Entscheidungszwäng
E
ge im
z
zivilrechtlichen
Kinde
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D
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(SPF) als Hilfeleistung im Abkl
klärungsprozess
u / oder als professionelle Intervention
und
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Simone
Hengartner Thurnheer
Master in Sozialer Arbeit
M
B
Bern
I Luzern I St.Gallen I Zürich
Entscheidungszwänge im zivilrechtlichen Kindesschutz
Die Bedeutung der Sozialpädagogischen Familienbegleitung (SPF) als Hilfeleistung
im Abklärungsprozess und / oder als professionelle Intervention zur Abwendung
einer drohenden oder bestehenden Gefährdungslage
Master-Thesis-Arbeit von:
Simone Hengartner Thurnheer
Hirschenstrasse 2
9536 Schwarzenbach
simone.hengartner@gmail.com
Studienbeginn:
Wintersemester 2009
Fachbereich:
Master in Sozialer Arbeit
Bern I Luzern I St.Gallen I Zürich
Fachbegleitung:
Prof. Sabine Makowka M.A.
Abgabedatum:
13. Januar 2011
Abstract
In der vorliegenden Master-Thesis-Arbeit wird der Frage nachgegangen, nach welchen
Kriterien und Indikatoren im Rahmen des zivilrechtlichen Kindesschutzes von welchen
Akteuren beurteilt und / oder entschieden wird, ob eine Sozialpädagogische Familienbegleitung (SPF) als Hilfeleistung im Abklärungsprozess und / oder als professionelle
Intervention zur Abwendung einer drohenden oder bestehenden Gefährdungslage für eine
Familie geeignet ist. Als theoretische Grundlage wird der aktuelle Forschungsstand und
Fachdiskurs zum zivilrechtlichen Kindesschutz und zur aktuellen Situation der SPF in der
Schweiz – im Ländervergleich mit Deutschland – behandelt. Mittels einer qualitativen
Fallstudie wird der Prozess von der Gefährdungsmeldung bis hin zum Einsatz und ersten
Verlauf der SPF untersucht. Die Auswahl und Analyse der Daten erfolgte nach der Grounded
Theory. Die Ergebnisse zeigen, dass sich für Akteure des zivilrechtlichen Kindesschutzes
Entscheidungszwänge
auf
der
Grundlage
unvollständiger
Informationen
ergeben.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer SPF-Organisation tragen zur Gewinnung von
zusätzlichen Informationen bei und können Familien gleichzeitig eine Unterstützung bieten.
Eine gelingende Kooperation mit Adressatinnen und Adressaten ist dabei Grundvoraussetzung zur Informationsgewinnung. Das aus den Daten entwickelte Schema bietet eine
geeignete Reflexionsgrundlage für Professionelle der Sozialen Arbeit, welche Mitglieder
einer Organisation des zivilrechtlichen Kindesschutzes oder einer SPF-Organisation sind.
Keywords: Zivilrechtlicher Kindesschutz, Sozialpädagogische Familienbegleitung, SPF,
Kindeswohl, Kindeswohlgefährdung
Vorwort
In der Schweiz bieten private soziale Dienstleistungsorganisationen Sozialpädagogische
Familienbegleitungen
(SPF)
an.
Diese
werden
im
Rahmen
des
Kindesschutzes von verschiedenen Akteurinnen und Akteuren beauftragt
zivilrechtlichen
Familien zu
begleiten, wenn diese nach ersten Abklärungen zum Schluss gelangt sind, dass eine
Kindeswohlgefährdung vorliegt oder entstehen könnte. Die SPF als Intervention soll Familien
vor Ort eine professionelle Hilfeleistung bieten, wenn sie Probleme in ihrem Familienalltag
nicht mehr selbstständig bewältigen und die Eltern ihre Erziehungsaufgaben nicht genügend
wahrnehmen können. Die Auftragsklärung findet in der Regel mit Professionellen der
Sozialen Arbeit statt, welche als Rollenträger eines Vormundschaftsamtes, einer Amtsvormundschaft oder eines Sozialdienstes von der Vormundschaftsbehörde mit der Abklärung
der Situation bzw. der Begleitung einer Familie beauftragt wurden. In einem telefonischen
Erstkontakt schildern die Sozialarbeitenden der internen Dienste die Problemlage einer
Familie. Wenn der Einsatz einer SPF beiderseits als sinnvoll erachtet wird, folgt in den
Räumlichkeiten des Sozialdienstes oder einer Amtsvormundschaft ein Erstgespräch mit den
Eltern oder der erziehungsberechtigten Person, in welchem konkrete Ziele für die Begleitung
formuliert werden. Wenn es sich um gefährdete Jugendliche handelt, so nehmen diese in der
Regel ebenfalls am Erstgespräch teil. Jugendliche sind stärker als Kinder an der Erreichung
der Zielsetzungen beteiligt. Sofern alle beteiligten Personen mit den Zielen einverstanden
sind, werden diese schriftlich festgehalten und unterzeichnet. Ab diesem Zeitpunkt ist die
SPF arbeitsfähig.
Diese grobe Skizze prototypischer Abläufe beruht auf meiner eigenen Praxiserfahrung als
Sozialpädagogische Familienbegleiterin. Die Praxiserfahrung zeigt, dass eine SPF als
Intervention wirkungslos bleiben oder eine Situation zusätzlich belasten kann, wenn die
nötige Sorgfalt in der Abklärung der Situation und in den gemeinsamen Gesprächen zur
Zielfindung gefehlt hat. Auch Merchel hält fest, dass „die Qualität der vorangehenden
Hilfeplanung zu einem wesentlichen Bezugspunkt für die Qualität der einzelfallbezogenen
Ausgestaltung der ambulanten Erziehungshilfe“ ist (Merchel, 1998, S. 226). Dem Prozess
von der Gefährdungsmeldung bis hin zur Unterzeichnung der Ziele sollte deshalb grösste
Aufmerksamkeit geschenkt werden. Grund genug also, diesen Prozess zum Thema meiner
Master-Thesis-Arbeit zu machen und einer systematischen Analyse zu unterziehen.
Mein Dank geht an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Organisationen und an die
Familienmitglieder, welche sich dafür engagierten, dass sich die geplante Untersuchung
realisieren liess. Sie stellten sich bereitwillig für Interviews und weitere Fragen zur
Verfügung. Ich bedanke mich auch bei meiner fachlichen Begleiterin Frau Prof. Sabine
Makowka M.A. für die hilfreichen und anregenden Impulse.
Schwarzenbach, Januar 2011
Simone Hengartner Thurnheer
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung…………………………………………………………………….....................7
1.1.
Ausgangslage mit Problem- und Fragestellung ……….………………………….7
1.2.
Theoretische Überlegungen zur Fragestellung …………………………………..9
1.3.
Aufbau der Master-Thesis-Arbeit…………………………………………………..10
Teil I: Theoretischer Teil……………………………………………………………………… 11
2. Stand der Forschung und des Fachdiskurses……..………………………………... 11
2.1.
Das UNO-Übereinkommen über die Rechte des Kindes…….………………... 11
2.2.
Zivilrechtlicher Kindesschutz in der Schweiz…..……………………………….. 12
2.2.1. Nationale Forschungsprogramme (NFP 52): Kindheit, Jugend und
Generationenbeziehungen im sozialen Wandel.……………………………….. 12
2.2.2. Blickpunkt Kindeswohl… …………………………………………………………. 14
2.2.3. Neues Kindes- und Erwachsenenschutzrecht....……………………………….. 15
2.3.
Stiftung Kinderschutz Schweiz…………………………………………………… 16
2.4.
Verankerung der Sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH) im
Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) Deutschlands.. ………………………. 17
2.5.
Sozialpädagogische Familienbegleitung (SPF) in der Schweiz……….…....... 20
3. Position der Sozialen Arbeit gegenüber dem zivilrechtlichen Kindesschutz…….. 22
3.1.
Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession………………………………….. 22
3.2.
Kindeswohl – Ein Definitionsvorschlag aus der Perspektive
der Sozialen Arbeit………………………………………………………………… 24
3.3.
Entwicklung und Professionalisierung der SPFH / SPF………………………. 25
Teil II: Qualititative Fallstudie……………………………………………………………….. 26
4. Forschungsleitende Fragestellungen………………………………………………… 26
5. Erhebungsdesign: Grounded Theory………………………………………………… 26
5.1.
Auswahl der Gemeinde…………………………………………………………… 28
5.2.
Feldzugang………………………………………………………………………… 28
5.3.
Auswahl der Rollenträger………………………………………………………… 28
5.4.
Auswahl der Familien…………………………………………………………….. 29
5.5.
Methoden der Datenerhebung…………………………………………………… 29
5.6.
Durchführung der Datenerhebung………………………………………………. 30
5.7.
Analyse der Daten…………………………………………………………………. 32
6. Ergebnisse der Fallanalyse…………………………………………………………… 33
6.1.
Gliederung der Ergebnisse……………………………………………………….. 33
6.2.
Die Hauptgeschichte………………………………………………………………. 34
6.3.
Das zentrale Phänomen: Situationseinschätzung und
Entscheidungszwang auf unvollständiger Informationsgrundlage……………. 35
6.4.
Kontext des Entscheidungszwangs……………………………………………… 37
6.5.
Zwei Entscheidungstypen………………………………………………………… 39
6.5.1. Entscheidungstyp 1: Entscheidungszwang auf der Grundlage
ungesichterter Informationen……………………………………………………... 39
6.5.2. Entscheidungstyp 2: Entscheidungszwang auf der Grundlage
stichhaltiger Informationen……………………………………………………….. 40
6.6.
Informations-Lücken-Füll-Strategien……………………………………………. 41
6.6.1. Führen von Gesprächen (Diskussionen, Absprachen, Besprechungen)……. 42
6.6.2. Tür-Öffner-Strategien……………………………………………………………… 43
6.6.3. Erziehungs-Kompetenz-Überprüfungs-Strategien……………………………… 44
6.7.
Kooperationsvoraussetzungen…………………………………………………… 45
6.7.1. Artikulation von Anliegen…………………………………………………………. 45
6.7.2. Erahnung oder Entdeckung vorteilbringender Aspekte……………………….. 47
6.7.3. Finanzierungsklärung……………………………………………………………… 48
6.7.4. Gesetzliche Elternsouveränität…………………………………………………… 49
6.8.
Formelle Zusammenarbeit mit einer SPF-Organisation……………………….. 50
6.8.1. Kurzeinsatz als Abklärungsinstrument…………………………………………... 53
6.8.2. SPF als Erziehungshilfe…………………………………………………………… 54
6.8.3. Mischform der Zusammenarbeit…………………………………………………. 56
6.9.
Zirkularität des Entscheidungsprozesses……………………………………….. 57
Teil III: Diskussion und Schlussfolgerungen…………………………………………….. 59
7. Anknüpfungspunkte an den Forschungsstand und Fachdiskurs………………….. 59
7.1.
Bestätigungen, Widersprüche und Ergänzungen zu den NFP-52-Studien….. 59
7.2.
Rolle der SPF im Rahmen des zivilrechtlichen Kindesschutzes……………… 63
7.3.
Der Einsatz von sozialarbeiterischem und sozialpädagogischem
Wissen und Können im Abklärungs- und Entscheidungsprozess……………. 65
8. Schlussfolgerungen……………………………………………………………………..66
8.1.
Reflexion über methodisches Vorgehen………………………………………… 66
8.2.
Anregungen zur Reflexion für die Praxis………………………………………… 68
8.3.
Offene Fragen und Hypothesen………………………………………………….. 71
8.4.
Anschlussfähigkeit an theoretische Diskurse der Sozialen Arbeit……………. 72
Literaturverzeichnis…………………………………………………………………………. 76
Anhangsverzeichnis…………………………………………………………………………84
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
1. Einleitung
1.1.
Ausgangslage mit Problem- und Fragestellung
Das aktuelle Vormundschaftswesen der Schweiz zeigt deutliche Spuren seiner fast 100jährigen Geschichte. Auch die Entwicklung der Sozialen Arbeit wurde durch diese stark
beeinflusst (vgl. Hauss & Ziegler, 2010; Nadai et al., 2005; Ramsauer, 2000; 2001).
Der Kindesschutz ist im schweizerischen Familienrecht verankert (Zivilrecht). Laut Artikel
307 ZGB (siehe Anhang 1) muss die Vormundschaftsbehörde geeignete Massnahmen zum
Schutz des Kindes treffen, wenn dessen Wohl gefährdet ist und die Eltern die nötige Hilfe
nicht gewährleisten können. Im konkreten Fall ist es demnach auch die Aufgabe der
Behörden zu beurteilen, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. In den meisten Gemeinden
der Schweiz, insbesondere der Deutschschweiz, sind die Vormundschaftsbehörden identisch
mit der Gemeindeexekutive oder einem Unterausschuss. Die mehrheitlich ehrenamtlichen
Behördenmitglieder sind von Gesetzeswegen dazu verpflichtet, die Tätigkeiten der internen
Dienste und somit auch Professionelle der Sozialen Arbeit zu kontrollieren. Es ist
anzunehmen, dass Laien oftmals nicht über die notwendigen Kompetenzen verfügen.
Kompetenzen sind hier nicht ausschließlich im Sinne von Zuständigkeiten gemeint, sondern
auch als relevante Fähigkeiten, die u.a. Fachkenntnisse und Verfahrenssicherheit vereinen.
Entsprechende Entscheidungen werden in diesem Fall vor dem Hintergrund von Alltagserfahrungen getroffen. Dabei wäre z.B. eine sorgfältige Analyse der konkreten Problemsituation nur eine der (fachlich notwendigen) Voraussetzungen für die Anordnung von
angemessenen Massnahmen. Die schweizerischen Vormundschaftsstatistiken zeigen
ausserdem, dass die Zahl der Fälle zunimmt. Weiter gilt es anzunehmen, dass auch die
Komplexität der Fälle zunehmen wird. Die Gefahr von Fehlentscheidungen wird damit nicht
kleiner. Die Entscheide haben z.T. gravierende Auswirkungen auf die betroffenen Kinder und
ihre Familien. Fehlentscheide wirken zudem auch negativ auf die Vormundschaftsbehörden
und auf die Soziale Arbeit insgesamt zurück, wie entsprechende Berichterstattungen in den
Medien zeigen (vgl. Konferenz der kantonalen Vormundschaftsbehörden (VBK), 2008; Voll et
al., 2008).
Im Dezember 2008 hat das Parlament den Gesetzestext zur Totalrevision des Vormundschaftsrechts verabschiedet. Dieses Gesetz tritt voraussichtlich am 1.1. 2013 in Kraft. Das
neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht strebt eine Professionalisierung der entscheidenden Behörden an und schreibt deshalb vor, dass die Erwachsenenschutzbehörde
(welche auch für den Kindesschutz zuständig sein wird) eine Fachbehörde sein muss. Das
7
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
entscheidende Gremium (der „Spruchkörper“) muss aus drei Personen bestehen, welche
aus drei Disziplinen stammen sollten (Recht, Soziale Arbeit, Psychologie / Pädagogik). Der
Gesetzestext lässt jedoch einen großen Interpretationsspielraum für die Umsetzung des
neuen Rechts zu. Zuständig für die Umsetzung dieser Rechtsgrundlage sind die Kantone
(vgl. VBK, 2008, S. 65ff.). Eine Definition des Begriffs „Kindeswohl“ und die Beurteilung
darüber, wann dieses Wohl als gefährdet gelten kann, wird eine interdisziplinär
zusammengesetzte Fachbehörde vielleicht noch stärker herausfordern, als dies heute schon
für die Vormundschaftsbehörden der Fall ist. Sicherlich wird die neue Fachbehörde auf
spezifische inhaltliche Kompetenzen ihrer Mitglieder angewiesen sein, und ggf. Ressourcen
von internen und externen Dienstleistern einholen (müssen), um Entscheide treffen zu
können.
Sofern die Behörde selbst oder beispielsweise aufgrund eines Abklärungsberichts eines
Sozialdienstes zum Schluss gelangt, dass eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, so verfügt
sie eine Massnahme (z.B. Erziehungsbeistandschaft nach Art. 308, siehe Anhang 1) und
beauftragt entsprechend eine Mandatsträgerin oder einen Mandatsträger. In den meisten
Fällen sind dies Professionelle der Sozialen Arbeit, welche in den Amtsvormundschaften
oder Sozialdiensten tätig sind und durch eine hohe Anzahl von Mandaten stark belastet sind.
Enge Begleitungen von Familien können dann nicht gewährleistet werden. Dies führt in der
Regel sowohl bei den Mandatsträgerinnen und Mandatsträgern wie auch bei Familien,
welche die gesuchte oder anerkannte nötige Unterstützung nicht im gewünschten Mass
erhalten, Frustrationen aus. Des Weiteren sind die Professionellen auch durch einzelne
komplexe und schwierige Dossiers stark belastet oder fachlich überfordert, sodass eine
konkrete Familiensituation zum Schutze des Kindeswohls den Einbezug einer weiteren,
spezialisierten Fachperson erfordern kann (vgl. Voll et al., 2008, S. 145). Diese Einschätzung
muss
in
jedem
Fall
individuell
getroffen
werden
und
erfordert
unter
anderem
sozialarbeiterische Kompetenzen. Die Entscheidung, ob eine SPF als professionelle Intervention und Hilfeleistung im Rahmen des zivilrechtlichen Kindesschutzes für die Familie
geeignet ist, erfordert ebenso theoretische Kenntnisse über diese Interventionsform wie
professionelles Praxiswissen. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich daher mit der Frage,
welche Bedeutung die SPF im Rahmen des zivilrechtlichen Kindesschutzes als Intervention
oder als Hilfeleistung für den Abklärungsprozess hat. Anhand einer Beispielgemeinde soll
der Prozess von der Gefährdungsmeldung bis hin zum Einsatz und ersten Verlauf der SPF
exemplarisch untersucht werden. Aufgrund der föderalistischen Staatsordnung der Schweiz
gestalten sich die Organisationsformen des Kindesschutzes in den verschiedenen Kantonen
und Gemeinden höchst unterschiedlich. Im Rahmen dieser Arbeit wird der Fokus in einer
8
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Fallanalyse auf eine Gemeinde in der Ostschweiz gerichtet. Die präzise, forschungsleitende
Fragestellung lautet:
Nach welchen Kriterien und Indikatoren wird im Rahmen des zivilrechtlichen Kindesschutzes
von welchen Akteuren beurteilt und/oder entschieden, ob eine Sozialpädagogische
Familienbegleitung (SPF) als Hilfeleistung im Abklärungsprozess und/oder als professionelle
Intervention zur Abwendung einer drohenden oder bestehenden Gefährdungslage für eine
Familie geeignet ist?
Die folgenden theoretischen Überlegungen zur Fragestellung dienen einem kurzen Überblick
zur Verwendung der zentralen Begriffe. In den einzelnen Kapiteln (Teil I) werden sie in der
Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand und des Fachdiskurses genauer erläutert.
1.2.
Theoretische Überlegungen zur Fragestellung
Als Akteure werden alle Rollenträgerinnen und Rollenträger* einer bestimmten beruflichen
Position (z.B. Beiständinnen und Beistände), Gremien (z.B. Vormundschaftsbehörde) und
Familienmitglieder (z.B. Erziehungsberechtigte) bezeichnet, welche in irgendeiner Art und
Weise einen Einfluss im / auf den Abklärungs- und Entscheidungsprozess haben. Die soziale
Rolle wird verstanden als „Summe der Erwartungen und Ansprüche“ welche von der
Gesellschaft oder einzelner Gruppen an das „Verhalten und das äussere Erscheinungsbild
des Inhabers einer sozialen Position“ gestellt werden (Hillmann, 1994, S. 742).
Beim Begriff des Kindeswohls handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Mit
Bezugnahme auf Staub-Bernasconi (2008) wird im Kapitel 3.1. ein Vorschlag unterbreitet,
wie aus der Perspektive der Sozialen Arbeit definiert werden kann, wann es einem Kind
wohl und in diesem Sinne das Kindeswohl gesichert ist.
Hinweise darauf, dass zentrale Bedürfnisse des Kindes befriedigt oder – aus welchen
Gründen auch immer – missachtet oder vernachlässigt wurden, können als Indikatoren dafür
betrachtet werden, ob das Kindeswohl gewährleistet bzw. gefährdet ist (siehe Kapitel 3.2.).
Möglicherweise spielen in Abklärungs- und Entscheidungsprozessen des zivilrechtlichen
Kindesschutzes nebst solchen Indikatoren noch andere Faktoren, wie beispielsweise die
Verfügbarkeit von gut ausgebildetem Personal oder Fragen der Finanzierung von
*In der Folge wird zwecks einer angenehmeren Lesbarkeit nur noch die männliche Form „Rollenträger“
verwendet. Bei allen übrigen Bezeichnungen werden sowohl die weibliche wie auch die männliche Form
berücksichtigt.
9
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
bestimmten Interventionen oder Massnahmen, eine entscheidende Rolle. Für solche
Faktoren wird im Folgenden die Bezeichnung Kriterien gewählt.
Ziel der vorliegenden qualitativen Untersuchung ist jedoch nicht das Erstellen einer Liste von
Indikatoren (oder Kriterien), welche für oder gegen den Einsatz einer SPF sprechen. Solche
Listen oder andere Hilfen zur sozialpädagogischen Diagnose oder Indikation in der
Jugendhilfe existieren genug, obwohl es sich dabei vor allem um Fachliteratur zur Planung
der richtigen „Hilfe zur Erziehung“ in der Jugendhilfe Deutschlands handelt (vgl. z.B.
Bayerisches Landesjugendamt, 2004; Fröhlich-Gildhoff, 2002; Harnach-Beck, 2003; Merchel,
1998). Es soll anhand einer Organisation exemplarisch rekonstruiert werden, wie
Vertreterinnen und Vertreter der Vormundschaftsbehörde unter den gegenwärtigen
gesetzlichen Rahmenbedingungen der Schweiz im Austausch mit Adressatinnen und
Adressaten und weiteren Fachpersonen in ihrem Berufsalltag genau ermitteln, ob eine
Indikation für eine SPF vorliegt und welche weiteren Kriterien für eine Entscheidung durch
wen mit einfliessen.
Der
Begriff
Massnahme
wird
in
dieser
Arbeit
ausschliesslich
für
gesetzliche
Kindesschutzmassnahmen (z.B. Erziehungsbeistandschaft nach Art. 308 ZGB) verwendet.
Die SPF wird als Intervention bezeichnet. Sie wird von Erziehungsberechtigten mehrheitlich
freiwillig in Anspruch genommen. Eine SPF kann jedoch von einer Vormundschaftsbehörde
auch mit Bezug auf den Art. 307 ZGB angeordnet werden. In diesem Fall stellt auch die SPF
eine Kindesschutzmassnahme dar (vgl. Kapitel 2.5.: Interpellation Fankhauser).
1.3.
Aufbau der Master-Thesis-Arbeit
In Bezug auf die Fragestellung dieser Arbeit sind als struktureller Kontext die UNOMenschenrechts- und Kinderrechtskonvention (internationale Ebene), der zivilrechtliche
Kindesschutz (nationale Ebene) und die Position der Sozialpädagogischen Familienbegleitung in der Schweiz bedeutsam. Im theoretischen Teil I findet daher im Kapitel 2 eine
Auseinandersetzung mit dem Stand der Forschung und des Fachdiskurses zu diesen
Themen statt. In Kapitel 3 wird ein Vorschlag unterbreitet, wie sich die Soziale Arbeit
gegenüber dem zivilrechtlichen Kindesschutz positionieren kann.
Teil II bildet den empirischen Teil der Arbeit und beinhaltet eine qualitative Fallstudie. Das
Vorgehen erfolgt nach der Grounded Theory. In Kapitel 4 werden die Kernfrage, sowie die
darin implizit enthaltenen Unterfragen aufgelistet. Die Auswahl des Forschungsdesigns wird
in Kapitel 5 begründet. Nachfolgend wird aufgezeigt, wie die Vorbereitung, Durchführung
10
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
und Auswertung der gewonnenen Daten erfolgte. In Form einer Story line werden in Kapitel
6 die Ergebnisse der Fallanalyse präsentiert.
Die Ergebnisse der Fallanalyse werden im Teil III dieser Arbeit in Bezug zum Stand der
Forschung und des Fachdiskurses aus Teil I diskutiert (Kapitel 7). Anregungen zur Reflexion
für die Kindesschutz-Praxis, sowie Hypothesen und offene Fragen für eine weitere
wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik, werden in Kapitel 8 dargestellt.
Um die Ergebnisse in einen für die Soziale Arbeit relevanten grösseren Rahmen zu stellen,
wird abschliessend aufgezeigt, an welche theoretischen Diskurse der Sozialen Arbeit als
Disziplin und Profession diese anschlussfähig sind.
Teil I: Theoretischer Teil
2. Stand der Forschung und des Fachdiskurses
In der qualitativen Fallstudie der vorliegenden Arbeit wird die Schnittstelle zwischen dem
zivilrechtlichen Kindesschutz und der SPF untersucht. Im Teil I werden daher sowohl der
Stand der Forschung und des Fachdiskurses über fachliche und rechtliche Aspekte des
Kindesschutzes wie auch über die Position der SPF in der Schweiz diskutiert.
2.1.
Das
Das UNO-Übereinkommen über die Rechte des Kindes
UNO-Übereinkommen
über
die
Rechte
des
Kindes
wurde
1989
von
der
Volksversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. Es wurde von der Schweiz 1997
ratifiziert und ist heute somit Bestandteil unserer Rechtsordnung. Die überarbeiteten
Referate, welche im Rahmen einer interdisziplinären Weiterbildung zum Thema „Die Rechte
des Kindes“ gehalten wurden, liegen in einem Band veröffentlicht vor (vgl. Gerber Jenni &
Hausammann, 2001). Die Beiträge sind interdisziplinär und diskutieren die Auswirkungen
des Übereinkommens auf die Schweiz. Lücker-Babel (2001) hält in ihrem Referat fest, dass
die ratifizierten Kinderrechte gegenüber der schweizerischen Gesetzgebung höherrangig,
und dass in deren Formulierung nebst den rechtlichen auch eine politische, soziale und
pädagogische Dimension eingebettet sind (vgl. S. 9). Gemäss Artikel 3 muss „bei allen
Massnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten
Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungs11
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
organen getroffen werden“ das „Wohl des Kindes“ als vorrangiger Gesichtspunkt
berücksichtigt werden (Art.3 KRK, siehe Anhang 2). Dieser Artikel richtet sich also an
Vormundschaftsbehörden,
Diensten,
aber
auch
Sozialarbeitende
an
private
in
Vormundschaftsämtern
Organisationen,
welche
und
Sozialen
Sozialpädagogische
Familienbegleitungen anbieten, sowie an alle weiteren involvierten Fachpersonen. Sollten
gegenwärtige Rahmenbedingungen die Realisierung dieses vorrangigen Ziels behindern, so
ist die Schweiz verpflichtet, „alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen
Massnahmen zur Verwirklichung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte“ zu
treffen (Art. 4 KRK, siehe Anhang 2). Lücker-Babel (2001) ist jedoch der Ansicht, dass
beispielsweise Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter und Lehrerinnen und Lehrer aufgrund
von mangelnden Weiterbildungsmöglichkeiten die Verwirklichung dieser Rechte nicht
genügend vorantreiben können. Zudem bieten die meisten Artikel des Übereinkommens,
analog zum ZGB, einen grossen Gestaltungsspielraum. Dies erschwert die Durchsetzung
zusätzlich (vgl. S. 16-17). Zentral scheint jedoch, dass die Artikel des Übereinkommens, wie
auch die entsprechenden Artikel zum Kindeswohl im ZGB, den stetigen fachlichen Diskurs
darüber einfordern, welches geeignete Massnahmen zum Schutz der Kinder und
Jugendlichen sind und welche Mittel dafür zur Verfügung gestellt werden müssen (vgl.
