mittel bez. Grundgesamtheit. Kategorie „75 und mehr“ entspricht �̅ =87,5 keine vergleichbaren Daten vorhanden *** Stand 09/2014 ∗∗ 229 Landkreis Vorpommern-Rügen Fläche:3.207,22km² Dichte: 70 Einwohner pro km² 2011 2012 2013 229.340 223.109 davon männlich 113.013 (49,3%) 109.655 (49,1%) davon weiblich 116.327 (50,7%) 113.454 (50,9%) Alter (�̅ ���.) 47,3 Einwohner (Grundges.) ∗ Einwohner <20J. 5,2% 30,01% 53.477 (23,2%) davon Grundsicherung davon in Einrichtung Pflegequote 32.246 (14,5%) 6,3% TeilhabepaketInanspruchnahmequote Einwohner ≥65 J. ∗∗ 32.526 (14,2%) Förder-/ Sonderschüleranteil 53.265 (23,9%) 654 687 179 (27,4%) 183 (26,6%) 5,0% 4.600 (o. J.) QNI (strenger Wert) Verfügbares Einkommen je Ew./ % v. Bundesdurchschn. 16.650 (82,9%) 17.012 (83,0%) Schuldnerquote 9,58% 10,30% 10,72% 11,02% Arbeitslose 16.187 16.021 15.431 12.331 *** davon SGB III 5.080 (31,4%) 5.318 (33,2) 5.548 (36%) 3.624(29,4%) davon SGB II 11.107 (68,6%) 10.703 (66,8%) 9.883 (64%) 8.707 (71,6%) davon Langzeit-AL in % 28,3% Helfer-Arbeitslosenquote 38,6% Beschäftigungsquote 54,8% Schwerbehind. ≥50% (% GG) 25030 (11,2%) Empfänger §27 SGB XII 1.556 Empf. 5.-9. Kap. SGB XII 4.961 Wohngeld-Empfänger ∗ 2014 4.850 gewichtetes arithmetisches Mittel bez. Grundgesamtheit. Kategorie „75 und mehr“ entspricht �̅ =87,5 keine vergleichbaren Daten vorhanden *** Stand 09/2014 ∗∗ 230 Landkreis Nordwest-Mecklenburg Fläche:2.118,45km² Dichte: 73 Einwohner pro km² 2011 2012 2013 159.294 155.265 davon männlich 79.602 (50,0%) 77.288 (49,8%) davon weiblich 79.692 (50,0%) 77.977 (50,2%) Alter (�̅ ���.) 45,6 ∗∗ 25.070 (15,7%) 25.462 (16,4%) Einwohner (Grundges.) ∗ Einwohner <20J. 5,5% Förder-/ Sonderschüleranteil TeilhabepaketInanspruchnahmequote Einwohner ≥65 J. 5,6% 26,27% 32.877 (20,6%) davon Grundsicherung davon in Einrichtung Pflegequote 32.998 (21,3%) 626 649 123 (19,6%) 125 (19,3%) 3,9% 3.100 (o. J.) QNI (strenger Wert) Verfügbares Einkommen je Ew./ % v. Bundesdurchschn. 2014 16.561 (82,5%) 16.945 (82,6%) 9,62% 9,94% 10,20% 10,33% 9.939 9.052 8.332 6.873 *** davon SGB III 3.410 (34,3%) 3.175 (35,1%) 2.886 (34,6%) 2.178 (31,7%) davon SGB II 6.529 (65,7%) 5.876 (64,9%) 5.446 (65,4%) 4.695 (68,3%) Schuldnerquote Arbeitslose davon Langzeit-AL in % 38,4% Helfer-Arbeitslosenquote 36,4% Beschäftigungsquote 57,0% Schwerbehind. ≥50% (% GG) 15512 (10,0%) 998 Empfänger §27 SGB XII 3.344 Empf. 5.-9. Kap. SGB XII Wohngeld-Empfänger 2.682 ∗ gewichtetes arithmetisches Mittel bez. Grundgesamtheit. Kategorie „75 und mehr“ entspricht �̅ =87,5 keine vergleichbaren Daten vorhanden *** Stand 09/2014 ∗∗ 231 Landkreis Vorpommern-Greifswald Fläche:3.929,48km² Dichte: 61 Einwohner pro km² 2011 2012 2013 244.207 238.185 davon männlich 120.679 (49,4%) 116.949 (49,1%) davon weiblich 123.528 (50,6%) 121.236 (50,9%) Alter (�̅ ���.) 46,5 Einwohner (Grundges.) ∗ Einwohner <20J. 6,5% 31,05% 53.784 (22,0%) davon Grundsicherung davon in Einrichtung Pflegequote 35.827 (15,0%) 6,7% Teilhabepaket-Quote Einwohner ≥65 J. ∗∗ 35.303 (14,5%) Förder-/ Sonderschüleranteil 53.247 (22,4%) 779 927 208 (26,7%) 296 (31,9%) 4,0% 4.800 (o. J.) QNI (strenger Wert) Verfügbares Einkommen je Ew./ % v. Bundesdurchschn. 15.578 (77,6%) 16.173 (78,9%) Schuldnerquote 9,00% 9,59% 9,78% 9,96% Arbeitslose 17.720 16.755 17.492 14.508 *** davon SGB III 5.230 (29,5%) 5.243 (31,3%) 5350 (30,6%) 4.086 (28,2%) davon SGB II 12.489 (71,5%) 11.512 (68,7%) 12.142 (69,4%) 10.422 (71,8%) davon Langzeit-AL in % 31,3% Helfer-Arbeitslosenquote 42,4% Beschäftigungsquote 50,9% Schwerbehind. ≥50% (% GG) 27733 (11,6%) Empfänger §27 SGB XII 1.527 Empf. 5.-9. Kap. SGB XII 5.278 Wohngeld-Empfänger ∗ 2014 4.661 gewichtetes arithmetisches Mittel bez. Grundgesamtheit. Kategorie „75 und mehr“ entspricht �̅ =87,5 keine vergleichbaren Daten vorhanden *** Stand 09/2014 ∗∗ 232 Landkreis Ludwigslust-Parchim Fläche:4.751,86km² Dichte: 45 Einwohner pro km² 2011 2012 2013 216.759 211.965 davon männlich 108.577 (50,0%) 105.749 (49,9%) davon weiblich 108.182 (50,0%) 106.216 (50,1%) Alter (�̅ ���.) 46,3 Einwohner (Grundges.) ∗ Einwohner <20J. 5,4% 23,49% 45.021 (20,8%) davon Grundsicherung davon in Einrichtung Pflegequote 33.504 (15,8%) 5,3% TeilhabepaketInanspruchnahmequote Einwohner ≥65 J. ∗∗ 33.192 (15,3%) Förder-/ Sonderschüleranteil 44.877 (21,2%) 613 739 174 (28,4%) 214 (29,0%) 4,0% 4.000 (o. J.) QNI (strenger Wert) Verfügbares Einkommen je Ew./ % v. Bundesdurchschn. 2014 17.611 (87,7%) 18.058 (88,1%) Schuldnerquote 9,12% 9,28% 9,59% 9,86% Arbeitslose 11.180 10.664 10.090 8.693 *** 3.446 (30,8%) 3.445 (32,3%) 3.296 (32,7%) 2.695 (31,0%) 7.734 (69,2) 7.219 (67,7%) 6.794 (67,3%) 5.998 (69,0%) davon SGB III davon SGB II davon Langzeit-AL in % 32,6% Helfer-Arbeitslosenquote 30,8% Beschäftigungsquote 59,0% Schwerbehind. ≥50% (% GG) 22.974 (10,8%) Empfänger §27 SGB XII 1.353 Empf. 5.-9. Kap. SGB XII 3.967 Wohngeld-Empfänger 3.106 ∗ gewichtetes arithmetisches Mittel bez. Grundgesamtheit. Kategorie „75 und mehr“ entspricht �̅ =87,5 keine vergleichbaren Daten vorhanden *** Stand 09/2014 ∗∗ 233 Wolfgang Weiß, Jochen Corthier Regional-Demographie der Armut in Mecklenburg-Vorpommern 235 Inhalt Einleitung 1 Allgemeine und spezielle Vorbemerkungen zum Verständnis von RegionalDemographie .............................................................................................................. 237 1.1 Zahlen, Fakten und allgemeine Trends ................................................................ 237 1.2 Demographie und Armut – eine unendliche Geschichte?.................................... 238 1.3 Demographie und Politik – eine nötige Positionierung ....................................... 239 1.4 Demographischer Wandel – Charakter der aktuellen demographischen Entwicklung ...................................................................................................................... 241 1.5 Räumliche Bevölkerungsbewegungen ................................................................. 242 1.6 Demographischer Wandel und Migration ............................................................ 243 1.7 Demographische Entwicklung und Kommunalpolitik......................................... 244 2 Die aktuelle und mittelfristig absehbare demographische Entwicklung in Mecklenburg-Vorpommern ............................................................................................ 245 3 2.1 Ausgangslage ....................................................................................................... 245 2.2 Die Residualbevölkerung – regionaldemographische Realität und konstitutives Element der ländlichsten Räume ......................................................................... 248 2.3 Regionale Differenzierung der aktuellen und künftigen Bevölkerungsentwicklung von Mecklenburg-Vorpommern .......................................................................... 254 2.4 Grundannahmen der aktuellen Prognose der Bevölkerungsentwicklung ............ 256 Demographie und Armut: Die demographische Struktur von Armut in Mecklenburg-Vorpommern an ausgewählten Standorten .................................... 264 3.1 Ein Einstieg .......................................................................................................... 264 3.2 Sozialstatus und natürliche Bevölkerungsentwicklung – eine empirische Untersuchung am Beispiel ausgewählter Kleinstädte in Mecklenburg-Vorpommern.. 267 3.2.1 Datenauswahl ....................................................................................................... 267 3.2.2 Festlegung der Untersuchungsregionen ............................................................... 267 3.2.3 Struktur der Beobachtungsbevölkerung ............................................................... 269 3.2.4 Bevölkerungsentwicklung in den Betrachtungsgemeinden ................................. 270 3.3 Altersstruktur der Bedürftigkeit ........................................................................... 277 3.4 Bestandsbevölkerung und Bedürftige der Städte Strasburg und Dargun............. 280 4 Geographie und Armut: Regionalstrukturen in Mecklenburg-Vorpommern .... 283 5 Fazit ............................................................................................................................ 293 Abbildungsverzeichnis ..................................................................................................... 296 Literaturverzeichnis ......................................................................................................... 298 236 1 Allgemeine und spezielle Vorbemerkungen zum Verständnis von Regional-Demographie 1.1 Zahlen, Fakten und allgemeine Trends Mecklenburg-Vorpommern hat heute, etwa 25 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, rund 1,59 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Im Jahr 2030 wird das Land – greifen wir dem nachfolgenden Text vor – nach der mittleren Annahmevariante der 4. Landesprognose zur Bevölkerungsentwicklung nur noch rund 1,45 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner haben. Das sind rund zwölf Prozent weniger als heute. Bis auf die Universitätsstädte Greifswald und Rostock werden also in allen Landkreisen und selbst in der Landeshauptstadt Schwerin sehr wahrscheinlich die Einwohnerzahlen bis 2030 sinken; in einigen Regionen sogar besonders stark: Im Raum des ehemaligen Landkreises Demmin wird ein Minus von 35 Prozent erwartet, in Mecklenburg-Strelitz ein Minus von 31 Prozent, in anderen Altkreisen wird die Bevölkerungszahl um etwa ein Viertel schrumpfen. Der Bevölkerungsrückgang wird sich in den nächsten Jahren nicht nur in unserem Bundesland Mecklenburg-Vorpommern fortsetzen. Er vollzieht sich parallel zur Entwicklung in allen anderen neuen Bundesländern, in einigen Regionen der alten Bundesländer, aber auch in vielen europäischen Staaten, insbesondere in Osteuropa und im Mittelmeerraum. In den westlichen Industriestaaten ist der demographische Wandel seit Jahrzehnten durch eine geringe, unter dem Bestandserhaltungsniveau von 2,1 Kindern/Frau liegende Geburtenquote und eine steigende Lebenserwartung der Bevölkerung gekennzeichnet. Beide Prozesse glichen sich längere Zeit aus, so dass sie kaum Einfluss auf die Einwohnerzahl hatten. Diese Entwicklungen werden zusätzlich durch Wanderung überlagert. Dabei können Abwanderungen zu einer Beschleunigung der Schrumpfung in den Wegzugsregionen und zu einer Dämpfung, in Ausnahmefällen sogar zu einem Wachstum der Bevölkerungszahl in den Zuzugsregionen führen. Weil eher junge als alte Personen wandern, erhöht sich in den Abwanderungsregionen das Durchschnittsalter der Bevölkerung und kann in den Zuzugsgebieten sogar sinken. Diese Prozesse verlaufen in den einzelnen Bundesländern mit unterschiedlichen Folgen für die Bevölkerungsentwicklung ab. Besonders problematisch für Mecklenburg-Vorpommern ist die außerordentliche Dynamik, mit der sich die Strukturveränderungen der Bevölkerung und die Verringerung der Einwohnerzahlen auf die Lebensqualität der Menschen in ihren Gemeinden auswirken, denn die politischen und ökonomischen Gestaltungsspielräume sind vielfach davon abhängig, wie viele Mittel pro Kopf der Bevölkerung verfügbar sind bzw. wie viel Umsatz möglich ist – und diese Werte verringern sich mit dem Verlust einer jeden Bürgerin, eines jeden Bürgers. Unter den Einflussgrößen der Bevölkerungsentwicklung (Geburten, Sterbefälle und Wanderungen) dominiert seit vielen Jahren das Geburtendefizit, d. h. es werden wesentlich weniger Kinder geboren als im gleichen Zeitraum Menschen sterben. Noch vor 25 Jahren, in der Periode der Wiedervereinigung, war vor allem der Wanderungssaldo besonders negativ. Aus verschiedenen Gründen veränderte sich das Wanderungsvolumen, veränderten sich sowohl die 237 Anzahlen der Zu- als auch der Wegzüge. Selbst wenn die Landesregierung im Rahmen der langfristigen Bevölkerungsprognose darauf hofft, dass der Wanderungssaldo aufgrund geringer werdender Fortzüge zum Ende des Prognosezeitraums leicht positiv sein wird, werden diese Zuwanderungen jedoch nicht ausreichen, um das Geburtendefizit auszugleichen. Vielmehr wird die Nachhaltigkeit der Bevölkerungsverluste der 1990er Jahre noch lange Zeit zu spüren sein, denn wer nicht geboren wurde, der wird auch keine Kinder bekommen; wer auf Dauer weggezogen ist, dessen Kinder werden hier nicht aufwachsen. Doch die Bevölkerung des Landes schrumpft nicht nur, sie altert auch. Sie wird sich im Jahr 2030 aus weniger jungen und aus deutlich mehr älteren Menschen als heute zusammensetzen. Der Anteil der unter 20jährigen an der Gesamtbevölkerung liegt – bei sinkender Tendenz – schon heute bei nur noch etwa 15 Prozent. Komplementär wächst der Anteil der Senioren in den nächsten 15 Jahren auf über 36 Prozent. Allerdings sagen die Anzahl und die Altersstruktur der Menschen nichts über ihren Wohlstand. Sie bilden nur den demographischen Rahmen ab. 1.2 Demographie und Armut – eine unendliche Geschichte? Die Fragen nach Wohlstand und Armut standen bereits an der Wiege der wissenschaftlichen Behandlung mit der Bevölkerungsentwicklung, lange bevor von „Demographie“ gesprochen wurde. Schon in seinem grundlegenden Werk von 1741 bemerkte der Berliner Pfarrer und Statistiker Johann Peter Süßmilch unterschiedliche Häufigkeiten der Geburten und tödlicher Krankheiten in Abhängigkeit vom Wohlstand und dem sozialen Status der jeweiligen Menschen. Für Süßmilch war der Nachweis der Konstanz solcher massenstatistischer Merkmale der Bevölkerung ein Ausdruck des Willens Gottes, weshalb er seinen wegbereitendes und bahnbrechendes Werk eben genauso nannte: „Die Göttliche Ordnung...“ Die drei Bände dieses Buches waren ausgesprochen analytisch gehalten und orientierten sich bei den Schlussfolgerungen vornehmlich auf einen theologischen Kontext. Wenig später, im Jahre 1798, erschien in London ein zunächst noch unbedeutendes Buch unter dem Titel „An Essay on the Principle of Population“. Die 1. Auflage war noch anonym, doch nachdem die Öffentlichkeit aufmerksam geworden war, bekannte sich der Verfasser, Thomas Robert Malthus, zu seiner Schrift. In diesem Werk standen Armut und Reichtum wesentlich stärker im Mittelpunkt der Betrachtung. Der Kern seiner Gedanken lässt sich stark verknappt wie folgt umreißen: Die Bevölkerung wird bei Malthus – unabhängig, ob die Menschheit als Ganzes oder als Bevölkerung von mehr oder weniger abgeschlossenen Gebieten angesprochen wird – als Gattung aufgefasst, die aufgrund der biologischen Seite ihrer Existenz zur Vermehrung tendiere. Das Wachstum erfolge in geometrischer Progression. Die wichtigste Beschränkung für die Anzahl der Menschen sei die Menge der Nahrungsmittel, deren Zuwachs u. a. nach dem „Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag“ bestenfalls linear erfolge. Unabhängig von der konkreten Konstellation müsste es somit bei einem solchen Arrangement früher oder später zu einem Konflikt zwischen beiden Komponenten kommen. 238 Unter Annahme dieses Ansatzes fragte Malthus zum einen, warum es denn bis zu seiner Zeit noch nicht dazu gekommen sei, dass die Menschen ausstürben, zum anderen nach Mitteln, das zu vermeiden. Bald stellte er fest, dass es durchaus schon häufig „natürliche Hindernisse“ des Bevölkerungswachstums gab (höhere Sterblichkeit durch Nahrungsmangel, Krieg, aber auch Epidemien wie die Pest). So empfahl er die Begrenzung der Geburtenzahlen durch „moralische Hindernisse“, insbesondere die „freiwillige sexuelle Enthaltsamkeit“. Dabei hatte er allerdings nur die breite Masse der einfachen Leute vor Augen, denn die Reichen hätten schließlich unter allen Umständen immer genügend zu essen, und stünden nach seiner Auffassung moralisch so hoch, dass sich eine entsprechende Empfehlung für sie erübrige. Der wichtigste entschiedene Kritiker von Malthus war Karl Marx. Sein Hauptwerk „Das Kapital“ findet bei Freunden wie Gegnern vor allem auch wegen der akribischen Auseinandersetzung mit Malthus und dem aufkommenden Malthusianismus eine bis heute anhaltende Beachtung. In den „Theorien über den Mehrwert“ rechnete er Malthus „die pointierte Hervorhebung der Disharmonien“ in der bürgerlicher Ökonomie an, die jener mit „...wohlgefälligem Zynismus festhält, ausmalt und bekannt macht.“ Dass das Werk eine „wissenschaftliche Gemeinheit, eine Sünde gegen die Wissenschaft“ sei, war keine Absage von Marx an die Demographie. Er begründet die Aussage damit, dass die Konsequenzen von Malthus „rücksichtsvoll gegen die herrschenden Klassen“ [sind] ..., dagegen rücksichtslos, wenn es die unterjochten Klassen betrifft ..., selbst über das Maß, das von seinem Standpunkt aus wissenschaftlich gerechtfertigt wäre.