Biaggini, 2001, S. 39+40).
2.2.
Zivilrechtlicher Kindesschutz in der Schweiz
In der Schweiz wurden im Rahmen des nationalen Forschungsprogramms 52 (NFP 52) zwei
Studien zu Fragen des zivilrechtlichen Kindesschutzes durchgeführt und veröffentlicht,
welche im Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit eine grosse Relevanz aufweisen.
Wichtige Ergebnisse dieser Studien werden im Folgenden kurz dargestellt.
2.2.1. Nationale Forschungsprogramme (NFP 52): Kindheit, Jugend und Generationenbeziehungen im sozialen Wandel
Voll, Jud, Mey, Häfeli und Stettler (2008) führten im Rahmen des Nationalen
Forschungsprogramm 52 „Kindheit, Jugend und Generationenbeziehungen im sozialen
Wandel“ im Zeitraum von April 2003 bis Dezember 2006 eine Studie über Akteure, Prozesse
und Strukturen im zivilrechtlichen Kindesschutz durch. Das Handeln von Behörden und
Sozialarbeitenden und den entsprechenden Problemstellungen, die sich durch Unsicherheiten in der Beurteilung des Kindeswohls ergeben, werden thematisiert (vgl. S. 14). Zudem
werden die verschiedenen Organisationsformen in der Schweiz, welche sich durch die
föderalistische Staatsform ergeben, beleuchtet. Die Ergebnisse, welche auf der Grundlage
einer Kombination von quantitativen und qualitativen Erhebungsmethoden beruhen, bieten
12
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
eine geeignete empirische Grundlage, an welche die vorliegende Arbeit mit der konkreten
Fragestellung anknüpfen kann. In der Studie wurde die Anzahl von beteiligten Professionellen an einem Kindesschutzfall ermittelt und sieben Kategorien zugeordnet. Die SPF wird
an keiner Stelle explizit genannt und fällt in dieser Zuordnung am ehesten unter die kleinste
Gruppe „andere“. Unter anderem werden zu dieser Gruppe „private soziale Einrichtungen“
gezählt (vgl. S. 56). Interessant sind die Ergebnisse dieser NFP-Studie auch im Vergleich mit
den „Beiträgen zur Geschichte der Sozialen Arbeit in St.Gallen“ von Hauss & Ziegler (2010)
oder der Dissertation von Ramsauer (2000) über „Kindswegnahmen und die Entstehung der
Jugendfürsorge im schweizerischen Sozialstaat 1900-1945“. Das Verhältnis von Kind, Eltern
und Staat sowie entsprechende Prozesse zwischen den verschiedenen Akteuren werden in
beiden Arbeiten beleuchtet. Auf die Notwendigkeit einer Professionalisierung (zum Beispiel
die Errichtung von Amtsvormundschaften gegenüber privaten Mandatsträgern) wurde bereits
anfangs 20. Jahrhunderts hingedeutet, „weil die betreuten Familien von behördlicher Seite
immer mehr als schwierige Fälle wahrgenommen wurden“ (Ramsauer, 2000, S. 60).
Mit der empirischen Studie über den Hilfeprozess und die Partizipation von Eltern und
Kindern bei Pflegefamilien- und Heimplatzierungen liegt von Arnold, Huwiler, Raulf, Tanner
und Wicki (2008) eine zweite NFP 52-Studie vor. Es wurden zu verschiedenen Zeitpunkten
Erhebungen durchgeführt, um neben Aussagen zu den Indikations- und Platzierungsprozessen auch Aussagen über die Wirkungen einer Platzierung vornehmen zu können.
Dabei wurden sowohl qualitative wie quantitative Methoden eingesetzt. Ein besonderes
Augenmerk legt die Untersuchung auf Partizipationsaspekte an der Hilfeplanung, da die
UNO-Konvention über die Rechte des Kindes unter Art. 9 (siehe Anhang 2) den Betroffenen
das Mitbestimmungsrecht einräumt (vgl. S. 23 – 36). Die Stichprobenrekrutierung (N=50)
erfolgte aus den Kantonen St.Gallen, Thurgau und Zürich (vgl. S. 37). Die Fallanalyse der
vorliegenden Arbeit bezieht sich ebenso auf eine Gemeinde in diesem geografischen Raum.
Somit sind die Ergebnisse der Studie von Arnold et al. (2008) bedeutsam für die vorliegende
Arbeit. Von besonderem Interesse für diese Arbeit sind die Ergebnisse zum Aushandlungsprozess und der Entscheidungsfindung. Die Studie von Arnold et al. gelangt zum Ergebnis,
dass 55,8 Prozent der Platzierungsfälle innerhalb eines Jahres nach der Erstmeldung
erfolgten. Bei 34,9 Prozent liegt die Erstmeldung mehr als zwei Jahre zurück. Arnold et al.
führen diese spätere Platzierung auf Verschärfungen der Problemlagen von Eltern oder
Kindern zurück. Sie ergänzen, dass in diesen Fällen meist diverse Abklärungen, Therapien
und andere Lösungsversuche vorausgingen, welche nicht die gewünschte Besserung der
Situation bewirken konnten (vgl. S. 95). Sie stellen also ebenfalls fest, dass eine grosse Zahl
von Fachleuten verschiedener Disziplinen (Psychologie, Medizin, Psychiatrie) in Fälle
involviert ist. Bei 43 Platzierungsfällen gingen 12 Mal, von insgesamt 116 zusätzlich kontak13
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
tierten Stellen, ambulante Hilfen und Beratungsstellen voraus, zu welchen explizit auch die
SPF gezählt wird. Gegenüber den Fachpersonen aus dem Schulbereich mit 42 Nennungen
oder 33 Nennungen von Fachpersonen aus dem psychologischen, therapeutischen und
medizinisch-psychiatrischen Bereich wurde die SPF also seltener beigezogen. Fehlende
Standardisierungen für schriftlich dokumentierte Hilfeplanungen und der seltene Gebrauch
von Instrumenten für die Hilfe- oder Massnahmenplanung sind weitere Ergebnisse der
Studie (vgl. 96-97).
2.2.2. Blickpunkt Kindeswohl
Im fachlichen Diskurs ist man sich darüber einig, dass gesetzlich legitimiertes Handeln von
Behörden und das Handeln von Eltern, Erziehungsberechtigen und Fachpersonen in erster
Linie dem Wohle des Kindes dienen soll und somit also das Kindeswohl gewährleisten soll.
Die von der Schweiz ratifizierte UNO-Kinderrechtskonvention (Art. 3, siehe Anhang 2) und
die entsprechenden Artikel im ZGB (Art. 307, siehe Anhang 1) dienen als rechtliche
Grundlage. Unklar bleibt bei dieser Maxime jedoch häufig „ihr Gehalt, ihre inhaltliche
Bestimmung, ihre Interpretation und Anwendung“ (Kaufmann, 2003, S. 15). Die Beiträge des
interdisziplinären Symposiums „Blickpunkt Kindeswohl“ vom März 2002 in Freiburg, welches
zwecks der oben genannten Unklarheiten stattgefunden hatte, wurden von Kaufmann und
Ziegler (2003) in einem Band veröffentlicht. Das Kindeswohl wird darin aus verschiedenen
Perspektiven beleuchtet. Dies sind gesellschaftspolitische, juristische, medizinische,
psychologische, pädagogische, ethische und philosophische Dimensionen des Kindeswohls.
Im Rahmen dieser Arbeit wird keine umfängliche Darstellung aller relevanten Aspekte zur
Beurteilung des Kindeswohls erfolgen*, sondern ein Vorschlag für eine sozialarbeiterische
Definition des Begriffs unterbreitet (siehe Kapitel 3.2.). Häfeli (2003) erläutert in seinem
Beitrag am Symposium „Blickpunkt Kindeswohl“ die Bedeutung der Erziehungsbeistandschaft nach Art. 308 ZGB (siehe Anhang 1). Er weist darauf hin, dass bei
Kooperationsbereitschaft der Eltern „unter diesem Titel jede Art von im Einzelfall geeigneter
Erziehungs- und Familienberatung möglich“ ist (S. 132; vgl. auch Häfeli, 2002, S. 68-71). Es
wird jedoch an dieser Stelle nicht erwähnt, dass eine SPF mit der entsprechenden Aufgabe
beauftragt werden kann. Obwohl in Deutschland diese Hilfeform gesetzlich verankert und
etabliert ist (siehe Kapitel 2.4.), wird sie in der Schweiz im Rahmen des zivilrechtlichen
*Eine detaillierte Übersicht bietet hierzu das deutsche Handbuch „Kindeswohlgefährdung nach Art. 1666 BGB
und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD)“ (vgl. Kindler et al., 2006). Der aktuelle Forschungsstand wird von
Expertinnen und Experten auf rund 900 Seiten in Form von Fragen und Antworten rund um das Thema
Kindeswohlgefährdung dargestellt.
14
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Kindesschutzes nicht thematisiert. Und dies obwohl eine Fremdplatzierung erst dann in
Betracht gezogen werden sollte, wenn andere Massnahmen zum Wohl des Kindes nicht
greifen bzw. wenn der Gefährdung nicht anders begegnet werden kann (Art. 310 ZGB, siehe
Anhang 1).
2.2.3. Neues Kindes- und Erwachsenenschutzrecht
Sechsmal jährlich wird von der Konferenz der kantonalen Vormundschaftsbehörden (VBK)
die Zeitschrift für Vormundschaftswesen (ZVW) herausgegeben. Im April 2008 gab die VBK
erstmals ihre Empfehlungen zur neuen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde als
Fachbehörde heraus. Die Empfehlungen der VBK konzentrieren sich in erster Linie auf
organisatorische Fragen der Kantone und Gemeinden, welche sich durch die neue
Gesetzgebung ergeben (Behördenstruktur). Die Professionalisierung der Behörde wurde von
der grossen Mehrheit des Parlaments befürwortet (vgl. VBK, 2008, S. 66). Zu den Aufgaben
der Vormundschaftsbehörden zählt nach geltendem Recht u.a. die Analyse und Diagnose
der Situation, sowie die Evaluation und Anordnung der geeigneten Massnahme. Eine der
bedeutendsten Änderungen des neuen Rechts besteht darin, dass Massnahmen zukünftig
individuell zugeschnitten, also massgeschneidert sein sollen, mit klar formulierten Aufgaben
und Aufträgen an die Mandatsträgerinnen und Mandatsträger (vgl. Häfeli, 2010, S. 14ff.;
VBK, 2008, S. 73; Vogel & Wider, 2009, S. 75). Die VBK geht in ihren Empfehlungen wenig
auf
Fragen in Bezug auf die Art und Weise der zukünftigen Zusammenarbeit einer
interdisziplinären Behörde ein. Es besteht dadurch die Gefahr, dass durch die organisatorischen Schwierigkeiten des Wandels inhaltliche Fragen, und damit Fragen nach der
Beurteilung des Kindeswohls, stark vernachlässigt werden. Aus dem Protokoll des ersten
interkantonalen Erfahrungsaustauschs vom 7. April 2009 geht hervor, dass nebst der
Behördenstruktur auch die Organisation der Abklärungsstelle und Delegationsmöglichkeiten
an die Abklärungsstelle und der Einbezug verschiedener möglicher Fachstellen diskutiert
wurden. Die VBK stellt in ihren Papieren den Wandel unkritisch als Notwendigkeit dar. Am
Erfahrungsaustausch der Kantone wurde jedoch die Erarbeitung eines Argumentariums für
die Projektverantwortlichen der einzelnen Kantone zur besseren Legitimation der Fachbehörde und der neuen Strukturen als weiterzubearbeitendes Thema angeregt. Allerdings
scheinen diesbezüglich die finanziellen Konsequenzen des Wandels im Vordergrund der
Diskussion zu stehen. In allen Kantonen sind entsprechende Umsetzungsarbeiten im Gange,
wobei einzelne Kantone der Ostschweiz noch keine Tendenzen angegeben haben, wie die
zukünftige Behördenstruktur ausgestaltet sein wird (vgl. Vogel & Wider, 2009, S. 80-82).
Anlässlich der bevorstehenden Gesetzesänderung hat sich auch der Name geändert. Neu
heisst die ehemalige VBK „Konferenz der Kantone für Kindes- und Erwachsenenschutz“
15
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
(KOKES). Am 26. Mai 2010 hat der zweite interkantonale Erfahrungsaustausch
stattgefunden. Eine Teilnahme im Zuhörerinnen-Status war leider nicht möglich. Die
Schnittstelle zwischen dem neuen Recht und der SPF (Abklärung und Massnahmen) wird
sich laut der Generalsekretärin der KOKES kaum in den nächsten Monaten herauskristallisieren (persönliche Kommunikation vom 5. Mai 2010). Am 8./9. September 2010 wurde von
der KOKES in Freiburg eine zweitägige Fachtagung zum Thema „Interdisziplinarität –
Herausforderung
und
Chance
des
neuen
Kindes-
und
Erwachsenenschutzrecht“
durchgeführt (vgl. KOKES, 2010, S. 1-10). Die folgende Zusammenfassung der
Tagungsinhalte beruht auf der persönlichen Teilnahme an der Tagung: Im Zentrum der
Tagung stand die Interdisziplinarität als Herausforderung und Chance des neuen Rechts. In
10 verschiedenen Arbeitskreisen wurden ausgewählte Themen zu Massnahmen des neuen
Rechts und Fragen zur Zusammenarbeit in einer interdisziplinären Fachbehörde bearbeitet.
Des Weiteren erläuterten Fachpersonen aus den Disziplinen Medizin (Psychiatrie),
Psychologie, Recht und Soziale Arbeit in ihren Referaten, welchen Beitrag ihre Professionellen zur interdisziplinären Zusammenarbeit leisten können. Verschiedentlich wurde dabei
darauf eingegangen, dass massgeschneiderte Massnahmen, wie sie im neuen Recht
vorgesehen sind, eine besondere Herausforderung darstellen. Rosch (2010) behandelte in
seinem Referat verschiedene Schnitt- und Nahtstellen, zum Beispiel die Zusammenarbeit
der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) mit der Sozialhilfe und weiteren
öffentlichen und privaten Dienstleistungserbringern. Hierzu wurden explizit Schulen, Heime
oder die Polizei genannt. Auf die SPF als Erziehungshilfe oder als möglicher externer
Abklärungsdienst wurde kein Bezug genommen (vgl. S. 8+9). Heck (2010) als Vertreter der
Sozialen Arbeit nahm in seinem Referat Bezug auf die allgemeine normative Handlungstheorie nach Staub-Bernasconi und erwähnte die SPF nebst dem Case Management und
der lösungsorientierten Beratung als Methode der Sozialen Arbeit (vgl. S. 11-13).
2.3.
Stiftung Kinderschutz Schweiz
Die Stiftung Kinderschutz Schweiz hat im Januar 2010 ein Positionspapier zur Umsetzung
des neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrechts herausgegeben. Die Professionalisierung, sowie genügend grosse Einzugsgebiete zur Gewährleistung der Praxiserfahrung,
werden von der Stiftung begrüsst. Allgemein ist zu nennen, dass sie sich den Empfehlungen
der VBK anschliesst. Im Papier wird betont, dass nicht die Bürgernähe des zukünftigen
Spruchkörpers, sondern der Sozialdienste entscheidend sei, da diese mehrheitlich mit der
Mandatsführung beauftragt würden. Zuständigkeiten müssten jedoch zur Sicherung der
Qualität und Transparenz dementsprechend klar geregelt sein (vgl. Stiftung Kinderschutz
Schweiz, 2010, S. 1-6). Ausserdem hat die Stiftung Kinderschutz Schweiz im Auftrag von
16
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Bund und zwei weiteren privaten Stiftungen einen Vorschlag für ein Nationales
Kinderschutzprogramm (NKP 2010 – 2020) ausgearbeitet. Mögliche Massnahmen / Projekte
zum zivilrechtlichen Kindesschutz werden darin unter Punkt 5 präsentiert. Unter anderem soll
das Verfahren der ausserfamiliären Unterbringung (Indikationen, Qualitätstandards)
erarbeitet werden. Abgesehen von der Notwendigkeit dieses Vorhabens (siehe NFP 52
„Pflegefamilien- und Heimplatzierungen“) wird auch hier die Entwicklung von entsprechenden Standards für die Anordnung und Aufhebung von ambulanten, niederschwelligeren
Massnahmen nicht berücksichtigt (vgl. Stiftung Kinderschutz Schweiz, 2009, S. 7).
2.4.
Verankerung der Sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH) im Kinder- und
Jugendhilfegesetz (KJHG) Deutschlands
Erste Projekte zur Sozialpädagogischen Familienbegleitung (SPF) in der Schweiz orientierten sich stark an der Sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH) in Deutschland, welche
dort ab 1969 im Zusammenhang mit der Heimdebatte entstand und heute bereits etabliert ist
(vgl. Petko, 2004; Richterich, 1995).
Es erscheint daher sinnvoll aufzuzeigen, wie die SPFH Deutschlands gegenwärtig in den
gesetzlichen Kindesschutz eingebunden ist. Erkenntnisse aus Deutschland können auf diese
Weise, unter Berücksichtigung der Unterschiede zu schweizerischen Bedingungen, mit
beachtet werden.
Das bis Ende 1991 geltende Jugendwohlfahrtsgesetz wurde durch das neue Kinder- und
Jugendhilfegesetz (KJHG) abgelöst. Damit vollzog sich ein deutlicher Perspektivenwechsel
von einem Eingriffs- und Kontrollverständnis des Staates bei Gefährdungslagen hin zur
Betonung von Eltern als Leistungsberechtigte bei erzieherischem Bedarf (vgl. BMFSFJ,
1998, S. 22). In der deutschen Gesetzgebung wird den Eltern, wie auch in der Schweiz, die
höchste Autorität und Verantwortung für die Pflege und Erziehung der eigenen Kinder
übertragen (§ 1 Abs. 2 SGB VIII, siehe Anhang 3). Die Eltern oder andere Personensorgeberechtigte haben aber einen Anspruch auf eine Hilfe zur Erziehung, wenn sie eine „dem
Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung“ nicht gewährleisten
können und „die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist.“ (§ 27 SGB VIII,
siehe Anhang 3). Können die Eltern also ihre Verantwortung – aus welchen Gründen auch
immer – ungenügend wahrnehmen, so gewährt das Jugendamt Leistungen der Jugendhilfe
in Kooperation mit freien Trägern. In diesem Zusammenhang trat ein Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder-und Jugendhilfe (KICK) am 01.10.2005 in Kraft. Nach § 8a SGB VIII ist
demnach das Jugendamt verpflichtet, Einschätzungen eines Gefährdungsrisikos in Zusammenarbeit mit weiteren Fachkräften vorzunehmen und entsprechende Massnahmen zum
17
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Wohl des Kindes zu treffen (vgl. Jordan, 2008, S. 7). Anlass zur Gesetzeserneuerung waren
wiederholte Strafverfahren gegen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendhilfe. Jordan
(2008) plädiert in diesem Zusammenhang für verbindliche organisatorische, verfahrensbezogene und inhaltliche Festlegungen zwischen den verschiedenen Diensten und Trägern
der freien Jugendhilfe zur Vermeidung von Überreaktionen oder folgenschweren
Unterlassungen (vgl. S. 8). Wenn das Jugendamt zur Einschätzung gelangt, dass zur
Abwendung oder Verhinderung einer Gefährdungslage keines der Angebote von Hilfen zur
Erziehung geeignet oder ausreichend ist, so ist das Familiengericht zur Entscheidung über
die elterliche Obhut anzurufen. Das Jugendamt stellt in diesem Fall (Amts-)Vormunde oder
(Amts-)Pfleger, welche die Sorge über das Kind an Stelle der Eltern wahrnehmen (vgl.
Wiesner, 2008, S. 10-18). Ein Handbuch zur Kindeswohlgefährdung nach Art. 1666 BGB
bietet insbesondere Fachkräften des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) in Deutschland
Informationen und Unterstützung (vgl. Kindler et al., 2006). Der aktuelle Forschungsstand
wird auf rund 900 Seiten in Form von Fragen und Antworten rund um das Thema
Kindeswohlgefährdung von Expertinnen und Experten dargestellt. Für die vorliegende Arbeit
ist insbesondere das Kapitel 78 zu den verschiedenen möglichen Angeboten und Hilfen bei
Beeinträchtigung oder Gefährdung des Kindeswohls aufschlussreich. Die möglichen Hilfearten werden präsentiert. Es werden ausserdem Überlegungen zu Vor- und Nachteilen, zu
Kriterien für die Auswahl der geeigneten Hilfe, sowie zu bekannten Hilfeeffekten diskutiert
(vgl. Blüml, 2006, S. 501-515). Blüml (2006) hält fest, dass unter dem Sammelbegriff SPFH
diejenigen Angebote subsummiert sind, welche Familien auch bei erzieherischen
Schwierigkeiten oder gravierenden Beeinträchtigungen des Kindeswohls unterstützen
können. Es ist die stärkste der ambulanten Hilfen, da sie bei den Familien zu Hause
stattfindet und somit der Eingriff in die Autonomie der Familie erheblich ist. Auch in
Deutschland ist das Angebot durch eine grosse Heterogenität gekennzeichnet. Als
Qualitätsstandards von Anbietern (Organisationen oder Einzelpersonen) werden als Beispiel
eine Ausbildung in Sozialarbeit oder Sozialpädagogik, adäquate Zusatzausbildungen und
regelmässige Supervisionen genannt. Zudem seien feste Arbeitsverträge und Pauschalfinanzierungen einer besseren Qualität zuträglich. Eine Intervention durch eine SPFH im
Zwangskontext wird nicht ausgeschlossen, müsse jedoch im Einzelfall entschieden werden.
Eine Heimplatzierung soll demnach erst dann geprüft werden, wenn auch diese stärkste
Hilfe- bzw. Interventionsform nicht ausreicht, um eine bestehende Gefährdungslage
abzuwenden (vgl. S. 508-509).
Die SPFH ist in Deutschland nach Art. 31 SGB VIII des Kinder- und Jugendhilfegesetzes
(KJHG) als eine von acht gleichrangigen Formen von Hilfen zur Erziehung gesetzlich klar
verankert:
18
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
„Sozialpädagogische Familienhilfe soll durch intensive Betreuung und Begleitung Familien in
ihren Erziehungsaufgaben, bei der Bewältigung von Alltagsproblemen, der Lösung von
Konflikten und Krisen sowie im Kontakt mit Ämtern und Institutionen unterstützen und Hilfe
zur Selbsthilfe geben. Sie ist in der Regel auf längere Dauer angelegt und erfordert die
Mitarbeit der Familie.“ (§ 31 SGB VIII).
Mit dem „Handbuch Sozialpädagogische Familienhilfe“ hat das Bundesministerium für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Deutschland im Jahr 1998 die 2. überarbeitete
Auflage
eines
Werks
herausgegeben,
welches
die
Ergebnisse
des
Projektes
„Sozialpädagogische Familienhilfe in der Bundesrepublik Deutschland“ darstellt. Die auf rund
500 Seiten präsentierten Daten und Informationen wurden mittels verschiedener Methoden
(Quantitative
Erhebungen,
Leitfaden-Interviews,
Fallrekonstruktionen,
Teilnehmende
Beobachtung, Gruppendiskussionsverfahren) erhoben. Es wird als umfangreiches Nachschlagewerk verstanden, welches Fachkräften, öffentlichen und freien Jugendhilfeträgern
sowie der Ausbildung und Forschung einen Einblick in die Tätigkeit der SPFH geben soll
(vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 1998, S. 1-3; 22-26). Wie
bereits erwähnt, wird im Rahmen des zivilrechtlichen Kindesschutzes in der Schweiz die
Bedeutung der SPF in der aktuellen Forschung nicht thematisiert. Ein entsprechendes
Handbuch für Behörden und Soziale Dienste fehlt dementsprechend in der Schweiz. Im
Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit bietet das Handbuch aus Deutschland jedoch
fachliche Überlegungen dazu, in welchen Situationen der Einsatz einer SPF sinnvoll sein
kann oder wann davon abgeraten werden sollte, auch wenn sich die (gesetzlichen)
Rahmenbedingungen für diese Hilfeform in den beiden Ländern unterschiedlich gestalten.
Der „erzieherische Bedarf im Einzelfall“ (§ 27 Abs. 2) stellt einen unbestimmten Rechtsbegriff
dar. Der Hilfeplan nach § 36 SGB VIII schreibt deshalb vor, dass eine Entscheidung für eine
entsprechende Hilfe nur in einem Klärungs-, Beratungs- und Aushandlungsprozess zwischen
mehreren Fachpersonen und den Betroffenen erfolgen darf. Es ist nicht möglich, eindeutige
fallübergreifende Indikatoren oder Kriterien zur Gewährung einer SPFH festzulegen. Zudem
sollen innerhalb dieses Prozesses die vorhandenen Ressourcen der Familie im Vordergrund
stehen und Belehrungen und Schuldzuweisungen vermieden werden (vgl. BMFSJ, 1998, S.
23+24). Im Handbuch wird darauf hingewiesen, dass bei Überlegungen zur Auswahl der
geeigneten Hilfe im Einzelfall örtliche Gegebenheiten und die Angebotsstruktur vorhandener
sozialer Dienstleistungen (in dieser Arbeit Kriterien genannt) zentral sind (vgl. S. 24). Die
Auswahl oder das Rekrutieren von geeigneten Anbietern im Einzelfall stellt also auch in
Deutschland eine Aufgabe dar, welche von den zuständigen öffentlichen Diensten zu leisten
ist. Wird eine SPFH oder andere Hilfe zur Erziehung installiert, so ist sie an der Aufstellung
des Hilfeplans und an dessen stetiger Überprüfung ebenfalls zu beteiligen (vgl. § 36 Abs.2
19
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
SGB VIII). Büttner (2008) spricht sich dafür aus, dass der Entscheidungsfindungsprozess
ausführlich dokumentiert und entsprechende Hilfepläne in Zusammenarbeit mit den Personensorgeberechtigten festgehalten und von diesen unterzeichnet werden sollten (vgl. S.
187).
Aufgrund ihrer gesetzlichen Verankerung werden in Deutschland Statistiken zu den
erzieherischen Hilfen konzipiert. Für das Jahr 2007 liegen beispielsweise genaue Zahlen vor,
welche Gründe für eine Gewährung einer SPFH gemäss Art. 31 SGB VIII ausschlaggebend
waren. Eine eingeschränkte Erziehungskompetenz wurde demnach mit 63% am häufigsten
genannt, während die Gefährdung des Kindeswohls mit 16% relativ wenig genannt wurde.
Mehrfachnennungen von Gründen pro Familie sind hierbei jedoch möglich. Trotzdem wird
auf die relevante Bedeutung dieser Hilfeform bei Gefährdungslagen hingewiesen, da
beispielsweise die Zahl der Heimeinweisungen aufgrund einer Gefährdungsmeldung mit
22% nicht viel höher liegt (vgl. Pothmann, 2009, S. 68-70). Da die SPF in der Schweiz nicht
gesetzlich verankert ist, fehlen diesbezüglich Statistiken des Bundes. Vielmehr versuchen
die verschiedenen Organisationen, betriebsinterne Statistiken aufzustellen.
2.5.
Sozialpädagogische Familienbegleitung (SPF) in der Schweiz
1992 wurde die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft Sozialpädagogische Familienbegleitung (AG SPF) gegründet, welche seit 1998 den Namen Fachverband Sozialpädagogische
Familienbegleitung Schweiz trägt. Er setzt sich zum Ziel, das Angebot der SPF im sozialen
Bereich zu fördern. 1993 wurde an einer Fachtagung der AG SPF erstmals eine breitere
Öffentlichkeit auf diese Angebotsform aufmerksam gemacht. Die Nationalrätin Angeline
Fankhauser reichte in der Folge eine Interpellation beim Bundesrat ein mit der Frage, ob der
Bundesrat bereit sei, diese Hilfeform in Zusammenarbeit mit den Kantonen zu fördern und
finanziell zu unterstützen (vgl. Fachverband SPF Schweiz, o.J.; Fankhauser, 1993, S. 1). Der
Bundesrat stimmte in seiner Antwort vom Februar 1994 zu, dass die SPF eine der
geeigneten vorbeugenden Massnahmen gegen Kindesmisshandlungen sei, verwies jedoch
auf den Zuständigkeitsbereich der Kantone und Gemeinden in Sachen Beratung und
Begleitung von Familien. Die Kindesschutzmassnahmen nach Art. 307 ZGB böten für
Behörden die nötige gesetzliche Grundlage, um eine SPF als Massnahme in Betracht zu
ziehen, sofern diese als geeignet und erfolgsversprechend erscheinen würde (vgl.
Bundesrat, 1994, S. 2). Laut eines Vorstandmitglieds findet gegenwärtig im SPF-Fachverband keine Diskussion zur Thematik der vorliegenden Arbeit statt (persönliche
Kommunikation vom 27.Mai 2010). Die verschiedenen Anbieter von SPF als ambulante Hilfe
befinden sich als freie Träger in einer steten Konkurrenzsituation um Aufträge. Die
20
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Finanzierung muss für jeden Einzelfall neu geregelt und sichergestellt werden. Die
Ausgestaltung der verschiedenen Angebote in der Schweiz zeigt sich – analog zu
Deutschland – als äusserst heterogen (vgl. Petko, 2004, S.23). Das Wissen um das Angebot
der SPF und ihre Arbeitsweise ist selbst in Fachkreisen noch begrenzt. Wie bereits erwähnt
wird SPF als Massnahme auch in der Studie von Voll et al. (2008) über Akteure, Prozesse
und Strukturen im zivilrechtlichen Kindesschutz nicht explizit genannt. Gegenwärtig
existieren für die Ostschweiz sechs Anbieter, welche als Mitglied des SPF-Fachverbands
verzeichnet sind und somit bestimmte Qualitätsstandards erfüllen (siehe Anhang 4). Hierbei
ist zu erwähnen, dass der Fachverband in erster Linie ermittelt, ob die erforderliche
Strukturqualität der Einzelmitglieder oder Organisationen auf dem Papier (Flyer, Website)
gegeben ist. Eine (systematische) Überprüfung der tatsächlichen Praxis und somit auch von
Aspekten der Prozess- und Ergebnisqualität fehlt bis anhin (vgl. Fachverband SPF Schweiz,
2007; 2009). Vertreterinnen und Vertreter von Vormundschaftsbehörden müssen bei
entsprechendem Bedarf die Aufgabe wahrnehmen, mit verschiedenen SPF-Organisationen
in Kontakt zu treten und eine geeignete Auswahl für den Einzelfall zu treffen. Als
Hilfestellung versenden SPF-Organisationen Flyer und informieren potentielle Auftraggeberinnen und Auftraggeber persönlich bei Anfrage oder mittels Website-Auftritten über ihre
Angebote und die Kompetenzen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ihre Kompetenzen
können diese zurzeit in einem neuen Zertifikatslehrgang erweitern. Im September 2010 hat
an der Fachhochschule St.Gallen für Angewandte Wissenschaften in Rorschach erstmals
der Zertifikatslehrgang „Sozialpädagogische Familienbegleitung“ begonnen. Im Rahmen von
6 Modulen (25 Tage) werden den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Grundlagen und
erweiterte Handlungskompetenzen für die alltagsnahe Begleitung und Beratung von Familien
vermittelt (vgl. FHS St.Gallen, 2010, S. 3-6).
Zur schweizerischen Praxis der SPF existieren in der Schweiz lediglich die beiden Studien
von Richterich (1993) und Petko (2004). Dementsprechend werden die beiden Autoren in
zahlreichen Diplom- oder Lizentiatsarbeiten zur Tätigkeit der SPF zitiert. Petko (2004)
untersuchte die Gesprächsformen und Gesprächsstrategien der SPF, insbesondere an
welchem Punkt eines Gesprächs sich zum Beispiel „das Anerkennen“, „das positive
Bestärken“ oder „der Vorschlag“ als sinnvoll erwiesen haben. Dies ist für die Schweiz von
besonderer Bedeutung, da sich die schweizerischen Fachpersonen aufgrund der beschränkten zeitlichen und finanziellen Ressourcen schwergewichtig auf eine Begleitung durch
Gespräche vor Ort konzentrieren. Fachkräfte sehen die Aktivierung der Eltern als „Hilfe zur
Selbsthilfe“ als Kernelement ihrer Arbeit (vgl. S. 299). Petko (2004) betont jedoch, dass diese
sozialpädagogische Intervention nicht von einem allgemeingültigen Familienbild ausgeht,
welches es zu erreichen gilt, da sich die Ausgestaltung familiären Zusammenlebens in der
21
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
westlichen Gesellschaft äusserst unterschiedlich gestaltet (vgl. S. 33). Richterich (1993)
führte unter anderem eine Evaluationsstudie zur Einführung der SPF als neues Angebot
einer Organisation in Basel durch und beschrieb die Inhalte und die spezifischen
Problemlagen von Familien. Eine Untersuchung darüber, welche Akteure im Rahmen des
zivilrechtlichen Kindesschutzes sich wie für den Einsatz einer SPF entscheiden, existiert
bisher nicht. Die Untersuchung von Arnold et al. (2008) über die Prozesse der Indikationsstellung, der Planung und Umsetzung von Platzierungen in Heime und Pflegefamilien bietet
allerdings
nützliche
Erkenntnisse
über
bestehende
Stärken
und
Schwächen
im
Entscheidungs- und Hilfeprozess. Nebst anderen staatlichen Instanzen (Bildungs-, Gesundheitswesen, Strafverfolgung) sind es wiederum die verschiedenen Akteure des Vormundschaftswesens, welche entsprechende Entscheidungen treffen und die Eltern, sowie die
Kinder und Jugendlichen in sehr unterschiedlich hohem Mass partizipativ an diesem Prozess
beteiligen lassen (vgl. S. 211ff.). Dies sind demzufolge dieselben Akteure, welche in der
Studie von Voll et al. (2008) bereits Gegenstand der Untersuchung waren und auch in dieser
Arbeit einen zentralen Stellenwert einnehmen. Die SPF wird hier, als weniger
einschneidende, aber dennoch unter Umständen ausreichende Interventionsform, explizit
erwähnt (vgl. S. 60).
3. Position der Sozialen Arbeit gegenüber dem zivilrechtlichen Kindesschutz
3.1. Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession
In Artikel 1 Abs. 2 des von Avenir Social veröffentlichten „Berufskodex Professioneller der
Sozialen Arbeit“ ist festgehalten, dass dieser unter anderem auf der Allgemeinen Erklärung
der Menschenrechte und auf dem Dokument „Ethik in der Sozialen Arbeit – Erklärung der
Prinzipien“ der International Federation of Social Workers (IFSW) basiere (vgl. avenir social,
2006, S. 1). Die IFSW legte Im Jahr 2000 in Montréal die folgende Definition für die Soziale
Arbeit vor:
„Soziale Arbeit als Beruf fördert den sozialen Wandel und die Lösung von Problemen in
zwischenmenschlichen Beziehungen, und sie befähigt die Menschen, in freier Entscheidung
ihr Leben besser zu gestalten. Gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse über menschliches Verhalten und soziale Systeme greift Soziale Arbeit dort ein, wo Menschen mit ihrer
22
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Umwelt in Interaktion treten. Grundlagen der Sozialen Arbeit sind die Prinzipien der
Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit.“ (IFSW, o.J., unter Punkt 2.).
Nebst der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wird das Übereinkommen über die
Rechte des Kindes u.a. als besonders relevantes Dokument für die professionelle Soziale
Arbeit erachtet (vgl. isfw, o.J., unter Punkt 3.).
Diese explizite Orientierung an den Menschenrechten als Grundlage Sozialer Arbeit ist
gerade für die Thematik dieser Arbeit von zentraler Bedeutung, zumal im Rahmen des
zivilrechtlichen Kindesschutzes das Handeln von Professionellen der Sozialen Arbeit in
Vormundschaftsämtern
und
Amtsvormundschaften
der
Sozialen
Dienste
auf
der
gesetzlichen Grundlage des schweizerischen ZGB basiert. Die tägliche Arbeit mit Klientinnen
und Klienten wird durch behördliche oder richterliche Entscheide beeinflusst. Wie oben
erwähnt, ist die von der Schweiz ratifizierte UNO-Kinderrechtskonvention der schweizerischen Gesetzesordnung übergeordnet. Freiburghaus-Arquint (2001) zeigte beispielsweise
auf, dass die UNO-Kinderrechtskonvention einen Einfluss auf die Ausgestaltung des
revidierten Scheidungsrechts im ZGB der Schweiz hatte. So kann seit dem 1. Januar 2000
nach einer Scheidung ein gemeinsames Sorgerecht beibehalten werden (ZGB Art. 133 Abs.
3) (vgl. S. 186-188). Durch die eigenständige Menschenrechtsorientierung müssen sich
Professionelle der Sozialen Arbeit nicht bloss als ausführende und kontrollierende Instanz
und somit als verlängerten Arm des Staates begreifen. Staub-Bernasconi (2008) weist darauf
hin, dass diese Orientierung ein mögliches Werkzeug von mehreren zur „schonungslosen
Diagnose“ einer Situation bieten kann. Eine Diagnose soll dadurch differenziert sein, eine
einseitige Bestimmung von Tätern und Opfern verhindern
und „keine Rücksicht auf
Loyalitätsverpflichtungen“ zulassen (vgl. S. 14). Staub-Bernasconi (2008) plädiert in diesem
Zusammenhang für eine Erweiterung Sozialer Arbeit als Profession mit Doppelmandat zu
einer Profession mit Tripelmandat, welches sich folgendermassen zusammensetzt:
-
„eine
wissenschaftliche
Beschreibungs-
und
Erklärungsbasis
und
damit
wissenschaftsbegründete Arbeitsweisen / Methoden und Social Policies
-
eine ethische Basis, das heisst ein von der Profession definierter, verbindlicher
Berufskodex, der sich im Fall der Sozialen Arbeit, wie eingangs dargelegt, explizit auf
die Menschenrechte als dessen Grundlage bezieht.“ (Staub-Bernasconi, 2008, S.
22).
Sie konstatiert, dass sich im Bereich der Jugendhilfe und anderen Arbeitsfeldern der
Sozialen Arbeit die Feststellung von Menschenrechtsverletzung schwieriger gestaltet als
zum Beispiel in paternalistisch-frauenfeindlichen Staatssystemen (vgl. S.14). Sie führt jedoch
23
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Beispiele auf, wie die Orientierung an Menschenrechten in der Lehre und Praxis Sozialer
Arbeit umgesetzt wird. So werden im Rahmen des Masterstudiengangs „Soziale Arbeit als
Menschenrechtsprofession“ in Berlin unter Beizug von Expertinnen und Experten Projekte
konzipiert, umgesetzt und evaluiert. Im Bereich der Jugendhilfe wird eine Sozialpädagogische Prozessbegleitung für unbegleitete oder unqualifiziert begleitete Kinder als
Zeuginnen in Strafverfahren implementiert. Im Bezug zu dieser Arbeit muss staatliches
Handeln zum Schutz des Kindeswohls und das darin eingebettete eigene professionelle
Handeln aus menschenrechtlicher Sicht, auch unter Einbezug von wissenschaftlichen
Erkenntnissen, reflektiert werden. Zudem müssen stetige Schritte zur Verbesserung der
Praxis realisiert werden. Dies kann unter Umständen bedeuten, dass Aufträge abgelehnt
werden müssen, oder dass auf Mängel wie fehlende Partizipation im Abklärungsprozess
hingewiesen werden muss (vgl. S. 22-28).
3.2. Kindeswohl – Ein Definitionsvorschlag aus der Perspektive der Sozialen Arbeit
Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei dem Begriff des Kindeswohls um einen
unbestimmten Rechtsbegriff, der somit erhebliche Unsicherheiten in sich birgt und in der
Fachöffentlichkeit breit diskutiert wird. An dieser Stelle wird mit Bezugnahme auf StaubBernasconi (2008) ein Vorschlag unterbreitet, wie aus der Perspektive der Sozialen Arbeit
definiert werden kann, wann es einem Kind wohl und in diesem Sinne das Kindeswohl
gesichert ist. Die verschiedenen Dimensionen des Begriffs werden durch diese Perspektive
nicht ausgeklammert, sondern in die Betrachtung einer Situation mit einbezogen um
Reduktionen auf eine Dimension vermeiden zu können:
Staub-Bernasconi (2008) beschreibt als Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit
„verletzbare Individuen und Gruppen“. Dazu zählen auch Kinder und Jugendliche. Ihre
Verletzbarkeit ist darauf zurückzuführen, dass sie „für die Befriedigung ihrer biologischen,
psychischen, sozialen / sozialkulturellen Bedürfnisse, die Entwicklung der Fähigkeit, ein
eigenbestimmtes Leben zu führen – und mithin für die Erreichung von Wohlbefinden – direkt
oder indirekt auf andere Menschen als Mitglieder sozialer Systeme (Familie, Peergruppen,
Teams, Organisationen der Schule, Wirtschaft, Bildung, Politik und Kultur usw.) angewiesen
sind.“ (Staub-Bernasconi, 2008, S. 13).
Oder anders ausgedrückt:
Einem Kind ist es wohl, wenn seine biologischen, psychischen und sozialen /
sozialkulturellen Bedürfnisse befriedigt sind und die Eltern (und/oder weitere Erziehungs-
24
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
und Bezugspersonen) es in seiner Entwicklung der Fähigkeit, ein eigenbestimmtes Leben zu
führen, direkt oder indirekt unterstützen.
Diese Definition lässt jedoch nicht darauf schliessen, dass bereits eine akute Gefährdungslage besteht oder erste Schädigungen eingetreten sind, wenn ein Bedürfnis vorübergehend
nicht oder nur kompensatorisch befriedigt ist (vgl. Staub-Bernasconi, 2007, S. 173). Sie
verdeutlicht jedoch, dass Professionelle der Sozialen Arbeit auf Basiswissen anderer
Disziplinen angewiesen sind, wenn sie sich mit Fragen des Kindeswohls beschäftigen
müssen (vgl. ebd. S. 169). Zudem müssen weitere sozialarbeiterische Kompetenzen (wie
wissenschaftsbegründete Arbeitsweisen oder Methoden) vorhanden sein, wenn bei einer
hohen Anzahl und Komplexität von Sozialen Problemen mit den Betroffenen Lösungsstrategien ausgehandelt werden müssen (vgl. ebd. S. 200).
Die gesetzliche Sozialarbeit wie auch die SPF stellen spezifische Berufsfelder innerhalb der
Sozialen Arbeit dar. Professionelle beider Berufsfelder sollten demnach, gerade auch in der
einzelfallbezogenen Zusammenarbeit, über die genannten sozialarbeiterischen Kompetenzen verfügen und sich an den Menschenrechten orientieren.
3.3. Entwicklung und Professionalisierung der SPFH / SPF
Die SPFH wurde in Deutschland als Antwort auf die Heimkampagne Ende der sechziger
Jahre entwickelt. Auch in der Schweiz wurde in der SPF eine Alternative zu stationären,
ausserfamiliären Einrichtungen für Kinder gefunden, welche zugleich mit geringeren Kosten
verbunden ist als eine Fremdplatzierung (vgl. Petko, 2004, S. 17-22). Es ist jedoch davon
auszugehen, dass die gesetzliche Verankerung der SPFH in Deutschland ausschlaggebend
war für die Fülle an bundesweiten und länderübergreifenden Forschungsbemühungen zu
den Hilfen zur Erziehung im Allgemeinen (vgl. z.B. Bayerisches Landesjugendamt, 2004;
Fröhlich-Gildhoff, 2002; HarnachBeck, 2003; Kindler et al., 2006; Merchel, 1998) und zur
SPFH im Speziellen (vgl. z.B. Woog, 2006; BMFSFJ, 1998). In der Schweiz existieren (noch)
keine politische oder wissenschaftliche Lobby zur weiteren Etablierung dieser Hilfeform. Die
Etablierung in Deutschland impliziert die Grundannahme, dass die SPFH dazu beitragen
kann, eine bestehende Kindeswohlgefährdung abzuwenden oder einer drohenden
Gefährdungslage präventiv zu begegnen, ohne ein Kind aus seinem vertrauten Umfeld
herausnehmen zu müssen.
Die Untersuchung der Prozesse von einer Gefährdungsmeldung im Rahmen des zivilrechtlichen Kindesschutzes der Schweiz bis hin zur Beauftragung einer SPF als Intervention
kann einen Beitrag zur Professionalisierung dieser Schnittstelle leisten.
25
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Teil II: Qualitative Fallstudie
4. Forschungsleitende Fragestellungen
Die vorliegende qualitative Fallstudie verfolgt das Ziel, eine Antwort auf folgende Kernfrage
generieren zu können:
Nach welchen Kriterien und Indikatoren wird im Rahmen des zivilrechtlichen Kindesschutzes
von welchen Akteuren beurteilt und/oder entschieden, ob eine Sozialpädagogische Familienbegleitung (SPF) als Hilfeleistung im Abklärungsprozess und/oder als professionelle
Intervention zur Abwendung einer drohenden oder bestehenden Gefährdungslage für eine
Familie geeignet ist?
In dieser Kernfrage sind implizite Unterfragen enthalten, welche nachfolgend offengelegt
werden:
a) Welches sozialarbeiterische und sozialpädagogische Wissen und Können wird im
Abklärungs- und / oder Entscheidungsprozess eingesetzt?
b) Für welche Unterstützungsleistungen können externe Dienstleister herangezogen
werden? Welche Tätigkeiten können / dürfen delegiert werden?
c) Für welche Massnahmen kann die SPF eingesetzt werden?
d) Welche Unterstützungen und Hilfeleistungen kann die SPF in den Verfahren und
Entscheidungsprozessen anbieten?
e) Welche neuen Formen der Begleitung muss die SPF entwickeln, um die Intentionen des
neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrechts umzusetzen?
Kapitel 6 und 7 werden aufzeigen, inwieweit es möglich war, die Fragen a) bis d) zu beantworten. Zur Frage e) werden in Kapitel 8 begründete Hypothesen aufgestellt, welche in der
Zukunft zu verifizieren sind.
5. Erhebungsdesign: Grounded Theory
Zur Beantwortung der Fragestellungen wird ein qualitatives Design gewählt, da die Fragestellungen darauf abzielen, den Entscheidungsprozess der beteiligten Akteure zu interpre26
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
tieren und zu rekonstruieren. Es soll exemplarisch herausgearbeitet werden, wie unter den
entsprechenden
Rahmenbedingungen
einer
Organisation
eine
Situation
benannt,
interpretiert und bearbeitet bzw. gelöst wird. Die Orientierung an der Grounded Theory,
welche eine komparative Analysemethode darstellt, schien geeignet zur Untersuchung der
vorliegenden Fragestellung (vgl. Glaser & Strauss, 2010, S.39). Die Fragen nach dem
Prozess und der Interaktionen zwischen beteiligten Personen sind darin implizit enthalten, in
den
Unterfragen
zum
Teil
explizit.
Handlungen
und
Interaktionen,
sowie
deren
Prozesscharakter sind wichtige Bestandteile von Untersuchungen, welche mit der Grounded
Theory durchgeführt werden (vgl. Strauss & Corbin, 1996, S. 118). Sie eignet sich zudem zur
Auswertung verschiedener Datenmaterialien und aus forschungspraktischen Gründen. So
bietet sich die Grounded Theory durch die stetige komparative Analyse der Daten und dem
theoretical Sampling an, um im begrenzten Rahmen dieser Master-Thesis-Arbeit dennoch
aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten, welche über den gewählten Einzelfall hinaus einen
Nutzen aufweisen können (vgl. Flick et al., 2007, S. 41-42). Die Grounded Theory wird nicht
mit dem Ziel angewendet, quantifizierbare Fakten über den Untersuchungsbereich zu
generieren, sondern um eine Theorie (mit eingeschränkter Reichweite) aus den Daten zu
entwickeln, welche sich auf konzeptuelle Kategorien stützt. Diese sollte dadurch dem
Untersuchungsbereich angemessen sein und damit Erklärungen ermöglichen (vgl. Glaser &
Strauss, 2010, S. 41+47). Wie ertragreich sich das Verfahren bei der Analyse des konkreten
Datenmaterials tatsächlich erwiesen hat, wird in Kapitel 8 kommentiert.
Przyborski und Wohlrab-Sahr (2009) dienten als Orientierungsgrundlage für die Planung der
Erhebungsinstrumente
und
Durchführung
der
Einzel-
und
Gruppeninterviews
mit
Rollenträgern der Vormundschaftsbehörde, des Vormundschaftsamtes, der Amtsvormundschaft, einer spezifischen SPF-Organisation und mit betroffenen Familienmitgliedern (S. 92106). Diese wurden durch die Analyse von Dokumenten ergänzt. Bei den Dokumenten
handelt es sich um Organisationsbeschriebe, Fallakten, Gesprächsprotokolle, Berichte,
Mails, behördliche Anordnungen und interne Planungspapiere. Auf diese Weise sollen die
Interaktionen zwischen den beteiligten Akteuren, wie auch relevante Informationen zu
konkret benannten Gründen (Indikatoren und Kriterien), die zum Einsatz einer SPF geführt
haben, beleuchtet werden (vgl. Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2009, S. 19-27).
Die folgende Darstellung der Vorgehensweise ist nicht als lineare Abfolge zu verstehen. Im
Forschungsprozess bedingten die fortlaufenden Analysen (Kodes und Kategorien) der
geführten Interviews und weiteren Dokumente die Auswahl der nächsten Interviewpartner
und -Partnerinnen die Form des Interviews und die konkrete Durchführung.
27
Master-Thesis-Arbeit
5.1.
Simone Hengartner Thurnheer
Auswahl der Gemeinde
Die Auswahl einer Gemeinde erfolgte auf der Grundlage der empirischen Ergebnisse der
Studie von Voll et al. (2008) über Akteure, Prozesse und Strukturen im zivilrechtlichen
Kindesschutz. Voll et al. haben 3 Typen von Behörden beschrieben. Demnach zählen 73%
der deutschschweizer Behörden zum Typus der kommunal-generalistischen Behörden,
welche identisch sind mit der Gemeindeexekutive oder einem Unterausschuss. Für die
vorliegende Untersuchung wurde eine Gemeinde in der Ostschweiz ausgewählt, welche
diesem Typus stark entspricht und über eine genügend hohe Einwohnerzahl verfügt, um eine
gewisse Routine in der Zusammenarbeit mit Sozialpädagogischen Familienbegleitungen
voraussetzen zu können (vgl. S. 204). Ausserdem wurde darauf geachtet, dass sich im
Einzugsgebiet der Gemeinde mehrere Anbieter von SPF befinden.
5.2.
Feldzugang
Eine alltagsnahe Vorstellung des Feldes existiert aufgrund der eigenen Praxiserfahrung und
durch Schilderungen von Berufskolleginnen und -Kollegen, welche in der gesetzlichen
Sozialarbeit tätig sind. Der erste Zugang zu einer Organisation, welche aus oben genannten
Gründen als Beispiel geeignet ist, konnte durch ein Informationsschreiben an zwei leitende
Rollenträger des Vormundschafts- und Sozialamts zum geplanten Forschungsvorhaben,
sowie zwei darauffolgenden Telefonaten mit denselben, sichergestellt werden. Die Vergewisserung, dass es tatsächlich laufende und abgeschlossene Fälle gibt, in welchen eine SPF
als unterstützende Intervention oder als Hilfe im Abklärungsprozess installiert wurde, fand
bei diesen ersten telefonischen Kontakten statt. Ein erster Eindruck über die Motivation zur
Teilnahme konnte dadurch bereits gewonnen werden.
5.3.
Auswahl der Rollenträger
In einem Vorgespräch mit der Leitung des Vormundschaftsamtes wurden Fragen der
Realisierbarkeit des Vorhabens diskutiert und die weiteren Schritte geplant. Zum einen
beinhaltete dies die Diskussion um geeignete Fälle wie auch Abmachungen bezüglich
Kontaktaufnahme mit weiteren Rollenträgern der Vormundschaftsbehörde, der Amtsvormundschaft, einer spezifischen SPF-Organisation und konkreten Familien. Alle kontaktierten
Rollenträger bekundeten ihre Bereitschaft zur Teilnahme an der Untersuchung. Diese
Vorabklärung der vorhandenen Bereitschaft an einer möglichen Teilnahme war notwendig,
um abschätzen zu können, ob das Forschungsvorhaben in der geplanten Zeit realisierbar ist.
Die tatsächliche Auswahl der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner und Dokumente,
sowie die Anpassung der Erhebungsinstrumente, erfolgte im Anschluss am Kriterium des
28
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
theoretical sampling, welches für die Grounded Theory zentral ist (vgl. Mey & Mruck, 2007,
S. 18)
5.4.
Auswahl der Familien
Die Auswahl und Kontaktaufnahme mit entsprechenden Familien musste aus Datenschutzgründen den zuständigen Mandatsträgerinnen und Mandatsträgern überlassen werden. Es
konnte lediglich im Voraus besprochen werden, welche Kriterien die Auswahl von Familien
leiten sollten. Nebst dem notwendigen Kriterium, dass eine SPF als Begleitung oder
Abklärungsinstrument installiert sein muss, sollten die Fälle möglichst kontrastierend
zueinander sein.
5.5.
Methoden der Datenerhebung
Nach der Grounded Theory können vielfältige Materialien zur Analyse verwendet werden,
sodass keine bestimmten Erhebungsformen verwendet werden müssen (vgl. Glaser &
Strauss, 2010, S. 34; Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2009, S.189). Die Datenerhebung orientierte sich daher ausschliesslich am Kriterium der Nützlichkeit zur Beantwortung der
Forschungsfrage (Entdeckung von relevanten Kategorien aus den Daten) bzw. um relevant
erscheinende Kategorien und ihre Dimensionen weiterentwickeln und verifizieren zu können
(vgl. Glaser & Strauss, 2010, S. 80-81). Dazu wurden zum einen bereits vorhandene
schriftliche Dokumente (siehe oben) verwendet und zum anderen Erhebungsinstrumente für
Einzel- und Gruppeninterviews entwickelt, welche eine Mischform zwischen einem narrativen
Interview und einem offenen Leitfadeninterview nach Przyborski und Wohlrab-Sahr (2009)
darstellten (siehe zwei Beispiele Anhang 5 + 6). Einem Narrationsimpuls folgte jeweils ein
Nachfrageteil mit immanenten und anschliessend exmanenten Fragen, um dem Forschungsinteresse Platz einräumen zu können. Der offene Leitfaden diente ausschliesslich der
Orientierungshilfe während dem Zuhören und bot Anhaltspunkte für offene (immanente und
exmanente) Nachfragen. Interviewte Personen orientierten sich auf diese Weise während
des Erzählens an ihrer Relevanzstruktur, welches die Möglichkeit eröffnen sollte,
Unbekanntes im Bekannten des zivilrechtlichen Kindesschutzes entdecken zu können (vgl.