“ [Hervorhebungen im Original] (MEW 1967, Bd. 26.2, S. 113 f.). Es waren vor allem die Parteilichkeit und willfährig politische Nutzbarkeit der Gedanken von Malthus, die bei vielen Anstoß erregten, insbesondere die Behauptung, dass alle Menschen, die wegen ihrer Armut nicht satt werden würden, überflüssig seien, was sich im Begriff der „Überbevölkerung“ widerspiegeln würde. Damit sind die unterschiedlichen Grundpositionen des Verhältnisses von Demographie und Wohlstand umrissen: Die einen versuchen, Armut mit naturwissenschaftlicher Logik aus der Verfügbarkeit der Ressourcen zu begründen, für die anderen ist es ein Thema der Teilhabe an den Ressourcen und dem Wohlstand im Ergebnis der gesamtgesellschaftlichen Arbeit. Der zeitgenössische Schriftsteller Charles Dickens griff die Ansichten von Malthus über die Armen und die Überbevölkerung auf und skizzierte danach in seiner Weihnachtsgeschichte den hartherzigen Ebenezer Scrooge, Symbolfigur für den Kapitalisten seiner Zeit. 1.3 Demographie und Politik – eine nötige Positionierung Es ist schon bemerkenswert, dass seitdem fast alle Fragen nach der Bevölkerungsentwicklung immer wieder mit sozio-ökonomischen Themen verbunden werden. Dabei geht es sowohl um die generelle Tragfähigkeit der Erde insgesamt als auch um die von Regionen und die sozialer Gruppen. Selbst die „Weltformel“ im Bericht an den Club of Rome von Meadows baut auf Relationen auf, die direkt von Malthus entliehen zu seien scheinen. Unabhängig von der konkreten mathematisch-statistischen Analyse und den daraus direkt abgeleiteten Interpretationen bewegen sich fast alle Aussagen zur Demographie in den öffentlichen Debatten in einem moralischen und/oder politischen Kontext. Darum ist es nicht verwunderlich, dass seit Malthus sehr viele Aussagen der Politik mit Demographie begründet 239 werden, was aber letztlich weniger mit der Demographie selbst zu tun hat, sondern mit den Zielen der jeweiligen Politik, die dann vielfach eine „verkappte Bevölkerungspolitik“ ist. Darunter soll hier eine Politik verstanden werden, die eher das Ziel hat, die Bevölkerung zu regulieren. Die Potenziale und Ressourcen einer Gesellschaft werden dabei lediglich als Argument benutzt. Fragen nach den Teilhabe- und Verteilungsmodalitäten werden in der Regel nicht gestellt. Eine solche Politik bedient sich also nur der Demographie, unabhängig davon, ob es eine echte Beziehung zwischen dem Wohlstand der Individuen oder der Gesellschaft einerseits und den demographischen Strukturen und Prozessen andererseits gibt. Auch unter den Bedingungen Deutschlands zu Beginn des 3. Jahrtausends scheint es nicht viel anders zu sein. Seitens der demographischen Entwicklung ist das durchaus verständlich, denn nach wie vor beobachten wir eine Latenz in fast allen Beziehungen zwischen dem Sozialstatus und der natürlichen Bevölkerungsentwicklung. Das betrifft sowohl die mittlere Lebenserwartung als auch die durchschnittliche Anzahl der Kinder pro Frau. Diese Beziehungen werden zwar seit vielen Jahrzehnten durch diverse Maßnahmen und Regelungen des Gesetzgebers begleitet, um ungerechtfertigte Härten abzufedern, wie z. B. durch das Rentensystem, die Pflegeversicherung, das Kindergeld, die steuerliche Entlastung von Eltern sowie durch die Möglichkeiten der Familienplanung. Zudem gibt es einen sicheren Zugang für fast alle Teile der Bevölkerung zu medizinischen Leistungen, die noch vor relativ kurzer Zeit nur sehr Wohlhabenden vorbehalten waren, was durchaus als eine Form der Gesundheitsgerechtigkeit interpretiert werden kann. Dennoch existieren nach wie vor enge Korrelationen zwischen der sozialen Stellung von Personen und Familien sowie den demographischen Effekten der statusbedingten Unterschiede in der Lebensführung. Diese Beziehungen entziehen sich allerdings einem eindeutigen Verhältnis von Ursache und Wirkung. Es gibt nach wie vor die Regelhaftigkeit eines hohen Sozialstatusʼ, der mit einer geringen Kinderzahl oder sogar lebenslanger Kinderlosigkeit korrespondiert, wobei gleichzeitig eine größere Kinderzahl materielle Defizite in der Lebensqualität anzeigt. Gleichzeitig gibt es Familien in Wohlstand, die mit Kinderreichtum gesegnet sind, wogegen andere sich ihrer Armut (und in absehbarer Zeit relativen Perspektivlosigkeit) bewusst sind und sich genau darum – im wahrsten Sinne des Wortes – keine Kinder leisten, insbesondere aus Sorge um das Wohlergehen genau dieser Kinder. Auch hinsichtlich der Lebenserwartung gibt es mehrere Untersuchungen, die eine relativ enge Beziehung zwischen dem Wohlstand und der Länge des Lebens in Gesundheit belegen. Diese Unterschiede werden zwar ständig geringer, wie auch der Lebensstil und die Lebensführung zum Teil unabhängig vom Einkommen immer diverser werden, doch tragen wir die Einflüsse auf unser Leben aus der Kindheit und Jugend, die letztlich auch die Lebenserwartung bestimmen, oft bis ins höchste Alter mit uns mit. Das markanteste Beispiel mag der Schaden sein, der durch eine ungesunde Lebensführung im frühen Lebensalter entsteht, z. B. durch Rauchen, extensiven Alkoholmissbrauch oder Rauschgift, wenn die Resultate der Schädigung aber erst nach vielen Jahren im höheren Alter zur Wirkung kommen. Die vorliegende Studie enthält sich bewusst jeglicher bevölkerungspolitischer Positionen. Es geht vielmehr um die Analyse der Realität sowie um den Ausblick im Rahmen absehbarer Parameter. Die sich daraus notwendigerweise ableitenden politischen Positionen zielen nicht 240 auf eine Regulierung der Bevölkerung ab, sondern auf die Gestaltung ihrer Lebensqualität. Dabei geht es sowohl um Unterschiede in der räumlichen Verteilung der Bevölkerung (geographischer bzw. räumlicher Aspekt) als auch um die unterschiedliche Lebenssituation der Generationen (demographisch-soziologischer Aspekt). Die Verknüpfung beider Aspekte wird hier als „Regional-Demographie“ und synonymisch als „Bevölkerungsgeographie“ bezeichnet, wobei der Unterschied sich hauptsächlich aus der „Blickrichtung“ ableitet. 1.4 Demographischer Wandel – Charakter der aktuellen demographischen Entwicklung Seit über 40 Jahren erleben wir in ganz Europa und darüber hinaus auch in allen anderen hochentwickelten Industriestaaten die Herausbildung und Stabilisierung eines völlig neuen „Reproduktionstyps“ der Bevölkerung, der im Allgemeinen „Demographischer Wandel“15 genannt wird. Diese Entwicklung ist dadurch gekennzeichnet, dass bei weiterhin stetig wachsender Lebenserwartung etwa ein Drittel weniger Kinder geboren werden, als nötig wäre, um die jeweilige Elterngeneration zahlenmäßig zu ersetzen. Das findet fast überall statt, hat aber in Abhängigkeit von der räumlichen Ausprägung unterschiedliche Auswirkungen und Rückkopplungen. Die allgemeinste Auswirkung des demographischen Wandels besteht in der Veränderung der Altersgliederung der Bevölkerung, wobei sich sowohl die Anzahl als auch der Anteil der Senioren enorm vergrößert, wogegen sich der Anteil und die Zahl der Kinder und Jugendlichen permanent verringert. Über einen Zeitraum von ca. zwei Generationen beginnt die Gesamtbevölkerung dann unweigerlich zu schrumpfen. Die für die Öffentlichkeit verkürze Beschreibung dieses Prozesses lieferte der damalige Bundespräsident Köhler, als er 2005 in einer Fernsehansprache die Auflösung des Bundestages begründete. Der siebente Satz seiner Rede lautete: „Wir haben zu wenig Kinder, und wir werden immer älter.“ (www.bundespraesident.de) Die generalisierte demographische Darstellung lautet: Die Generation der Kinder ist 1/3 kleiner als die Generation der Eltern; die Generation der Enkel ist nur noch halb so groß wie die Generation der Großeltern. Die räumlichen Unterschiede des demographischen Wandels, also eine unterschiedliche Anzahl der Kinder pro Frau oder eine unterschiedliche Lebenserwartung, haben für die Gesamtentwicklung der Bevölkerung eine geringere Bedeutung, als die strukturelle Grundlage für diese Entwicklung nach Alter und Geschlecht. So kann ein unterschiedlich hoher Anteil an Senioren, die sich im Alter der höchsten Sterbewahrscheinlichkeit befinden, trotz gleicher Lebenserwartung zu einer unterschiedlich hohen Sterberate führen. Ebenso kann ein unterschiedlich hoher Anteil Frauen im Alter der höchsten Geburtenwahrscheinlichkeit zu signifi15 Der Demographische Wandel ist aus bevölkerungsgeographischer Perspektive dadurch gekennzeichnet, dass bei permanent steigender Lebenserwartung viel weniger Kinder geboren werden, als nötig wären, um die jeweilige Elterngeneration zu ersetzen. In Deutschland kommen gegenwärtig jährlich etwa drei Monate Lebenserwartung hinzu, wogegen seit vierzig Jahren nur etwa 1,3 bis 1,4 Kinder pro Frau geboren werden. Das verändert die Altersstruktur nachhaltig und die Einwohnerzahl schrumpft. 241 kanten Unterschieden der Geburtenrate führen, obgleich sich die Fertilität der Standorte oder Regionen kaum unterscheidet. 1.5 Räumliche Bevölkerungsbewegungen Räumliche Bevölkerungsbewegungen werden als Wanderungen (Migration) bezeichnet, wenn dabei der Wohnsitz über mindestens eine administrative Grenze (z. B. Gemeindegrenze) verlegt wird. Diese Begriffsbestimmung ist die gemeinsame Basis mehrerer Bereiche, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Wanderungen beschäftigen. Durch Zu- und Wegzüge können sich Einwohnerzahlen in sehr kurzer Zeit stark verändern, insbesondere dann, wenn der Betrachtungsraum vergleichsweise klein ist. Eine noch größere Bedeutung haben sie allerdings oftmals durch ihre nachhaltige Wirkung auf die Bevölkerungsstruktur, denn Wanderungen erfolgen zumeist selektiv, d. h. es sind vorrangig ausgewählte Gruppen der Bevölkerung am Wanderungsgeschehen beteiligt. Sie unterscheiden sich z. B. nach Alter, Geschlecht, Qualifikation, Einkommen, Lebensstil und anderen Merkmalen. Damit können sich durch unausgewogene Migrationen auch die qualitativen Potenziale einer Bevölkerung verschieben, z. B. die Alters- und Geschlechtsgliederung, das Humankapital, die Kaufkraft, das Bildungsniveau, aber auch Verhaltensnormen. Unter der Voraussetzung, dass Wanderungen in Freiheit und bei freier Entscheidung der Wandernden erfolgen, vollziehen sie sich nahezu gesetzmäßig. Ursache dafür ist die enge Korrelation des Wanderungsverhaltens mit der Lebensbiographie der Menschen. Die nach unterschiedlichen Merkmalen differenzierten Bevölkerungsgruppen besitzen verschiedene Ansprüche an die Lebensbedingungen ihrer Region sowie vielfältige Verhaltensweisen (so auch bzgl. des Wanderungsverhaltens). Im Ergebnis gelten einzelne Bevölkerungsgruppen mobiler als andere. Grundsätzlich versuchen Migranten durch Verlegung des Wohnsitzes bessere Existenzbedingungen zu erlangen. Dabei wägen sie den zumeist von Informationen abhängigen, erhofften oder kalkulierten Gewinn an Lebensqualität mit dem Aufwand für die Neueinrichtung und die Veränderung sowie dem Verlust des Bisherigen ab. Also wandern jene zuerst, die sich leichter in einer neuen Heimat einrichten können, sowie diejenigen, die nicht so stark gebunden sind, die weder auf ortsfestes Eigentum noch auf die Bindung anderer Personen Rücksicht nehmen müssen: Junge, qualifizierte Leute im Alter des Berufseinstiegs. Es ist aber nicht nur das konkrete räumliche Bedingungsgefüge, das Wanderungen auslöst. Zumeist unterliegt die Menschen einer oft diffusen Gemengelage von Einflüssen aus Natur, Politik, Wirtschaft und sozialen Verhältnissen, die zur Wanderungsmotivation führen. Diese vielen Faktoren aus unterschiedlichen Systemen sind kategorial nur selten kompatibel. Versuche einer Typologie der Migration gehören darum zwar zu den ältesten theoretischen Arbeiten in der Bevölkerungsgeographie, aber vielfach auch zu den umstrittensten. Der wohl erste Erklärungsversuch ist in den „Migrationsgesetzen“ nach Ravenstein (1885 und 1889) zu finden (Bähr 1983, S. 287). Diese wurden aus dem Wanderungsgeschehen im frühindustrialisierten Großbritannien empirisch abgeleitet. Aus einer eher soziologischen Perspektive Sicht liegt ein typologisches Schema der Migration vor, das auf Petersen (1958) zurückgeht und mehrfach modifiziert wurde (nach Kuls; Kemper 2000, S. 167 und Bähr 1983, 242 S. 290). Eine eher bevölkerungsgeographische Typisierung ist bei Leib und Mertins (1983, S. 103) zu finden. Sie gliedert Bevölkerungsbewegungen aus räumlicher Sicht. Bereits die einfache Kombination aller Merkmale und Klassifizierungsvarianten führt zu einer enormen Anzahl von Typen räumlicher Bevölkerungsbewegungen. Dabei sind noch nicht einmal historische und systemare Rahmenbedingungen berücksichtigt. Fast allen Typisierungen ist jedoch eins gemeinsam: Sie reflektieren räumlich differenzierte existentielle Bedingungen sowie unterschiedliche Chancen, die individuelle Lebensqualität durch die Verlegung des Wohnsitzes zu verbessern. Darum sind Wanderungen, insbesondere räumlich unausgewogene Verlagerungen des Wohnsitzes, zumeist ein guter Indikator für Armut und Wohlstand. 1.6 Demographischer Wandel und Migration Der demographische Wandel wird durch Wanderungen überlagert. Beide Prozesse haben zunächst nichts miteinander zu tun. Wanderungen gab es bereits zu Beginn der Geschichte der Menschheit, also weit vor dem demographischen Wandel. Zudem existieren zahlreiche Rückkopplungen zwischen den Teilprozessen der natürlichen und der räumlichen Bevölkerungsbewegungen. Etwas anders verhält es sich mit den Effekten des demographischen Wandels und der Migration. In Abhängigkeit von der räumlichen Orientierung der Wanderungen als ausgeglichen oder dominant als Zuzug oder Wegzug können die wesentlichen Effekte des Demographischen Wandels, Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung, verstärkt oder kompensiert werden. Das liegt daran, dass die Migranten eine selektive Gruppe der Bevölkerung sind. Sie gliedern sich strukturell weder proportional zur Bevölkerung sowohl der Zuzugs- noch der Wegzugsgebiete. Darum verändern sich die demographischen Potenziale der Regionen durch Wanderungsprozesse zuweilen besonders schnell und intensiv (z. B. wenn vor allem junge Menschen wandern). Sie werden sowohl von der Lebensqualität in den Quellorten als auch von der Attraktivität der Ziele der Migration beeinflusst. Für die Entwicklung von relativ kleinen Standorten und Regionen ist die Migration oft von größerer Bedeutung als die Entwicklung über die natürlichen Bevölkerungsbewegungen. Dies lässt sich damit erklären, dass alle Menschen nur einmal geboren werden und nur einmal sterben. Zwischen diesen Ereignissen verändern sie aber mehrfach ihren Wohnsitz. Nach der aktuellen Statistik in Deutschland geschieht das im Durchschnitt aller Einwohner derzeit etwa neun Mal im Laufe des Lebens. Damit kann sich die Bevölkerungsentwicklung in einer kleinen Gemeinde bei gleichförmiger Migrationsrichtung (also entweder nur Zu- oder nur Wegzüge) viereinhalb Mal so schnell vollziehen, als durch Geburten oder Sterbefälle. In den Haupteffekten des demographischen Wandels, Alterung und Schrumpfung, kann es durch Zuzug vornehmlich junger Bevölkerung zu einem Ausgleich der Alterung sowie zur Dämpfung der Schrumpfung kommen. In Gebieten mit langfristiger und gleichförmiger Abwanderung kommt es dagegen eher zu einer Verstärkung beider Parameter. Die dominante Beteiligung junger Menschen an Wanderungsprozessen führt zur Dynamisierung der Verschiebung der Altersgruppen, insbesondere zu einer Beschleunigung des relativen Wachstums des Seniorenanteils an der Gesamtbevölkerung. Zugleich fehlen den Gebieten mit stetiger 243 Abwanderung auch die Geburtenpotenziale. Hinsichtlich der Effekte der Migration und des demographischen Wandels kann also mit Bezug auf die Verschiebung in den Altersgruppen und die Schrumpfung durchaus von einem Springfluteffekt (siehe S. 11) gesprochen werden. 1.7 Demographische Entwicklung und Kommunalpolitik Nach wie vor gibt es in Deutschland bei vielen Parametern erhebliche räumliche Unterschiede in Abhängigkeit von der demographischen Entwicklung. Das betrifft z. B. die Verfügbarkeit der auf den Bedarf unterschiedlicher Altersgruppen ausgerichteten Infrastruktur (Einrichtungen für Kinder und Senioren; Gesundheitswesen), die vom regionalen Arbeitsmarkt abhängigen Einkommenschancen, den Wohnungsmarkt, den öffentlichen Personen- und Nahverkehr (insbesondere Schulverkehr) sowie die Chancen der Partizipation an Bildung und Kultur infolge unterschiedlicher Distanzen zu den Standorten jeweiliger Angebote. Mehr noch: Infolge der zunehmenden Automobilisierung hat insbesondere der ländliche Raum in den vergangenen 40 Jahren extreme Einbußen im Angebot von Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge erfahren. Mit der Wiedervereinigung bekam diese Entwicklung noch einen Extraschub, wobei die Verfügbarkeit über Kraftfahrzeuge nur eine Seite dieses Prozesses war. Zeitgleich kam es insbesondere im Osten Deutschlands zu einer sprungartigen Konzentration fast aller Elemente der marktorientierten Infrastruktur, vor allem im großflächigen Handel, der sich fast ausschließlich auf die Oberzentren und die größeren Mittelzentren orientierte. Damit gab der Einzelhandel ein räumliches Muster vor, dem die öffentliche Hand weitgehend folgte. Die Ökonomisierung der dafür verantwortlichen Kommunalpolitik (das betrifft die Städte und Gemeinden ebenso wie die Landkreise) folgt den gleichen Effektivitätskriterien, die die marktorientierten Angebote steuern, was mit dem Gebot zum sparsamen Umgang mit öffentlichen Geldern begründet wird. Die Formel: „Das trägt sich nicht!“ ist zum gängigen Slogan in der Kommunalpolitik geworden. Kaum eine Gemeinde, kaum ein Landkreis werden derzeit ohne ein Haushaltssicherungsgesetz geführt. Besonders problematisch ist dabei die in der Ökonomie der öffentlichen Hand übliche Ausrichtung an Einwohnerzahlen, wenn Kommunen im ländlichsten Raum betroffen sind. Um eine effektive Anzahl zu versorgender Einwohner zu erreichen, werden die zu versorgenden Areale bei besonders geringer Bevölkerungsdichte oft so groß (z. B. durch Gemeindefusionen oder Kreisgebietsreformen), dass die Distanz vom Wohnort der zu versorgenden Bevölkerung zum Erfüllungsort der jeweiligen Leistung immer größer wird. Das schlägt sich sowohl auf die Fahrzeiten als auch auf die Organisation des Verkehrs (oft mit mehrfachem Umsteigen) nieder. 244 2 Die aktuelle und mittelfristig absehbare demographische Entwicklung in Mecklenburg-Vorpommern 2.1 Ausgangslage Jeder Bevölkerungsstand, alle Entwicklungen und Strukturen der Bevölkerung bauen auf vorherigen Bevölkerungsständen, Entwicklungen und Strukturen auf. Aus diesem Grund ist es zumeist recht schwierig, eine generelle Ausgangslage zu bestimmen. In der Regel wird auf historische Zäsuren zurückgegriffen oder auf solche gravierenden Einschnitte in der Entwicklung, die zumindest eine Trendwende in demographischen Teilbereichen kennzeichnen. Eine solche historische Marke ist für das jüngere Deutschland sicher die Wiedervereinigung. Sie markiert im demographischen Kontext zumindest eine markante Verringerung in der Geburtenhäufigkeit, hatte aber auch verschiedene Auswirkungen auf die Wanderungen, und zwar sowohl nach den Richtungen als auch nach der Intensität. Dennoch gibt es gerade im Nordosten Deutschlands eine Reihe struktureller Gegebenheiten, die bereits Jahrzehnte zuvor veranlasst wurden. Das betrifft die Wirkungen der kostenlose Freigabe der „Pille“ und der Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in der DDR Anfang der 1970er Jahre, die in den damaligen drei Nordbezirken zu geringeren Geburtendefiziten geführt haben als etwa in Sachsen oder Thüringen. Es betrifft aber auch die Migration: Durch die „Absolventenlenkung“ kamen viele Jahrzehnte lang akademisch qualifizierte Fachkräfte und gut qualifizierte Führungskader diverser gesellschaftliche Bereiche selbst in die ländlichsten Gebiete. Bereits vor 1990 hatte die Region des heutigen Mecklenburg-Vorpommerns die mit Abstand geringste Bevölkerungsdichte in Deutschland, den höchsten Anteil an Kindern und Jugendlichen sowie die wenigsten Senioren. Es gab eine klare Gliederung nach Stadt und Land, wobei die meisten Kreis- und vor allem die Bezirkszentren, die durch den staatlichen Wohnungsbau bevorzugt wurden, über viele Jahrzehnte hinweg Zuzug erfuhren und damit in der Altersstruktur durch einen hohen Anteil von Menschen im Familiengründungs- und Arbeitsalter demographisch bevorteilt waren. Die ländlichen Gemeinden, die Quellorte der Migration, verloren hingegen bereits seit den fünfziger Jahren kontinuierlich ihre jüngere Bevölkerung. Die Bevölkerungsdichte ist einer der wichtigsten bevölkerungsgeographischen Parameter, denn der Bezug zur Fläche ist zumeist die entscheidende Grundlage für die Demo-Ökonomie. Alle Anforderungen an eine bevölkerungsbezogene Versorgung, aber auch die Chancen der am Markt ausgerichteten Themen, orientieren sich bei der Standortbewertung immer an der Effektivität, die sich aus der Anzahl der Bezugspersonen und ihrer Potenziale ableitet. Das sind einerseits die Anforderungen an die öffentliche Daseinsvorsorge, andererseits aber auch die von der Wirtschaft hinterfragten ökonomischen Daten, von der Dichte der Infrastruktur bis zum regionalen Umsatzpotenzial. Damit gestattet die indizierte Kaufkraftdichte unter den Bedingungen der Marktwirtschaft eine deutlichere Unterscheidung von Regionen, als es die Bevölkerungsdichte vermag. Anhand der Kaufkraftdichte ist – von Ausnahmen abgesehen – der Süden des Landes Mecklenburg-Vorpommern wie auch der Norden Brandenburgs ein kompaktes Areal, das aus demographischer Sicht als „der Problemraum Deutschlands“ zu betrachten ist. Im Unterschied zu anderen Ländern gibt es dazu in Mecklenburg-Vorpommern aber kaum Alternativen. 245 Abb. 1: Die GfK Kaufkraft-Dichte von Deutschland 2014, nach Landkreisen und kreisfreien Städten Quelle: GfK GeoMarketing GmbH Mit der Wiedervereinigung brachen die sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen der DDR weg, und damit verschwanden die Ursachen für die – selbst für DDR-Verhältnisse – etwas exklusivere Bevölkerungsentwicklung im Nordosten. Das führte von 1989 bis 1994 zu einer viel stärkeren Veränderung der Geburtenbilanz und des Wanderungsverhalten als in den anderen neuen Bundesländern. Die allgemeine Bevölkerungsentwicklung durchlebte in dieser Zeit aufgrund mehrerer Überkompensationen vorheriger Trends sowie durch die Überlagerung der Auswirkungen des demographischen Wandels (Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung) mit ähnlichen Effekten der selektiven Abwanderungen einen „Springfluteffekt“ der negativen Parameter. In nicht einmal einer Generation wurde Mecklenburg-Vorpommern somit von der „Kinderstube der Nation“ zum „Altersheim Deutschlands“. 246 In Mecklenburg-Vorpommern ist es also nicht so einfach, eine sichere Ausgangslage für eine Charakterisierung der demographischen Lage als auch für einen haltbaren Ausblick zu finden, wenn lediglich die Turbulenzen aus der Zeit der Wiedervereinigung und kurz danach beachtet werden. Darum sollte nicht unerwähnt sein, dass es zumindest auch eine positive Konstante gibt: Wie fast überall in Europa erhöht sich die Lebenserwartung stetig und nach 1990 sogar beschleunigt, obgleich die Werte in Mecklenburg-Vorpommern für Männer wie für Frauen nach wie vor zu den geringsten in ganz Deutschland gehören. Abb. 2: Alters- und Geschlechtsgliederung der Bevölkerung MecklenburgVorpommerns zum 31.12.1992 Quelle: Statistisches Amt MV; Eigene Berechnung und Darstellung. 247 Die demographische „Ausgangslage“ erkennen wir in der Bevölkerungsstruktur nach Alter und Geschlecht von 1992. Nachvollziehbar sind die Geburtenausfälle der beiden Weltkriege sowie die Zeit der Initialisierung des legalen Schwangerschaftsabbruchs in der DDR, aber auch der schlagartige Geburtenausfall nach dem Fall der Mauer im Jahre 1989. Zu den besonders bemerkenswerten Aspekten der demographischen Entwicklung in MecklenburgVorpommern gehören spezielle Auswirkungen der selektiven Abwanderung. Während weltweit insbesondere die arbeitsweltlich orientierte Migration überproportional häufig durch Männer getragen wird, wird im Osten Deutschlands bei diesen Wanderungen nachweislich seit Mitte der 1960er Jahre, wahrscheinlich jedoch bereits seit Beginn der 1950er Jahre, ein besonders hoher Anteil an Frauen registriert. Vor allem die Migration vom Dorf in die Stadt ist seit vielen Jahrzehnten überproportional häufig weiblich. Das führte insbesondere im demographisch aktiven Alter (etwa 18. bis 30. Lebensjahr) bereits vor 1990 zu einem Frauendefizit in den ländlichen Gemeinden, das als Gradmesser für Defizite in der Qualität der Infrastruktur gewertet konnte. 2.2 Die Residualbevölkerung – regionaldemographische Realität und konstitutives Element der ländlichsten Räume „Residualbevölkerung“ ist ein relativ unscharfer bevölkerungsgeographischer Arbeitsbegriff der bevölkerungsgeographischen Migrationsforschung (Weiß 2006, S. 494f). Er dient der Kennzeichnung struktureller Besonderheiten einer regionalen Bevölkerung, die lang anhaltende, selektive Abwanderungen erfahren hat, wobei sich die zur typischen Struktur der Migranten komplementären Eigenschaften verfestigen. In den ländlichsten Räume Deutschlands östlich der Elbe sowie in der Altmark findet dieser Prozess ungestört bereits in der dritten Generation statt. Als Determinanten der Migration dominieren Alter, Geschlecht und Qualifikation, wobei im Saldo – vor allem verglichen mit anderen Räumen – gut ausgebildete junge Frauen mit einem streng arbeitsweltlichen Migrationsmotiv an der Abwanderung überproportional beteiligt sind. Seit 1990 hat diese Entwicklung flächendeckend alle neuen Bundesländer inklusive fast aller Zentren erfasst. Das führte im demographisch aktiven Alter zur Verwerfung der Sexualproportionen mit einem Frauendefizit von rund 15 Prozent (siehe Abb. 3). Dieses Maß ist statistisch relativ leicht zugänglich und somit ein guter Indikator für regionale Schwächen der Arbeits- und Lebensbedingungen, aber zugleich auch ein Katalysator für Folgeprobleme vor allem in den sozialen Beziehungen, denn die entstehenden Männergesellschaften neigen zur Veränderung gesellschaftlicher Wertmaßstäbe. Die Residualbevölkerung ist schon lange nicht mehr nur ein Indikator regionaler Probleme, sondern sie ist zur festen Eigenschaft vieler ländlicher Räume, ja zum „harten Standortfaktor“ geworden. Ihr wesentlicher Parameter ist das Frauendefizit im demographisch aktiven Alter. Die regionale Bevölkerungsstruktur und die demographische Entwicklung sind in den diesbezüglichen Problemgebieten inzwischen begrenzende bzw. beschränkende Bedingungen für die ökonomische Entwicklung, z. B. hinsichtlich der Umsatzzahlen. Zugleich wurden sie zum Begründungshintergrund für den allmählichen Rückzug der sozialen Infrastruktur aus der Fläche, denn für die Ökonomie der Öffentlichen Hand gilt das Prinzip des sparsamen Einsatzes gesellschaftlicher Fonds. Das Frauendefizit im demographisch aktiven Alter lässt sich von 248 allen demographischen Parametern der Residualbevölkerung statistisch am besten belegen. Aufgrund seiner besonderen Bedeutung soll es im Folgenden detaillierter besprochen werden: Es ist geradezu gesetzmäßig, dass etwa bis zu vier Prozent mehr Jungen als Mädchen geboren werden. Bei weitgehend überwundener Kinder- und Säuglingssterblichkeit bleibt dieser Überschuss trotz der höheren Sterblichkeit der Männer relativ lange erhalten, zuweilen sogar bis zum Eintritt in das Rentenalter. In Mecklenburg-Vorpommern erkennen wir jedoch mit Beginn der Volljährigkeit eine Verdoppelung bis Verdreifachung des natürlichen Männerüberschusses (siehe Abb. 2), ausschließliches Ergebnis überproportionaler Abwanderungen junger Frauen. Dieser Überschuss bleibt in Mecklenburg-Vorpommern allerdings nur bis in die Mitte des fünften Lebensjahrzehnts erhalten, denn in dieser Region ist die Sterblichkeit der Männer gegenüber dem Durchschnitt Deutschlands relativ hoch. Die überproportionale Abwanderung junger Frauen setzte sich nach 1990 nicht nur fort, sondern betraf nunmehr sogar die Städte. Männerüberschuss bzw. Frauendefizit im demographischen aktiven Alter wurde zum demographischen Markenzeichen Ostdeutschlands. Einige Bevölkerungswissenschaftler, vor allem jene, die bei diesem Thema jeden Bezug zur DDR-Vergangenheit der Region vermeiden wollen, interpretieren diesen Sachverhalt lediglich als fehlende Zuwanderung von Frauen. Rein rechnerisch mag das für einige Gebiete sogar stimmen. Vor allem aber in den ostelbischen ländlichen Räumen, also in den meisten Gebieten von Brandenburg und MecklenburgVorpommern, in Sachsen-Anhalt auch in der Altmark, ist das falsch. Hier überwiegen die Frauenverluste nicht nur relativ, sondern großflächig auch absolut. Auf jeden Fall ist die Bilanz eindeutig: Abgesehen von einigen wohl begründbaren Ausnahmen gibt es kaum einen Landkreis und nur wenige kreisfreie Städte in den neuen Bundesländern, in denen im demographisch aktiven Alter auf 100 Männer mehr als 85 Frauen kommen. Selbst im internationalen Maßstab findet die Situation im Osten Deutschlands großes Interesse (EU-Projekt: SEMIGRA = „Selektive Migration“, Wiest, Leibert 2011). Abb. 3: Sexualproportionen der Geburtskohorte 1974-1984 in MecklenburgVorpommern 1990 bis 2003 Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung. 249 Der explizite Hinweis auf das Phänomen „Frauendefizit“ ist unbedingt notwendig, denn das Vorhandensein oder das Fehlen von Frauen im Alter der Familiengründung ist unter den aktuellen Bedingungen des demographischen Wandels mit einer außerordentlich geringen Fertilität von ca. 1,4 Kindern pro Frau, also weit unter der sogenannten „Ersatzreproduktion“, für die künftige Geburtenentwicklung wichtiger als die reale Fruchtbarkeit. Die Dynamik der Veränderung der Sexualproportion (des prozentualen Verhältnisses von männlichen und weiblichen Personen) einer Altersgruppe wurde 2006 von Roedel untersucht. Er verfolgte die Geburtskohorte 1974 bis 1984, die sich 1990 im Schulalter befand (1. bis 10. Klasse). Im Jahre 1990 war der Jungenüberschuss bei etwa 4,5 Prozent, befand sich also im Toleranzrahmen der natürlichen Sexualproportion. In der Folge verringerte sich der Bestand vorrangig durch Abwanderung der Eltern, die ihre Kinder mitnahmen. Mit Beginn der Volljährigkeit wanderten junge Leute auch eigenständig ab. Die Aufnahme eines Studiums oder einer Berufsausbildung außerhalb des Landes, aber insbesondere mit dem Start des eigenen Berufslebens verstärkte sich die Abwanderung. Der Bestand der Frauen sank dabei schneller als der der Männer. Bereits im Jahr 2003 kamen auf 100 Männer dieser Altersgruppe nur noch 84 Frauen; 20 Jahre nach der Wiedervereinigung tendiert der Wert gegen 70 Prozent (siehe Abb. 3-6). In der räumlichen Verteilung dieser Entwicklung dominieren 1990 zunächst die Gemeinden mit relativ ausgeglichenen Sexualproportionen (orangefarben). In nur wenigen Gemeinden gibt es einen leichten Mädchenüberschuss; in ebenso wenigen Gemeinden überwiegen die Jungen, d. h. es liegt eine natürliche Streuung vor. Abb. 4: Sexualproportionen der Geburtskohorte 1974-1984 in MecklenburgVorpommern nach Gemeinden 1990 Quelle: Statistisches Amt MV; Berechnung und Darstellung F. Roedel. 250 Abb. 5: Sexualproportionen der Geburtskohorte 1974-1984 in MecklenburgVorpommern nach Gemeinden 1997 Quelle: Statistisches Amt MV; Berechnung und Darstellung F. Roedel. Abb. 6: Sexualproportionen der Geburtskohorte 1974-1984 in MecklenburgVorpommern nach Gemeinden 2003 Quelle: Statistisches Amt MV; Berechnung und Darstellung F. Roedel. 