S. 139). Für die ersten Interviews wurden Leitfaden mit W-Fragen als Gedankenstütze
formuliert und Phasen zugeteilt. Phasenmodelle sind in der Sozialen Arbeit im
Hilfeplanprozess üblich (z.B. 1: Hinweis oder Gefährdungsmeldung, 2: dem Hinweis wird
nachgegangen oder nicht, 3: Abklärung der Situation, 4: Verarbeitung der Abklärungsinformationen, 5: Entscheidungsfindung). Für die je unterschiedlichen Interviewpartnerinnen
und –partner mussten die Phasen und Fragen jeweils angepasst werden. Das Stellen von
W-Fragen ist nebst dem ständigen Vergleichen bei Strauss und Corbin (1996) ein wichtiges
29
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Element während des Kodierens und findet auf diese Weise bereits beim Zuhören ihre
Bedeutung (vgl. S. 58). Die gesichtete Literatur diente als Hilfe beim Stellen von Fragen an
die entsprechenden Personen, sowie an das Interviewmaterial. Die Interviews wurden
fortlaufend vollständig transkribiert. Die Analyse (Kodes) der geführten Interviews steuerte
die Anpassung des offenen Leitfadens an die neuen Interviewpartnerinnen und Interviewpartner.
Die Durchführung einer Gruppendiskussion nach Przyborski und Wohlrab-Sahr (2009) wurde
angestrebt (vgl. S. 109 – 115). Es wird davon ausgegangen, dass anhand einer
Gruppendiskussion noch besser rekonstruiert werden kann, wie die konkrete Zusammenarbeit der Rollenträger des Vormundschaftsamtes, der Amtsvormundschaft und der SPFOrganisation stattfindet, als dies in Einzelinterviews der Fall ist. Zudem ist davon
auszugehen, dass sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gegenseitig in ihren
Ausführungen ergänzen oder korrigieren, was einer authentischen Darstellung der
Arbeitsweisen zuträglich sein müsste. Die Gruppendiskussion ist ebenfalls von Interesse im
Hinblick auf die Tatsache, dass im neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrecht der
Anspruch besteht, dass Entscheidungen im interdisziplinären Gespräch gefällt werden und
somit die kollektive Einschätzung stärker gewichtet wird als individuelle Meinungen. Auch
Familiengespräche könnten förderlicher sein als biografische Einzelinterviews, da die Familie
gegenüber der Behörde und anderen Akteuren oftmals als Ganzes auftritt und diesen
gegenüber
möglicherweise
jeweils
ihre
Gesamtsicht
einer
Situation
darlegt
(vgl.
Przyborski&Wohlrab-Sahr, 2009, S. 106-122).
5.6.
Durchführung der Datenerhebung
Als weitaus schwieriger als die Bereitschaft zur Teilnahme zu gewinnen, erwies sich jedoch
das tatsächliche Finden von verbindlichen Terminen für weitere Besprechungen und
Interviews. Dies lag einerseits daran, dass in die Erhebungszeit sowohl die Sommerferien als
auch die Herbstferien fielen. Wichtige Rollenträger für die Erhebung waren dadurch zu
unterschiedlichen Zeiten abwesend. Des Weiteren wiesen sie aufgrund ihrer hohen
Arbeitsbelastung eingeschränkte zeitliche Ressourcen auf. Nach einem ersten Einzelinterview mit einem Rollenträger des Vormundschaftsamtes wurde eine Gruppendiskussion
zu einem konkreten Fall mit beteiligten Rollenträgern der Vormundschaftsbehörde
(Präsidium), des Vormundschaftsamtes, der Amtsvormundschaft und der SPF-Organisation
angestrebt. Aus oben genannten Gründen konnte eine solche Gruppendiskussion zu Beginn
der Erhebungsphase nicht realisiert werden, sodass auf Einzelinterviews zurückgegriffen
wurde. Die Interviews mit den Rollenträgern fanden in Büroräumlichkeiten der Organisa30
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
tionen statt. Beim Einzelinterview wurden sie gebeten, über den Prozess der ersten
Information einer familiären Situation bis zum ersten Hausbesuch der SPF bei der Familie zu
Hause zu berichten. Sie wurden aufgefordert, ihre Vorgehensweisen anhand von möglichst
vielfältigen konkreten Fallgeschichten zu erläutern. Dies sollte dem Zweck dienen, möglichst
authentische Darstellungen zu erhalten. Durch die Darstellung verschiedenster Fallgeschichten sollte es zudem möglich sein, Daten mit viel Varianz zur Ausarbeitung der
Dimensionen von Kategorien zu generieren. Gegen Ende der Erhebung ist es doch noch
gelungen, einen Termin mit drei Rollenträgern (Vormundschaftsamt, Amtsvormundschaft,
SPF-Organisation) für eine Gruppendiskussion zu finden. Diese waren in den beiden Fällen
involviert, zu welchen auch die Mütter und eine Jugendliche befragt wurden. So konnten
wichtige Lücken im Datenmaterial gefüllt werden. Da es sehr anspruchsvoll ist, eine
selbstläufige Gruppendiskussion aufrecht zu erhalten, wurde eine Mitstudentin als
Unterstützung beigezogen. Sie konnte von aussen beobachten, ob die Rolle der
Interviewerin eingehalten wurde und in einer kurzen Pause Rückmeldungen darüber geben,
welche immanenten oder exmanenten Fragen noch nötig sind, um genügend Material in
Bezug auf das Erkenntnisinteresse zu erhalten.
Auch die Suche nach zwei möglichst kontrastierenden Fällen gestaltete sich schwierig.
Verschiedene Familien waren nicht bereit für ein Interview oder es handelte sich um eine
SPF-Organisation, welche die Interviewerin aus dem beruflichen Alltag kennt und somit
Verzerrungen in der Wahrnehmung riskiert worden wären. Es erklärten sich zwei Mütter zu
einem Interview bereit. Auf ein Familieninterview wurde verzichtet, da die Elternteile
zerstritten waren, die Mütter jeweils das alleinige Sorgerecht hatten, die Entscheidung über
die Installation im einen Fall ohne Kind erfolgte (aufgrund des Alters) und im anderen Fall
aus organisatorischen Gründen nicht möglich war. Ein Interview mit der Tochter, welche am
Zielgespräch und der Intervention von Anfang an beteiligt war, erschien gegen Ende der
Erhebungsphase zur Spezifizierung einzelner Kategorien als wichtig, sodass dies zusätzlich
durchgeführt wurde. Da laut Voll et al. (2008) in 71% der Gefährdungslagen Erwachsenenkonflikte ausschlaggebend sind (vgl. S. 29) sind sie als typische Fälle geeignet. Diese
weisen neben dieser Gemeinsamkeit dennoch deutliche Unterschiede auf. Die Tatsache,
dass in beiden Familien die Begleitung bereits abgeschlossen war, wies sowohl Vorteile wie
Nachteile auf. Der Anspruch an die Erinnerungsleistung steigt einerseits für alle interviewten
Personen, ermöglicht jedoch einen bilanzierenden Rückblick. Die Interviews mit den Müttern
und der Jugendlichen fanden jeweils am Wohnzimmertisch statt, ohne störende Einflüsse
von aussen. Sie wurden gebeten zu erzählen, wie sie die familiäre Situation vor dem ersten
Kontakt mit der Vormundschaftsbehörde erlebt haben bis hin zum ersten Hausbesuch der
SPF.
31
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Insgesamt wurden sechs Einzelinterviews und eine Gruppendiskussion durchgeführt. Es
handelt sich total um 9h 34min Interviewmaterial, welches vollständig transkribiert wurde. Die
genannten Dokumente konnten auf dem Internet abgerufen werden (Organisationsbeschriebe) oder wurden auf telefonische oder direkte Anfrage von entsprechenden
Rollenträgern teils anonymisiert zusammengestellt und übergeben.
5.7.
Analyse der Daten
Die Analyse (das Kodieren) der gewonnenen Daten orientiert sich an den Verfahren der
Grounded Theory nach Strauss und Corbin (1996). Dies wurde im Wissen entschieden, dass
die Grounded Theory nicht (mehr) als einheitlicher methodischer Ansatz betrachtet werden
kann, von verschiedenen qualitativ Forschenden jedoch als fruchtbar angesehen wird (vgl.
Muckel, 2007, S. 211ff.). Diese klare Orientierung erleichtert der Leserin und dem Leser
zudem die Nachvollziehbarkeit und die Beurteilung der Vorgehensweise bei der
Datenerhebung und Datenanalyse. Um festzustellen, wie sich das Verfahren von Strauss
und Corbin (1996) zu den anfänglichen Intentionen der Grounded Theory verhält, wurde die
deutsche Übersetzung von Glaser und Strauss (2010) herangezogen. Nebst dem Werk von
Strauss und Corbin (1996), diente diese als zusätzliche Arbeitshilfe für das Theoretical
Sampling und die vergleichende Analyse, welche parallel zur Datenerhebung stattfand. Beim
offenen Kodieren sind bei Strauss und Corbin (1996) für das Erstellen von Konzepten das
Sammeln und Stellen von Fragen über die Daten (Wer? Wann? Wo? Was? Wie? Wieviel?
und Warum?), sowie das Anstellen von Vergleichen zentral. Zudem müssen entwickelte
Hypothesen laufend an den Daten verifiziert werden (vgl. Strauss & Corbin, 1996, S. 27+58).
Die dazu notwendige theoretische Sensibilität stammt aus der eigenen beruflichen Erfahrung
als Sozialpädagogische Familienbegleiterin, aus Gesprächen mit Berufskolleginnen und
Berufskollegen, welche in der gesetzlichen Sozialarbeit tätig sind und aus dem Studium von
Forschungsergebnissen und Fachliteratur zur Thematik. Auch das Axiale Kodieren mit dem
Paradigmatischen Modell erschien in Bezug zur konkreten Fragestellung als geeigneter
Orientierungsrahmen für die Analyse des umfangreichen Datenmaterials. Strauss und Corbin
beschreiben diesen Vorgang wie folgt:
„Beim axialen Kodieren liegt unser Fokus darauf, eine Kategorie (Phänomen) in Bezug auf
die Bedingungen zu spezifizieren, die das Phänomen verursachen; den Kontext (ihren
spezifischen Satz von Eigenschaften), in den das Phänomen eingebettet ist; die Handlungsund interaktionalen Strategien, durch die es bewältigt, mit ihm umgegangen oder durch die
es ausgeführt wird; und die Konsequenzen dieser Strategien.“ (Strauss & Corbin, 1996, S.
76).
32
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Zur Spezifikation von Bedingungen kann die Bedingungsmatrix als Hilfsmittel eingesetzt
werden. Informationen zu den einzelnen Matrixebenen können aus der Literatur oder der
Erfahrung gewonnen werden. Die gewonnenen Informationen aus der theoretischen
Auseinandersetzung mit dem Thema im Teil I dieser Arbeit dienen diesem Zweck, müssen
aber an den Daten verifiziert werden (vgl. S. 135+136). Das Schreiben von Memos während
des gesamten Forschungsprozesses diente dem Festhalten von Gedanken, Ideen und
Hypothesen, welche beim Analysieren der Daten und entwickeln von Kategorien und ihren
Dimensionen entstanden. Sie erleichterten zudem die Verschriftlichung der gewonnenen
Erkenntnisse in Form einer analytischen Geschichte (Story line) (vgl. Strauss & Corbin,
1996, S. 96-98). Die deutsche Übersetzung von „Awareness of dying“ lieferte zusätzliche
Inspiration zur folgenden Darstellung der Ergebnisse (vgl. Glaser & Strauss, 1965).
6. Ergebnisse der Fallanalyse
Aus Datenschutzgründen wurden sämtliche Namen und Bezeichnungen in den Zitaten
anonymisiert. Die aus dem Datenmaterial entwickelten Hauptkategorien und Kategorien,
sowie das zentrale Phänomen werden im Folgenden entlang ihrer Dimensionen und
wechselseitigen Beziehungen in Form einer analytischen Geschichte, hier Story line
genannt, präsentiert.
6.1.
Gliederung der Ergebnisse
Um eine passende Struktur zur Darstellung der Story line zu finden, wurde eine Metapher als
Hilfsmittel herangezogen. Die gewählte Metapher soll der Leserin und dem Leser ebenfalls
eine erste Orientierungshilfe bieten.
Um die Gliederung der Ergebnisse zu veranschaulichen wird als Metapher die Betrachtung
eines Gemäldes gewählt. Es stellt Figuren in einem hohen Aktivitätszustand dar. Besucherinnen und Besucher eines Museums betrachten das Gemälde als erstes aus der
Distanz. Sie erlangen dadurch erste Eindrücke und Vorstellungen, was in der Szene
dargestellt werden soll (siehe Kapitel die Hauptgeschichte). Anschliessend suchen sie nach
einer oder mehreren Hauptfiguren, welche offensichtlich im Zentrum des Geschehens stehen
(siehe Kapitel Situationseinschätzung und Entscheidungszwang auf unvollständiger
Informationsgrundlage). Das Bild liefert womöglich Hinweise, was die Hauptfiguren zu
ihren Aktivitäten veranlasst (siehe Kapitel Kontext des Entscheidungszwangs). Es zeigt
33
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
zudem, in welcher Umgebung diese Aktivitäten stattfinden und welche Pläne die Hauptfiguren schmieden (siehe Kapitel Informations-Lücken-Füll-Strategien). Am Bildrand sind
unscharfe Figuren erkennbar, welche die Pläne oder das Geschehen in irgendeiner Weise
beeinflussen. Auch das Wetter gibt Hinweise auf die Atmosphäre, in welchem es stattfindet
(siehe Kapitel Kooperationsvoraussetzungen). Man kann sich vorstellen, wie das
Folgegemälde aussehen würde, wenn es als Bildergeschichte dargestellt wäre (siehe Kapitel
Formelle Zusammenarbeit mit einer SPF-Organisation).
6.2.
Die Hauptgeschichte
Die Hauptgeschichte dient der Vorstellung des zentralen Phänomens, der Hauptkategorien
und wichtiger Unterkategorien. Die Dimensionen in ihren Ausprägungen werden in den
einzelnen, darauf folgenden Kapiteln weiter ausgeführt.
Verschiedene Rollenträger der Vormundschaftsbehörde, des Vormundschaftsamtes und der
Amtsvormundschaft müssen auf unvollständiger Informationsgrundlage Situationseinschätzungen zu einfacheren bis hochkomplexen familiären Problemlagen vornehmen
und formelle und informelle Entscheidungen für das weitere Vorgehen treffen. Meldungen
mit zum Teil widersprüchlichen Teilinformationen über problematische Familiensituationen
und kindliche Verhaltensauffälligkeiten gelangen von unterschiedlichen Meldeinstanzen
(Mandatsführende, Schule, Polizei) und weiteren Informanten (Nachbarn, Elternteil,
Selbstmelder) an das Vormundschaftsamt. Es gehen sowohl Meldungen mit diffusem
Charakter wie auch Meldungen mit stichhaltigen Informationen ein. Daraus ergeben sich
zwei Typen von Entscheidungszwängen: Den Entscheidungszwang auf der Grundlage
ungesicherter Informationen, sowie den Entscheidungszwang auf der Grundlage
stichhaltiger Informationen. Es werden Informations-Lücken-Füll-Strategien eingesetzt.
Damit kann der
Informationsgehalt einzelner Meldungen ausgelotet werden. Ausserdem
können dadurch zusätzliche, relevante Informationen zur Steigerung der Entscheidungssicherheit für das weitere Vorgehen gewonnen werden. Zu diesen Strategien gehört das
Führen von Gesprächen (Diskussionen, Absprachen, Besprechungen, Befragungen)
mit unterschiedlichen hausinternen Rollenträgern (VB, Vormundschaftsamt, Amtsvormundschaft, Sozialdienst) und weiteren einzelfallbezogenen Akteurinnen und Akteuren. Die
Gespräche werden begleitet durch bewusst eingesetzte Tür-Öffner-Strategien
und
Erziehungs-Kompetenz-Überprüfungs-Strategien. Ziel dieser Strategien sind das Beurteilen der Kompetenzen von Erziehungsverantwortlichen, sowie die Beurteilung der Ursachen
und Komplexität von familiären Problemen. Zur Gewinnung von relevanten Informationen
sind die Rollenträger des zivilrechtlichen Kindesschutzes auf die Kooperationsbereitschaft
34
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
der Erziehungsberechtigten und weiteren Familienmitgliedern angewiesen. Die Kooperationsbereitschaft der Beteiligten verändert sich im Laufe des Prozesses. Verschiedene
Kooperationsvoraussetzungen beeinflussen das Mass der Bereitschaft, je nachdem ob die
betroffenen Familienmitglieder die Voraussetzungen positiv oder negativ werten. Dazu
zählen die Finanzierungsklärung von Interventionen oder Massnahmen, die Möglichkeit
Anliegen zu artikulieren, die gesetzliche Elternsouveränität und die Erahnung oder
Entdeckung vorteilbringender Aspekte. Eine SPF-Organisation als soziale Dienstleistungsorganisation bietet der Vormundschaftsbehörde Hilfeleistungen im Abklärungs- und
Entscheidungsprozess. Sie bietet zwei Angebotsformen für eine formelle Zusammenarbeit
an: Den Kurzeinsatz als Abklärungsinstrument und die SPF als Erziehungshilfe.
Das folgende Zitat einer Sozialpädagogischen Familienbegleiterin veranschaulicht verschiedene Aspekte der Hauptgeschichte:
„Man merkt eigentlich schon bei der Anfrage ziemlich gut, ob die Behörde die Familie schon
länger kennt, wie konkret die Ziele sind oder die Vorstellungen, was sich verändern sollte,
wie die Motivation ist von der Familie und dann gibt es auch die Familien, wo man weiss, da
ist die Motivation nicht hoch, da weiss man eigentlich nicht viel darüber und da sollte man
jetzt mal eine Tür-Öffner-Situation schaffen können“ (221010; Z. 455-461).
In der weiteren Darstellung der Story line sind immer wieder Zitate aus geführten Interviews
eingebettet. Dabei wird in der Regel nicht beschrieben, von welchen Rollenträgern oder
welchem Familienmitglied ein Zitat stammt. Es geht nicht darum, den genauen Kontext einer
Äusserung oder eine konkrete Fallgeschichte darzulegen. Es geht mehr darum, zu
veranschaulichen, anhand von welchem Datenmaterial die Kategorien und Dimensionen
entwickelt wurden und die story line durch konkrete Äusserungen aufzulockern.
6.3.
Das zentrale Phänomen: Situationseinschätzung und Entscheidungszwang
auf unvollständiger Informationsgrundlage
„Im Haus“ der Sozialen Dienste müssen zu unterschiedlichen Zeitpunkten verschiedene
Entscheidungen getroffen werden, die in einem Zusammenhang mit der Fragestellung dieser
Arbeit stehen. Entscheidungen müssen immer erfolgen, auch wenn die Informationsgrundlage sehr unvollständig ist: „Und wenn die Leute nicht selber kommen und sagen [was das
Problem ist, einf. d.A], dann bleibt es immer so im Bereich der Vermutung, wenn es um
Entscheidungen geht oder um die Frage geht, was soll man oder was kann man auch
machen“ (221010; Z. 216-219). „Im Haus“ bezeichnet die organisatorische Ausgestaltung der
Sozialen Dienste mit einer Gesamtleitung und den verschiedenen Unterabteilungen: Vor35
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
mundschaftsamt mit Leitung, Amtsvormundschaft mit Leitung und Sozialamt mit Leitung.
„Das Haus“ bezeichnet auch die physisch existierende Organisation in Form eines einzelnen
Hauses. In diesem Haus gehen verschiedene Rollenträger wie Vormundschaftssekretäre,
Sozialarbeiterinnen der Sozialberatungsstelle, Beiständinnen und Beistände ihrer Arbeit
nach. Auch die Person, welche das Präsidium der Vormundschaftsbehörde innehat, besetzt
einen Büroraum der Sozialen Dienste und ist somit physisch nah am Tagesgeschehen. Nicht
nur das eigentliche Gremium, welches formal als Vormundschaftsbehörde in Räumlichkeiten
dieses Hauses formelle Entscheidungen trifft, wird von Adressatinnen und Adressaten als
Behörde bezeichnet. Einerseits wird das Haus als solches mit all seinen verschiedenen
Rollenträgern als Behörde benannt, aber andererseits werden auch die verschiedenen
Rollenträger oft unter dem Begriff Behörde als Gesamtgremium subsummiert: „Also ich habe
sowieso nur bestimmte Personen gesehen, aber diese Personen haben ja auch wieder einen
Chef und diese Person hat auch wieder einen Chef, also ist es für mich schon irgendwie die
Behörde gewesen“ (261010; Z. 308-312). Aber auch Rollenträger, welche einer Abteilung
der Amtsvormundschaft oder des Vormundschaftsamtes zugeordnet sind, unterscheiden in
ihren Äusserungen nicht immer klar zwischen der formal entscheidenden Vormundschaftsbehörde als Gremium und der eigenen Position innerhalb des Hauses: „Und dann ist
der Konflikt im Haus gewesen“ (221010; Z. 871-875) oder „Wir hören ja nicht [direkt von den
Familien selbst, einf. d.A.] wir sind die anordnende Behörde, wir müssen Berichte annehmen.“ (221010; Z. 883). Die Benutzung des Behördenbegriffs bleibt also oftmals diffus.
Sämtliche Rollenträger des Vormundschaftsamtes und auch des Sozialamtes werden zum
Teil unter den begrifflichen Eintopf Behörde subsummiert. Andererseits werden zum Teil
Personenmerkmale von Rollenträgern hervorgehoben wie das Geschlecht oder Charakterzüge. Diese verdeutlichen die Bedeutung der Einzelperson in Interaktionen: „Also es ist mit
der Person, es ist ein Mann gewesen, es hat eigentlich regelmässig ein Crash mit dem Vater
gegeben und das hat vielleicht auch damit zu tun gehabt“ (191010; Z. 270-272) oder „aber
Herr Keller konnte jeweils schon recht auf den Tisch klopfen, wenn etwas gewesen ist und
Herr Studer ist eher so der Ruhige Pool vom Ganzen“ (280910_2, Z. 315-317). Entscheidungsprozesse werden durch Informationen ausgelöst und beeinflusst. Während des
Entscheidungsprozesses sind Interaktionen zwischen den verschiedenen internen Rollenträgern des Hauses, sowie mit externen Fachpersonen, Privatpersonen und Mitgliedern des
engeren oder erweiterten Familiensystems möglich. Informelle Entscheide, welche als VorEntscheide bezeichnet werden können, liegen im Kompetenzbereich einzelner Rollenträger.
So können jene des der Vormundschaftsamtes nach Eingang einer Gefährdungsmeldung,
welche in diesem Sinne eine Information darstellt, in eigener Kompetenz entscheiden,
welche zusätzlichen Informationen eingeholt werden müssen oder mit welchen internen
36
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Rollenträgern sie sich über das weitere Vorgehen beraten möchten. Die Person, welche das
Präsidium innehat, wird über den Eingang einer Erstmeldung informiert. Deutet die Meldung
auf eine komplexere Problemstellung hin, wird sie sich selbst mit Rollenträgern des
Vormundschaftsamtes in Verbindung setzen oder von diesen kontaktiert werden. Diese
Vorgehensweise scheint keinem festgelegten Verfahrensablauf zu folgen, sondern ist eher
auf deren relativ häufige physische Präsenz in einem Büro „des Hauses“ zurückzuführen.
Scheint eine Sachlage, zumindest bei Eingang der ersten Informationen, wenig kompliziert,
so reicht eine blosse Information über die Meldung aus. Die Vormundschaftsbehörde als
Gesamtgremium wird vom Präsidium und von Rollenträgern des Vormundschaftsamtes
punktuell über Zwischenentscheide informiert. Sobald eine Vor-Entscheidung den Einbezug
einer Fachstelle vorsieht, welcher mit der Erteilung eines Auftrags an externe Dienste und
finanziellen Kosten verbunden ist, ist mindestens die Unterschrift des Präsidiums erforderlich. Formelle Entscheide, wie Weisungen und Verfügungen trifft hingegen immer die
Gesamtbehörde. Auch bei formellen Entscheiden handelt es sich um Entscheide auf der
Grundlage unvollständiger Informationen.
6.4.
Kontext des Entscheidungszwangs
Im Folgenden werden die dimensionalen Ausprägungen beschrieben, unter welchen
informelle Vor-und Zwischenentscheide sowie formelle Behördenentscheidungen getroffen
werden müssen. Diese werden verdeutlichen, mit welchen Entscheidungsproblemen Akteure
und Akteurinnen des zivilrechtlichen Kindesschutzes konfrontiert sind, um im Einzelfall die
„richtigen“ Entscheidungen für das weitere Vorgehen treffen zu können. Wie oben
beschrieben, werden Entscheidungsprozesse durch Informationen ausgelöst und beeinflusst.
Eine Erstmeldung, die das Vormundschaftsamt (und evtl. auch den Schreibtisch des
Präsidiums) erreicht, stellt den Start eines Prozesses mit Zwischenstationen dar. Dies
können formale Gefährdungsmeldungen von Schulen oder weiteren Stellen oder andere
Meldungen (Anschuldigungen oder Vorwürfe von Elternteilen oder Nachbarn, Polizeirapporte) sein. An den Zwischenstationen müssen jeweils Entscheidungen über das weitere
Vorgehen getroffen werden. Solche Meldungen können sowohl sehr präzise und konkret
sein oder aber als diffuse Informations-Fragmente beim zuständigen Rollenträger des
Vormundschaftsamtes eingehen. Mandatsträgerinnen und Mandatsträger der Amtsvormundschaft können beispielsweise aufgrund eines Scheidungsverfahrens bereits für eine
Besuchsrechtsbeistandschaft eingesetzt worden sein. Diese haben Informationen über die
familiären Problemsituationen gesammelt und stellen konkrete Anträge für weitergehende
Massnahmen, welche sie als geeignet erachten. Andere Meldende wie Nachbarn, Grosseltern oder die Schule richten sich zum Teil mit eher diffusen Aussagen an das Vormund37
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
schaftsamt: „Da muss man mal hinschauen, in der Familie läuft es nicht gut“ (020910; Z.