251 Mit den Zeitschnitten 1997 und 2003 (Abb. 4+5) erkennt man eine deutliche Zunahme der Gemeinden mit einem ausgeprägten Jungen- bzw. Männerüberschuss. Dieses Merkmal ist am Ende der Periode unter Einschluss der meisten größeren Städte flächendeckend. Was in Mecklenburg-Vorpommern bzw. in den neuen Bundesländern durchaus als normal gilt, muss im überregionalen bzw. internationalen Vergleich keineswegs so sein. Schon bevor die Europäische Kommission im Rahmen des Projektes ESPON (European Observation Network for Territorial Development and Cohesion) regional unterschiedliche Entwicklungen durch selektive Migrationen untersuchte, wurde dieses Thema im Rahmen einer Diplomarbeit an der Universität Greifswald bearbeitet. Die nachfolgende Karte wurde 2005 von Torsten Obst entworfen (siehe Abb. 7). Abb. 7: NUTS-2-Regionen der EU25: Dynamik des Geschlechterverhältnisses in der Geburtskohorte 1972-1976 im Zeitraum 1991-2001 Quelle: Eurostat, Berechnung und Darstellung T. Obst (2005). Darin verdeutlicht sich die Exklusivität des Frauendefizits im demographisch aktiven Alter im Osten Deutschlands. Dargestellt wird die Dynamik, mit der sich der Geschlechteranteil zu Gunsten der Männer (blau) bzw. der Frauen (rot) verändert. Bleibt zu klären, nach welchen Mechanismen sich die Residualbevölkerung konstituiert. Dafür ist es notwendig, noch einmal in die Zeit vor 1990 zurückzublicken. Schon Mitte der 1980er Jahre wurde festgestellt, dass die demographische Ausdünnung des ländlichen Raumes zu einem flächenhaften, fast ausnahmslosen Ereignis wurde, dem sich bestenfalls die Kreis- und Bezirkszentren und wenige Standorte der industriemäßigen Landwirtschaft entziehen konnten. Die strukturellen Veränderungen der Gemeinden fanden so intensiv und so schnell statt, dass es zu tiefen Erosionen in der Altersgliederung der Bevölkerung kam. 252 Es wurde ferner befürchtet, dass „Interferenzen aus Migrationseffekten, dem demographischen Echo der Geburtenausfälle zwischen 1972 und 1976 und anderen Einflüssen … zukünftig noch stärkere Deformationen der Altersgliederung und anderer Potenziale bewirken“ könnten (Weiß 1996, S. 87). Auf Basis einer Clusteranalyse mit über 50 demographischen Struktur- und Prozessdaten sowie ausgewählten Eckwerten zum territorialen Bedingungsgefüge wurde Mitte der achtziger Jahre an der Universität Greifswald eine Typisierung der Gemeinden in den Nordbezirken der DDR erarbeitet. Nach den Kriterien der regional-demographischen Dynamik wurden die Gemeinden zu Typen gruppiert, die sich insbesondere in ihrer demographischen Struktur maßgeblich voneinander unterscheiden. Dabei wurde folgende Klassifikation vorgenommen (BD = Bevölkerungsdynamik): a) BD I: Zumeist städtische Gemeinden, die allgemein als die Entwicklungsstandorte der jüngeren Vergangenheit angesehen werden können (Urbaner Typ); b) BD II: Standorte mit der Sonderfunktion Anstaltshaushalte (Sonderfunktionaler Typ Altersheim); c) BD III: Wegzugsgemeinden mit geringem Geburtenüberschuss (Durchschnittstyp); d) BD IV: Überalterte Wegzugsgemeinden (Postprosperitärer Entwicklungstyp); e) BD V: Stark überalterte Wegzugsgemeinden, im Bestand als funktionsfähiger gesellschaftlicher Organismus gefährdet (Demographischer Krisentyp). In einigen Gebieten traten die Problemgemeinden der Typen BD IV und BD V gehäuft auf. Darum wurden sie einer noch tieferen Analyse unterzogen, in deren Ergebnis erhebliche Differenzen in der Sexualstruktur insbesondere im demographisch aktiven Alter entdeckt wurden. Es waren eben jene Frauendefizite, die zur Entwicklung des Begriffs Residualbevölkerung führten, die damals allerdings eher als Ausdruck der Chancen interpretiert wurden, welche die Frauen wahrnahmen, wenn sie durch Migration in die Städte ihrer Lebenslage verbessern würden. Die enge Beziehung des Frauendefizits mit zeitlich weitreichenden Auswirkungen auf die Geburtenentwicklung und die Altersstruktur der Bevölkerung, aber auch auf das kulturelle und das Bildungsniveau konnten jedoch vor 1990 offiziell nicht untersucht werden, so dass Vertiefungsarbeiten aus blieben. Aus heutiger bevölkerungsgeographischer Sicht ist es bemerkenswert, dass die räumliche Häufung bzw. die Streuung der Gemeinden gleicher Problemlagen der damaligen Untersuchung in aktuellen Studien wieder erkennbar ist. Es scheint also offenbar ein starkes räumliches Beharrungsvermögen der demographischen Strukturen vorzuliegen. Die weitreichendste Konsequenz und die schwerwiegendsten Schlussfolgerungen bei der Modellierung der Residualbevölkerung ist aber die enge Beziehung von Alter, Geschlecht und Qualifikation der an der Migration beteiligten Personen. Es erscheint sicher sehr mechanisch 253 konstruiert, aber vielfach dominieren in den Standorten und Regionen jahrzehntelanger konstanter Wanderungsverluste qualitative Parameter, die sich zu den Merkmalen der Migranten komplementär verhalten: Wandern junge Leute ab, so bleiben die älteren zurück; wandern überproportional viele Frauen ab, so dominieren unter den Sesshaften die Männer; wandern die Qualifizierten ab, so steigt in der Quellregion der Anteil derer, mit einer geringen Qualifikation. 2.3 Regionale Differenzierung der aktuellen und künftigen Bevölkerungsentwicklung von Mecklenburg-Vorpommern Ab Mitte der 1990er Jahre ebbten die intensiven Abwanderungen in die alten Bundesländer allmählich ab und es entwickelte sich eine neuartige, innergebietliche Umverteilung, wobei es zu einer dominanten Stadt-Umland-Migration kam. Insbesondere Gemeinden im Umfeld der Oberzentren (Rostock, Schwerin, Neubrandenburg, Stralsund und Greifswald) und der großen Mittelzentren (vorrangig Wismar und Güstrow) profitierten vom Bauboom, indem vieles nachgeholt wurde, was bis 1990 nicht möglich war. Allerdings war diese Suburbanisierung nach wenigen Jahren weitgehend abgeschlossen. Ab 2003 verloren viele Stadt-UmlandGemeinden sogar wieder Einwohner an die Zentren – vorrangig mittlerweile erwachsene Kinder der vorherigen Stadt-Umland-Migranten. Seitdem können wir mit Blick auf Mecklenburg-Vorpommern im Wesentlichen von einer „konsolidierten demographischen Situation“ sprechen. Es ist die Ausgangslage, auf der die 4. Landesprognose zur Bevölkerungsentwicklung in Mecklenburg-Vorpommern bis zum Jahr 2030 aufbaut – demographischer Rahmen der künftigen Wohlstandsverhältnisse im Lande. Rahmenbedingungen der 4. Landesprognose Zunächst ist die 4. Landesprognose nicht einfach eine Aktualisierung der 3. Landesprognose vom März 2007, sondern sie baut vielmehr auf einer methodischen Weiterentwicklung auf, in dem vor allem die Wanderungen zwischen den Landkreisen und kreisfreien Städten besser aufeinander abgestimmt wurden. Darüber hinaus wurde der Prognosehorizont auf 2030 erweitert. Unter Einbeziehung der neuesten Entwicklungstrends bei Fertilität, Mortalität und Wanderung wurden die Annahmen überarbeitet, und es wurden aktuellere Zahlen insbesondere im Bereich der innergebietlichen Zu- und Fortzüge eingearbeitet (siehe Abb. 8). Im Ergebnis der bisherigen Entwicklung haben sich bereits erhebliche Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur ergeben, wobei insbesondere die Verschiebung unter den Altersgruppen als auch die dabei unterschiedliche Dynamik in der Entwicklung zwischen Stadt und Land auffällt. Es sind insbesondere die ländlichen Regionen, in denen der Anteil der Kinder und Jugendlichen besonders stark zurückgeht. Genau dort steigt der Anteil der Senioren rapide an. Das ist aber zugleich jene Altersgruppe, die den höchsten Bedarf an diversen sozialen Leistungen hat – von der unmittelbaren medizinischen Versorgung bis zu allgemeinen Leistungen in der Pflege und Betreuung (siehe Abb. 9). 254 Abb. 8: Parameter der Bevölkerungsentwicklung in Mecklenburg-Vorpommern Quelle: Oberste Landesplanungsbehörde Mecklenburg-Vorpommern 01/2013 Abb. 9: Entwicklung der Bevölkerung in Vorpommern nach Hauptaltersgruppen sowie differenziert nach Stadt- und Landkreisen in Zeitschnitten Quelle: Versorgungsatlas Vorpommern, S. 6. Stadtkreise = ehemals kreisfreie Städte Greifswald und Stralsund; Landkreise = ehemalige Kreise Nordvorpommern, Ostvorpommern, Rügen und Uecker-Randow. 255 2.4 Grundannahmen der aktuellen Prognose der Bevölkerungsentwicklung a) Geburten Nach 1990 kam es in ganz Ostdeutschland zu einem drastischen Einbruch der Anzahl der Geburten. In Mecklenburg-Vorpommern lag das Geburtenniveau im Durchschnitt der drei Nordbezirke der DDR Mitte der 1980er Jahren noch nahe der sog. Ersatzreproduktion, hatte mit rund 1,85 Kindern je Frau das höchste Niveau in Deutschland. Hatte der 1990 ermittelte Wert noch bei 1,64 Kindern je Frau gelegen, so sank dieser bis 1994 allerdings auf den wohl historischen Tiefststand von durchschnittlich 0,75 Kindern je Frau. Er war damit geringer als während der Weltkriege. Seit Mitte der neunziger Jahre ist das Geburtenniveau wieder kontinuierlich angestiegen, erreichte im Jahr 2006 annähernd den bundesdeutschen Durchschnittswert von 1,33 und lag 2009 in Mecklenburg-Vorpommern mit 1,42 Kinder je Frau sogar leicht über dem bundesdeutschen Durchschnitt (siehe Abb. 10). Abb. 10: Entwicklung der TFR 1950 bis 2008/2009*, Mecklenburg-Vorpommern und Deutschland im Vergleich Quelle: Strategiebericht der IMAG Demografischer Wandel der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern (2011), S. 13. - [ *Die TFR 2009 nur für MV. Die TFR („Totale Fruchtbarkeitsrate“) gibt die durchschnittliche Anzahl lebend geborener Kinder je Frau an, indem die aktuellen altersspezifischen Geburtenraten aller Altersjahrgänge aufaddiert werden. Dadurch lassen sich bei der Bewertung vor allem Altersstruktureffekte vermeiden.] Für die nächsten Jahrzehnte werden signifikante Steigerungen nicht mehr erwartet. Bis 2020 wird im „Positiv-Szenario“ mit einem nochmaligen leichten Anstieg auf 1,45 Kinder je Frau gerechnet. Dies wird insofern für Mecklenburg-Vorpommern als realistisch eingeschätzt, da ländlich strukturierte Räume in Deutschland höhere Geburtenziffern als urbane Räume aufweisen (siehe Abschnitt 3.2.4). Bis Ende des Prognose-Zeitraums im Jahr 2030 wird das mittlere Geburtenniveau dann wahrscheinlich unverändert bleiben. b) Lebenserwartung/Sterblichkeit Die Zahl der Sterbefälle in Mecklenburg-Vorpommern ist seit der Wiedervereinigung bis 2001 fast stetig zurückgegangen. Seit 2007 steigen die Werte aber wieder an und es muss auch zukünftig mit einem weiteren Anstieg gerechnet werden. Der Grund für diese Entwick256 lung ist insbesondere die steigende Zahl von Seniorinnen und Senioren. Dieser Anstieg hat eine wesentlich höhere Dynamik, als die Effekte aus der Zunahme der Lebenserwartung. Letztere lag 1995 bei Männern noch bei 68,8 Jahren und bei Frauen bei 77,6 Jahren. Nach der verwendeten Sterbetafel (2006/2008) stiegen die Werte für Männer bereits auf 75,1 und für Frauen sogar auf 81,9 Jahre (vgl. Abb. 11). Damit nimmt Mecklenburg-Vorpommern im bundesdeutschen Vergleich noch immer eine relativ ungünstige Position ein, hat sich angesichts der Probleme bei der medizinischen Notfallversorgung in einem Flächenland aber bereits erheblich verbessert. Zukünftig wird mit einem weiteren Anstieg der Lebenserwartung in Deutschland und auch in Mecklenburg-Vorpommern gerechnet. Die Lebenserwartung der Frauen in MecklenburgVorpommern wird bis 2030 um prognostizierte 3,5 Jahre auf 85,2 Jahre, bei Männern um prognostizierte fünf Jahre und damit auf 80,2 Jahre steigen, so dass sich die Differenz zwischen der Lebenserwartung von Männern und Frauen auf ca. fünf Jahre weiter verringern wird. Abb. 11: Lebenserwartung bei der Geburt der Frauen und Männer 2006/2008 nach Bundesländern Quelle: Strategiebericht der IMAG Demografischer Wandel der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern (2011), S. 13. - [* Werte vom Jahr 2007/2009] c) Wanderungen Mecklenburg-Vorpommern hat von 1990 bis 2009 im Saldo insgesamt rund 180.000 Personen durch Wanderungsverlust verloren, davon rund 80.000 männliche und 100.000 weibliche Einwohner. Nach einer bevölkerungsgeographischen Faustregel werden 85 Prozent aller Wanderungen durch das Alter determiniert (Michel 2000, S. 2). Das gilt insbesondere für Standorte und Regionen, in denen die Wanderungsströme einseitig verlaufen, also für klassische Zuzugs- wie auch für Wegzugsgebiete. Im Unterschied zu vorherigen Prognosen nahm die Landesregierung bei der 4. Prognose der Bevölkerungsentwicklung eine realistischere Position ein. Sie akzeptierte, dass Mecklenburg257 Vorpommern ein typisches Wegzugsland ist, aus dem vor allem junge Menschen wegzogen, um eine Arbeit oder einen Ausbildungsplatz zu finden bzw. um außerhalb des Landes ein Studium aufzunehmen. Den überwiegenden Anteil davon nahmen Frauen im jüngeren gebärfähigen Alter zwischen 18 und 29 Jahren ein. Seit der Wiedervereinigung haben deutlich mehr Menschen das Land verlassen, als Menschen zugewandert sind, so dass die bisherige Wanderungsbilanz negativ war. Das betrifft insbesondere das Hauptmigrationsalter vom 18. bis zum 35. Lebensjahr. In unterschiedlichen Zeitschnitten kommt es immer wieder zu denselben räumlichen und biographischen Verteilungsmustern der Migranten. Auch in Zukunft ist diesbezüglich keine wesentliche Veränderung zu erwarten. Damit dürfte zumindest auf Landesebene die Altersstruktur der Migranten eine sehr sichere Komponente in der Prognose sein (siehe Abb. 11). Lediglich die innergebietlichen Differenzierungen mit Blick auf die Landkreise und kreisfreien Städte bedürfen einer vertieften Begründung. Weniger treffsicher kalkulierbar wird die künftige Entwicklung der Außenwanderungen sein, da es dafür zwischen den Innenministern der Länder eine politische Entscheidung auf Bundesebene geben wird. Abb. 12: Mecklenburg-Vorpommern, Zu- und Wegzüge nach dem Alter, mehrere Zeitschnitte Quelle: Oberste Landesplanungsbehörde Mecklenburg-Vorpommern, 11/2010. Die besondere Bedeutung der Altersgruppe 18 bis 25 Jahren zwingt zu einer gesonderten Betrachtung. In diesem biographischen Abschnitt werden oft Entscheidungen für das ganze Leben getroffen, die für die betreffenden Personen, aber auch für ihr Lebensumfeld eine nachhaltige Bedeutung haben. Gerade die seit Jahrzehnten anhaltende demographische Erosion von Mecklenburg-Vorpommern durch selektive Abwanderung wird in der entsprechenden Grafik besonders deutlich (siehe Abb. 13). In den öffentlichen Debatten wird vielfach darauf verwiesen, dass es ab und an positive Tendenzen in der Migrationsbilanz gibt. Der Hintergrund solcher Diskussionen soll hier nicht 258 gewertet werden. Entscheidend ist jedoch, dass die langfristigen Wanderungsverluste des Landes nach Alter und Geschlecht kaum durch kurzfristige Ereignisse aufgehoben werden können. Das gilt insbesondere für die abgewanderten Frauen, mit denen auch das Geburtenpotenzial des Landes verschwunden ist. Es stimmt allerdings hoffnungsvoll, dass zumindest seit 2000 die jungen Frauen auch bei den Zuzügen dominieren. Solange allerdings die Migrationsbilanz insgesamt derart negativ ist, fehlen die Betreffenden in fast allen Bereichen der Gesellschaft. Das wird angesichts jener Bereiche auf dem Arbeitsmarkt, die stark sexualspezifisch orientiert sind, wie z. B. Pflegeberufe, zu erheblichen Engpässen führen. Abb. 13: Mecklenburg-Vorpommern, Zu- und Wegzüge der Altersgruppe 18 bis 25 Jahren nach Geschlecht Quelle: Oberste Landesplanungsbehörde Mecklenburg-Vorpommern, 11/2010. d) Regionale Differenzierung Die Regionen im Land sind von Wanderungen und Geburtendefiziten ungleich betroffen. Besonders starke Auswirkungen gab es bisher vor allem in den mittleren und den östlichen Landesteilen. Lediglich im Gebiet der Alt-Landkreise Nordwestmecklenburg und Bad Doberan wohnen heute mehr Menschen als 1990 – ein Resultat umfangreicher Stadt-UmlandWanderungen. Die größeren Städte hatten von 1990 bis etwa 2005 hohe Bevölkerungsverluste, da viele Einwohner – vor allem Familien mit Kindern – in das Umland abwanderten. Dieser Trend hat sich in den letzten Jahren umgekehrt und einige Städte haben wieder Wanderungsgewinne. Nach der 4. Landesprognose (siehe Abb. 14) werden aber nur die Universitätsstädte Rostock und Greifswald im Jahr 2030 gegenüber heute höhere, Wismar eher konstante Bevölkerungsstände, haben. 259 Abb. 14: Relative Bevölkerungsentwicklung 2009-2030 in MecklenburgVorpommern nach der 4. Landesprognose nach Alt-Kreisen Quelle: Oberste Landesplanungsbehörde Mecklenburg-Vorpommern, 11/2010. Die höchsten Bevölkerungsverluste haben hingegen zentrumsferne ländliche Räume. Hier summieren sich Wanderungsverluste und Geburtendefizite. Zugleich sind das jene Räume, in denen die Bevölkerung schon jetzt einen besonders hohen Altersdurchschnitt aufweist. Kleinräumig betrachtet ist zukünftig ein enges Nebeneinander von Bevölkerungsverlusten und starker Überalterung einerseits und Standorten mit mäßigen Bevölkerungsverlusten oder sogar leichten Bevölkerungsgewinnen andererseits zu erwarten (siehe Abb. 14). e) Alters- und Geschlechtsgliederung Bis zum Jahr 2030 wird die Bevölkerung in Mecklenburg-Vorpommern nach Alter und Geschlecht eine Struktur erhalten, wie sie in der gesamten Geschichte der Demographie bisher noch ohne Beispiel ist. Alle Personen, die jünger als 40 Jahre sind, werden zusammen nur noch rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung umfassen. Die Kohorten des „Babybooms“, die Anfang der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre geboren wurden, sind nicht nur im Rentenalter (nach heutiger Bemessung) angekommen, sondern stellen die stärkste Altersgruppe. Es wird wahrscheinlich sogar mehr 80-Jährige als Säuglinge geben. Städten und Gemeinden, die von diesem Schema positiv abweichen, stehen allerdings Standorte und Regionen mit einer noch problematischeren Struktur gegenüber. Ihre Auswirkungen und Rückkopplungen zum Wohlstandsniveau sind noch völlig offen. Sicher dürfte allerdings sein, dass sich die Anforderungen an die medizinische Versorgung und die Pflege nicht verringern werden. 260 Abb. 15: Alters- und Geschlechtsgliederung der Bevölkerung MecklenburgVorpommerns, 4. Landesprognose bis 2030 Quelle: Statistisches Amt MV, Eigene Berechnung und Darstellung. f) Aktualisierung der 4. Landesprognose auf das Basisjahr 2010 Eine Aktualisierung der 4. Landesprognose wurde nötig, weil in der Zwischenzeit einige Veränderungen in den Trends zu beobachten waren, insbesondere in den Stadt-UmlandWanderungen, aber auch in der Dynamik der natürlichen Bevölkerungsbewegungen. 261 Die Begründung der obersten Planungsbehörde lautete: • Die Wanderungssalden fallen schon früher positiv aus als in der 4. Landesprognose angenommen wurde. • Die Sterbetafeln für die 12. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes wurden für 2011 bis 2030 methodisch neu berechnet (die Kopplung an die Todesursachenstatistik erhöht Anzahl der Sterbefälle in MecklenburgVorpommern). • Die detaillierten Ergebnisse des Zensus 2011 zur Neuberechnung einer 5. Landesprognose für Mecklenburg-Vorpommern werden erst 2014/2015 vorliegen. Für die 4. Landesprognose ist der Zeitraum 2008 bis 2014/2015 zu lang. • Für das Gebiet der neuen Kreise gibt es noch keine Bevölkerungsprognosen. In der Gesamtwirkung auf die Entwicklung der Einwohnerzahl ergibt sich ein recht eindeutiges Bild der Bevorteilung der dynamischeren Zentren und ihrer Umlandregionen. Danach fallen die Hansestädte Stralsund und Wismar ebenso hinter die Universitätsstädte Rostock und Greifswald zurück, wie die Landeshauptstadt Schwerin. Nach der die Prognose begleitenden demographischen Bewertung auf Gemeindebasis hat die Stadt Neubrandenburg einschließlich ihres Umlandes deutlich an Entwicklungsenergie verloren (siehe Abb. 16). Abb. 16: Bevölkerungsentwicklung der Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern von 2001 bis 2010 in Prozent Quelle: Oberste Landesplanungsbehörde Mecklenburg-Vorpommern, 11/2011; Vortrag von Hermann Brinkmann in der Enquete-Kommission des Landtages Mecklenburg-Vorpommern „Älter werden in MecklenburgVorpommern“, Anlage zur Kommissionsdrucksache 6/14. Bemerkenswert sind die Bedeutung von Lübeck sowie die Ausstrahlung des Großraums Hamburg über die Landesgrenze hinweg auf Westmecklenburg. Das sich daraus ableitende West-Ost-Gefälle im Land ist eindeutig, obgleich es kleinräumig einige Ausnahmen gibt, die einen engen Bezug zwischen der lokalen Wirtschaftskraft und der demographischen Entwicklung nicht plausibel vermuten lassen. Dennoch korrelieren die Entwicklungen der Einwohner262 zahl so eindeutig mit einer Reihe ökonomischer Parameter, dass die unterschiedlichen Werte oft gegenseitig als Stellvertretergrößen benutzt werden könnten. Unter jenen ökonomischen Indikatoren, die mit der demographischen Entwicklung der Gemeinden am stärksten korrelieren, gehören Variablen über den Arbeitsmarkt und über das individuelle Einkommen. Die räumliche Streuung ist zwar nicht identisch, aber es gibt große Ähnlichkeiten in den Verteilungsmustern. Diese sind seit mehreren Jahrzehnten stabil. Zugleich war die bisherige Bevölkerungsprognose auf die bevorstehende Kreisgebietsreform anzupassen (siehe Abb. 17). Abb. 17: Bevölkerungsentwicklung der Kreise in Mecklenburg-Vorpommern von 2010 bis 2030 (4. Landesprognose, 1. Änderung) Quelle: Oberste Landesplanungsbehörde Mecklenburg-Vorpommern, 10/2012; Die dem Landkreis Vorpommern-Greifswald attestierte „nur leicht negative Entwicklung“ ist vor allem der Einkreisung der Hansestadt Greifswald geschuldet, deren positive Entwicklung die sonst negative Bilanz der Alt-Landkreise Ostvorpommern und Uecker-Randow nahezu ausgleicht. 263 3 Demographie und Armut: Die demographische Struktur von Armut in Mecklenburg Vorpommern an ausgewählten Standorten 3.1 Einführende Bemerkungen Wohlstand und Armut sind keine demographischen Kategorien, lassen sich jedoch durch die individuelle Betroffenheit nach demographischen Merkmalen differenzieren und nach ihrer Häufigkeit und räumlichen Verteilung auch geographisch konkretisieren. Während im demographischen Kontext zumeist die Verteilung nach Alter und Geschlecht sowie mit Bezug auf die Familiensoziologie die familialen Lebenslagen erforscht werden, ist die soziale Lage der Menschen in der Bevölkerungsgeographie eher eine Eigenschaft der Standorte und Regionen. Für die Bevölkerungsgeographie werden räumliche Unterschiede in der Lebensqualität gewöhnlich durch Wanderungen angezeigt. Quellorte der Migration haben in der Regel ungünstige, Zielorte der Migration bessere soziale Rahmenbedingungen. Es gibt dafür eine Reihe Stellvertretergrößen, wie z. B. die allgemeine Wirtschaftsstruktur, zumeist an der relativen Größe der Hauptwirtschaftsbereiche und insbesondere an den Wachstumsbranchen gemessen, das mittlere sozialversicherungspflichtige Einkommen, Daten des Arbeitsmarktes, aber auch direkte Marktdaten über die Kaufkraft (siehe Abb. 1) und den Konsum sowie die privaten Investitionen. Das Wanderungsverhalten kann gegenüber den direkten Aussagen zum Wohlstand oder zur Armut ebenfalls nur eine Stellvertretergröße sein. Allerdings kann eine langfristige, immer wieder nach denselben Mustern verlaufende selektive Wanderung die Bevölkerung sowohl der Quell- als auch der Zielorte so verändern, dass die daraus entstandenen demographischen Verhältnisse ihrerseits selbst wieder zu Rahmenbedingungen werden können, die für die weitere Entwicklung eine entscheidende Grundlage darstellen. In mehreren Gebieten Mecklenburg-Vorpommerns sind mittlerweile solche demographischen Verhältnissen zu konstatieren, die schon lange nicht mehr nur als Indikator dienen, sondern selbst zum Standortfaktor bzw. zum Katalysator weiterer Entwicklungen geworden sind. Das betrifft vor allem die dominant agrarisch strukturierten Gebiete im östlichen Mecklenburg sowie die küstenferneren Gebiete Vorpommerns. Bereits vor 1990 galten die östlichen Landkreise im Bezirk Rostock sowie die nördlichen, zentralen und östlichen Landkreise im Bezirk Neubrandenburg als besonders strukturarm und extrem ländlich. Das markanteste demographische Merkmal dieser Region war der allgemeine Rückgang der Bevölkerungszahl, insbesondere durch Abwanderung. Selbst in den ländlichsten Gebieten sank nun das Geburtenniveau unter die Ersatzreproduktion. Nur aufgrund der günstigeren Altersstruktur der Bevölkerung in den damaligen Nordbezirken der DDR wurde ein leichter Geburtenüberschuss erzielt, der die Abwanderungsverluste in der Gesamtbilanz aber nur zu 15 Prozent kompensieren konnte. Besonders stark betroffen waren u. a. die Landkreise Demmin, Anklam und Strasburg. Der Kreis Strasburg verlor zwischen den beiden Volkszählungen von 1971 und 1981 rund 14 Prozent seiner Bevölkerung. Unter Einbeziehung des zeitgleich erzielten Geburtenüberschusses wanderten im Saldo also in nur zehn Jahren nahezu 20 Prozent aller Einwohner dieses Landkreises ab – der höchsten Bevölkerungsverlust eines Kreises in der DDR in einer 264 solch kurzen Periode. Die Bevölkerungsdynamik anderer Landkreise stand dem jedoch kaum nach (siehe Abb. 18). Innerhalb der Landkreise hatten im Unterschied zu den Kreiszentren spätestens ab Mitte der 1960er Jahre über 85 Prozent aller Gemeinden langjährig z. T. erhebliche Wanderungsverluste. Im Vergleich zur Situation 25 Jahre nach der Wiedervereinigung war die Altersgliederung der Bevölkerung vor 1990 überall noch relativ günstig. Dennoch gab es erhebliche Unterschiede zwischen den Kreiszentren und den peripheren Gemeinden. In den agrarisch strukturierten Dörfern war die Überalterung in unterschiedlichen Stadien das wichtigste Resultat der lang anhaltenden selektiven Wanderungen. Auch auf Gemeindebasis erfuhren die ländlichen Gemeinden des vorpommerschen Festlandes sowie die unmittelbar daran anschließenden ostmecklenburgischen Kreise besonders starke Bevölkerungsverluste. Vielfach betrugen die Rückgänge der Einwohnerzahl im Kreisdurchschnitt 10 ‰ bis 15 ‰ jährlich. Damit galt das Migrationspotenzial, insbesondere der hauptsächlich an der Wanderung beteiligten Altersgruppen, bereits vor der Grenzöffnung 1989 als stark abgebaut. Abb. 18: Entwicklung der Einwohnerzahl in den Kreisen der Nordbezirke der DDR von 1971 bis 1989 Quelle: Weiß 1996, S. 79. Darum traf der Migrationsverlust ab 1989 in Mecklenburg-Vorpommern vornehmlich die Städte. Umso bemerkenswerter, dass die relativen Wanderungsverluste hier zu Beginn der 1990er Jahre auch weiterhin die höchsten aller ostdeutschen Gebiete waren (Grundmann 1998, S. 181ff). Für die ländlichen Gemeinden änderte sich aus bevölkerungsgeographischer Sicht mit der Wiedervereinigung tendenziell lediglich die Zielrichtung der Wanderung: Statt wie bisher in die Kreis- oder Bezirkszentren zu wandern, waren die Migrationsziele jetzt überhäufig in den 265 alten Bundesländern. Hinsichtlich der selektiven Migrationskomponenten Alter, Geschlecht und Qualifikation änderte sich nichts. Die Städte hingegen verloren in den ersten 15 Jahren deutscher Einheit ca. ein Fünftel ihrer Einwohner; die eine Hälfte davon wanderte ebenfalls in die alten Bundesländer ab, die andere Hälfte jedoch hatte die unmittelbaren Stadt-UmlandGemeinden zum Ziel. Die daraus folgende Suburbanisierung war besonders deutlich um die Städte Rostock und Schwerin ausgeprägt. Die anderen ehemals kreisfreien Städte sind von eher „perforierten Speckgürteln“ umschlossen, in denen sich die Stadt-Umland-Migration auf nur wenige verkehrsgünstige bzw. besonders attraktive Standorte konzentrierte. In Konsequenz dieser Entwicklung entwarf die oberste Landesplanungsbehörde für die Fortschreibung des Landesraumentwicklungsprogramms Mecklenburg-Vorpommern (LEP M-V) eine Karte zur stärkeren Differenzierung des ländlichen Raums nach demographischen Kennzeichen. Die ausgewiesenen „Ländlichen Räume mit besonderen demographischen Herausforderungen“ umreißen im Wesentlichen genau jene Regionen, welche bereits vor 1990 seitens der Bevölkerungsgeographie als „Demographische Problemgebiete“ beschrieben wurden und in denen der mit dem Attribut „Demographischer Krisentyp“ gekennzeichnete Gemeindetyp besonders häufig auftrat (siehe Abb. 19). Unabhängig davon, dass im bisherigen Beteiligungsverfahren (2015) sowohl die verbale Kennzeichnung der Regionen, die von erheblichen demographischen Erosionen betroffen sind, als auch die statistische Abgrenzung der jeweiligen Gemeinden Veränderungen erfahren haben, ist über viele Jahrzehnte hinweg eine Persistenz der räumlichen Muster erkennbar. Abb. 19: Ländliche Räume mit besonderen demografischen Herausforderungen Quelle: Landesraumentwicklungsprogramm Mecklenburg-Vorpommern (LEP M-V); Entwurf zur ersten Stufe des Beteiligungsverfahrens, S. 27. 266 Eingebettet in die mittlerweile traditionellen demographischen Transformationsräume, die als Kernregion der Herausbildung einer klassischen Residualbevölkerung gelten, sind die Städte Strasburg und Dargun gute Repräsentanten für mehrere Problemlagen und damit repräsentativ für eine Hochrechnung. Diese erweitert die soziale Seite der Analyse des Verhältnisses von Wanderungen auf die natürlichen Bevölkerungsbewegungen durch die konkrete Bindung von Armut an bestimmte Kohorten. Die Fortschreibung „bedürftiger“ Gruppen als Teil einer Bevölkerungsprognose ist sicher zum Teil spekulativ, ihre Anwendung auf die Alters- und Geschlechtsgliederung für 2030 gemäß der 4. Landesprognose von Mecklenburg-Vorpommern jedoch als Trendaussage realistisch. 3.2 Sozialstatus und natürliche Bevölkerungsentwicklung – eine empirische Untersuchung am Beispiel ausgewählter Kleinstädte in Mecklenburg-Vorpommern 3.2.1 Datenauswahl Die statistische Basis der Recherche umfasst knapp 22.000 Bevölkerungsdatensätze sowie etwa 2.500 Sozialdaten der Städten Dargun und Strasburg (Um.) für den Zeitraum 1979 bis 2014. Die Originaldaten wurden zunächst auf Fehler überprüft, wie z. B. die Dopplungen von Personen, aber auch Übertragungs- oder Logikfehler, wie z. B. ein jüngeres Geburtsalter der Mutter im Vergleich zum eigenen Kind. Trotz aufwendiger Suche ist davon auszugehen, dass nicht alle Fehler entfernt werden konnten. Bei Stichproben nach dem Vier-Augen-Prinzip lag die Fehlerquote jedoch weit unter 0,1 %. 3.2.2 Festlegung der Untersuchungsregionen In einem weiteren Arbeitsschritt wurden die betreffenden Untersuchungsregionen definiert. Menschen sind in Deutschland per Hauptwohnsitz in jeweils genau einer Gemeinde gemeldet. Dabei vergrößert sich mit zunehmender Verweildauer an einer Wohnadresse auch der örtliche Aktionsraum mit Arbeits- oder Ausbildungsort, Nahversorgungseinrichtungen sowie dem Netzwerk an sozialen Kontakten. Unter anderem deshalb werden nachfolgende Adresswechsel der Hauptwohnung häufig innerhalb des Bereiches dieses Bezugsraumes gewählt, so dass die Region nicht verlassen werden muss. Die für die Studie relevanten Untersuchungsregionen gründen sich um die eigentlichen Betrachtungsgemeinden deshalb in einem etwa 20 kmRadius herum. So wird im Wesentlichen der örtliche Bezugsraum der Menschen eingegrenzt, der so auch an die Struktur der Altkreise aus der Vorwendezeit und mit den dazugehörigen räumlichen Bedingungsgefügen grob angelehnt ist. Strukturell abgebildet werden die Untersuchungsregionen abschließend auf Basis von Postleitzahlbezirken (PLZB) und Gemeinden. Im Ergebnis sind die Untersuchungsregionen „Region Strasburg“ und „Region Dargun“ entstanden (Abb. 20 und Abb. 21). 267 Abb. 20: Die Region Strasburg auf Basis von Postleitzahlbezirken und Gemeinden im Jahr 2015 Daten: Leaflet auf Grundlage von OpenStreetMap, Eigene Darstellung. Abb. 21: Die Region Dargun auf Basis von Postleitzahlbezirken und Gemeinden im Jahr 2015 Daten: Leaflet auf Grundlage von OpenStreetMap, Eigene Darstellung. 268 3.2.3 Struktur der Beobachtungsbevölkerung Die Gemeindebevölkerungsdaten wurden für die Analyse nach autochthonen Personen, also den in der Beobachtungsregion Geborenen, und allochthonen Personen, also den außerhalb der Beobachtungsregion geborenen Menschen, selektiert. Das zahlenmäßige Verhältnis beider Gruppen ist mit 11.251 zu 10.409 relativ ausgeglichen. Die Gesamtbevölkerungsdaten unterscheiden 10.563 Männer und 11.097 Frauen. Im Zeitraum 1983 bis einschließlich 2014 wurden 4.295 Sterbefälle 16 registriert, wobei 2.150 auf Männer und 2.145 auf Frauen entfielen. Zwischen 1979 und 2014 gab es 4.253 Geburten. Abbildung 21 veranschaulicht die einzelnen Bevölkerungsgruppen mit Personenzahl und Zugehörigkeit zueinander. Abb. 22: Die Struktur der Bestandsbevölkerung in den Beobachtungsgemeinden zwischen 1979 bis 2014 Daten: Beobachtungsgemeinden; eigene Bearbeitung und Darstellung. Um die demographische Entwicklung einer Bevölkerung im ländlich-peripheren Raum bestmöglich nachvollziehen zu können, wurden die Einwohner aus der Bestandsbevölkerung für die Untersuchung ausgewählt, die seit Geburt nur in den Beobachtungsregionen 17 leben. Hintergrund ist die enge Verknüpfung der Lebensbedingungen aus dem räumlichen Bedingungsgefüge mit den Verhaltensweisen der Menschen in einer bestimmten Region, die Einfluss auf die demographische Entwicklung der Einwohner vor Ort nehmen kann. Die dafür identifizierte Personengruppe wird fortan als Gruppe der Sesshaften dargestellt. Die Sozialdaten beider Beobachtungsgemeinden umfassen 2.464 Personen (1.181 männliche und 1.283 weibliche Personen). In diesem Datenbestand werden alle Menschen gelistet, die in 16 In der Beobachtungsgemeinde Dargun wurden die Sterbefälle nur beginnend mit dem Jahr 1991 bis 2014 geführt. Ursache dafür ist vermutlich die hier fehlende Archivspeicherung, die hingegen in der Beobachtungsgemeinde Strasburg vorliegt. 17 Eventuelle Umzüge der Menschen innerhalb der Gemeinde sind dabei nicht von Bedeutung. 269 den jeweiligen Beobachtungsgemeinden mindestens einen Monat Sozialleistungen bezogen haben. Diese werden im weiteren Verlauf als „bedürftig“ 18 bezeichnet. Im Betrachtungszeitraum 1991 bis 2014 gab es in dieser Gruppe 285 Sterbefälle, wobei mit 156 Sterbefällen die Zahl der Männer vor dem Hintergrund des geringeren Anteils von Männern an den Bedürftigen deutlich über den 129 Fällen der Frauen lag. Zwischen 1979 und 2014 wurden von den (im Betrachtungszeitraum) bedürftigen Personen 1.286 Kinder geboren. Stadt Dargun Die Stadt Dargun ist eine amtsfreie Kleinstadt im Norden des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte im Binnenland Mecklenburg-Vorpommerns. In Dargun unterteilt sich der Bevölkerungsbestand in 4.829 Männer und 5.111 Frauen. Im Zeitraum 1991 bis einschließlich 2014 wurden 1.316 Sterbefälle (siehe 3) registriert, wobei 656 auf Männer und 660 auf Frauen entfielen. Demgegenüber ergaben sich zwischen den Jahren 1979 und 2014 in Dargun 2.278 Geburten. Die Sozialdaten der Stadt Dargun umfassen 1.270 Personen, von denen 627 männlich und 643 weiblich sind. Im Bezugszeitraum 1991 bis 2014 wurden 120 Sterbefälle gezählt, wobei 59 Sterbefälle auf Männer und 61 Sterbefälle auf Frauen entfielen. Im Zeitraum 1979 bis 2014 wurden von den bedürftigen Personen 665 Kinder geboren. Stadt Strasburg (Um.) Die Stadt Strasburg (Um.) ist eine Kleinstadt in der Uckermark, die im Südwesten des Landkreises Vorpommern-Greifswald im Osten Mecklenburg-Vorpommerns liegt. In Strasburg (Um.) gliedert sich die Bevölkerung in 5.734 Männer und 5.986 Frauen. Die 2.979 Sterbefälle der Stadt entfallen zwischen 1983 bis einschließlich 2014 zu 1.494 auf Männer und zu 1.485 auf Frauen. Die Geburtenzahl Strasburgs betrug zwischen den Jahren 1979 und 2014 1.975 Fälle. In der Stadt Strasburg (Um.) umfassen die Sozialdaten 1.194 Personen, die sich auf 554 Männer und 640 Frauen aufteilen. Im Zeitraum 1991 bis 2014 wurden 165 Sterbefälle registriert, wobei 97 Sterbefälle auf Männer und 68 Sterbefälle auf Frauen fielen. Im Zeitraum 1979 bis 2014 wurden von den bedürftigen Personen 621 Kinder geboren. 