139). Je nach Gehalt einer Information ist es schwieriger oder einfacher zu beurteilen, wie
dringend ein schneller Entscheid für das weitere Vorgehen ist. Ambivalente Aussagen zu
dieser Frage weisen darauf hin, dass das Abwägen der Dringlichkeit kein einfaches
Unterfangen darstellt und dennoch in jedem Fall einer Meldung nachgegangen werden
muss: „Also eine Meldung müssen wir immer ernst nehmen.“ (020910; Z. 442) oder „Aber es
hat eben schon solche Leute, die inflationär Meldungen machen, das erhöht den Wert der
Meldung nicht unbedingt“ (221010; Z. 1378-1379). Informationen über problematische
familiäre Verhältnisse können äusserst komplex ausfallen oder sich auf ein Einzelproblem
beziehen. Der Aufwand für das Einordnen der Information steigt mit der Komplexität einer
Information und dem Schwierigkeitsgrad, weitere Informationen einholen zu können. Oftmals
existieren Zugangsprobleme zu Informationen. Der Aufwand steigt auch durch die blosse
Anzahl von Meldungen. Es sind sowohl Einzelmeldungen als auch beinahe tägliche
Neumeldungen zu einer Fallgeschichte möglich: „Also wir haben praktisch jede Woche etwa
fünf Telefonate gehabt von ihm [dem Kindsvater, einf. d.A.], wenn er mit etwas wieder nicht
einverstanden gewesen ist oder seine Exfrau angegriffen hat“ (221010; Z. 29-32). Aus dem
Kontaktieren von ausgewählten Informanten können zudem klare Informationen mit grossem
Nutzen für die Entscheidungsfindung bis hin zu undifferenzierten Antworten resultieren.
Wenn externe Fachstellen zur Informationsgewinnung mit der Erstellung eines Berichts oder
eines Gutachtens beauftragt werden, variiert je nach Fachstelle die zeitliche Dauer bis zur
Präsentation der Ergebnisse erheblich. Überlegungen zur Involvierung der geeigneten
Fachstelle zur Informationsgewinnung müssen daher auch in Zusammenhang mit der
Dringlichkeitsfrage gestellt werden. Die Konsequenzen einer zu schnellen oder zu späten
Entscheidung müssen abgeschätzt werden: „und was auch noch dazu kommt ist manchmal
der Faktor Zeit, Es ist einfach so (…) der Gutachtensweg, der geht eigentlich oft relativ lang,
bis dann wirklich eine unterstützende Hilfe kann geboten werden“ (191010; Z. 399-403). Wie
schnell qualitativ gute Informationen gewonnen werden können, hängt damit zusammen, wie
stark „das Haus“ intern mit externen Fachpersonen vernetzt ist, und welche professionellen
Fähigkeiten im Abklären von Situationen diese aufweisen bzw. ihnen attestiert werden: „Man
war einmal da hineingelebt und war froh gewesen, wenn man etwas delegieren konnte und
sagen, das haben wir jetzt in guten Händen“ (020910; Z. 288-290) oder auch „ich denke
auch, diese Leute, mindestens mit diesen Leuten mit welchen ich heute zu tun habe, die sind
professioneller ausgebildet“ (020910; Z. 301-303). Die Rollenträger der Vormundschaftsbehörde des Vormundschaftsamtes und Mandatsträgerinnen und Mandatsträger der
Amtsvormundschaft greifen ihrerseits auf vielfältige Wissensformen zurück, um Informationen einordnen zu können. Der individuelle Bezug auf Erfahrungswissen und der
38
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
gemeinsame hausinterne Austausch darüber scheinen dabei im Vordergrund zu stehen: „Ich
denke es ist sehr viel auch die Erfahrung wo man hat aus anderen Fällen“ (191010; Z. 390391). Auch auf sozialarbeiterisches Fachwissen, welches in Aus- und Weiterbildungen
angeeignet wurde, wird Bezug genommen, sowie auf den professionellen Habitus. Nebst
systemischen Denkweisen wird die Kunst des Fallverstehens als zentral erachtet: „das ist die
Kunst auch, das Komplexe können verstehen und dann aber auf der Ebene der
Zusammenarbeit ganz fassbar zu sein“ (221010; Z. 956-957). Wird aufgrund der
eingegangenen Informationen auf eine komplexe und erheblich schwierige familiäre Situation
geschlossen, so findet eine stärkere Vernetzung mit externen Fachpersonen und
Fachgremien (Kinderschutzgruppe) statt: „weil es immer ein Abwägen ist zwischen dieser
Information und dem Risiko einer Gefährdung aber auch ein Abwägen was wird verursacht,
wenn man falsch, überstürzt handelt, wenn Stigmatisierungen passieren, ist eine enorm
schwierige Aufgabe“ (221010; Z. 1340-1343).
6.5.
Zur
Zwei Entscheidungstypen
Beantwortung
der
Fragestellung
dieser
Arbeit
wird
die
Komplexität
des
Entscheidungsfindungsprozesses reduziert, indem theoretisch zwei Entscheidungstypen
unterschieden werden. Diese treten in der Wirklichkeit nicht in dieser Reinform auf. Vielmehr
existieren vielfältige Zwischenformen, welche die Individualität einer jeden Fallgeschichte
verdeutlichen. Anhand der zwei Entscheidungstypen soll verdeutlicht werden, welche
Prozesse und Interaktionen dazu führen, dass eine SPF-Organisation als Abklärungsinstrument eingesetzt wird bzw. mit einer längerfristigen sozialpädagogischen Familienbegleitung beauftragt wird. Zunächst werden die beiden Entscheidungstypen vorgestellt.
Dazu werden jeweils die ursächlichen Bedingungen, unter welchen sich ein Entscheidungstyp entwickelt, unter Berücksichtigung der Kontextbedingungen erläutert.
6.5.1. Entscheidungstyp
1:
Entscheidungszwang
auf
der
Grundlage
ungesicherter
Informationen
Entscheidungsprozesse werden durch Informationen über problematische Familiensituationen und kindliche Verhaltensauffälligkeiten ausgelöst und beeinflusst. Informationen, welche in diesen Entscheidungstyp münden, weisen vorrangig einen diffusen Charakter
auf. Sie werden häufig auf eine eher impulsive Art und Weise an das Vormundschaftsamt
gerichtet und werden unter diesen Umständen mehr als Vorwürfe und Anschuldigungen
wahrgenommen, denn als sachliche Information über tatsächliche Problemkonstellationen in
einer Familie. Widerholte Vorwürfe und Anschuldigungen werden beispielsweise von
Elternteilen hervorgebracht, welche sich durch eine Trennungs- oder Scheidungssituation in
39
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
einem Sorgerechtskonflikt zueinander befinden: „Und dann ist es eben darum gegangen,
dass mir der Kindsvater vorgeworfen hat, dass ich nicht recht für den Kleinen schaue“
(280910_2; Z. 33-35). Unter diesen Umständen ist es oftmals schwer zu beurteilen, ob eine
Kritik an einer Erziehungshaltung angemessen ist oder ob diese eher durch den Konflikt
genährt wird. Auch Vermutungen müssen als ungesicherte Informationen betrachtet werden.
Schulleitungen oder Schulbehörden senden formelle Gefährdungsmeldungen an das
Vormundschaftsamt, wenn sie aufgrund von wiederholten und massiven Verhaltensauffälligkeiten einer Schülerin oder eines Schülers auf problematische familiäre Verhältnisse
schliessen: „Wir haben ‚öpe mal‘ Situationen wo die Schule eine Meldung macht und klar
formuliert, das Kind müsste eigentlich sofort platziert werden und wir kommen oft als erstes
zu einer anderen Einschätzung“ (191010; Z. 415-418). Auch Nachbarn, nahe Verwandte,
anonyme Melder oder einzelne Familienmitglieder treten als Informanten oder Hilfesuchende
auf. Zuständige Rollenträger des Vormundschaftsamtes und der Vormundschaftsbehörde
sind bei diffusen Meldungen auf zusätzliche, stichhaltige Informationen über den Zustand
eines Kindes oder der familiären Situation als Ganzes angewiesen. Nur so können sie
entscheiden, ob und welche Massnahmen zum Schutz des Kindes eingeleitet werden
müssen. Die Entscheidungsfindung beinhaltet also noch nicht die Frage nach einer
geeigneten Massnahme, sondern erst die Frage, welche (Fach)Personen zur Gewinnung
weiterer und stichhaltiger Informationen zu kontaktieren bzw. mit einzubeziehen sind.
6.5.2. Entscheidungstyp
2:
Entscheidungszwang
auf
der
Grundlage
stichhaltiger
Informationen
Auch bei diesem Entscheidungstyp werden entsprechende Entscheidungsprozesse durch
Informationen über problematische Familiensituationen und kindliche Verhaltensauffälligkeiten ausgelöst und beeinflusst. Anders als beim ersten Typ können Rollenträger
des Vormundschaftsamtes oder der Vormundschaftsbehörde davon ausgehen, dass der
Informationsgehalt grösser und somit stichhaltiger ist. Informanten können wiederum
Schulleitungen oder Schulbehörden sein. In diesem Fall haben diese eventuell bereits
weitere Fachstellen wie den Schulpsychologischen Dienst eingeschaltet, welche ein
kindliches Verhalten untersucht und ein Gutachten erstellt haben. Es können auch konkrete
kinderärztliche Diagnosen vorliegen, wie zum Beispiel ein Aufmerksamkeitsdefizit- und
Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) oder Verletzungen, welche auf häusliche Gewalt
hinweisen. Auch Elternteile mit Sorgerecht treten als Selbstmelder auf und ersuchen die
Behörde um Hilfe aufgrund der eigenen Überforderung im Erziehungsalltag oder wiederholter Anschuldigungen und Vorwürfe der Ex-Partner oder Dritter. Scheidungsgerichte
beauftragen
die
Vormundschaftsbehörde,
eine
Beistandschaft
zu
errichten,
um
40
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
stellvertretend für die Kinder zu überprüfen und zu überwachen, ob richterliche Sorgerechtsund Besuchsrechtsentscheide von den Erziehungsberechtigten beachtet werden. Dies gilt
insbesondere für Situationen, in welchen sich hochstrittige Elternteile um das Sorge- und
Besuchsrecht streiten. Mandatsführende verfügen durch die Begleitung
über detaillierte
Informationen zu Familienkonstellationen und konkreten Schwierigkeiten, welche im
Erziehungsalltag bestehen. In den untersuchten Fällen handelt es sich beispielsweise um
Probleme, welche sich einer arbeitstätigen alleinerziehenden Mutter im Erziehungsalltag
stellen. Trägerinnen und Träger von solchen gesetzlichen Mandaten sind jedoch oftmals
durch eine sehr hohe Anzahl von Mandaten stark belastet und sehen ihren Einflussbereich
als stark begrenzt: „das ist sicher auch eine Schwierigkeit in dem Job als Beistand (…) man
hat einfach zu wenig Ressourcen und zu wenig Möglichkeiten zum wirklich hineinsehen“
(221010, Z. 213-216). Auch die Art der errichteten Beistandschaft kann die Handlungskompetenz einschränken. In diesem Fall muss nicht entschieden werden, wie zusätzliche
Informationen über das vorhandene Problem gewonnen werden können. Es geht vielmehr
um die Entscheidung, wie Informationen darüber gewonnen werden können, welchen
Ursprung eine Überforderungssituation von Erziehungsberechtigten hat und ob diese lernen
können, diese Überforderung zu überwinden: „wie entsteht es, entstehen diese
Gewaltanlässe und Schuldzuweisungen aus einer Überforderungssituation? Das wissen wir
alles nicht“ (221010, Z. 234-236). Erziehungsberechtigte sind oftmals trotz stichhaltiger
Informationen Dritter über problematische Entwicklungen eines Kindes oder über eine
problematische Familiensituation der Meinung, dass sie ihrer Aufgabe als Erziehungsberechtigte gewachsen sind. In diesem Fall geht es um die Entscheidung, wie Informationen
darüber gewonnen werden können, ob die Erziehungsberechtigten ihre Kompetenzen
angemessen einschätzen.
Die Darstellung der beiden Entscheidungstypen verdeutlicht bereits einige Entscheidungsprobleme, welche von Akteuren des zivilrechtlichen Kindesschutzes bewältigt werden
müssen. Es werden verschiedene Strategien angewendet, um mit diesen umgehen zu
können. Einige Strategien werden eher beim einen oder anderen Entscheidungstyp angewendet. Aber auch hier sind Mischformen deutlich erkennbar.
6.6.
Informations-Lücken-Füll-Strategien
Die verschiedenen Strategien wurden einer Hauptkategorie untergeordnet, welche den
Namen Informations-Lücken-Füll-Stragien trägt. Diese aus den Entscheidungstypen
folgenden Strategien werden im Folgenden erklärt.
41
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
6.6.1. Führen von Gesprächen (Diskussionen, Absprachen, Besprechungen, Befragungen)
Beide Entscheidungstypen sind geprägt durch vielfältige Interaktionen zwischen den
verschiedenen internen Rollenträgern des Hauses, sowie mit externen Fachpersonen,
Privatpersonen und Mitgliedern des engeren oder erweiterten Familiensystems. Die
Interaktionen finden hauptsächlich in Form von Gesprächen (Diskussionen, Absprachen,
Besprechungen, Befragungen) statt, welche für den Typ 1 (ungesicherte Informationen) als
Grundlage der nötigen Entscheidung dienen, wie der Informationsstand am besten erweitert
werden kann. Gespräche helfen den entsprechenden Entscheidungsträgern zudem beim
Abwägen, Ausloten und Gewichten von Einzelinformationen, insbesondere dann, wenn
widersprüchliche Informationen zu einer familiären Situation vorliegen. Beim Typ 2
(gesicherte Informationen) dient das Gespräch in erster Linie dem
Erfassen von
Kernthemen aus Gutachten oder mündlichen Berichten (von Mandatsführenden, weiteren
Fachpersonen, Privatpersonen oder Familienmitgliedern), die als problematisch definiert
werden müssen. Sie dienen auch dem Formulieren von Veränderungszielen. Das Gespräch
stellt somit ein zentrales Element im Prozess der Entscheidungsfindungen dar und findet
innerhalb
einer
Fallgeschichte
zwischen
verschiedenen
Akteuren
in
wechselnden
Konstellationen immer wieder seine Bedeutung: „Also ich denke, die Auseinandersetzung im
Gespräch, das gemeinsame Abwägen, das gemeinsame Situation fassbar machen, das ist
das Wichtigste“ (280920_1; Z. 638-640). Die Vormundschaftsbehörde wird punktuell über
informelle Vorentscheidungen informiert. Die Aufgabe von Vormundschaftssekretärinnen und
Vormundschaftssekretären liegt unter anderem in der Abklärung von Sachverhalten (z.B.
durch Abnahme des rechtlichen Gehörs) und der Präsentation der Geschäfte in
entscheidungsreifer Form, sodass die Vormundschaftsbehörde als Gesamtgremium formelle
Entscheide über zu treffende Massnahmen aussprechen kann. Aber auch wenn bei
formellen Entscheiden der Vormundschaftsbehörde relativ stichhaltige Informationen
vorliegen, handelt es sich um Entscheide auf der Grundlage unvollständiger Informationen.
Auch hier wird das Mittel der Diskussion zum Ausloten, Abwägen und Gewichten von
Informations-Fragmenten eingesetzt. Im untersuchten Fall entspricht die Vormundschaftsbehörde bereits in einem weiten Mass einer Fachbehörde wie dies im neuen Kindes- und
Erwachsenenschutzrecht verlangt wird. Unter dieser Bedingung werden Behördensitzungen
auch als Diskussionsplattform für informelle Vorgehensentscheide zur Informationsgewinnung genutzt. Beim Entscheidungstyp 1 (ungesicherte Informationen) kann also eine
Vormundschaftsbehörde als Gesamtgremium schon früh stark in den Entscheidungsprozess
involviert sein: „und dann haben wir einen zweiten Teil, wo wir einfach allgemein
Informationen austauschen, wo wir auch mal eine kurze Fallbetrachtung machen“ (191010;
Z. 72-76). Gespräche können einen standardisierten Charakter aufweisen. Sie können aber
42
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
auch als eher unvorbereitete Ad-hoc Reaktion auf neue Informationen geführt werden,
welche als problematisch und dringlich eingestuft werden. Erstgespräche oder Standortgespräche mit Familien weisen ein klares Muster auf und werden protokolliert. Spontane
Besprechungen zwischen verschiedenen Rollenträgern „des Hauses“
oder Zwischen-
telefonate und Gespräche mit externen Fachpersonen und Familienmitgliedern folgen
hingegen keinem bestimmten Muster: „dann habe ich dann eben Herrn Messmer am Telefon
gehabt und ich bin wirklich drauf und dran gewesen, der Polizei anzurufen, wo er gesagt hat,
Frau Keller, lassen Sie das, das machen wir jetzt nicht“ (280910_2; Z. 295-298).
6.6.2. Tür-Öffner-Strategien
Wichtige Weichenstellungen, die in der Konsequenz in einer formellen Zusammenarbeit mit
einer SPF-Organisation münden, finden oft schon früh im Entscheidungsprozess statt. Durch
„hausinterne“
Absprachen
gelangen
Akteure
des
zivilrechtlichen
Kindesschutzes
beispielsweise zur Auffassung, dass eine SPF vor Ort die familiäre Situation besser oder
schneller erfassen kann als dies beispielsweise durch die Errichtung einer Beistandschaft
der Fall sein könnte. Mit betroffenen Familienmitgliedern werden verschiedene Interventionsmöglichkeiten besprochen und die Bereitschaft für eine Zusammenarbeit mit einer SPF
ermittelt. Das Darlegen der Chancen, welche sich durch eine SPF für das familiäre
Zusammenleben ergeben können, kann als Tür-Öffner-Strategie bezeichnet werden. Das
Ziel besteht darin, „einen Fuss in die Familie zu setzen“, um den Informationsstand erweitern
zu
können.
Tür-Öffner-Strategien
werden
deshalb
schwerpunktmässig
beim
Entscheidungstyp 1 (ungesicherte Informationen) eingesetzt und münden in Bezug auf die
formelle Zusammenarbeit mit einer SPF-Organisation eher in einem Kurzeinsatz als
Abklärungsinstrument. Kurzeinsätze weisen durch eine langjährige Zusammenarbeit einen
hoch standardisierten Charakter auf, sowohl in Bezug auf den Ablauf und die Dauer (3
Monate), wie auch in Bezug auf die Finanzierungsregelung. Die beschränkte Dauer des
Kurzeinsatzes von drei Monaten wirkt ebenso als Tür-Öffner wie die Vollfinanzierung des
Einsatzes durch ein Vormundschaftskonto. Betroffene Familien sind eher bereit, einem
Kurzeinsatz zuzustimmen, wenn sie über dessen beschränkte Dauer wissen und keine
finanzielle Belastung für sie daraus erwächst: „Also der Einstieg ist schon das schwierigste
für vor allem für die betroffenen Familien (…) deshalb sind auch (…) gerade diese drei
Gratismonate enorm hilfreich“ (221010; Z. 470-474). Eine SPF als Erziehungshilfe wird nicht
über das Vormundschaftskonto finanziert. Der Einstieg findet jedoch mit einer Probezeit von
drei Monaten statt, nach welcher die Zusammenarbeit evaluiert wird. Erziehungsberechtigte
können nach der Probezeit eine weitere Zusammenarbeit begründet ablehnen. Die Probezeit
kann somit ebenfalls als Tür-Öffner-Strategie bezeichnet werden: „und ich habe dann halt
43
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
gedacht, ja man kann ja mal eine Probezeit machen, man kann ja mal schauen wie es
kommt“ (061010; Z. 171-173). Eine geklärte Finanzierung gilt auch als Tür-Öffner für die
Zusammenarbeit zwischen der Vormundschaftsbehörde und der SPF-Organisation. Als
privatwirtschaftliche Organisation arbeitet eine SPF-Organisation erst bei Abschluss eines
Vertrages mit festgelegtem Kostendach: „dann ist von unserer Organisation her ausschlaggebend, ist die Finanzierung schon geklärt“ (280910_1; Z. 84-85). Weitere Überlegungen
dazu folgen unter dem Kapitel Finanzierungsklärung (siehe Kapitel 6.7.3.).
6.6.3. Erziehungs-Kompetenz-Überprüfungs-Strategien
Auf den Entscheidungstyp 2 (gesicherte Informationen) wird eher mit einer ErziehungsKompetenz-Überprüfungs-Strategie reagiert. Wie bereits erwähnt sind Erziehungsberechtigte
oftmals trotz stichhaltiger Informationen Dritter über problematische Entwicklungen eines
Kindes oder über eine problematische Familiensituation der Meinung, dass sie ihrer Aufgabe
als
Erziehungsberechtigte
gewachsen
sind.
Medizinische
Diagnosen
(z.B.
ADHS,
somatische Beschwerden, Depression, Suchtmittelabhängigkeit) bei Kindern oder den
Erziehungsberechtigten treten häufig gepaart mit Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern auf.
Eine Vormundschaftsbehörde kann in so einem Fall mit einem Kurzeinsatz möglicherweise
detailliertere Informationen über Probleme in der Alltagsbewältigung einer Familie gewinnen.
Durch den Einsatz einer längerfristigen SPF soll hingegen überprüft werden, ob die
Erziehungskompetenzen der Erziehungsberechtigten den besonderen und erschwerten
Anforderungen im Erziehungsalltag genügen, oder aber es wird überprüft, ob entsprechende
Ressourcen zur Bewältigung des Erziehungsalltages durch eine SPF mobilisiert werden
können, damit sich eine Situation stabilisieren oder verbessern kann: „wir haben eine
Gefährdungsmeldung gehabt für die ältere Tochter (…) es wurde dann eine SPF installiert,
also die ist nicht wirklich gewünscht gewesen, weil die Betroffenen die Situation eigentlich
ein bisschen anders gesehen haben“ (191010; Z. 110-114).
Treten nach aussen trotz
medizinischer Diagnose zum Beispiel keine Auffälligkeiten im kindlichen Verhalten oder der
Leistungsfähigkeit in der Schule auf, so fehlt der Vormundschaftsbehörde die Grundlage, um
in die Rechte der Erziehungsberechtigten einzugreifen. Man kann in diesem Fall von
„fehlenden Indikatoren für eine Kindeswohlgefährdung“ sprechen: „er hat auch gewusst, was
sein muss, dass sie bleiben kann, also damit man sie ihm nicht wegnimmt (…) also er hat
geschaut, dass sie pünktlich zur Schule gegangen ist, dass sie die Hausaufgaben gemacht
hat (…) einfach so der ganz normale Kreis, den man nach aussen sieht, der hat eigentlich
funktioniert und darum hatte man nicht wirklich eine Handhabung gehabt“ (061010; Z. 331335). Andere Erziehungsberechtigte sind hingegen selbst verunsichert, ob sie den speziellen
Anforderungen im Erziehungsalltag gewachsen sind. Diese Frage stellt sich zum Beispiel
44
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
eine Mutter, welche sich mit einer ADHS-Diagnose ihres Kindes konfrontiert sieht. Die
Unsicherheit kann durch anhaltende und zum Teil massive Vorwürfe und Anschuldigungen
vom anderen Elternteil, von Verwandten oder Dritten ansteigen. Einer SPF als ErziehungsKompetenz-Überprüfungs-Strategie wird unter diesen Umständen schneller zugestimmt,
auch wenn diese einen Eingriff in die Privatsphäre darstellt.
Spezifische Bedingungen ermöglichen oder behindern diese Strategien zur Informationsgewinnung, indem sie die Voraussetzungen für eine gegenseitige Kooperationsbereitschaft
schaffen, verhindern oder vernichten.
6.7.
Kooperationsvoraussetzungen
Diese intervenierenden Bedingungen wurden unter der Hauptkategorie Kooperationsvoraussetzungen zusammengefasst. Im Folgenden werden diese einzeln erläutert. Sie
tragen damit zur weiteren Spezifizierung der Informations-Lücken-Füll-Strategien bei.
6.7.1. Artikulation von Anliegen
Hausinterne Rollenträger, hausexterne Fachpersonen (zum Beispiel eine Sozialpädagogische Familienbegleiterin) und betroffene Familienmitglieder beeinflussen den Entscheidungsprozess und den Erfolg der oben genannten Informations-Lücken-Füll-Strategien durch
die Art und Weise, wie sie ihre Anliegen artikulieren (können). Verfügt jemand über eine
ausgeprägte Fähigkeit, eigene Anliegen sachlich hervorzubringen und fachlich zu
begründen, so steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er den Entscheidungsprozess zu seinen
Gunsten beeinflussen kann. Dementsprechend wächst seine Kooperationsbereitschaft.
Gelingt es hingegen nicht, die eigenen Anliegen einbringen zu können, so kann dies in einer
ausgeprägten Verweigerungshaltung münden. Je nach Alter des Kindes und persönlicher
Reife ist die Fähigkeit zur Artikulation von eigenen Anliegen stärker oder weniger
ausgeprägt. Aber auch Erwachsene verfügen nicht immer über die kognitiven Fähigkeiten
oder über ein Gefühl dafür, wie sie ihre Anliegen zu eigenen Gunsten einbringen können. Die
fehlende Fähigkeit führt dann zur Fremdbestimmung: „Wenn ich anders reagiert hätte,
sachlicher, aber das ist halt schwer für ein Kind, sachlich zu reagieren und ich finde darum
sollte es eigentlich auch nicht sein, dass man ein Kind auch nicht anhört weil es nicht
sachlich sein kann (…) ich merke schon, ich habe ein ‚zörrelndes‘ Verhalten an mir gehabt,
aber durch das man mir nicht zugehört hat oder einfach etwas gemacht hat, ohne mich
vorher zu fragen, ob es o.k. für mich ist oder so (…) habe ich auch ein wahnsinniges
Trotzverhalten an den Tag gelegt, dass ich mich einfach komplett verweigert habe“ (261010;
Z. 386-396). Nebst der eigenen Artikulationsfähigkeit spielt für die Kooperationsbereitschaft
45
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
also auch eine Rolle, ob beispielsweise in einer Anhörung alle Beteiligten die Möglichkeit
erhalten, ihre Anliegen anzubringen: „Aber ja bis man es [den Entscheid für eine SPF, einf.
d.A.] akzeptiert hat geht es lange, habe ich das Gefühl, vor allem wenn man nicht danach
gefragt worden ist“ (261010; Z. 407-410). Demgegenüber können aber wiederholte
Befragungen für Kinder und Jugendliche eine erhebliche zeitliche und psychische Belastung
darstellen. Eine Jugendliche formulierte insbesondere den Zwang durch die Behörde,
geäusserte Wünsche (z.B. über den gewünschten Aufenthaltsort) zu begründen als
Belastung. Sie geriet dadurch in Loyalitätskonflikte: „Was mühsam war, ich habe es immer
begründen müssen (…) aber ich habe das Gefühl ich bin für das irgendwie noch ein
bisschen zu jung gewesen, ich bin 10 gewesen und habe mich immer rechtfertigen müssen
für das, wo ich will und nicht will und das ist schon nicht gerade lustig gewesen“ (261010; Z.
191-197). Einzelne Familienmitglieder beeinflussen den Entscheidungsprozess, indem sie
sich gegen geplante informelle und formelle Vorgehensweisen zur Wehr setzen. Die
Verweigerungshaltung stellt in diesem Sinn eine sich-zur-Wehrsetzung dar. Sich zur Wehr
setzen kann ebenso als eine Form der Artikulation von Anliegen betrachtet werden, wobei
die Verweigerungshaltung eine sehr passive Form dessen darstellt. Eine Verweigerungshaltung
wird
als
mangelnde
Kooperationsbereitschaft
wahrgenommen.
Einzelnen
Familienmitgliedern gelingt es, den Entscheidungsprozess stark zu beeinflussen, indem sie
sich massiv und mit vielfältigen Hilfsmitteln zur Wehr setzen. Dazu gehören beispielsweise
das Schreiben von Beschwerdebriefen, der Einbezug eines Rechtsanwalts zur Durchsetzung
der Rechtsansprüche oder impulsive Ausbrüche in Gesprächssituationen: „und dann habe
ich dann einen Brief geschrieben an die Vormundschaftsbehörde, dass mein Beistand im
Interesse des Kindes handle und nicht im Interesse des Kindsvaters“ (280910_2; Z. 228230).
Insbesondere
wenn
von
verschiedenen
Beteiligten
und
Betroffenen
sehr
unterschiedliche Anliegen und widersprüchliche Einschätzungen formuliert werden, erscheint
die Zusammenarbeit mit einer SPF-Organisation mit einer „neutralen“ Position als sinnvoll:
„Es ist auch eine Chance, weil die SPF ist keine Behörde und es gibt ja auch Abmachungen,
was wir als Information bekommen und was nicht“ (221010; Z. 241-243). Eine SPF kann
unter diesen Umständen als Mittel zur Kooperationsförderung eingesetzt werden. Einzelne
Familienmitglieder beeinflussen also den Hilfeverlauf. Aus Sicht der hausinternen Rollenträger stellen die Verweigerungshaltung oder die ungebetene Partizipation im Sinne einer
Einmischung negativ intervenierende Bedingungen dar. Die Kooperationsbereitschaft kann
sich jedoch im Verlauf des Entscheidungsprozesses verändern. Das nächste Kapitel liefert
Hinweise, wovon Veränderungen in der Kooperationsbereitschaft abhängen können. In
Bezug auf die formelle Zusammenarbeit mit einer SPF-Organisation scheint ein klares
Rollenbewusstsein auf Seiten der Behörde als anordnende, fallführende Instanz von grosser
46
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Bedeutung zu sein. So kann die SPF ihre unterstützende Haltung besser beibehalten. Damit
wird die (zukünftige) Kooperationsbereitschaft der beteiligten Familienmitglieder nicht
behindert oder verhindert: „dann hat sich der Vater eingemischt, was für Schnupperstellen
seine Tochter darf annehmen (…) hat sie dann wirklich auch beschämt (…) voll
kontraproduktiv“ (221010; Z. 730-734). In diesem konkreten Fall folgte beispielsweise eine
Gefährdungsmeldung der SPF an den Beistand, indem sie die VB um eine Intervention
gegen diese Einmischung bittet (D140308).
6.7.2. Erahnung oder Entdeckung vorteilbringender Aspekte
Die Erahnung oder Entdeckung vorteilbringender Aspekte stehen ebenfalls in
Zusammenhang mit der Kooperationsbereitschaft. Wenn es beispielsweise Rollenträgern
des Vormundschaftsamtes oder der Amtsvormundschaft gelingt, den Adressatinnen und
Adressaten vorteilbringende Aspekte einer Intervention oder Massnahme zu verdeutlichen
bzw. diese von solchen zu überzeugen, so wächst die Kooperationsbereitschaft. Adressatinnen und Adressaten können jedoch auch eigenständig solche vorteilbringende Aspekte für
sich entdecken, was zu einer erhöhten Kooperationsbereitschaft führt. Diese werden der
mandatsführenden Person nicht unbedingt offengelegt. Die mandatsführende Person stellt
unter diesen Umständen lediglich eine Steigerung der Kooperationsbereitschaft fest, ohne
dass sie deren Ursprung kennt: „Ich habe einfach nicht daran teilgenommen [an den
Gesprächen, einf. d.A.] und dann hat sie mich glaube ich mal dazu gezwungen, daran
teilzunehmen (…) und nachher habe ich gemerkt, dass es mir eigentlich einen Vorteil
gegenüber meiner Schwester einbringt“ (261010; Z. 219-223). Oder: „Und dann ist es ja
auch ein wenig die Kunst vom Einstieg [einer SPF, einf. d.A.], dass man auch sagt, man
kann es zu einem Vorteil machen. Man kann auch belegen, was gut geht und man kann
auch weitergehende Massnahmen empfehlen, damit das Kind zu Hause sein kann“ (221010;
Z. 1110-1114). Aus Sicht einer Beiständin oder eines Beistandes ist also der Einsatz einer
längerfristigen SPF eine Erziehungs-Kompetenz-Überprüfungs-Strategie. Erziehungsberechtigte kooperieren hingegen in diesem Fall mit der SPF, da
diese für sie eine
Erziehungs-Inkompetenz-Widerlegungs-Strategie darstellt. Dieser Aspekt kann sich
zudem als vorteilbringend herausstellen in Bezug auf Anschuldigungen aus dem sozialen
Umfeld. Der Druck durch nicht erziehungsberechtigte Elternteile oder Lehrerinnen und
Lehrer kann reduziert werden, wenn diese über den Einsatz einer SPF in Kenntnis gesetzt
werden. Sämtliche Überlegungen scheinen nicht nur auf der Ebene der Auftraggebenden,
sondern auch auf Seiten der Adressatinnen und Adressaten eine Rolle zu spielen. Wenn die
SPF von Mandatsführenden beispielsweise als Platzierungs-Vermeidungsstrategie präsentiert wird, eröffnet dies den Adressaten die Entdeckung eines vorteilbringenden Aspekts,
47
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
welche sie zur Steigerung der Kooperationsbereitschaft veranlasst, auch wenn sie den
Nutzen der SPF als Unterstützung für die Familie noch nicht einschätzen können oder als
solches unnötig empfinden: „dass man sagen kann, auch wenn Sie es im Moment noch nicht
als hilfreich sehen können, aber Sie haben diese Chance im Moment in dieser Zeit daran zu
arbeiten, an diesen Zielen, auch wenn Sie noch nicht ganz sicher sind, dass keine andere
Massnahmen zum Tragen kommen, die dann vielleicht grössere Massnahmen sind in
Hinblick auf die Kinder, z.B. eine Platzierung“ (280910_1; Z. 280-286). Findet ein betroffenes
Familienmitglied oder mehrere für sich (noch) keine direkt oder indirekt vorteilbringenden
Aspekte, so ist deren Kooperationsbereitschaft zumindest eingeschränkt.
6.7.3. Finanzierungsklärung
Die Klärung der Finanzierung einer geplanten Intervention beeinflusst die Kooperationsbereitschaft betroffener Familien und gilt gleichzeitig als Voraussetzung für die formelle
Zusammenarbeit mit einer SPF-Organisation. Bei einem Kurzeinsatz als Abklärungsinstrument spielen sowohl die Übernahme der Kosten durch das VB-Konto, wie auch die
Hoffnung der Adressaten und Adressatinnen, dass diese Intervention nach 3 Monaten
beendet ist (zeitlich befristeter Eingriff), eine Tür-Öffner-Rolle. Eine SPF als Erziehungshilfe
wird zwar oftmals über die Vormundschaftsbehörde angeordnet. Diese Form wird jedoch
über das Sozialhilfe-Konto finanziert. Erziehungsberechtigte müssen, wenn es ihre
Einkommensverhältnisse erlauben, einen Beitrag an die Begleitung leisten. Dies verhindert
oder erschwert die Bereitschaft, einer SPF zuzustimmen. Die SPF-Organisation beeinflusst
ihrerseits das Vorgehen der Behörde in Finanzierungsfragen. Familienbegleiterinnen und
Familienbegleiter berichten über Schwierigkeiten bei der Erlangung einer Kooperationsbeziehung mit Adressatinnen und Adressaten, wenn diese Selbstzahler sind: „die Mutter ist
auch Selbstzahlerin gewesen, was für mich den Auftrag dann jeweils schwieriger macht“
(221010; Z. 73-74) oder „man hat dann auch gelernt aus solchen Situationen, den Einstieg
einer SPF zur erleichtern, indem wir eigentlich jetzt zwei Schienen fahren, dass man sagt,
wir steigen einmal ein mit einem Kurzeinsatz“ (221010; Z. 105-112). Dieses Zitat weist auf
eine Zwischenlösung hin, welche im Anschluss noch weiter ausgeführt wird. Neben dem
Einfluss
der
SPF-Rückmeldungen
spielt
auch
ein
Entscheid
einer
kantonalen
Verwaltungsrekurskommission vom 04.04.2008 zur Finanzierung der SPF eine Rolle: „es
gibt ja einen Bundesgerichtsentscheid [korrekt wäre Verwaltungsrekurskommission, einf.
d.A.], dass die Kosten von der SPF nicht dürfen weiterverrechnet werden“ (221010, Z. 165166). Sofern für Erziehungsberechtigte durch eine SPF keine oder nur wenige Kosten
anfallen, kann dies von ihnen als vorteilbringender Aspekt betrachtet werden, welcher
somit wie erwähnt als Tür-Öffner dient.
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Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
6.7.4. Gesetzliche Elternsouveränität
Der Gesetzgeber überträgt den Eltern vollumfänglich das Recht und die Pflicht für die Sorge
um ihre Kinder (vgl. ZGB Art. 296, siehe Anhang 1). Diese hohe Elternsouveränität wird von
Akteurinnen und Akteure des zivilrechtlichen Kindesschutzes als hohe Zugangsschwelle
angesehen. Der Einsatz von Tür-Öffner-Strategien können auch als Reaktion darauf
interpretiert werden: „Und der Gesetzgeber hat ein hohes Level was der Familie ist oder wo
die Familie auch geschützt ist und dann ist ein Eingriff von aussen immer schwierig (…)
manchmal ginge es den Leuten besser, wenn sie die Türe aufmachen“ (020910, Z. 312-317).
Der Errichtung einer massgeschneiderten Beistandschaft (z.B. Besuchsrechtsbeistandschaft) können Erziehungsberechtigte einerseits eher zustimmen, da die Kompetenzen für
Eingriffe in die Elternsouveränität damit eingeschränkt sind. Andererseits erschweren diese
eingeschränkten Kompetenzen einen Eingriff, wenn das Kindeswohl gefährdet erscheint. Die
Erweiterung einer Beistandschaft erfordert seitens der Vormundschaftsbehörde und den
Rollenträgern des Vormundschaftsamtes viel Aufwand in Form von weiteren Abklärungen
und zahlreichen Gesprächen mit den betroffenen Familienmitgliedern. Dieser Aufwand wird
auch seitens von Familienmitgliedern wahrgenommen. Eine Mutter, welche beispielsweise
um das Sorgerecht für ihre Tochter kämpfte, empfand die eingeschränkten Eingriffsmöglichkeiten der Vormundschaftsbehörde in die Rechte des Kindsvaters als sehr belastend: „da hat
der Vater natürlich Einspruch erhoben (…) bis man dann wirklich eine rechtliche Grundlage
hatte, ist es eigentlich überhaupt nicht mehr aktuell gewesen“ (061010; Z. 676-680). Die
daraus resultierende Ohnmacht der Mutter führte zwischenzeitlich zu einer Abnahme ihrer
Kooperationsbereitschaft. Erziehungsberechtigte wissen oftmals um ihre Rechte und müssen
durch die Vormundschaftsbehörde auf die Rechtsgrundlagen aufmerksam gemacht werden.
Sie können sich daher gegen formelle Behördenentscheide zur Wehr setzen und damit eine
Kooperation verweigern: „man kann nicht einfach wegen dem jetzt die beiden Söhne
platzieren, wir hätten als Behörde zu wenig in der Hand gehabt, wir haben auch gewusst, die
würden uns durch alle Instanzen bekämpfen“ (191010; Z. 484-487). Das Führen von
zahlreichen Gesprächen mit Erziehungsberechtigten und weiteren beteiligten Familienmitgliedern kann als Tür-Öffner-Strategie bezeichnet werden, die aufgrund dieser gesetzlichen Elternsouveränität an Gewicht gewonnen hat. Durch überzeugende Worte, die den
Betroffenen die Entdeckung vorteilbringender Aspekte ermöglichen, soll die Kooperationsbereitschaft gesteigert werden. Auch das Ernstnehmen von artikulierten Anliegen hilft
dabei massgeblich, dass Familien ihre Türe öffnen: „meistens versucht man ja mit Worten zu
überzeugen und aufzuzeigen, was kann jemand auch bewirken“ (191010; Z. 471-474).
Sofern ein Kindeswohl als gefährdet erscheint, die Erziehungsberechtigten jedoch vorgeschlagene oder angebotene Hilfsangebote ablehnen, können vorerst überzeugende Worte
49
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
einen erheblich drohenden Charakter annehmen. In diesen Situationen tritt die Kontrollfunktion der Vormundschaftsbehörde als rechtliche Instanz stark in den Vordergrund und
kann zu einer nicht ganz freiwilligen bis erzwungenen Kooperation führen: „Ich glaube wir
haben sie ziemlich unter Druck gesetzt, dass sie jetzt einfach muss“ (191010; Z. 464-466).
Oder: „bei dieser (…) Familie haben wir auch Alternativen aufgezeigt. Sie können auch Nein
sagen, aber dann müssen wir vielleicht platzieren“ (191010; Z. 927-928).
Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass Informations-Lücken-Füll-Strategien
eine Antwort auf vielfältige informelle und formelle Entscheidungsprobleme sind. Das
Problem fehlender oder unvollständiger Informationen kann unter anderem durch eine
erhöhte Kooperationsbereitschaft von Erziehungsberechtigten und weiteren Familienmitgliedern beseitigt werden. Verschiedene intervenierende Bedingungen wirken dabei als
eher positive oder negative Kooperationsvoraussetzungen auf die Strategien ein.
In der Konsequenz erfolgen daraus formelle Entscheide über zu treffende Massnahmen. Es
können sowohl Einzelmassnahmen wie auch sich ergänzende mehrfache Massnahmen
angeordnet werden.
Eine mögliche Konsequenz ist die formelle Zusammenarbeit mit einer SPF-Organisation.
Dabei können zwei Formen der Zusammenarbeit unterschieden werden: SPF als
Erziehungshilfe und der Kurzeinsatz als Abklärungsinstrument. Auch dies stellt eine
analytische Trennung dar. Es kristallisieren sich auch hier Zwischenformen heraus. Im
Folgenden werden als erstes die formelle und die ihr vorausgehende informelle
Zusammenarbeit mit einer SPF-Organisation dargestellt. Darauf folgt die Unterscheidung
zwischen einer SPF als Erziehungshilfe und einem Kurzeinsatz als Abklärungsinstrument, indem nochmals nachgezeichnet wird, welcher Entscheidungstyp eher zu
welchem Zusammenarbeitstyp führt.
6.8.
Formelle Zusammenarbeit mit einer SPF-Organisation
Die formelle Zusammenarbeit ist in einem hohen Mass standardisiert. Standards (z.B. zu
Finanzierungsfragen und zur Fallführung) wurden nicht im Voraus festgelegt. Die wiederholte
Zusammenarbeit führt zu einer Routine-Zusammenarbeit. Standards entwickeln sich aus der
gemeinsamen Reflexion von Erfahrungen: „Und wir sind jetzt übereingekommen, dass die
Fallführung eigentlich immer beim Auftraggeber ist. Aber das war nicht immer so klar (…)
das hat eben auch Korrekturen gebraucht oder“ (020910; Z. 285-288). Wichtige
Weichenstellungen, die in diesem (Zwischen-)Resultat münden, finden meist früh im
Entscheidungsprozess
statt
oder können sogar
unabhängig
von einer
konkreten
50
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Fallgeschichte erfolgen. Bereits nach Eingang erster hausexterner oder hausinterner
Informationen im Vormundschaftsamt kann eine informelle Zusammenarbeit mit einer SPFOrganisation erfolgen. Der Zeitpunkt der ersten Kontaktaufnahme mit einer SPFOrganisation ist abhängig vom Kenntnisstand der familiären Situation, dem Grad der eigenen
Belastung durch die Fallführung und der Kenntnis des SPF-Angebots. Bei einer frühen
Kontaktaufnahme wirkt die SPF-Organisation als Triage-Stelle und Hilfe im Entwickeln von
Lösungsstrategien
(eher
bei
sozialarbeitsfremden
Auftraggebenden).
Eine
späte
Kontaktaufnahme mit klaren Vorstellungen und bereits vorangegangener Motivationsprüfung
bei der Familie für diese Intervention erfolgt von Auftraggebenden, welchen das Angebot der
SPF gut bekannt ist. Der Beitrag einer SPF-Organisation bei einer frühen Kontaktaufnahme
besteht im Erfassen von Kernthemen aus Situationsschilderungen und deren Umformulierung in arbeitsfeldspezifische Zielsetzungen: „Der Zuweiser sagt, er hört der Mutter gar
nicht zu und in der Schule gibt’s Probleme, ja der Vater ist zwar da, aber er kümmert sich
nicht als Beispiel, dann formuliere ich es um als Zielsetzung im Erziehungsbereich“
(280910_1; Z. 363-366) oder: „das was er [der Auftraggeber, einf. d.A.] beschreibt an
Defiziten, formuliere ich in Zielsetzungen um, die für uns dann so sind, dass sie auch zu
unserem Arbeitsfeld gehören, natürlich, was anderes können wir ja nicht anbieten“
(280910_1; Z. 373-377). Die SPF wird von Mandatsführenden als hilfreiche Entlastungsmöglichkeit wahrgenommen. Hierbei führen gewachsene Strukturen, die in einer RoutineZusammenarbeit mit einer bestimmten SPF-Organisation münden zu einer erleichterten
Installation dieser Interventionsform, sodass gerne darauf zurückgegriffen wird als Lösung:
„das ist eben auch etwas (…) wo wir den SPF auch als Entlastung von unseren
Mandatsführerinnen und Mandatsführern anschauen. Also bei erheblich schwierigen
Situationen, weil sie sind dort vor Ort“ (020910; Z. 250-257). In einem Erstgespräch
zwischen der
mandatsführenden Person,
involvierten Familienmitgliedern und der
vorgesehenen Fachperson der SPF-Organisation werden Begleitziele formuliert. Der
Zielformulierungsprozess wird als anspruchsvoll erlebt. Die Schwierigkeiten können
wahrscheinlich darauf zurückgeführt werden, dass ein Kurzeinsatz als Abklärungsinstrument
oder eine SPF als Erziehungshilfe gerne bei unklaren Problemlagen mit diffusen Meldungen
eingesetzt werden, um vor Ort zu schauen, welche Probleme konkret existieren. Aus diesem
Grund kann weder der Auftraggeber oder die Auftraggeberin, noch die Familie formulieren,
wo genau das Problem liegt, bzw. welche Zielvorstellungen (Wünsche) existieren: „also beim
Kurzeinsatz haben wir es [die Fragestellungen, einf. d.A.] auch schon offengelassen und
gesagt, das soll eigentlich auch dazu dienen, mal den Anfang, die Startsituation, an was will
man arbeiten und dann nachher die Vereinbarung kommt vielleicht nach einem Monat oder
zwei Monaten, dass man dann vielleicht vor Ort sieht mit den Leuten, wo man einen näheren
51
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Kontakt hat“ (221010; Z. 1251-1256). Oder „dass man dann im Verlauf rollend Ziele definiert,
wo man dran arbeiten müsste, wenn man dann den Überblick etwas besser hat“ 221010; Z.
1268-1269). Erst wenn Ziele oder Fragestellungen aus dem Erstgespräch formuliert und der
Zusammenarbeitsvertrag von den involvierten Personen unterschrieben ist, kann von einer
formellen Zusammenarbeit gesprochen werden. Im hier untersuchten Fall arbeiten Rollenträger des Vormundschaftsamtes und der Amtsvormundschaft vornehmlich mit zwei SPFOrganisationen zusammen. Dabei weist die Form der Zusammenarbeit mit der länger
existierenden SPF-Organisation einen ausgeprägten standardisierten Charakter auf. Die
ältere SPF-Organisation bietet Kurzeinsätze als Abklärungsinstrument und SPF als
Erziehungshilfe an und unterscheidet die beiden Formen auch explizit in ihren schriftlichen
Informationen für Auftraggebende. Die Wahl für eine geeignet erscheinende SPFOrganisation hängt von mehreren Faktoren ab. Wurden in der Zusammenarbeit mehrfach
negative Erfahrungen in Bezug auf die fachlichen Kompetenzen der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter
einer
SPF-Organisation
gemacht,
so
kann
dies
zum
Abbruch
einer
Zusammenarbeit führen: „wir haben mal mit ihnen [einer spezifischen SPF-Organisation,
einf. d.A.] zusammengearbeitet, ich glaube wir haben 2-3 Fälle gehabt und sind aber wirklich
nicht zufrieden gewesen“ (191010; Z. 509-511). Werden negative Erfahrungen jedoch in
gemeinsamen Gesprächen reflektiert, so kann daraus eine fruchtbarere Kooperation
entstehen. Das Vertrauen in die Qualität der Arbeit ist eng an die Kenntnis einer SPFOrganisation und die Fachlichkeit der einzelnen Familienbegleiterinnen und Familienbegleiter gebunden, sodass Anfragen nicht nur an die SPF-Organisation als Ganzes gestellt
werden, sondern auch direkt an einzelne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: „ich finde das ist
einer der positiven Aspekte von dieser Organisation, dass man wirklich auch eine
Qualitätsgarantie hat, indem sie Supervision haben“ (191010; Z. 527-529). Das persönliche
Kennenlernen ist Voraussetzung für die Vertrauensbildung. Die Entscheidung der SPFOrganisation für oder gegen Annahme eines Auftrages hängt dabei nicht nur von der freien
Kapazität der jeweiligen Fachperson oder der SPF-Organisation als Ganzes ab. Die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter überlegen sich anhand der Situationsschilderung auch, ob
sie sich der Thematik fachlich und persönlich gewachsen fühlen: „An der Teamsitzung
besprechen wir das, wer hat Kapazität, wer kann den Auftrag übernehmen (280910_1; Z.
112-114). Gezielte Rückfragen an potentielle Auftraggeber oder Auftraggeberinnen dienen
diesem Zweck. Des Weiteren soll dadurch abgeklärt werden, ob ein Kurzeinsatz als
Abklärungsinstrument oder eher eine SPF als längerfristige Erziehungshilfe angemessen
erscheint.
52
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
6.8.1. Kurzeinsatz als Abklärungsinstrument
Gefährdungsmeldungen mit einem diffusen Informationsgehalt über familiäre Problemsituationen oder kindliche Verhaltensauffälligkeiten münden eher im Entscheidungstyp 1
(ungesicherte Informationen). Erscheinen die Problemschilderungen (Informationen) den
Rollenträgern des Vormundschaftsamtes und der Vormundschaftsbehörde als komplex und
eher dringlich, so müssen sie Entscheidungen darüber treffen, welche Familienmitglieder sie
zu einem Gespräch einladen werden und mit welchen weiteren externen Fachpersonen sie
zur weiteren Informationsgewinnung und zur Planung des weiteren Vorgehens in Kontakt
treten werden. In einigen Fällen entsteht bei den Entscheidungsträgern der Eindruck, dass
die Ursachen kindlicher Verhaltensauffälligkeiten eher auf soziale Problemstellungen innerhalb eines Familiensystems zurückzuführen sind. Problemlagen können durch erste ambulante Kurzabklärungen durch die Rollenträger des Vormundschaftsamtes oder der Sozialberatungsstelle nicht immer geklärt werden. Erwähnte eingeschränkte zeitliche Ressourcen
und ein zu geringer Einblick in die Lebenswelt der betroffenen Familie sind häufige Gründe
dafür. In diesem Fall wird eine SPF-Organisation mit einem Kurzeinsatz als Abklärungsinstrument beauftragt: „wenn wir die Problemstellungen vor allem im sozialen Umfeld sehen
und auch den Eindruck haben, es könnte gelingen, wenn man einfach in das Familiensystem
eingreifen kann (…) dass wir dann eigentlich einen Kurzeinsatz machen“ (191010; Z. 191195). Durch die Abklärung der familiären Situation vor Ort ist ein vertiefter Einblick möglich.
Kurzeinsätze werden durch die Vormundschaftsbehörde als Gesamtgremium angeordnet.
Sie formuliert spezifische Fragen, welche durch entsprechende Mitarbeiterinnen oder
Mitarbeiter der SPF-Organisation in einem Schlussbericht schriftlich beantwortet werden. Die
Fragestellungen werden den betroffenen Familienmitgliedern transparent gemacht. Dies
wirkt ebenfalls als Tür-Öffner, da die Familienmitglieder sich ein Bild darüber machen
können, mit welchem Ziel die abklärende Person zu ihnen nach Hause kommt. Nebst der
Beantwortung der Fragestellungen enthält der Schlussbericht der SPF-Organisation in der
Regel Empfehlungen für das weitere Vorgehen. Die Rollenträger des Vormundschaftsamtes
und der Vormundschaftsbehörde verfügen dadurch über erweiterte und stichhaltigere
Informationen, die dann in den Entscheidungstyp 2 (stichhaltige Informationen) münden
können.
Mögliche Alternativen oder ergänzende Interventionen:
Eine SPF-Organisation mit einem Kurzeinsatz als Abklärungsinstrument zu beauftragen stellt
eine Möglichkeit zur Informationsgewinnung dar: „um in einer ersten Runde vertiefte
Informationen zu bekommen“ (191010; Z. 218). Liegt der Fokus eher auf den kindlichen
Verhaltensauffälligkeiten, welche auf eine starke psychische Belastung des Kindes
53
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
hinweisen, wird oft der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst (KJPD) als Abklärungsinstanz beigezogen. Gutachten des KJPD liefern stichhaltige Informationen, welche
wiederum in den Entscheidungstyp 2 münden können. Besonders wenn eine familiäre
Problemsituation als dringlich erscheint, wird gerne auf einen Kurzeinsatz als Abklärungsinstrument zurückgegriffen. In diesem Fall kann in Kürze eine Fachperson bei der Familie zu
Hause sein und nebst der Beantwortung der Fragestellungen eine Situation zu entschärfen
und stabilisieren versuchen. Eine Abklärung durch den KJPD, welche nebst zum Teil langen
Wartezeiten, bis zu einem halben Jahr in Anspruch nimmt, kann zusätzlich zum Kurzeinsatz
angeordnet werden. Erscheint eine familiäre Situation nach ersten Gesprächen als wenig
komplex und weniger dringlich, so kann auf niederschwelligere Interventionen wie die
Vermittlung zur freiwilligen Sozialberatung oder einer semiprofessionellen Hilfsorganisation
zurückgegriffen werden. Unter Umständen gelangen von Rollenträgern dieser Stellen
wiederum Gefährdungsmeldungen an das Vormundschaftsamt, dass sie mit der Abklärung
der familiären Situation oder der Unterstützung der Familie aus zeitlichen oder fachlichen
Gründen überfordert sind und dass eine stärkere Intervention bzw. Massnahme zur weiteren
Abklärung oder Unterstützung nötig ist: „wir haben ja noch die Sozialberatung (…) wir haben
das mit ihnen angeschaut und die haben uns schon klar signalisiert, dass sie das nicht
können“ (020910, Z. 760-763). Solche Meldungen können sowohl zurück in den
Entscheidungstyp 1 oder aber direkt in den Entscheidungstyp 2 münden.