3.2.4 Bevölkerungsentwicklung in den Betrachtungsgemeinden Die Referenzgemeinden sind Regionen zugeordnet, die über viele Jahrzehnte anhaltende selektive Wanderungsverluste hinnehmen mussten. Diese sind auf dreierlei Art charakterisiert: a) Da vor allem eher jüngere Menschen auf der Suche nach geeigneten Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten die ländlich-peripheren Räume verlassen, weisen die Betrachtungsgemeinden eine im Durchschnitt strukturell ältere Bevölkerung auf. b) In der Altersgruppe der 18 bis unter 30 jährigen verlassen verstärkt Frauen ihre Heimat. Die Ursachen dafür sind einerseits ein in der Tendenz höheres Bildungsniveau der jungen Frauen (vgl. Schwarz 1972, S. 251; Schultz 2009, S. 97ff.) und andererseits ein eher männlich 18 Unabhängig davon, wie lange die Menschen Sozialleistungen erhalten haben oder ob sie derzeit Sozialleistungen erhalten. 270 orientiertes und hinsichtlich der Qualifikation anspruchsärmeres Arbeitsplatzangebot in ländlich-peripheren Räumen. Im Ergebnis weisen die Altersgruppen ab 30 Jahre ein deutlich ausgeprägtes Geschlechterungleichgewicht auf. c) Vor allem jene Menschen, welche die Betrachtungsgemeinden verlassen, weisen oftmals eine höhere Qualifikation auf. Da entsprechende Arbeitsmöglichkeiten bei adäquater Entlohnung nur im geringen Maße in ländlichen Regionen zu finden sind, existiert hier ein hoher ökonomisch-bedingter Abwanderungsdruck. Die Stadt Strasburg (Um.) hat zwischen 1990 (7.928 EW) und 2013 (5.009 EW) 37 Prozent der Bevölkerung verloren. Im gleichen Zeitraum ging die Bevölkerungszahl in der Stadt Dargun um rund 27 Prozent zurück (von 6.034 EW auf 4.424 EW) 19 (zum Vergleich: In Mecklenburg-Vorpommern betrug der zeitgleiche Verlust 16 Prozent). Zwischen 1990 und 2013 betrug der Wanderungsverlust der Stadt Dargun 1.294 Menschen. Strasburg (Um.) verlor im gleichen Zeitraum knapp 1.944 Einwohner als Wanderungsverlust, wovon etwa 72 Prozent jünger als 30 Jahre (1998 bis 2013) waren. Das Geburtendefizit lag zwischen 1990 und 2013 in Dargun bei 601 und in Strasburg (Um.) bei 1.110 Personen. Das Hauptgewicht dieser stark rückläufigen Bevölkerungsentwicklung liegt in beiden Betrachtungsgemeinden also zu etwa zwei Dritteln auf den Wanderungsverlusten 20. Mortalität Die Mortalität (Sterblichkeit) stellt den „zahlenmäßigen Ausdruck des Sterbevorgangs in einer Bevölkerung als Teilprozess der natürlichen Bevölkerungsbewegung“ (Leser 2001, S. 832) dar. Als Berechnungsgrundlage der Lebenserwartung dient sie insbesondere in der Bevölkerungsgeographie als Indikator zur Beurteilung der gesundheitlichen Lage und medizinischen Versorgung der Bevölkerung. Dabei gilt, das insbesondere die Lebenserwartung stark von biologischen und verhaltensorientierten sowie von sozio-ökonomischen und umweltbedingten Parameter beeinflusst wird, geographisch aber auch vom regionalen Zugang zur Notfallmedizin abhängig ist. Im Hinblick auf die altersspezifische Verteilung der Todesfälle ist in den Beobachtungsgemeinden ein deutlich höherer Anteil der Sterbefälle in den jüngeren Altersgruppen der Bevölkerungsgruppe der Bedürftigen als auch in der Gruppe der lokalen Bevölkerung gegenüber dem Landes- als auch dem Bundesschnitt ersichtlich (Abb. 23+24). 19 Unter Berücksichtigung der Eingemeindung der heutigen Ortsteile Brudersdorf, Stubbendorf, Wagun und Zarnekow im Jahr 2004. 20 Differenzen zwischen den Bevölkerungsständen und der Bevölkerungsentwicklung sind den Zensus 2011 und auf Fehler in der Fortschreibung der amtlichen Statistik zurückzuführen. 271 Abb. 23: Prozentuale Verteilung weiblicher Sterbefälle in den Beobachtungsgemeinden, Mecklenburg-Vorpommern (ab 1995) und Deutschland nach Altersgruppen im Zeitraum 1991 bis 2013 Daten: Statistisches Bundesamt und Betrachtungsgemeinden; eigene Berechnung und Darstellung Abb. 24: Prozentuale Verteilung männlicher Sterbefälle in den Beobachtungsgemeinden, Mecklenburg-Vorpommern (ab 1995) und Deutschland nach Altersgruppen im Zeitraum 1991 bis 2013 Daten: Statistisches Bundesamt und Betrachtungsgemeinden; eigene Berechnung und Darstellung 272 Dies gilt in beiden Städten für Frauen wie Männer – wenn auch für Frauen in abgeschwächter Intensität – bis unter 60 Jahre 21. Dies bestätigt weitreichende Untersuchungen von Gesundheit und Sozialstatus, bei denen u. a. arbeitslose Personen mit geringem Bildungsstand eine vergleichsweise hohe Morbidität aufweisen 22 (vgl. Hradil 2001, S. 208-209ff.; RKI 2006, S. 83ff.). Diese kann eine wesentliche Ursache dafür darstellen, dass überproportional viele Todesfälle (im Vergleich zum Durchschnitt Mecklenburg-Vorpommerns und Deutschlands) auch in jüngeren Altersjahren auftreten. Für die genauere Betrachtung der Mortalität in den Untersuchungsregionen wurden die altersspezifischen Sterberaten berechnet 23 (vgl. Corthier 2009, S. 19). Dadurch wird schnell ersichtlich, dass nicht nur die Verteilung der Sterbefälle Unterschiede zwischen den Durchschnittsbevölkerungen aufweist. Die Menschen in den Betrachtungsregionen sind demnach auch einer höheren Sterblichkeit ausgesetzt. Abb. 25: Altersspezifische Sterblichkeit der Männer nach Bedürftigkeit und Altersgruppen im Zeitraum 2000 bis 2013 in den Betrachtungsgemeinden, Mecklenburg-Vorpommern und Deutschland Daten: Statistisches Bundesamt und Betrachtungsgemeinden; eigene Berechnung und Darstellung Unter Berücksichtigung der Bedürftigkeit einer Gruppe von Einwohnern erhöht sich die altersspezifische Sterberate vor allem der jüngeren Altersgruppen nochmals. So ist die Sterbewahrscheinlichkeit der bedürftigen Männer in den Betrachtungsgemeinden teilweise (zwischen 40 und 60 Jahren) nochmals um etwa die Hälfte gegenüber Nichtbedürftigen erhöht, obwohl Letztere schon deutlich über dem Landesschnitt Mecklenburg-Vorpommerns liegen. 21 Bei den Männern sogar bis unter 70 Jahre. Auffallend ist, dass in Deutschland nur knapp jeder dritte männliche Sterbefall in der Altersgruppe „80 Jahre und älter“ zu finden ist. Bei Frauen sind es rund drei Fünftel, was auf die höhere Lebenserwartung bei Frauen gegenüber Männern zurückgeht. 22 Z. B. begünstigt durch Bewegungsmangel und einem riskantem Gesundheitsverhalten usw. 23 Diese eignet sich vor allem durch die Minimierung der altersspezifischen Verzerrungen bei der Gegenüberstellung von Vergleichsbevölkerungen. Durch die Verwendung besonders kleiner Altersgruppen wurde dieser Effekt noch einmal verstärkt. 273 Einzig in den jungen Altersgruppen unter 40 Jahren und im Alter ab 75 Jahren fallen die Werte wieder unter das Niveau der Ausgangsbevölkerung 24 (siehe Abb. 25+26). Erste Ergebnisse aus einer Parallelstudie konstatieren dabei für die Gruppe der Bedürftigen insgesamt eine niedrigere Lebenserwartung im Vergleich zur Gesamtbevölkerung (vgl. laufende Untersuchung). Bei den Frauen sind die Sterblichkeitsunterschiede vergleichsweise gering ausgeprägt. Die Differenzierung hinsichtlich Bedürftigkeit fällt jedoch abermals deutlich aus: Die höchsten altersspezifischen Sterberaten werden immer (mit Ausnahme der Personen unter 5 Jahre) bei den bedürftigen Frauen erzielt, wenn auch auf deutlich niedrigeren Niveau gegenüber den Männern (siehe Abb. 25+26). Insgesamt ist die Mortalität der Frauen stärker altersspezifisch gestreut 25 als die der Männer. Abb. 26: Altersspezifische Sterblichkeit der Frauen nach Bedürftigkeit und Altersgruppen im Zeitraum 2000 bis 2013 in den Betrachtungsgemeinden, Mecklenburg-Vorpommern und Deutschland Daten: Statistisches Bundesamt und Betrachtungsgemeinden; eigene Berechnung und Darstellung Zusammenfassend kann also bestätigt werden, dass Unterschiede in der Mortalität von Mecklenburg-Vorpommern und Deutschland existieren, wobei die vorgestellten Kleinstädte dieser Untersuchung als Repräsentanten des ländlichen Raumes dienen. In den tendenziell strukturschwachen, ländlich-peripheren Räumen lassen sich diese Unterschiede vor dem Hintergrund einer generell verbreiteten wirtschaftlichen Strukturschwäche mit hoher Arbeitslosigkeit bzw. eines erhöhten Anteils an Niedriglohnarbeit vor allem mit den damit in Verbindung stehenden Risikomerkmalen erklären (vgl. Bähr 2010, S. 171). Durch den zukünftig weiter zu erwarten24 Die Bedürftigkeit ist anhand von Todesfällen gerade in jungen Altersjahren noch nicht signifikant messbar. Einerseits sind diesen Altersgruppen nur sehr wenige Sterbefälle vorhanden und andererseits ist die Zeitdauer der Bedürftigkeit noch vergleichsweise kurz, um Zusammenhänge herzustellen. 25 Beschreibt den Trend, dass - umso höher das Durchschnittsalter der jeweiligen Bevölkerungskohorte - der Anteil und die Zahl der Sterbefälle ansteigen. Dieser Verlauf wird z. B. durch Sterbefälle mit unnatürlichen Todesursachen gestört. 274 den Wanderungsverlust junger, qualifizierter Menschen (mit einer latent höheren Lebenserwartung) ist davon auszugehen, dass sich diese Ergebnisse in der Tendenz verstärken werden. Fertilität Im Hinblick auf die Fertilität („Geburtlichkeit“) wird das Gebären von Kindern im biographischen Abschnitt zwischen der Menarche und der Menopause (im Allgemeinen vom 15. bis zum 45./50 Lebensjahr) beobachtet. Für diese Untersuchung wurde die altersspezifische Geburtenrate berechnet, welche die Geburten von Müttern eines Altersjahres in Beziehung zur Gesamtzahl aller Frauen dieses Altersjahres stellt. In Abb. 27 ist für den Beispielzeitraum 2000 bis 2011 zu erkennen, dass in den Betrachtungsgemeinden viele Frauen die Geburt ihrer Kinder in früheren Altersjahren vollziehen als es für Frauen im Landes- und Bundesschnitt regelhaft ist. So haben die Frauen der sesshaften Bevölkerung ihr Maximum der Niederkünfte bei 25 Jahren, gegenüber Mecklenburg-Vorpommern mit 28 Jahren und Deutschland mit 30 Jahren. Der höchste Ausschlag wird aber von bedürftigen Frauen im Alter von 21 Jahren erreicht, die bis zu einem Alter von 30 Jahren die mit deutlichem Abstand höchste Fertilität aufweisen. Ab dem Alter von 30 Jahren der Mütter weist der deutsche Durchschnitt die höchste Fertilität auf. Einzig bei 40 Jahre können die bedürftigen Frauen noch einmal auf geringem Niveau den Bundeswert überholen. Im Ergebnis liegt die Summe der altersspezifischen Geburtenziffer der bedürftigen Frauen (2.110) klar über der der sesshaften Bevölkerung (1.460) und den Werten Mecklenburg-Vorpommerns (1.336) und Deutschlands (1.350). Insgesamt ist festzuhalten, dass die hohe Fertilität vor allem bedürftiger Frauen tendenziell ein Ergebnis der frühen Platzierung von Geburten im Lebenslauf ist. Abb. 27: Geburten je 1.000 Frauen nach Alter der Mutter und Bedürftigkeit in den Beobachtungsgemeinden, Mecklenburg-Vorpommern und Deutschland zwischen 2000 und 2011 Daten: Statistisches Bundesamt und Beobachtungsgemeinden; eigene Bearbeitung und Darstellung. 275 Unter der Voraussetzung, dass je früher eine Geburt vollzogen wird, die zeitlich bedingte Wahrscheinlichkeit für eine nachfolgende Geburt steigt, ist davon auszugehen, dass diese Frauen – vor dem Hintergrund der entsprechenden gesundheitlichen und materiellen Rahmenbedingungen – auch zukünftig eine höhere Fertilität realisieren werden. Dieser Effekt wurde für Strasburg auch schon in den späten siebziger Jahren gezeigt. Auf diese Weise war es der Region möglich, ihre schon damals anhaltenden Wanderungsverluste durch Geburten zumindest teilweise ausgleichen (siehe Abb. 28). Abb. 28: Geburten je 1.000 Frauen nach Alter in Strasburg (Um.), der DDR und der BRD zwischen 1976 und 1989. Quelle: Weiß 1996, S. 83, überarbeitet; „∑fx“ ist die „Summe der altersspezifischen Fertilität“ (TFR), entspricht der mittleren Anzahl der lebendgeborenen Kinder je 1.000 Frauen im Laufe ihres Lebens. Die gezeigten Fertilitätsdifferenzen stehen im Einklang mit der forschungsseitigen Erkenntnis, dass Frauen in urbanen Regionen z. B. aufgrund höherer Chancen für eine Erwerbsbeteiligung bzw. unterschiedlicher Lebens- sowie Wohnbedingungen ihre Fertilität in der Tendenz verstärkt zurückstellen (vgl. Bähr 2010, S. 186). Im Umkehrschluss ist die Fertilität bei Frauen in ländlichen Räumen einerseits durch geringere Erwerbschancen für Frauen höher ausgeprägt und somit vermutlich ein Kompensationsereignis. Andererseits verursacht der stetige Wanderungsverlust junger qualifizierter Frauen zumindest statistisch tendenziell höhere Kinderzahlen je Frau, denn es verlassen gerade jene Menschen die Region, die ohnehin durch eine geringe Fertilität, oft sogar durch lebenslange Kinderlosigkeit gekennzeichnet sind (vgl. Bujard 2012, S. 11). Im Umkehrschluss weisen genau jene bedürftigen Frauen die höchste Fertilität vor allem in jungen Jahren auf, die zumeist geringer qualifiziert sind. Ob allerdings bedürftige Frauen – warum auch immer – wirklich zu einer erhöhten Fertilität neigen oder möglicherweise nur aufgrund der erhöhten Kinderzahl in die Bedürftigkeit gedrängt werden, 276 ist aber ein eigenes Forschungsthema und würde den Rahmen der vorgelegten Studie überschreiten. 3.3 Altersstruktur der Bedürftigkeit Die unterschiedlichen Formen von Bedürftigkeit (Sozialhilfe, Wohngeld, Beschäftigung in einer ABM, „Hartz 4“, Ein-Euro-Job, Ich-AG, Aufstocker usw.) sind in Abhängigkeit von der konkreten Lebenslage und der Periode des gesellschaftlichen Umbaus nach 1990 in bestimmten Altersgruppen besonders häufig. Unabhängig von der Situation der Hochbetagten, die sowohl einen besonderen Schutz genießen als auch wegen ihres zahlenmäßig überschaubaren Umfangs, ist es insbesondere die Altersgruppe der Geburtsjahrgänge 1946 bis 1979, die über eine hohe Bedürftigkeit verfügt. Abb. 29: Bedürftige in Strasburg (Um.) nach Geburtsjahr und Geschlecht zwischen 1904 und 1993. Quelle: Daten der Stadt Dargun; eigene Berechnung und Darstellung. Diese Altersgruppe war zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung 11 bis 44 Jahre alt, zum Zeitpunkt der Datenaufnahme 35 bis 68 Jahre alt (siehe Abb. 30). Es handelt sich also um die Kerngruppe des arbeitsfähigen Alters, die zu Beginn das Betrachtungszeitraumes noch nicht vollständig in das Arbeitsleben eingetreten war, sich am Ende dieser Periode hingegen bereits zu einem nicht unwichtigen Anteil bereits im Rentenalter befand. Diese Altersgruppe ist im Durchschnitt bei Männern zu 22,3 Prozent, bei Frauen zu 18,6 Prozent als „bedürftig“ im Sinne der Arbeitsdefinition eingeordnet. Unabhängig vom Geschlecht gelten also rund 20 Prozent dieser Kohorte als bedürftig (siehe Abb. 29). 277 Abb. 30: Alters- und Geschlechtsstruktur der Gemeindebevölkerung der Stadt Dargun 2013. Quelle: Stadtverwaltung Dargun; eigene Berechnung und Darstellung. Unter Beachtung der enormen Überalterung, insbesondere angesichts der vergleichsweise sehr stark besetzten Altersgruppen jenseits des siebzigsten Lebensjahres, ist in Kürze mit einer relativ hohen Mortalität und damit einer stetig schrumpfenden Bevölkerungszahl zu rechnen. 278 Abb. 31: Alters- und Geschlechtsstruktur der Gemeindebevölkerung der Stadt Strasburg 2014. Quelle: Stadtverwaltung Strasburg; eigene Berechnung und Darstellung. In der Alters- und Geschlechtsgliederung der Bevölkerung Mecklenburg-Vorpommerns im Jahre 2030 (Prognosehorizont der 4. Landesprognose) würden sich die stark von Bedürftigkeit geprägten Kohorten in der Altersgruppe vom 51. bis zum 84. Lebensjahr befinden, welche dann die am stärksten besetzte Altersgruppe darstellt. In welcher Form sich die Lebenslagen von Bedürftigkeit sich im Rentenanspruch auch immer niederschlagen werden – rein quantitativ ist damit der am stärksten besetzten Teil der Bevölkerung von Armut betroffen! 279 3.4 Bestandsbevölkerung und Bedürftige der Städte Strasburg und Dargun Die „Bedürftigen“ der Stadt Dargun beziehen sich in der nachfolgenden Grafik (Abb. 32) nur auf die Wohngeldempfänger. Die „Bedürftigen“ der Stadt Strasburg umfassen Wohngeldempfänger und Empfänger von Sozialhilfe im alten Sinne und analogen Zuwendungen, die ausschließlich über die Stadt verwaltet wurden. Weitere Sozialleistungen u. a. des Landkreises, wie z. B. spezielle Fonds für Kinderbetreuung bzw. Unterstützung für Bildungsleistungen oder für Maßnahmen der Wiedereingliederung Langzeitarbeitsloser sowie alle Maßnahmen im Rahmen von „Hartz 4“ (ARGE bzw. Bundesanstalt für Arbeit) sind in beiden Beständen nicht erfasst. Es sind also die Kerngruppen der Bedürftigen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit bis zum Beginn der Rente keine Chance haben werden, so viel Rentenpunkte zu sammeln, dass es für eine eigenständige Versorgung im Alter reicht. Abb. 32: Stadt Dargun: Bestandsbevölkerung und Wohngeldempfänger (absolut und Quote in Prozent). Quelle: Verwaltung der Stadt Dargun; Erfassung, Berechnungen und Grafik: ISRU. Anmerkung: Die besonders neuralgische Altersgruppe ist die der Geburtsjahrgänge 1945 bis 1979. Die Bedürftigenquote der Stadt Dargun liegt in den besonders betroffenen Altersgruppen (Geburtsjahrgänge 1946 bis 1983) durchweg über 15 Prozent, vielfach sogar über 25 Prozent. In den vor allem in Strasburg registrierten besonders betroffenen jüngeren Altersgruppen (Geburtsjahrgänge 1970 bis 1983) dominieren alleinerziehende Frauen. Insgesamt signalisiert die Gruppe der „Bedürftigen“ beider Kleinstädte zwar nur einen Ausschnitt der Bedürftigkeit, da zahlreiche andere Unterstützungsleistungen einschließlich der Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit nicht einbezogen wurden bzw. konnten. Jedoch ist diese Gruppe von Menschen repräsentativ für die Bevölkerung der Gemeinden der in Abb. 19 beschriebenen „Ländlichen Räume mit besonderen demographischen Herausforderungen“ im ersten Beteiligungsentwurf des Landesentwicklungsprogramms Mecklenburg-Vorpommern. 