6.8.2. SPF als Erziehungshilfe
Sofern Rollenträger der Vormundschaftsbehörde und des Vormundschaftsamtes von Beginn
an über Meldungen mit stichhaltigen Informationen über eine familiäre Problemsituation oder
kindliche Verhaltensauffälligkeiten verfügen, mündet dies eher im Entscheidungstyp 2
(stichhaltige Informationen). Wie bereits genannt können dies Informationen aus kinderpsychiatrischen Gutachten sein oder aus Kurzabklärungen der Sozialberatungsstelle. Es
können auch konkrete Anträge von Beiständinnen und Beiständen sein, welche aufgrund
genannter Arbeitsbedingungen eine Familie mit komplexen Problemstellungen nicht immer
ausreichend Unterstützung bieten können: „und es braucht dann jemanden der wirklich
genauer in der Familie schauen kann, wie erziehen die Eltern ihre Kinder? (…) Können die
Eltern ihren Aufgaben als Mutter oder Vater gerecht werden? Das sind ja hunderte von
Faktoren die hier eine Rolle spielen und die muss man ja auch immer im Gesamtkontext
sehen“ (280910_1; Z. 778-784). Stichhaltige Informationen über familiäre Problemsituationen
oder kindliche Verhaltensauffälligkeiten enthalten noch nicht unbedingt Angaben darüber,
welche Ursachen zu den Problemen führen. Es ist oftmals auch noch unklar, ob Erziehungsberechtigte aufgrund ihrer Ressourcen in der Lage sind oder lernen können, diese
54
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Problemsituationen selbstständig oder durch eine Unterstützung im erzieherischen Alltag zu
bewältigen: „wir haben keine Hinweise jetzt, dass die Mutter jetzt nicht in der Lage ist die
Tochter zu erziehen (…) und wir haben dann einfach zur Bedingung gemacht, dass einfach
die Unterstützung vom SPF erweitert wird“ (191010; Z. 778-782). Beiständinnen und
Beistände stellen teils direkt einen Antrag auf eine SPF. Oftmals haben sie den betroffenen
Familienmitgliedern das Angebot der SPF-Organisation schon vorgestellt und abgeklärt, ob
diese für eine Zusammenarbeit mit einer Familienbegleiterin oder einem Familienbegleiter
motiviert wären. Ist die Familie motiviert, so wird der Antrag direkt an die Sozialhilfe gestellt,
da eine SPF – anders als ein Kurzeinsatz – über das Sozialhilfekonto finanziert wird. Die
Vormundschaftsbehörde ordnet in diesem Fall die SPF nicht formell an, wird aber darüber
informiert und erhält die schriftlichen Berichte über den Stand der Familienbegleitung. Sind
Erziehungsberechtigte nicht der Ansicht, dass sie eine zusätzliche Unterstützung für die
Erziehung ihrer Kinder benötigen, setzen sie sich in unterschiedlichem Mass dagegen zur
Wehr. Die Vormundschaftsbehörde kann aber im Austausch mit den Mandatsträgerinnen
und Mandatsträgern, sowie involvierten Rollenträgern des Vormundschaftsamtes zur Ansicht
gelangen, dass eine SPF als Erziehungshilfe zur Abwendung einer bestehenden oder
möglichen Kindeswohlgefährdung nötig ist. In diesem Fall ordnet sie diese an in Form einer
„Weisung im Sinne von Kindesschutzmassnahmen nach Art. 307 Abs. 1 und 3 ZGB“
(D210110). Da die Vormundschaftsbehörde per Gesetz dazu verpflichtet ist, die verhältnismässigste Massnahme anzuordnen, wird die SPF als Platzierungs-Vermeidungs-Strategie
eingesetzt. Sofern die Eltern die SPF als kleineres Übel zur Fremdplatzierung betrachten
(Entdeckung eines vorteilbringenden Aspekts), kann daraus eine minimale Kooperationsbereitschaft erwachsen: „auch wenn sie noch nicht so ganz sicher sind [ob für sie eine SPF
hilfreich ist, einf. d.A.] dass keine anderen Massnahmen zum Tragen kommen, die dann
vielleicht grössere Massnahmen sind in Hinblick auf die Kinder, z.B. eine Platzierung“
(280910_1; Z. 283-286). In einem Erstgespräch zwischen dem auftraggebenden Rollenträger, den beteiligten Familienmitgliedern und der zugeteilten Familienbegleiterin werden
die Themen besprochen, welche aus Sicht des auftraggebenden Rollenträgers und den
einzelnen Familienmitgliedern durch die SPF bearbeitet werden sollen. Diese werden in
konkrete Zielsetzungen umformuliert. In regelmässigen Standortgesprächen wird der Stand
der Zielerreichung evaluiert. Die SPF startet mit einer 3 monatigen Probezeit, nach welcher
für die Erziehungsberechtigten die Möglichkeit besteht, eine weitere Zusammenarbeit
abzulehnen. Sowohl die Zielsetzung wie auch die 3 monatige Probezeit wirken als TürÖffner. Einer Sozialpädagogischen Familienbegleiterin, einem Familienbegleiter kann es
auch in einem Zwangskontext (angeordnete SPF) gelingen, die Kooperationsbereitschaft der
Familie zu gewinnen, indem sie ihre Hilfe bei der Darlegung der vorhandenen
55
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Erziehungskompetenzen anbietet (Erziehungs-Inkompetenz-Widerlegungs-Strategie): „und
für mich [Aussage einer Mutter, einf. d.A.] ist es eben dann auch gewesen, guten Willen
zeigen zum nachher auch sagen zu können (…) es war von mir aus halt auch gewesen, zum
wirklich auch zeigen können, auf meiner Seite läuft es gut, bei mir kann man reinschauen,
ich bemühe mich um das Kind“ (061010; Z. 174-179). Durch die protokollierten Standortgespräche oder durch die SPF verfasste Zwischen- und Schlussberichte gelangen
Rollenträger der Amtsvormundschaft und der Vormundschaftsbehörde zu weiteren stichhaltigen Informationen. Die Konsequenz daraus kann der Abschluss der SPF als Erziehungshilfe, eine Weiterführung der SPF mit eventuell angepassten Zielsetzungen oder die
Anordnung neuer oder ergänzender Interventionen und Massnahmen sein.
Mögliche Alternativen oder ergänzende Interventionen:
Eine SPF als Erziehungshilfe kann eine mögliche Intervention oder Massnahme sein, um
Erziehungsberechtigte in ihrem Auftrag zu unterstützen. Eine SPF als Erziehungshilfe wird
oftmals bei komplexen familiären Problemsituationen eingesetzt, die als erheblich schwierig
eingestuft werden. Sehr häufig handelt es sich um Fälle von Kindesvernachlässigung in
Kombination mit häuslicher Gewalt oder Suchtproblematiken: „Vernachlässigung ist denke
ich in aller Regel, wo wir SPF einsetzen“ (020910; Z. 638-639). Nicht für alle familiären
Problemsituationen oder Gefährdungslagen von Kindern und Jugendlichen ist eine SPF
geeignet. Die SPF wird auch eingesetzt um Familien zu begleiten, wenn eine Fremdplatzierung unmittelbar bevorsteht, oder wenn ein Kind in naher Zukunft zu den
Erziehungsberechtigten rückplatziert werden soll. Sehr häufig sind nebst der SPF noch
weitere Fachpersonen involviert wie zum Beispiel Fachpersonen aus Psychotherapie,
Ergotherapie oder Logopädie. Erscheint eine Überforderungssituation nur vorübergehend
und nur in Bezug auf einen klar umrissenen Bereich zu existieren, so können auch
niederschwelligere Interventionen ausreichen wie
zum
Beispiel eine regelmässige
Hausaufgabenhilfe oder Mittagstische.
6.8.3. Mischform der Zusammenarbeit
Selbst wenn es wahrscheinlich scheint, dass eine längere Begleitung durch eine SPF
erforderlich sein wird, wird manchmal mit einem Kurzeinsatz begonnen als Tür-Öffner. Diese
drei Monate können dazu dienen, dass Adressatinnen und Adressaten vorteilbringende
Aspekte der SPF entdecken und dadurch nach Ablauf des Kurzeinsatzes einer
Weiterführung der Intervention als SPF zustimmen: „Also der Einstieg ist schon das
Schwierigste vor allem für die betroffenen Familien dünkt es mich, ich habe schon ein paar
Fälle erlebt, dass es da ziemlich Arbeit braucht eine Basis zu schaffen, deshalb sind auch
56
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
diese drei Monate, gerade diese drei Gratismonate sind enorm hilfreich“ (221010; Z. 470475).
6.9.
Zirkularität des Entscheidungsprozesses
Durch die Darstellung der Story line sollte es nun gelungen sein, die komplexen
Bedingungen aufzuzeigen, unter welchen Entscheidungen getroffen werden müssen. Dieser
Prozess beinhaltet sowohl informelle Vor- und Zwischenentscheide von hausinternen
Rollenträgern wie auch formelle Behördenentscheide. Diese werden nicht unwesentlich von
Entscheidungen, Empfehlungen oder Verhaltensweisen externer Fachpersonen, Familienmitgliedern und weiteren Privatpersonen beeinflusst. Der Entscheidungsprozess kann dabei
nicht als lineare Abfolge mit einem Start und einem Endpunkt betrachtet werden. Das
Schema „zirkulärer Entscheidungsprozess“ soll nachfolgend die Story line nochmals in einer
vereinfachten Form veranschaulichen.
57
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Finanzierungsklärung
Artikulation von Anliegen
Kooperationsvoraussetzungen
Gesetzliche Elternsouveränität
Erahnung oder Entdeckung
vorteilbringender Aspekte
beeinflussen den zirkulären
Entscheidungsprozess
Schema 1: Zirkulärer Entscheidungsprozess
Meldungen
mit diffusem
Charakter
Informationen
über problem.
Familiensituation
und kindliche
Verhaltensauffälligkeiten
Meldungen mit
stichhaltigen
Informationen
Kurzeinsatz
als
Abklärungsinstrument
Formelle
Zusammenarbeit mit
SPFOrganisation
SPF
als
Erziehungshilfe
Entscheidungszwang auf der
Grundlage
stichhaltiger
Informationen
Entscheidungszwang auf
unvollständiger
Informationsgrundlage
Entscheidungszwang auf der
Grundlage
ungesicherter
Informationen
ErziehungsKompetenzÜberprüfungsStrategien
InformationsLückenFüllStrategien
Gespräche
führen
Tür-ÖffnerStrategien
Quelle: eigene Darstellung
58
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Teil III: Diskussion und Schlussfolgerungen
In diesem dritten und letzten Teil der Arbeit können nun die Ergebnisse aus der Fallanalyse
in Bezug zu dem im ersten Teil dargestellten Forschungsstand und Fachdiskurs gesetzt
werden. In den Schlussfolgerungen wird das methodische Vorgehen während des
Forschungsprozesses reflektiert. Dies soll Rückschlüsse auf die Qualität der Befunde ermöglichen. Anschliessend können dadurch Anregungen zur Reflexion für die Praxis, sowie
offene Fragen und Hypothesen für eine weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit
der Thematik formuliert werden. Um die Ergebnisse in einen für die Soziale Arbeit relevanten
grösseren Rahmen zu stellen, wird abschliessend aufgezeigt, an welche theoretischen
Diskurse der Sozialen Arbeit als Disziplin und Profession diese anschlussfähig sind.
7. Anknüpfungspunkte an den Forschungsstand und Fachdiskurs
An dieser Stelle wird betont, dass die Ergebnisse der qualitativen Fallanalyse nicht auf
andere Kontexte übertragbar sind. Die folgenden Bezüge zum Forschungsstand und Fachdiskurs gelten also nur für die untersuchten Organisationen in ihrem spezifischen Kontext
und können nicht generalisiert werden. Die Kapitel sind so gestaltet, dass sie auch die in der
Kernfragestellung implizit enthaltenen Unterfragen a) bis d) beantworten (siehe Kapitel 4).
7.1.
Bestätigungen, Widersprüche und Ergänzungen zu den NFP-52-Studien
Sowohl in der Studie von Voll et al. (2008) wie auch in der Studie von Arnold et al. (2008)
wurden Methodenkombinationen eingesetzt. Schwerpunkte wurden im Voraus festgelegt und
bestimmten somit deduktiv die Entwicklung der grösstenteils stark strukturierten Erhebungsinstrumente. Das zentrale Phänomen und die weiteren Hauptkategorien und Kategorien der
vorliegenden Fallanalyse wurden hingegen in einem induktiven Prozess aus den Daten
entwickelt. Einerseits können im Folgenden klare Parallelen zu den Ergebnissen der beiden
NFP-52-Studien aufgezeigt werden. Andererseits wird deutlich, dass sich andere
Schwerpunkte herauskristallisiert haben.
In der Studie von Voll et al. (2008) wurde anfänglich die These aufgestellt, dass Risiken
durch die Ungewissheit über die Notwendigkeit und Wirkungen von Schutzmassnahmen
konstitutiv für den zivilrechtlichen Kindesschutz sind. Die Feststellung, dass bei zunehmen59
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
der Komplexität eines Falles die Anzahl beteiligter Professioneller steigt, wurde als Problemlösungsstrategie zur Bearbeitung des Falles dargestellt. Dies wird ausserdem als Versuch
zur Risiko- und Verantwortungsverminderung begriffen. Auch knappe Instruktionen von
Mandatsträgern und Mandatsträgerinnen durch unpräzise Auftragsstellungen wurden
dahingehend interpretiert, dass Risiken für Entscheidungen diffus bleiben sollen (vgl. S. 225226). Daraus geht jedoch nicht hervor, auf welche Art und Weise die involvierten
Professionellen informelle (Vor-) Entscheide und formelle Behördenentscheide beeinflussen.
Auch in den hier untersuchten Fällen war eine grosse Anzahl von involvierten
Professionellen zu verzeichnen. Rollenträger von Vormundschaftsbehörden, Vormundschaftsämtern und Amtsvormundschaften sehen eine generelle Schwierigkeit insbesondere
darin, Zugänge zu stichhaltigen Informationen zu schaffen. Die Gewinnung einer präzisen
Vorstellung über eine existierende Problemlage ist dadurch erschwert. Die persönliche
Expertise im Fallverstehen, der Austausch in „hausinternen“ Intervisionen, sowie der Beizug
von Professionellen aus dem kinder- und jugendpsychiatrischen, medizinischen, schulischen
und sozialpädagogischen Bereich stehen im Vordergrund beim Einordnen von Informationen
und
dem
daraus
resultierenden
Entscheidungszwang.
Unklare
Auftrags-
und
Zielformulierungen an „hausinterne“ Mandatsführende oder externe Dienstleistungsorganisationen (wie SPF-Organisationen), sowie daraus resultierende rollende Auftrags- und
Zieldefinitionen sind deshalb nicht ungewöhnlich. Die Schwierigkeit, dass Situationseinschätzungen und Entscheidungen auf unvollständiger Informationsgrundlage getroffen
werden müssen, hat sich also als Schwerpunkt herauskristallisiert und stellt deshalb das
zentrale Phänomen dar. Durch einen Kurzeinsatz aber auch durch eine SPF als
Erziehungshilfe kann ein Zugang zu relevanten Informationen geschaffen werden. Die
informelle Kontaktaufnahme mit einer SPF-Organisation kann damit ebenfalls als Strategie
zur Risikominderung angesehen werden. Mit der informellen und einer daraus resultierenden
formellen Zusammenarbeit mit einer SPF-Organisation können gleichzeitig entstehende
Risiken bei der Situationseinschätzung wie auch bei einem Verbleib eines (möglicherweise
gefährdeten) Kindes in einer Familie vermindert werden. Mey (2008) hat anhand ihrer
qualitativen Fallanalysen aufgezeigt, dass im Dreieck zwischen Eltern, Behörden und
Mandatsführenden enttäuschte Erwartungen, ungeklärte Verantwortlichkeiten und Zeit- und
Ressourcenknappheit dominieren und sich in einer „Dynamik der doppelten Ohnmacht“
zeigen (vgl. S. 166). Auch in den hier untersuchten Fällen treten die eingeschränkten
zeitlichen Ressourcen und Kompetenzen von Mandatsführenden und die damit verbundenen
eingeschränkten Einflussmöglichkeiten auf eine Problemlage in den Vordergrund. Die
zunehmende Anzahl von Kurzeinsätzen als Abklärungsinstrument wie auch von SPF als
Erziehungshilfe können als Antwort auf solche eingeschränkten zeitlichen Ressourcen und
60
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Kompetenzen angesehen werden. Sie bieten zudem einen Ersatz für fehlende geeignete
„hausinterne“ Hilfsmittel für Abklärungen und Indikationsstellungen. Anders ausgedrückt
dient die informelle Kontaktaufnahme mit einer SPF-Organisation auch der Bestimmung, was
überhaupt „der Fall“ ist. Einen Mangel an geeigneten Diagnoseinstrumenten stellten auch
Arnold et al. (2008) fest (vgl. S.213). Selbst in längerfristigen sozialpädagogischen Familienbegleitungen können grosse
Unsicherheiten betreffend
Kindeswohl
auftreten.
Der
„Stuttgarter Kinderschutzbogen“ hat sich als Reflexionsinstrument als hilfreich erwiesen (zum
genannten Kinderschutzbogen (vgl. Einsenlohr, 2004, S. 285-298). Mey (2008) zeigt in ihren
Ergebnissen auf, dass Mandatsführende bei hochkomplexen Situationen mit stark aussengesteuerten Falldynamiken den Einbezug der Behörde kaum in Betracht ziehen (vgl. S. 154155). In der hier vorliegenden Untersuchung konnte jedoch gezeigt werden, dass das Führen
von
Gesprächen
(Diskussionen,
Besprechungen,
Absprachen)
zwischen
diversen
„hausinternen“ Rollenträgern der Vormundschaftsbehörde, des Vormundschaftsamtes, der
Amtsvormundschaft und des Sozialdienstes eine bevorzugte Strategie darstellt, um in
hochkomplexen Fällen zu einer gemeinsamen Einschätzung über mögliche geeignete
weitere Vorgehensweisen zu gelangen. Laut der Statistik von Voll et al. (2008) handelt es
sich bei Gefährdungslagen nach der Einschätzung der Behörden am zweithäufigsten um
einen Fall von „Vernachlässigung“ (vgl. S.31). Als häufige und typische Indikation für eine
SPF als Erziehungshilfe wurde auch in den Interviews der vorliegenden Untersuchung die
Vernachlässigung genannt. Es erstaunt daher nicht, dass die SPF als Erziehungshilfe in der
untersuchten Organisation als Massnahme je länger je häufiger eingesetzt wird und dadurch
an Bedeutung gewinnt. Voll et al. (2008) gelangen zu dem Befund, dass die Dauer und der
Aufwand für ein Verfahren und die Durchführung und Aufhebung einer Massnahme weniger
durch die konkrete Problemlage als durch das System und die Dynamik der Fallführung
bestimmt sind (vgl. S. 100+130). Auch die hier vorliegende Fallanalyse zeigt deutliche
Hinweise, welche diesen Befund bekräftigen. Problemlagen sind anfänglich häufig diffuser
Natur und konkretisieren sich erst im Verlauf des Verfahrens. Wie lange es dauert, bis
stichhaltigere Informationen zur Massnahmenplanung vorliegen, hängt davon ab, wie
erfolgreich
die
hier
beschriebenen
Informations-Lücken-Füll-Strategien
von
den
verschiedenen Rollenträgern eingesetzt werden können. Die Kooperationsbereitschaft der
Beteiligten kann sich im Laufe des Prozesses durch verschiedene Voraussetzungen
verändern. Die Erläuterungen zur Kategorie „Kooperationsvoraussetzungen“ und ihren
Unterkategorien zeigen Aspekte der Interaktionen zwischen Akteurinnen und Akteuren des
zivilrechtlichen Kindesschutzes und betroffener Familien auf, welche bei Voll et al. (2008)
und Arnold et al. (2008) keine oder wenig Berücksichtigung gefunden haben. Arnold et al.
(2008) legten ein besonderes Augenmerk auf Fragen der Partizipationsmöglichkeit von
61
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Eltern und Kindern, da gemäss der UNO-Konvention über die Rechte der Kinder deren
Partizipation verbindlich ist. Sie befinden, dass Partizipation ein unpräziser Sammelbegriff
bleibt, welcher in der Schweiz im Fachdiskurs unzureichend berücksichtigt werde (vgl. S.
213-215). Sie weisen darauf hin, dass von Sozialarbeitenden als Schwierigkeit bei
Platzierungen u.a. unkooperative Eltern und Angehörige genannt werden (vgl. S. 214). In der
vorliegenden Fallanalyse wird dieser Aspekt unter der Kategorie „Artikulation von Anliegen“
als eine von mehreren kooperationsfördernden Voraussetzungen ebenfalls thematisiert. So
kann eine Kooperationsverweigerung unter anderem auf eine zu geringe Partizipation am
Entscheidungsprozess zurückgeführt werden. Sozialarbeitende müssten jedoch nach den
Ergebnissen der vorliegenden Fallanalyse auch die Aspekte „Finanzierungsklärung“ von
Interventionen und Massnahmen, „gesetzliche Elternsouveränität“, sowie „Erahnung oder
Entdeckung vorteilbringender Aspekte“ berücksichtigen, bevor sie vorschnell auf eine
grundsätzlich
negative
Kooperationsbereitschaft
von
betroffenen
Familienmitgliedern
schliessen. Generell zeigt die Fallanalyse, dass Akteurinnen und Akteure des zivilrechtlichen Kindesschutzes auf die Kooperationsbereitschaft der Erziehungsberechtigten
angewiesen
sind,
wenn
sie
stichhaltige
Informationen
über
eine
problematische
Familiensituation oder kindliche Verhaltensauffälligkeiten gewinnen möchten. Dies ist
wiederum nötig, um adäquate Entscheidungen über das weitere Vorgehen treffen zu können.
Arnold et al. (2008) gelangen zu dem Befund, dass Platzierungen erst nach langen und
intensiven Phasen der Problemeskalation und erfolglosen Bewältigungsversuchen erfolgen
(vgl. S. 211). Dies wird durch die vorliegende Fallanalyse bestätigt. Eine Platzierung stellt
demnach
zwar
immer
eine
Möglichkeit
bei
einer
bestehenden
oder
drohenden
Kindeswohlgefährdung dar und wird bei komplexen Problemsituationen in den Diskussionen
in die Überlegungen stets mit einbezogen. Es besteht jedoch eine klare Tendenz, eine
Fremdplatzierung wenn möglich zu vermeiden und aufgrund des Verhältnismässigkeitsprinzips niederschwelligere Massnahmen vorzuziehen. Dies nicht zuletzt, weil eine
Platzierung mit einem wesentlichen Aufwand verbunden ist und sich Erziehungsverantwortliche mit verschiedenen Mitteln stark dagegen zur Wehr setzen. Bei Arnold et al.
(2008) zeigt sich, dass die Kontaktaufnahme mit einer Pflegefamilie oder einem Heim
üblicherweise erst erfolgt, wenn die Entscheidung für eine Platzierung, zumindest von der
Behörde, bereits erfolgt ist. Wie die vorliegende Untersuchung zeigt, gestaltet sich dies im
Fall einer SPF als mögliche Interventionsform anders. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
SPF-Organisation werden in der Regel informell in den Entscheidungsprozess mit
einbezogen. Eine SPF als Erziehungshilfe wird von Rollenträgern der Vormundschaftsbehörde, des Vormundschaftsamtes und auch der Amtsvormundschaft als Alternative zu
einer Platzierung dargestellt. Gegenüber den Erziehungsverantwortlichen wird sie auch als
62
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Platzierungs-Vermeidungs-Strategie benannt und von diesen auch selbst als solche
wahrgenommen (Entdeckung eines vorteilbringenden Aspekts). Aber auch eine SPF als
Erziehungshilfe wird bereits als eine in die Privatsphäre stark einschneidende Massnahme
beschrieben, sowohl von „hausinternen“ Rollenträgern, wie auch von Fachpersonen der
SPF-Organisation und von Familienmitgliedern. Dennoch gelingt es Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern der SPF-Organisation in der Regel, eine gute Kooperationsbasis mit den
Erziehungsberechtigten und weiteren Familienmitgliedern aufzubauen. Dies ist darauf
zurückzuführen, dass sich eine SPF-Organisation sowohl gegenüber der Behörde wie auch
gegenüber der Familie als soziale Dienstleistung versteht und eine neutrale Vermittlerrolle
einnehmen kann. Arnold et al. (2008) stellten fest, dass die Wahrnehmungen der beteiligten
Rollenträger und Familienmitglieder zum Beispiel in Bezug auf die Beurteilung der ElternKind-Beziehung stark variieren (vgl. S. 212). In der vorliegenden Fallanalyse wird dies
deutlich bei der Schwierigkeit der Situationseinschätzung aufgrund von widersprüchlichen
Informationen (Meldungen) oder beim Aspekt der Artikulation von eigenen Anliegen. Durch
einen Kurzeinsatz als Abklärungsinstrument wie auch durch eine SPF als Erziehungshilfe
sollen Wahrnehmungen der
Erziehungsberechtigten überprüft
werden (Erziehungs-
Kompetenz-Überprüfungs-Strategie). Gerade die Aspekte „Artikulation von Anliegen“ und
„gesetzliche Elternsouveränität“ zeigen auf, dass Elternteile nicht passiv sind, sondern sich
mit rechtlichen Mitteln zur Wehr setzen und ihre Anliegen auch ungefragt artikulieren. Sie
partizipieren somit aktiv am Entscheidungsprozess. Aus Sicht der „hausinternen“ Rollenträger mag es sich dabei um eine unerwünschte Art von Partizipation handeln, die als
mangelnde Kooperationsbereitschaft ausgelegt werden kann. Die vorliegende Untersuchung
hat gezeigt, dass Entscheidungen gegen einen massiven Widerstand der Erziehungsberechtigten kaum durchzusetzen sind, sofern diese für sich darin nicht einen minimalen
vorteilbringenden Aspekt entdecken können.
7.2.
Rolle der SPF im Rahmen des zivilrechtlichen Kindesschutzes
In Kapitel 7.1. werden bereits einige Überlegungen zur Rolle der SPF im Rahmen des
zivilrechtlichen Kindesschutzes angestellt. An dieser Stelle werden Ergänzungen dazu
diskutiert.