280 Es gibt derzeit keine gesicherte Wissenslage für die Annahme, dass die Lebenssituation auch in der erweiterten Definition von „Bedürftigen“ in Strasburg gegenüber Dargun (s. o.) bis zum Eintritt in die Rente eine wesentliche Verbesserung erfahren wird, dass so viele Rentenpunkte überproportional angespart werden können, um eine eigene Rente oberhalb der Armutsgrenze zu erzielen. Abb. 33: Stadt Strasburg: Bestandsbevölkerung und „Bedürftige“ (absolut und Quote in Prozent). Quelle: Verwaltung der Stadt Strasburg; Erfassung, Berechnungen und Grafik: ISRU. Anmerkung: Problematisch ist die Lebenslage der Altersgruppe der Geburtsjahrgänge 1946 bis 1983 - besonders die Geburtsjahre 1970 bis 1983. Hierin sind auffallend viele ledige Mütter enthalten. Unter Beachtung bzw. unter Einbeziehung der von uns nicht erfassten sozialen Leistungen dürfte der Umfang der zu erwartenden Altersarmut in den Gebieten, die durch die beiden Städte Strasburg und Dargun repräsentiert werden, bereits in 15 Jahren bei 25 bis 30 Prozent liegen, Tendenz steigend. Diese Steigerung muss in den jüngeren Altersgruppen nicht zwangsläufig absolut erfolgen, sondern kann sich auf eine relative Steigerung (in Prozent) beschränken, wenn in den nächsten Jahren die Selektivität der Abwanderungen weiterhin vor allem jene jungen Leute mit den besten schulischen Ergebnissen, den besten Berufsabschlüssen und insgesamt die potenziellen Leistungsträger fokussiert. Mit Blick auf die zukünftige Altersstruktur der Bevölkerung im Jahre 2030 (mittelfristige Bevölkerungsprognose entsprechend der 4. Landesprognose von Mecklenburg-Vorpommern, siehe Abb. 15) sind die dann am stärksten besetzten Altersjahrgänge vom 65. bis zum 72. Lebensjahr gerade ins Seniorenalter eingetreten. Es sind die Geburtsjahrgänge 1958 bis 1965, also eine der Kerngruppen der bereits heute am stärksten von Sozialtransfers lebenden Menschen. Es ist nicht zu erwarten, dass diese Gruppe bis zu ihrem offiziellen Renteneintritt auch nur annähernd eine Kompensation ihrer bisherigen Nachteile gegenüber dem dann gültigen Existenzminimum erreichen wird. 281 Die beiden Stadtregionen von Strasburg und Dargun repräsentieren zwar relativ gut die Lebenslage der Bevölkerung in jenen Städten und Gemeinden, die im Entwurf des Landesentwicklungsprogramms Mecklenburg-Vorpommern (LEP 2014) als „Region mit demographischen Herausforderungen“, besser als „Region mit demographisch bedingtem Handlungsbedarf“ ausgewiesen wurde. In der bisherigen öffentlichen bzw. offiziellen Debatten wurde jedoch nur selten darauf verwiesen, ja zum Teil wurde der Sachverhalt sogar bestritten, dass diese Region auch eine Region der Armut ist 26. 26 Z. B. seitens des Ministers für Energie, Infrastruktur und Landesentwicklung Mecklenburg-Vorpommern, Herrn Pegel, in einer öffentlichen Anhörung in Greifswald im Herbst 2014 sowie auf der Klausurtagung der Landtagsfraktion der Partei „Die Linke“ in Banzkow (Ludwigslust-Parchim) im Januar 2015. 282 4 Geographie und Armut: Regionalstrukturen in Mecklenburg-Vorpommern Ohne den Bezug zu konkreten Menschen gibt es keine Definition für eine „Arme Region“, wenn nicht z. B. Investitionsleistungen und anderes vorhandenes Kapital sowie das öffentliche Eigentum in die Bewertung mit einbezogen werden. Letzteres ist zumindest auf kommunaler Ebene spätestens seit Einführung der Doppik möglich. Aber allein durch die geringe Verdichtung von Infrastruktur, analog zur geringen Bevölkerungsdichte in einem Raum mit sehr weitständigen Zentren, in denen sich die Angebote des Bildungswesens, der Gesundheitswirtschaft und der Kultur konzentrieren, ist ebenfalls von Armut zu sprechen. Dabei geht es nicht einfach nur um einen Vergleich mit stärker verdichteten oder hochurbanen Regionen, in denen die vorhandene Infrastruktur bereits ein Reichtum an sich ist. Es ist vor allem der Aufwand der Menschen im Umland der Zentren der Leistungserbringung, der materiell und hinsichtlich der Zeit für die Mobilität einen bisher nicht berechneten Kostenfaktor darstellt, welcher im Falle von realer Armut besonders schwer wiegt. Im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern gibt es zwar eine tradierte räumliche Gliederung von Wohlstand, gemessen an der durchschnittlichen Einkommenshöhe der Bevölkerung, zunächst jedoch ist zu konstatierten, dass sich – mit Ausnahme der beiden kreisfreien Städte, der Hansestadt Rostock und der Landeshauptstadt Schwerin – das Durchschnittseinkommen im Land deutlich unter dem gesamtdeutschen Durchschnitt befindet. Der sog. GfK-KaufkraftIndex der GfK GeoMarketing GmbH greift auf das zu versteuernde Einkommen zurück, um die Kaufkraft der Bevölkerung nach Regionen zu differenzieren. Danach rangieren weite Teile des Landes Mecklenburg-Vorpommern insbesondere in den östlichen Regionen (die Landkreise vor der Kreisgebietsreform von 2011: Nordvorpommern, Ostvorpommern und Güstrow sowie insbesondere die Landkreise Demmin und Uecker-Randow) auf dem untersten Level mit 25 Prozent unter dem deutschen Durchschnitt. Lediglich die Landeshauptstadt Schwerin, die ehemaligen kreisfreien Städte Greifswald und Neubrandenburg sowie der frühere Landkreis Bad Doberan erscheinen etwas begünstigt, liegen lediglich 4 bis 12 Prozentpunkte unter dem bundesdeutschen Mittelwert. Alle anderen Landkreise sowie die Hansestädte Wismar, Rostock und Stralsund rangieren 12 bis 20 Prozentpunkte unter dem Bundesschnitt. Die Kreisgebietsreform verschob nur die räumlichen Zuschnitte. Wahrscheinlich schlägt mittlerweile auch die registergestützte Volkszählung von 2011 auf die Daten durch, sodass die regionale Verteilung nach den Kreisdaten kein eindeutiges Ost-West-Gefüge bescheinigt. Die Kaufkraft-Dichte kombiniert geringe Kaufkraft infolge des geringen Einkommens mit der geringen Bevölkerungsdichte. Dabei ist die geringe Bevölkerungsdichte ein spezifisches Armutsmoment, das durch die Bewertung nach sozialpolitischen Parametern zumeist ignoriert wird, da Sozialpolitik zumeist pro Kopf ausgerichtet ist. Der Flächenbezug der Rentabilität von Infrastruktur wird dagegen oft nicht zur Kenntnis genommen wird. Diese ist jedoch für viele Bereiche der Kommunalpolitik, die oft der Träger entsprechender Leistungen ist, ein Entscheidungskriterium. Die öffentliche Hand spricht hier in der Regel von „Tragfähigkeit“. Ein weiterer regionaler Indikator für Armut ist die Kaufkraft für „Luxusgüter“. Das für den Alltag notwendige Kapital ist eine Bemessungsgröße für das Existenzminimum. Individuell kann es in Abhängigkeit von den Bedürfnissen schwanken. Ein besonderer Gradmesser für 283 Reichtum respektive Armut ist die Kaufkraft für Güter, die nicht für die Bewältigung des Alltags benötigt werden, wie zum Beispiel Uhren und Schmuck. Die entsprechende GfKKaufkraftkarte von 2014 (Abb. 34) zeigt diesbezüglich einen bemerkenswerten Unterschied zwischen den alten und den neuen Bundesländern. Diese Polarisierung von Ost und West sollte der Wohlstands-Differenzierung innerhalb des Landes unbedingt voran gestellt werden, um die Problematik der Lebenssituation in den ländlichsten Teilen zu verstehen. Entscheidend für die Bewertung dieses Gefälles durch die Bevölkerung ist nicht nur der nach wie vor erhebliche Unterschied in der Kaufkraft im Gefüge von Ost und West. Es gibt einen besonderen geographischen Aspekt: Wo Gebiete mit besonders hohem Einkommen (z. B. in Hamburg liegt im „Luxusindex“ über 28 Prozent über dem deutschen Durchschnitt) nur wenige Kilometer von Gebieten mit sehr großen Einkommensdefiziten (Westmecklenburg liegt mindestens 28 Prozent unter dem deutschen Mittelwert) räumlich sehr nahe liegen, ist also das Wohlstandsgefälle auf kurze Distanz sehr groß. Hier relativieren sich die Unterschiede im Land der geringen Einkommen. Abb. 34: GfK Kaufkraft für Uhren und Schmuck („Luxusindex“), 2011 Quelle: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2015, S. 37; nach: www.gfk-marketing.de. 284 Die sechs Regionen mit besonders hohem Einkommen (Hamburg, München, Frankfurt am Main, Stuttgart, Teile des Ruhrgebietes und – etwas abgesetzt – Nürnberg-Erlangen) liegen alle in den alten Bundesländern. Sie bestimmen in nicht unerheblichem Maße den deutschen Durchschnitt. Von diesen Spitzenregionen liegt Hamburg am dichtesten an den neuen Bundesländern. Seitens der Geographie spricht man in diesem Falle von einem hohen Gradienten, also einem starken Gefälle auf kurze Distanz. Solche räumlichen Konfigurationen führen in der Regel immer zu erheblichen demographischen Spannungen. Seitens der Bevölkerungsgeographie drücken sich diese zumeist in einer hohen Dynamik der Migration aus. In den östlichen Landesteilen, insbesondere in den stärker agrarisch strukturierten Gemeinden, fallen die durchschnittlichen Einkommenshöhen deutlich geringer aus, als in den großen Zentren, insbesondere den Oberzentren sowie deren Umlandgemeinden. Die statistische Basis der Berechnung auf Gemeindeniveau ist dabei das steuerpflichtige Einkommen. Die durchschnittliche Einkommenshöhe bezieht sich nicht auf die Erwerbsmöglichkeiten am Wohnstandort, denn viele Menschen nehmen lange Pendelwege bis in die alten Bundesländer in Kauf. Je weiter wir im Land Mecklenburg-Vorpommern nach Osten kommen, desto größer ist der Anteil der Wochenpendler. Die Einkommenshöhe schlägt sich am Wohnort der betreffenden Einwohner in einer geringeren Kaufkraft und folglich in einer geringeren Akkumulationsrate nieder. Das führt letztlich auch zu einem geringeren regionalen Investitionspotenzial (siehe Abb. 35.). Abb. 35: Durchschnittliche Einkommenshöhe in Mecklenburg-Vorpommern nach Gemeinden im Jahr 2001 Quelle: Roedel (2006). 285 Die wichtigste Korrelation gibt es diesbezüglich zum Arbeitsmarkt. Die gewöhnlich engen Beziehungen zwischen Erwerbsmöglichkeiten und Einkommen sind allerdings nicht eindeutig. In dem Maße, wie hinsichtlich des Arbeitsmarktes Westmecklenburg vor allem durch die Lage zu Hamburg und Lübeck bevorteilt ist, können selbst die Stadt-Umland-Gemeinden der Städte Rostock, Stralsund, Greifswald und Neubrandenburg nicht mithalten (siehe Abb. 36). Das mit Blick auf die Armutsproblematik größte Problem dürfte allerdings in der Häufung geringer Einkommen bestehen, die räumlich mit den größten Distanzen zu den Orten der Leistungserbringung in der öffentlichen Daseinsvorsorge korrelieren. Dadurch erhält die Mobilität im ländlichen Raum eine besondere Bedeutung, aber eben auch die Immobilität. Gerade Personen mit eingeschränktem Wohlstand verfügen vielfach nicht über eine individuelle Motorisierung. Vielfach kann nicht einmal der Fahrerlaubnislehrgang bezahlt werden, obwohl diese Menschen genau in jenen Regionen leben, wo der öffentliche Personennahverkehr sehr stark eingeschränkt ist und mittlerweile zumeist nur noch ein Mitnahme-Verkehr über die Schulbusse existiert, in den Schulferien also sogar gänzlich ausfällt. Abb. 36: Anteil des sozialversicherungspflichtig Beschäftigten an den Erwerbsfähigen (15. bis 65. Lebensjahr) in Mecklenburg-Vorpommern nach Gemeinden im Jahr 2004 Quelle: Roedel (2006). Das Resultat einer solchen Lebenslage kann durchaus als eine besondere „Form der Sesshaftigkeit“ bezeichnet werden. Die betreffenden Personen kommen kaum noch aus ihrem Dorf heraus. Wenn sie es nicht schaffen, diese Isolation durch Formen der Selbstorganisation zu überwinden, sind sie vom allgemeinen gesellschaftlichen Leben kulturell und sozial abgehängt und verfügen über keine Chance, ihre Lebenssituation grundlegend zu verbessern. 286 Ein besonderes Problem der ländlichsten Räume besteht darüber hinaus in der generellen Erreichbarkeit ausgewählter Elemente der Infrastruktur allein aufgrund der Distanz. Bevölkerungsdichten unter 40 Einwohner pro Quadratkilometer führen unter dem Gebot der Wirtschaftlichkeit zu einer Weitständigkeit der jeweiligen Einrichtungen, die ihnen einen Monopolcharakter verleiht. Die räumliche Nähe von gleichartiger Infrastruktur in großen Städten, z. B. im Gesundheitswesen und in der Bildung, die oft als Konkurrenz empfunden wird, ist in den ländlichsten Räumen kaum vorstellbar. Das Beispiel der Erreichbarkeit von Gymnasien ist symptomatisch für diese Situation (siehe Abb. 37-38). Hier wurden durch das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung mehrere Szenarien berechnet, um die Auswirkungen des Wegfalls der räumlich nächsten Einrichtung zu ermitteln. Wie ersichtlich, würde ein Wegbrechen einzelner Standorte im Nordosten Deutschlands zu einer flächenhaften Erosion in der Bildungslandschaft führen. Unter solchen Bedingungen wäre das Angebot der gymnasialen Bildung nicht mehr breit aufgestellt. Die Erreichbarkeit ist bereits heute über eine Fahrzeitschwelle mit einem privaten PKW berechnet, was für Familien in dem Stadium der Bedürftigkeit kaum realisierbar sein dürfte. Abb. 37: Erreichbarkeit von Gymnasien / Schulen der Sekundarstufe II 2008/2009 Quelle: BBSR 2011. 287 Ähnlich verhält es sich mit Krankenhäusern, deren räumliche Streuung in ländlichen Regionen allerdings oft mit einer Reihe von Vorschriften reglementiert ist, wonach die Krankenhäuser zumeist Standorte der medizinischen Notversorgung sind (siehe Abb. 39-40). Abhängig von der konkreten Standortverteilung bestimmter medizinischer Einrichtungen ist die Versorgung einzelner Teilräume bereits heute nicht mehr gewährleistet. Medizinische Einrichtungen flächendeckend auch im ländlichsten Raum vorzuhalten, ist sicher eine Illusion. Allerdings ist es nicht nur ein Gebot der Ökonomie, Einrichtungen räumlich dort zu platzieren bzw. zu betreiben, wo sie möglichst viele Menschen erreichen. Abb. 38: Erreichbarkeit von Gymnasien / Szenario „Wegfall des nächstgelegenen Standortes“. Quelle: BBSR 2011. Gerade die Spezialisierung in der Medizin verlangt auch das Zusammenwirken unterschiedlicher Fachbereiche. Darum ist die Konzentration medizinischer Einrichtungen an ausgewählten Standorten auch ein Gebot der Qualität der Versorgung. Die Folge ist eine scheinbare Überkonzentration gegenüber jenen Gebieten, in denen heute bereits gar keine Einrichtungen mehr zu finden sind, bzw. nur Einrichtungen, die quasi darauf „warten“, dass der Betreiber in Rente geht. 288 Solche Defizite an Zugänglichkeit und insbesondere die fehlende Zugänglichkeit zu Leistungen im Notfall ist in jedem Falle auch eine Form von Armut. Es ist eine Armut an Chancen, bei der einige Regionen gegenüber anderen besonders betroffen sind. Besonders problematisch wirkt sich die fehlende Mobilität jedoch in jenen Bereichen aus, für die es keine gesetzliche Regelung mit einer Mindesterreichbarkeit gibt, wie z. B. bei der Organisation von Selbsthilfegruppen. So wäre im Fall von Demenz, Alzheimer und anderer psychischer Erkrankungen in einer Region mit hohem Anteil an Älteren eine entsprechende Versorgung besonders nötig (siehe Abb. 42). Abb. 39: Erreichbarkeit von Krankenhäusern im Jahr 2009. Quelle: BBSR 2011. Bei solchen Erkrankungen bzw. bei einem solchen Bedarf sind die Betroffenen ohnehin auf die Hilfe anderer Personen angewiesen, da sie zumeist selbst nicht fahren dürfen. Die kartografische Darstellung mit der nach oben offenen Skala (mehr als 20 Minuten) schließt auch jene Gebiete ein, in denen die Fahrzeit oft bis zu einer Stunde oder sogar mehr beträgt, wie z. B. von der Halbinsel Wittow nach Stralsund. Die dargestellten Beispiele sind nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Alltag, in dem räumliche Strukturen und Distanzen zu den Erfüllungsorten der öffentlichen Daseinsvorsorge oft ein 289 scheinbar ungeordnetes Raster der Erreichbarkeit ergeben. Standorte, zuweilen in direkter Nachbarschaft, können sehr unterschiedlich gut erreicht werden, können aber auch ihrerseits einen sehr unterschiedlichen Bedarf haben. Im Schnittpunkt dieser beiden Perspektiven wird oft das Paradigma der „gleichwertigen Lebensbedingungen“ bemüht. Dabei wird allerdings in der Regel übersehen, dass das vermeintliche verfassungsrechtliche Gebot nach Artikel 72 Grundgesetz nur ein Hinweis auf die Gesetzgebungskompetenzen ist. Abb. 40: Erreichbarkeit von Krankenhäusern / Szenario „Wegfall des nächstgelegenen Standortes“ im Jahr 2009. Quelle: BBSR 2011. Aus geographischer Perspektive problematisch ist insbesondere die Bindung des nötigen Ausgleichs bei fehlender Gleichwertigkeit der Arbeits- und Lebensbedingungen an die öffentliche Daseinsvorsorge, wozu sich alle parlamentarischen Gruppen programmatisch bekennen. Die Problemhaftigkeit besteht insbesondere in der räumlichen Korrelation aller Parameter der Ausstattung der betreffenden Regionen mit der demographischen Entwicklung. Allerdings bedeutet Korrelation nicht zugleich Kausalität. Die geographischen Parameter der Dichte und der Distanz zu den Erfüllungsorten entsprechender Leistungsangebote verändert sich nicht, wenn in den jeweiligen Raum infrastrukturell investiert wird. Aus unserer Sicht sollten die betreffenden Gebiete als das betrachtet werden, was sie sind: Lebensräume mit einer Struktur, für die der Anspruch an „Gleichwertigkeit“ anders definiert werden sollte, als bisher. 290 Abb. 41: Erreichbarkeit von Krankenhäusern mit Fachabteilung Chirurgie Quelle: Versorgungsatlas Vorpommern, S. 50. Aus diesem Grunde reicht es nicht, dass nach der „Öffnung von Standards“ oder ähnlichen Möglichkeiten gesucht wird, am bisherigen Lösungsrahmen „herumzubasteln“. Standorte und Räume, die durch ihre existenziellen Bedingungen zwangsläufig Armut produzieren, weil sie für ein auskömmliches Einkommen keine Potenziale bieten und lagebedingt der gesetzlich vorgegebenen Ökonomie der Kommunen nicht standhalten, sollten diesbezüglich u. U. auch entsprechend behandelt werden. Die Konsequenz wäre ein anderer Umgang mit den betreffenden Räumen zumindest in der Regionalpolitik. Vorschläge für die Ausweisung von Gebieten mit höherer Eigenverantwortung („Selbstverantwortungsräume“) z. B. von Aring (2010) oder die Suche nach Parametern für eine „regional angemessene Lebensqualität“ (Weiß 2011) könnten ein erster Ansatz sein, sind aber kein Instrument zur Überwindung der Armut. 291 Abb. 42: Erreichbarkeit von Selbsthilfe- und Angehörigengruppen (Demenz, psychische Erkrankungen) Quelle: Versorgungsatlas Vorpommern, S. 71. 292 5 Fazit Wohlstand und Armut sind sowohl demographisch – nach Alter und Geschlecht – als auch räumlich bzw. geographisch – nach Regionen oder Siedlungstypen – unterschiedlich verteilt. Unterschiedliche Konzentrationen existenzieller sozialer Parameter können sich gegenseitig überlagern und dabei verstärken, wenn bestimmte demographische Gruppen regional gehäuft auftreten. Wenn es sich dabei um eine Region mit vielen armen bzw. bedürftigen Menschen handelt, so ist es legitim, von einer „armen Region“ zu sprechen. Es gibt aber auch Regionen, deren existentielle und demographische Bedingungen besonders problematisch sind, so dass fast alle sozialen Gruppen, die dort leben, in irgendeiner Form in ihrem Wohlstand beeinträchtigt sind – einschließlich der Leistungsträger und Eliten. Für viele Regionen in Mecklenburg-Vorpommern trifft dies überwiegend zu, denn: • • • • • Das Land hat selbst 25 Jahre nach der Wiedervereinigung im Vergleich mit dem Durchschnitt Deutschlands erhebliche Defizite in der Lebensqualität. Unter Berücksichtigung allen Fortschritts gibt es hier noch immer die mit höchste Arbeitslosigkeit, die geringsten Einkommen, die höchsten Preise für Leistungen der Daseinsvorsorge (Wasser und Abwasser, Elektroenergie usw.). Und wer nicht in einem Zentrum wohnt, in dem Leistungen der Daseinsvorsorge „um die Ecke“ angeboten werden, dessen Aufwand an Zeit und Geld, um solche Leistungen in Anspruch zu nehmen, ist oftmals höher. Die räumlichen Distanzen zu den Zentren sind größer und in den ländlichsten Gebieten sind die Angebote aus Gründen der Rentabilität deutlich reduziert worden – und werden weiter reduziert. Die Ausprägung demographischer Prozesse und Strukturen hängt in der Regel immer mit Wohlstand bzw. Armut zusammen. Die Sterblichkeit, die Anzahl der Kinder pro Frau und die Entscheidung zur Wahl des Wohnsitzes stehen eng mit dem sozialen Status in Beziehung. Darum ist Mecklenburg-Vorpommern aus demographischer Perspektive in doppelter Hinsicht ein armes Land: Arm an Menschen, aber reich an armen Menschen. Vor 25 Jahren gab es in Mecklenburg-Vorpommern deutschlandweit den höchsten Anteil an Kindern und Jugendlichen und einen der geringsten Anteile an Senioren. Das Land war gewissermaßen die „Kinderstube der Nation“. In nur einer Generation veränderte sich die Altersstruktur der Bevölkerung radikal hin zum „Altersheim Deutschlands“. Hier gibt es heute mit weniger als 15 Prozent einen der geringsten Anteile an Kindern und Jugendlichen in ganz Europa, und fast die Hälfte aller Gemeinden hat bereits einen Anteil von über einem Drittel an Senioren. Diese raschen Veränderungen halten an. Der Grund für die besonders hohe Dynamik der Veränderung der Altersstruktur ist die Überlagerung des Demographischen Wandels mit Wanderungsprozessen, die ebenfalls eine Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung bewirken. In den ländlichen Räumen von Mecklenburg-Vorpommern begann die selektive Abwanderung bereits in den frühen 1960er Jahren. Sie unterscheidet die Wandernden und die Sesshaften nach den Parametern Alter, Qualifikation und Geschlecht. Seit 1990 betrifft die selektive Abwanderung auch die Städte, die ihrerseits allerdings einen großen Teil ihrer 293 • • • • • • • wohlhabenderen Bevölkerung in die Stadt-Umland-Gemeinden verloren haben. Das leitete eine stärkere Differenzierung des ländlichen Raumes ein. Die Abwanderung junger Leute aus Abwanderungsgebieten ist nahezu gesetzmäßig. Rund 85 Prozent aller Wanderungen werden altersspezifisch erklärt. Wenn die Jungen gehen, bleiben die Alten. Das beschleunigt die relative Alterung. Viele altersspezifisch bedingten Wanderungen sind zudem qualifikationsorientiert, d. h. es wandern zuerst jene ab, die trotz besserer schulischer Leistungen oder ihrer Qualifikation nach der Berufsausbildung oder dem Studium in der Heimat keine entsprechende Beschäftigung finden oder in einer anderen Region bessere Chancen haben, ihre Arbeitskraft zu verwerten. Im Extremfall spricht man bei solchen Wanderungen vom „Brain-Drain“. Fast überall auf der Welt dominieren bei der Arbeitswanderung die Männer. Im Osten Deutschlands ist das anders: Es ist eine Besonderheit, dass sich an der arbeitsweltlich motivierten Migration überproportional häufig junge Frauen beteiligen. Es kann als ein besonderer Ausdruck von Emanzipation gewertet werden. Im Zusammenwirken der Parameter Alter, Qualifikation und Geschlecht entstand in den ländlichsten Gebieten Mecklenburg-Vorpommerns bereits vor 1990 eine spezielle Bevölkerungsstruktur: Die „Residualbevölkerung“. Sie ist besonders sesshaft, stark überaltert und weist eine auffallend geringe Zahl an Frauen im gebärfähigen Alter sowie insgesamt einen relativ hohen Anteil an Geringqualifizierten auf. In den wirtschaftlich schwächeren Gebieten, den ländlichsten Räumen, verstärkte sich die selektive Abwanderung. Dort wurde die Residualbevölkerung zum Normalzustand und zu einer flächenhaften Erscheinung. Die Raumordnung beschreibt diese Gebiete als Regionen mit „demographisch bedingtem Handlungsbedarf“. In ihnen gibt es tendenziell einen höheren Anteil Bedürftiger unterschiedlicher sozialer Leistungen. Der Anteil dieser sozial Bedürftigen bzw. Empfänger verschiedener Leistungen liegt in den Problemregionen bei ausgewählten Altersgruppen vielfach über 25 Prozent, beträgt in der Altersgruppe, in der sich zumeist ledige Mütter befinden, bis zu einem Drittel der Gesamtbevölkerung. Die Altersgruppe mit dem höchsten Bedarf an sozialen Leistungen wird unter den gegebenen regionalen Bedingungen mit großer Wahrscheinlichkeit keine Chance haben, bis zum Eintritt ins Rentenalter so viele Rentenpunkte anzusparen, dass sich daraus eine auskömmliche Rente ableitet. Es sind jene Kohorten, die nach 1990 von gebrochenen Erwerbskarrieren betroffen waren sowie durch unterschiedliche arbeitsmarktpolitische Maßnahmen geprägt sind. Sie könnten in den betroffenen Regionen in etwa 15 Jahren etwa ein Viertel der Senioren umfassen. Die Betreffenden werden womöglich lebenslang durch die Gesellschaft alimentiert werden müssen. Ihr besonders hoher Anteil in den Kernregionen der Residualbevölkerung ist bereits heute bedenklich und dürfte in Kürze zu Überforderung der sozialen Träger und der Kommunen führen. 294 In Gebieten mit einer ausgeprägten Residualbevölkerung und einem demographisch bedingten Handlungsbedarf ist die entstandene Bevölkerungsstruktur mittlerweile zu einem „harten Standortfaktor“ geworden, der die sozialen Leistungen der Kommunen ebenso herausfordert wie die Wirtschaft. An solchen Standorten, in solchen Regionen kann zu- • • • • • • • künftig die Entwicklung der allgemeinen Lebensbedingungen nicht erfolgreich sein, wenn sie mit den gleichen Instrumenten erfolgen, die in der Vergangenheit für wirtschaftlich starke Standorte gedacht waren. Im Land Mecklenburg-Vorpommern existiert ein eindeutiges West-Ost-Gefälle in der Lebensqualität. In den Gemeinden von Ostmecklenburg und dem vorpommerschen Festland gibt es – selbst nach dem Maßstab von Mecklenburg-Vorpommern – die höchste Arbeitslosigkeit, das geringste Einkommen und die größten Probleme bei der Erlangung sowohl von marktorientierten Leistungen als auch den Leistungen der Daseinsvorsorge. Unter den existentiellen Bedingungen dieser Region ist die Mobilität ein Lebensmittel. Inzwischen wird die Erreichbarkeit öffentlicher Leistungen in Zentren gewöhnlich mit PKW-Fahrzeiten berechnet. Das setzt den Besitz, zumindest die Verfügbarkeit über einen PKW voraus. Wer sich das nicht leisten kann, ist doppelt benachteiligt. Bereits heute führt die Weitständigkeit von Standorten der Leistungserbringung durch die notwendigen Fahrzeiten zu solch hohen Belastungen, dass nicht ansatzweise von Chancengleichheit zu sprechen ist. Schulwege, Fahrzeiten zu den Behörden und zum Arzt bzw. zur Apotheke, vielfach selbst die Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs fordern die Bevölkerung in den ländlichsten, peripheren Gebieten immer stärker heraus. Die schwindende Leistungskraft der Kommunen gestattet kaum noch eine Förderung der Kinder über die Absicherung der Schulpflicht hinaus. Der Zugang zu Kultur, Bibliotheken, Sportklubs und Musikschulen in den größeren Städten ist oft nur theoretisch möglich, denn neben dem Schulbus müssten für die Fahrten private Lösungen gefunden werden, für die gerade die von Armut betroffenen Familien selten das notwendige Potenzial haben. Die Kommunen sind durch die konkrete Altersstruktur der Bevölkerung verschieden stark bevorteilt bzw. benachteiligt, und somit unterschiedlich stark beansprucht, altersspezifische Leistungen zu erbringen. Darum sind alle pro-Kopf-finanzierten Leistungen zu hinterfragen, wenn deren Rentabilitätsberechnungen ausschließlich auf die Einwohnerzahl ohne Beachtung der Altersstruktur ausgerichtet sind. Das bezieht sich auf alle diesbezüglichen Standards und Normen. Bei der Bewertung der Leistungsfähigkeit von Kommunen zur Erfüllung sozialer Aufgaben sollten dieserart strukturelle Nachteile der Bevölkerung berücksichtigt werden. Aus bevölkerungsgeographischer Sicht könnten der Kommunale Finanzausgleich oder die Kreisumlage einen Index erhalten, um besonders stark betroffene Gemeinden zu entlasten. In den öffentlichen Debatten vertreten fast alle das Paradigma der gleichwertigen Lebensbedingungen. Die Basis dieses Ansatzes ist ein alles umfassendes Wachstum, einschließlich der Bevölkerung. Aus prognostischer Sicht der Demographie ist die mittel- und langfristige Perspektive jedoch Schrumpfung. Die Politik muss entscheiden, wie die demographische Schrumpfung konzeptionell und strukturell begleitet wird. Die politische Reaktion auf reale Schrumpfung darf nicht vorauseilender Sozialabbau sein, indem den Bevölkerungsprognosen vorgegriffen wird. Der vorsorgliche Abbau von Infrastruktur und Leistungspotenzialen wäre auch eine Form von Armut: Es wäre der Mangel an vernunftorientierter Politik! 295 Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: GfK Kaufkraft-Dichte für Deutschland auf Kreisbasis, 2014 Abbildung 2: Alters- und Geschlechtsgliederung der Bevölkerung Mecklenburg-Vorpommerns zum 31.12.1992 Abbildung 3: Sexualproportionen der Geburtskohorte 1974-1984 in Mecklenburg-Vorpommern 1990 bis 2003 Abbildung 4: Sexualproportionen der Geburtskohorte 1974-1984 in Mecklenburg-Vorpommern nach Gemeinden 1990 Abbildung 5: Sexualproportionen der Geburtskohorte 1974-1984 in Mecklenburg-Vorpommern nach Gemeinden 1997 Abbildung 6: Sexualproportionen der Geburtskohorte 1974-1984 in Mecklenburg-Vorpommern nach Gemeinden 2003 Abbildung 7: NUTS-2-Regionen der EU25: Dynamik des Geschlechterverhältnisses in der Geburtskohorte 1972-1976 im Zeitraum 1991-2001 Abbildung 8: Parameter der Bevölkerungsentwicklung in Mecklenburg-Vorpommern Abbildung 9: Entwicklung der Bevölkerung in Vorpommern nach Hauptaltersgruppen sowie differenziert nach Stadt- und Landkreisen in Zeitschnitten Abbildung 10: Entwicklung der TFR 1950 bis 2008/2009*, Mecklenburg-Vorpommern und Deutschland im Vergleich Abbildung 11: Lebenserwartung bei der Geburt der Frauen und Männer 2006/2008 nach Bundesländern Abbildung 12: Mecklenburg-Vorpommern, Zu- und Wegzüge nach dem Alter, mehrere Zeitschnitte Abbildung 13: Mecklenburg-Vorpommern, Zu- und Wegzüge der Altersgruppe 18 bis 25 Jahren nach Geschlecht, 1990-2009 Abbildung 14: Relative Bevölkerungsentwicklung 2009-2030 in Mecklenburg-Vorpommern nach der 4. Landesprognose nach Alt-Kreisen Abbildung 15: Alters- und Geschlechtsgliederung der Bevölkerung Mecklenburg-Vorpommerns, 4. Landesprognose bis 2030 Abbildung 16: Bevölkerungsentwicklung der Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern von 2001 bis 2010 in Prozent Abbildung 17: Bevölkerungsentwicklung der Kreise in Mecklenburg-Vorpommern von 2010 bis 2030 (4. Landesprognose, 1. Änderung) Abbildung 18: Entwicklung der Einwohnerzahl in den Kreisen der Nordbezirke der DDR von 1971 bis 1989 Abbildung 19: „Ländlichen Räume mit besonderen demografischen Herausforderungen“ Abbildung 20: Die Region Strasburg auf Basis von Postleitzahlbezirken und Gemeinden im Jahr 2015 Abbildung 21: Die Region Dargun auf Basis von Postleitzahlbezirken und Gemeinden im Jahr 2015 Abbildung 22: Die Struktur der Gesamtbevölkerung in den Beobachtungsgemeinden zwischen 1979 bis 2014 Abbildung 23: Prozentuale Verteilung weiblicher Sterbefälle in den Beobachtungsgemeinden, MecklenburgVorpommern (ab 1995) und Deutschland nach Altersgruppen 1983 bis 2013 (MV ab 1995) Abbildung 24: Prozentuale Verteilung männlicher Sterbefälle in den Beobachtungsgemeinden, MecklenburgVorpommern (ab 1995) und Deutschland nach Altersgruppen im Zeitraum 1991 bis 2013 Abbildung 25: Altersspezifische Sterblichkeit der Männer nach Bedürftigkeit und Altersgruppen im Zeitraum 2000 bis 2013 in den Betrachtungsgemeinden, Mecklenburg-Vorpommern und Deutschland Abbildung 26: Altersspezifische Sterblichkeit der Frauen nach Bedürftigkeit und Altersgruppen im Zeitraum 2000 bis 2013 in den Betrachtungsgemeinden, Mecklenburg-Vorpommern und Deutschland Abbildung 27: Geburten je 1.000 Frauen nach Alter der Mutter und Bedürftigkeit in den Beobachtungsgemeinden, Mecklenburg-Vorpommern und Deutschland zwischen 2000 und 2011 296 Abbildung 28: Geburten je 1.000 Frauen nach Alter in Strasburg (Um.), der DDR und der BRD zwischen 1976 und 1989. Abbildung 29: Bedürftige in Strasburg (Um.) nach Geburtsjahr und Geschlecht zwischen 1904 und 1993. Abbildung 30: Alters- und Geschlechtsstruktur der Gemeindebevölkerung der Stadt Dargun 2013. Abbildung 31: Alters- und Geschlechtsstruktur der Gemeindebevölkerung der Stadt Strasburg 2014. Abbildung 32: Stadt Dargun: Bestandsbevölkerung und Wohngeldempfänger (absolut und Quote in Prozent). Abbildung 33: Stadt Strasburg: Bestandsbevölkerung und „Bedürftige“ (absolut und Quote in Prozent). Abbildung 34: GfK Kaufkraft für Uhren und Schmuck („Luxusindex“), 2011 Abbildung 35: Durchschnittliche Einkommenshöhe in Mecklenburg-Vorpommern nach Gemeinden im Jahr 2001 Abbildung 36: Anteil des sozialversicherungspflichtig Beschäftigten an den Erwerbsfähigen (15. bis 65. Lebensjahr) in Mecklenburg-Vorpommern nach Gemeinden im Jahr 2004 Abbildung 37: Erreichbarkeit von Gymnasien / Schulen der Sekundarstufe II 2008/2009. Abbildung 38: Erreichbarkeit von Gymnasien / Szenario „Wegfall des nächstgelegenen Standortes“. Abbildung 39: Erreichbarkeit von Krankenhäusern im Jahr 2009. Abbildung 40: Erreichbarkeit von Krankenhäusern / Szenario „Wegfall des nächstgelegenen Standortes“ im Jahr 2009. Abbildung 41: Erreichbarkeit von Krankenhäusern mit Fachabteilung Chirurgie. Abbildung 42: Erreichbarkeit von Selbsthilfe- und Angehörigengruppen (Demenz, psychische Erkrankungen). 297 Literaturverzeichnis Aring, Jürgen (2010): Gleichwertige Lebensverhältnisse - Inverse Frontiers - Selbstverantwortungsräume. In: IBA Stadtumbau Sachsen-Anhalt 2010, Berlin, S. 764-777 Bähr, Jürgen (2010): Bevölkerungsgeographie. 5., völlig neubearbeitete Auflage. Stuttgart. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (Hrsg.) (2015): So geht Einheit. Wie weit das einst geteilte Deutschland zusammengewachsen ist. Berlin. Bujard, Martin (2012): Talsohle bei Akademikerinnen durchschritten? 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