Obwohl die SPF als Erziehungshilfe in der Schweiz nicht gesetzlich verankert ist, wird sie
zum Teil direkt von der Vormundschaftsbehörde und zum Teil indirekt über einen Antrag von
Mandatsführenden angeordnet. In der untersuchten Organisation des zivilrechtlichen Kindesschutzes ist sie als hilfreiche externe Dienstleistung kaum mehr wegzudenken. Mandatsführende der Amtsvormundschaft übernehmen in erster Linie die Rolle von Case Managern,
63
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
wenn eine SPF eingesetzt wird. Sie sind froh um die externe Entlastung. Die SPF als
Erziehungshilfe wird in erster Linie aufgrund ihrer aufsuchenden und systemischen
Arbeitsweise gerne als Informations-Lücken-Füll-Strategie eingesetzt. Finanzierungsfragen
werden von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich angegangen. Die daraus resultierenden
Finanzierungslösungen vereinfachen oder erschweren den Einsatz einer SPF als
längerfristige Erziehungshilfe. SPF-Organisationen orientierten sich am Basler-Modell,
welches sich stark an der SPFH in Deutschland anlehnte. Das Angebot des Kurzeinsatzes
als Abklärungsinstrument kann als Reaktion auf den Bedarf von Vormundschaftsbehörden
und Mandatsführenden zurückgeführt werden, schnellen Zugang zu stichhaltigeren Informationen über familiäre Problemlagen gewinnen zu können. Private SPF-Organisationen
erweiterten also ihre Angebotspalette, behalten aber ihre typische aufsuchende Arbeitsweise
bei. Im Teil I wurde aufgeführt, welche Qualitätsstandards im deutschen Handbuch zur
Kindeswohlgefährdung für SPFH-Anbieter festgehalten sind. Eine sozialarbeiterische oder
sozialpädagogische Ausbildung und systemische Zusatzausbildungen von Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern von SPF-Organisationen, sowie regelmässige Supervision, werden auch in
den Interviews dieser Untersuchung als Qualitätsmerkmale genannt. Die Zufriedenheit mit
der Qualität des Angebots ist bestimmend, ob sich zwischen einer Vormundschaftsbehörde
und einer SPF-Organisation eine Routine-Zusammenarbeit bildet. In der Schweiz existiert
kein gesetzlich verankertes Hilfeplanverfahren. Die Installation und Durchführung eines
Kurzeinsatzes wie auch einer SPF als Erziehungshilfe weist dennoch einen hoch
standardisierten Charakter auf. Schriftliche Dokumente zu den Verfahrensweisen bestehen
jedoch nicht. Ist die Installation eines Kurzeinsatzes oder einer SPF als Erziehungshilfe
vorgesehen, so ist die SPF-Organisation in aller Regel stark an der Hilfeplanung bzw. der
Zielformulierung und deren Überprüfung beteiligt, ähnlich wie dies in Deutschland im
Hilfeplanverfahren festgelegt ist (vgl. KJHG § 36 Abs. 2, siehe Anhang 3). Gemäss dem
deutschen „Handbuch Sozialpädagogische Familienhilfe“ können keine eindeutigen
fallübergreifenden Indikatoren zur Gewährung einer SPFH festgelegt werden (vgl. BMFSJ,
1998, S. 23+24). Diese Feststellung kann durch die vorliegende Fallanalyse untermauert
werden. In der im Teil I aufgeführten Statistik wurde für das Jahr 2007 eine eingeschränkte
Erziehungskompetenz als Grund für eine SPFH am häufigsten genannt. Aus der Fallanalyse
ging die „Erziehungs-Kompetenz-Überprüfungs-Strategie“ als Kategorie hervor. Diese weist
darauf hin, dass Erziehungsprobleme oft vermutet werden. Eine SPF als Erziehungshilfe
wird also nicht immer aufgrund eines klaren Indikators eingesetzt.
64
Master-Thesis-Arbeit
7.3.
Simone Hengartner Thurnheer
Der Einsatz von sozialarbeiterischem und sozialpädagogischem Wissen und
Können im Abklärungs- und Entscheidungsprozess
Erste Gefährdungsmeldungen in Form von diffusen bis stichhaltigen Informationen gehen als
erstes im Vormundschaftsamt ein. Rollenträger dieses Amtes stammen in der vorliegenden
Fallanalyse aus sozialarbeitsfremden Berufsrichtungen, sodass erste Weichenstellungen
ohne den Einsatz von spezifischem sozialarbeiterischem oder sozialpädagogischem Wissen
erfolgen können. Oftmals sind es jedoch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die in der
hausinternen Amtsvormundschaft als gesetzliche Mandatsführerinnen und Mandatsführer
arbeiten, welche konkrete Anträge an die Vormundschaftsbehörde stellen. Es kann daher
davon ausgegangen werden, dass sozialarbeiterisches Wissen und Können in den hausinternen Diskussionen, Besprechungen und Absprachen eine Rolle spielen. Sozialpädagogisches Wissen und Können in Form von sozialpädagogischem Fallverstehen gelangt zudem
über die frühe informelle Kontaktierung einer SPF-Organisation hinzu. Durch die Kenntnis
verschiedener Interventionsmöglichkeiten und entsprechender Fachstellen kann die SPFOrganisation auch als Triage-Stelle wirken. In Bezug auf die Abklärung einer familiären
Situation hat sich gezeigt, dass speziell bei komplex wirkenden Problemschilderungen,
welche auf soziale Problemstellungen in einer Familie hinweisen, auf die sozialpädagogischen Kompetenzen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der SPF-Organisation vertraut
wird. Die Erfahrung hat gezeigt, dass semi-professionelle Anbieter bei Mehrfachproblematiken schnell an ihre Grenzen stossen und eine Übernahme durch die SPF-Organisation
erforderlich ist. Sowohl Mandatsführende wie auch Mitarbeiterinnen der SPF-Organisation
nennen als Kernkompetenzen eine systemische Denk- und Arbeitsweise, die Fähigkeit zur
Selbstreflexion und Distanznahme zum Fall, sowie die persönliche Expertise im
Fallverstehen. Konkrete Kenntnisse über Pädagogik werden als weniger zentral aber nötig
erachtet. Eine Ablehnung gegenüber standardisierten Diagnoseinstrumenten wird insbesondere bei Rollenträgern des Vormundschaftsamtes wie der Amtsvormundschaft deutlich
und wird mit der Individualität des Einzelfalles begründet. Der Einsatz eines Kurzeinsatzes
oder einer SPF als Informations-Lücken-Füllstrategie kann somit auch als Alternative zu
standardisierten Diagnoseverfahren betrachtet werden. Allerdings tritt der Stellenwert
sozialpädagogischer Diagnosen in bestimmten Fällen in den Hintergrund. So werden speziell
in der Zusammenarbeit mit Gerichten oder bestimmten Adressatinnen und Adressaten
kinderpsychiatrische Gutachten aufgrund von Akzeptanzfragen bevorzugt, auch wenn es
sich eher um soziale Problemstellungen zu handeln scheint als um psychologisch oder
psychiatrisch relevante Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen.
65
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Mit der vorliegenden Fallanalyse liegt erstmals eine systematische Untersuchung über das
Zusammenwirken von Rollenträgern einer staatlichen Organisation des zivilrechtlichen
Kindesschutzes und einer privaten SPF-Organisation vor. Jeder Kindesschutzfall ist geprägt
durch spezifische Besonderheiten. Die entwickelten konzeptuellen Kategorien, welche in
einem vereinfachten Schema dargestellt wurden, können jedoch als Reflexionsgrundlage für
„hausinterne“ Rollenträger des zivilrechtlichen Kindesschutzes und Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern einer SPF-Organisation dienen. Dies erleichtert die Orientierung in der
Komplexität eines Falles, sowie die Entwicklung von Lösungsstrategien. In Bezug auf
genannte Schwierigkeiten im Entscheidungsprozess enthält Kapitel 8.2. Anregungen zur
Reflexion für die Praxis.
8. Schlussfolgerungen
Der Teil II enthält bereits zentrale Überlegungen zur Auswahl der Forschungsmethode, wie
auch Angaben über die konkreten Vorgehensweisen im Forschungsprozess. Eine
abschliessende Reflexion über das methodische Vorgehen soll an dieser Stelle Schlussfolgerungen in Bezug auf die Qualität und den weiteren Verwendungszweck der Ergebnisse
ermöglichen.
8.1.
Reflexion über methodisches Vorgehen
Eine Fallanalyse nach der Grounded Theory stellte sich ebenso als herausfordernd wie
spannend heraus. Die Orientierung am Werk von Strauss und Corbin (1996) hat sich bei der
Durchführung der einzelnen methodischen Analyseschritte als hilfreich erwiesen. Die
Tatsache, dass diese Schritte in Einzelarbeit durchgeführt werden mussten, stellte die
grösste Herausforderung dar. Die Analyseschritte wurden mit grosser Sorgfalt geplant und
durchgeführt. Die permanente Hinterfragung von Interpretationen und gewählten Begriffen
für Konzepte und Kategorien stellt in der Grounded Theory eine Notwendigkeit dar. Der
Austausch in einer Forschungsgruppe würde einerseits sicherlich mehr Hartnäckigkeit im
Hinterfragen von Zwischenergebnissen ermöglichen. Andererseits würde dieser aber auch
Sicherheit vermitteln, dass die Ergebnisse tatsächlich gut in den Daten verankert sind. Die
Technik des Fragen Stellens und des ständigen Vergleichs vermochte jedoch Zweifel zu
verringern oder gar zu eliminieren. Zur Steigerung der theoretischen Sensibilität und
Entwicklung der Dimensionen von Kategorien erwies sich insbesondere die Flip-FlopTechnik nach Strauss und Corbin (1996) als hilfreich (vgl. S. 64). Zur Erstellung von Memos
66
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
und für die Methode des Vergleichs wurden Vorlagen entwickelt. Sie dienten der Orientierung über das umfangreiche Datenmaterial und die entstandenen Konzepte und
Kategorien. Gleichzeitig stellten sie eine wertvolle Hilfe beim Ausformulieren der Story line
dar. Der Einsatz des paradigmatischen Modells als Orientierungshilfe erfolgte erstmals
nachdem sich nach den ersten drei bis vier Interviews bestimmte Kategorien als besonders
zentral herauskristallisierten. Diese Kategorien wurden mehrmals umbenannt, liessen sich
jedoch im paradigmatischen Modell einordnen. Die letzten drei Interviews dienten insbesondere dem Zweck, die Kategorien und ihre Dimensionen genauer spezifizieren und in
Bezug zu den anderen Kategorien setzen zu können. Im Vergleich zu den ersten Interviews
waren die letzen Interviews stärker geprägt durch exmanente Nachfragen am Schluss eines
Interviews. Damit konnten offene Fragen in Bezug auf die Bedeutung von einzelnen
Kategorien und ihren Dimensionen geklärt werden. Zu diesem Zweck wurden zudem
während des gesamten Forschungsprozesses die im Teil II genannten Dokumente beigezogen. Auch noch während dem Ausformulieren der Story line machten sich Unsicherheiten
bemerkbar. Diese konnten durch einzelne Telefonate mit konkreten Nachfragen und das
Anfordern von weiteren zentral erscheinenden Dokumenten beseitigt werden. Die Begriffe für
die Hauptkategorien wurden sehr spät entwickelt und veränderten sich auch noch während
des Schreibprozesses. Die Zitate wurden so gewählt, dass sie der Leserin und dem Leser
einen anschaulichen Eindruck vermitteln können, aus welchen in den Interviews
geschilderten Ereignissen, Vorfällen oder Handlungen sich eine Kategorie bzw. Hauptkategorie entwickelt hat. Sie könnten durch weitere Zitate ergänzt werden, welche sich innerhalb
des gewählten Interviews an anderer Stelle oder auch in anderen Interviews befinden und
ebenfalls Belege für die entsprechenden Kategorien sind. Dies vermittelte viel Sicherheit,
dass die entstandene Theorie klar in den Daten verankert und damit dem Gegenstandsbereich angemessen ist. Bei der Bezeichnung „Tür-Öffner“ handelt es sich beispielsweise
um einen „In-vivo-Kode“ (vgl. Strauss & Corbin, 1996, S. 50). Er wurde von Rollenträgern der
Vormundschaftsbehörde (Präsidium), des Vormundschaftsamtes, der Amtsvormundschaft
und auch von beiden interviewten Mitarbeiterinnen der SPF-Organisation verwendet. Dies ist
wiederum eine Bestätigung dafür, dass das „Führen von Gesprächen“ (Diskussionen,
Absprachen, Besprechungen) zwischen den beteiligten Rollenträgern ein zentrales Element
im Entscheidungsprozess darstellt, da diese oftmals dasselbe oder ein sehr ähnliches
Vokabular benutzen. Eine Ergänzung der Daten durch teilnehmende Beobachtung im
Tagesgeschehen „des Hauses“ oder die Teilnahme an Befragungen von und Gesprächen
mit Familienmitgliedern, wären für die Entdeckung neuer relevanter Kategorien oder die
Weiterentwicklung der bestehenden sicherlich sehr wertvoll.
67
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Das Vorgehen nach der Grounded Theory stellte sich in Bezug auf die Fragestellung,
insbesondere durch die Methode des ständigen Vergleichs, als ergiebig heraus. Die
Ergebnisse der Fallanalyse in Form einer Story line geben eine differenzierte Antwort auf die
Kernfrage, auch wenn diese nicht vollständig ist und auch nicht sein kann. Eine einfache und
knappe Antwort auf die Kernfrage war auch nicht zu erwarten. Eine solche würde der
Komplexität der Schnittstelle zwischen zivilrechtlichem Kindesschutz und der SPF als
Erziehungshilfe bzw. als Abklärungsinstrument nicht entsprechen. Eine Weiterentwicklung
der Theorie und eine weitere Differenzierung der Kategorien und ihren Dimensionen ist
dementsprechend möglich. Im Kapitel 7 wurden die Ergebnisse in Bezug zum Forschungsstand und Fachdiskurs gesetzt. Die Kapitel wurden dabei so gestaltet, dass sie auch
Antworten auf die Unterfragen a) bis d) ermöglichen. Die Unterfrage e) kann anhand des
Datenmaterials nicht beantwortet werden. Begründete Hypothesen lassen sich jedoch
ableiten. Diese werden im Kapitel 8.3. formuliert. Die Fallanalyse bezieht sich auf die
Ausgestaltung des zivilrechtlichen Kindesschutzes innerhalb einer Organisation einer
konkreten Gemeinde und deren Zusammenarbeit mit einer spezifischen SPF-Organisation in
der Region. Die Ergebnisse können daher nicht auf andere Kontexte übertragen werden. Die
folgenden inhaltlich-fachlichen Überlegungen richten sich daher auch an diese konkrete
Praxis. Es ist aber durchaus vorstellbar, dass die Ergebnisse dieser Arbeit auch
Rollenträgern von Vormundschaftsbehörden, Vormundschaftsämtern und Amtsvormundschaften vergleichbarer Gemeinden, sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern anderer SPFOrganisationen wichtige Anregungen für ihre Zusammenarbeit liefern können.
8.2.
Anregungen zur Reflexion für die Praxis
Die folgenden inhaltlich-fachlichen Überlegungen können als Anregungen zur Reflexion für
„hausinterne“ Rollenträger und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von SPF-Organisationen und
deren weitere Zusammenarbeit betrachtet werden.
Im Spannungsfeld zwischen Hilfe und Kontrolle:
In Deutschland schreibt der Hilfeplan nach § 36 SGB VIII vor, dass eine Entscheidung für
eine geeignete „Hilfe zur Erziehung“ nur in einem Klärungs-, Beratungs- und Aushandlungsprozess zwischen mehreren Fachpersonen und den Betroffenen erfolgen darf (vgl. BMFSJ,
1998, S. 23-24). Die SPFH wird als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden. SPF-Organisationen in
der Schweiz haben für sich diese Intentionen übernommen und beschreiben diese in ihren
Konzepten und auf ihren Websites. Die Fallanalyse hat gezeigt, dass Rollenträger des
Vormundschaftsamtes und der Amtsvormundschaft Erziehungsberechtigte explizit auf die
neutrale Position der SPF-Organisation aufmerksam machen. Sie versuchen Familienmit68
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
glieder in Gesprächen von einem möglichen Nutzen einer SPF zu überzeugen und zeigen
alternative Hilfemöglichkeiten auf. Die Ausführungen zur Hauptkategorie „InformationsLücken-Füll-Strategien“ und deren Unterkategorie „Tür-Öffner-Strategien“ deuten jedoch
darauf hin, dass Gespräche durchaus einen manipulativen oder drohenden Charakter
annehmen können, welche mit dem Aushandlungsprinzip nicht vereinbar sind. Betroffene
erkennen diesen Charakter und kooperieren unter diesen Umständen teils nicht (ganz)
freiwillig oder setzen sich teils heftig dagegen zur Wehr. Bei einer drohenden oder
bestehenden Kindeswohlgefährdung steht der Kontrollaspekt im Vordergrund. Dies sollte
gegenüber den Betroffenen explizit gemacht werden. Die SPF-Organisation ihrerseits muss
sich bewusst sein, dass sie sich als „Informations-Lieferant“ ebenso im Spannungsfeld
zwischen Hilfe und Kontrolle befindet und dies gegenüber Familien ebenfalls transparent
machen muss. SPF-Organisationen möchten sich nicht als verlängerten Arm der
Vormundschaftsbehörde verstehen. Dies bedeutet, dass sich eine SPF als Erziehungshilfe
nicht für Kontrollfunktionen instrumentalisieren lassen darf. Sie muss Aufträge unter
Umständen ablehnen, wenn der Kontrollaspekt im Vordergrund zu stehen scheint. Dass eine
SPF-Organisation sowohl Kurzeinsätze als Abklärungsinstrument wie auch SPF als
Erziehungshilfe anbietet, erhöht die Gefahr, dass die Aspekte von Hilfe und Kontrolle
ungenügend reflektiert werden. Die Funktion einer Mitarbeiterin, eines Mitarbeiters einer
SPF-Organisation ist in einem Kurzeinsatz als Abklärungsinstrument eine andere als in einer
SPF als Erziehungshilfe. Während in einem Kurzeinsatz der Kontrollaspekt im Vordergrund
steht, sollte in der SPF die Hilfe zur Erziehung im Vordergrund stehen. Besonders bei einem
fliessenden Wechsel von einem Kurzeinsatz in eine SPF oder der genannten Mischform
muss dieser Aspekt besonders gut reflektiert werden.
Gesprächsführungskompetenzen:
Um diesen Ansprüchen Rechnung tragen zu können sind Kompetenzen in den Bereichen
Gesprächsführung und Mediation zentral. Das Mass in welchem Familienmitglieder am
Entscheidungsprozess partizipieren können, darf nicht von deren Artikulationsfähigkeit
abhängig sein oder gemacht werden. Es müssen beispielsweise entsprechende Kompetenzen für einen altersgerechten Einbezug von Kindern und Jugendlichen angeeignet
werden. Regelmässige Weiterbildungen in diesem Bereich, sowie regelmässige, qualitativ
hochstehende Supervisionen sind daher sowohl für hausinterne Rollenträger wie auch für
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von SPF-Organisationen zentral.
Klares Rollenbewusstsein:
Eine SPF-Organisation beantwortet gegen Ende des Kurzeinsatzes die gestellten Fragen
und gibt Empfehlungen über das weitere Vorgehen ab. Unter Umständen empfiehlt sie den
69
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Einsatz einer SPF. Wenn dieser Empfehlung zugestimmt wird, übernimmt in der Regel
dieselbe SPF-Organisation diesen Auftrag. Aus professioneller Sicht gibt es Gründe, die
sowohl für wie auch gegen eine solche Vorgehensweise sprechen. Es besteht die Gefahr,
dass sich ein Wechsel der Rolle als schwierig erweist und der Kontrollaspekt im Vordergrund
bleibt. Ausserdem können der SPF-Organisation ökonomische Interessen unterstellt werden,
wenn sie sich sozusagen selbst Aufträge zukommen lässt. Andererseits wurde womöglich
bereits eine gute Vertrauensbasis zwischen Familienmitgliedern und der Familienbegleitung
aufgebaut, sodass eine Weiterführung durch dieselbe Person für alle Beteiligte sinnvoll
erscheint. Diese Überlegungen müssen in einem konkreten Fall von den Auftraggeberinnen
und Auftraggebern und der SPF-Organisation sorgfältig reflektiert und nicht aus
Bequemlichkeitsgründen vernachlässigt werden.
Schriftliche Standards:
Die Fallanalyse zeigt, dass sich durch eine mehrjährige Zusammenarbeit eine Routine
zwischen „hausinternen“ Rollenträgern und der SPF-Organisation entwickelt hat. Eine
Vorgehensweise mit stark standardisiertem Charakter ist die Folge daraus. Verbesserungen
in der Zusammenarbeit resultierten in erster Linie aus Erfahrungslernen. Sich als geeignet
erwiesene Vorgehensweisen bleiben stark an die persönliche Expertise von einzelnen
hausinternen und hausexternen Rollenträgern gebunden, wenn entwickelte Standards nicht
schriftlich festgehalten werden,
beispielweise in Form
von Manuals.
Ohne eine
Verschriftlichung besteht die Gefahr, dass mit einem Wechsel von Rollenträgern dieses
Wissen verloren geht. Diese schriftliche Fixierung von Verfahrensstandards sollte in
Zusammenarbeit mit den SPF-Organisationen erfolgen. In Deutschland gibt es zahlreiche
wissenschaftliche Untersuchungen, welche zum Teil im Handbuch Kindeswohlgefährdung
(vgl. Kindler et al., 2006) berücksichtigt sind. Der Einbezug solchen Wissens könnte
sicherlich auch zur Verbesserung der schweizerischen Praxis beitragen.
Einbezug wissenschaftlicher Erkenntnisse:
Die Fallanalyse hat zudem gezeigt, dass die Gewinnung von stichhaltigen Informationen zu
einer familiären Situation eine grosse Herausforderung darstellt. Nebst dem Beizug von
externen Fachpersonen berufen sich interne Rollenträger in erster Linie auf ihre persönliche
Expertise im Fallverstehen. Hierbei besteht die Gefahr, dass Wahrnehmungen durch eigene
Werthaltungen verzerrt werden. Es existiert eine Reihe von wissenschaftlichen Erkenntnissen, welche wichtige Hinweise darüber geben können, welche Informationen wie
eingeholt und ausgewertet werden können zur Steigerung der Entscheidungssicherheit (vgl.
z.B. Kindler, 2007). Die stark eingeschränkten zeitlichen Ressourcen von Rollenträgern des
Vormundschaftswesens und der Sozialen Dienste weisen darauf hin, dass Zeitgefässe zur
70
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Reflexion der eigenen Vorgehensweisen und zur Recherche und somit dem Einbezug von
wissenschaftlichen Erkenntnissen zu wenig vorhanden sind. Die Notwendigkeit solcher
Zeitgefässe zugunsten einer professionellen Arbeit müssten in der Organisationsgestaltung
berücksichtigt werden.
8.3.
Offene Fragen und Hypothesen
Einzelne Gemeinden der Ostschweiz informieren zurzeit auf ihren Websites oder durch
Zeitungsartikel die Bevölkerung über die bevorstehenden Gesetzesänderungen und
verkünden, dass sie regionale Lösungen anstreben (vgl. z.B. Widmer, 2010). Aus den
geführten Interviews ist zudem zu entnehmen, dass die zukünftige Funktion von
Amtsvormundschaften, bzw. die Rolle der heutigen Trägerinnen und Trägern von
gesetzlichen Mandaten noch nicht geklärt ist mit dem neuen Recht. Die Kantone und
Gemeinden sind, wie in Kapitel 1 erwähnt, sehr frei in der Umsetzung des neuen Kindesund Erwachsenenschutzrechts. Das neue Recht schreibt vor, dass Massnahmen in Zukunft
massgeschneidert sein müssen mit klaren Aufträgen an die Mandatsträgerinnen und
Mandatsträger. Die Fallanalyse hat gezeigt, dass gerade das Stellen von konkreten Fragen
bzw. das Formulieren von klaren Zielsetzungen, auf der Grundlage von unvollständigen
Informationen zu einer familiären Problemlage oder kindlichen Verhaltensauffälligkeiten, eine
grosse Herausforderung darstellt. Im Spruchkörper soll die Soziale Arbeit vertreten sein. Es
stellen sich folgende Fragen:
Welche Rolle sollen oder müssen Professionelle der Sozialen Arbeit in diesem
Spruchkörper übernehmen und mit welchen spezifischen sozialarbeiterischen und
sozialpädagogischen Kompetenzen müssen sie ausgerüstet sein, um ihre Aufgaben
professionell wahrnehmen zu können?
Welche neuen Angebotsformen müssen SPF-Organisationen entwickeln, wenn das neue
Kindes- und Erwachsenenschutzrecht in Kraft getreten ist?
Aufgrund dieser Überlegungen und Fragestellungen lassen sich nun begründete Hypothesen
aufstellen:
Bei der Umsetzung des neuen Rechts werden sich wiederum unterschiedlichste Praxen
entwickeln.
Die zukünftige Kindesschutz-Praxis wird stark von den Rollenträgern abhängig sein,
welche die verschiedenen beruflichen Positionen besetzen werden.
Professionelle Behörden werden für Abklärungen aufgrund der Grösse des Einzugsgebiets ebenfalls auf externe Dienstleister angewiesen sein.
71
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
SPF-Organisationen werden den Kurzeinsatz als Abklärungsinstrument in ihrer Angebotspalette beibehalten oder weiter ausdifferenzieren für verschiedene Abklärungskontexte.
Massgeschneiderte Lösungen stellen zur weiteren Etablierung der SPF gegenüber den
heutigen Standardmassnahmen einen Vorteil dar, da eine SPF als Erziehungshilfe eine
solche massgeschneiderte Lösung darstellen kann.
SPF-Organisationen als private Dienstleistungsunternehmen entwickeln weitere sozialpädagogische Angebote, zum Beispiel für weitere Klientinnen- und Klientengruppen
nebst Familien mit Kindern und Jugendlichen.
Professionelle der Sozialen Arbeit, welche im Spruchkörper vertreten sind, kennen die
SPF als mögliche Intervention und ihre Arbeitsweisen und setzen sie deshalb in Zukunft
gezielt ein, auch für präventive Massnahmen.
Aufgrund der Professionalisierung entwickeln sich vermehrt Standards, welche Familien
mit welchen Problemstellungen einen Anspruch auf SPF haben und wie die SPF
finanziert werden kann.
Diese Hypothesen können zum Gegenstand zukünftiger Forschungsbemühungen gemacht
werden, sowie den Fachdiskurs während des Umwandlungsprozesses vom alten zum neuen
Recht anregen.
8.4.
Anschlussfähigkeit an theoretische Diskurse der Sozialen Arbeit
Die Thematik der vorliegenden Master-Thesis-Arbeit lässt vielfältige Bezüge zu theoretischen Diskursen der Sozialen Arbeit als Disziplin und Profession zu. Teil I dieser Arbeit wie
auch die Ergebnisse der Fallanalyse im Teil II eröffnen Themen, welche an einige
professionstheoretische Diskurse besonders anschlussfähig sind.
Es sind Professionelle der Sozialen Arbeit, welche Mandate im Rahmen des zivilrechtlichen
Kindesschutzes führen. Professionelle der Sozialen Arbeit sind auch Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter von SPF-Organisationen. Mit Einführung des neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrechts werden zukünftig auch Professionelle der Sozialen Arbeit Mitglieder im
„Spruchkörper“ der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde sein. Es wird davon
ausgegangen, dass dies zu einer Professionalisierung der Praxis führen wird. Familien mit
Kindern werden im Rahmen des zivilrechtlichen Kindesschutzes zu Adressatinnen der
Sozialen Arbeit. Es muss danach gefragt werden, was das spezifisch sozialarbeiterische
bzw. sozialpädagogische in der Arbeit mit Familien mit Kindern ist und welche Qualität diese
Arbeit aufweisen muss, um als professionell zu gelten. Im aktuellen professionstheoretischen
72
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Diskurs des deutschsprachigen Raums wird der Frage, was professionelles Handeln
auszeichnet, anhand von empirischem Material kontrovers nachgegangen (vgl. Becker-Lenz,
Busse, Ehlert & Müller, 2009a). Empirisches Material gibt Aufschluss über die Anforderungen
der Praxis. Standards sollen nicht nur aus Theorie, sondern ebenfalls aus diesen
Anforderungen abgeleitet werden (vgl. Becker-Lenz et al., 2009b, S.10). Am empirischen
Material der vorliegenden Untersuchung kann aufgezeigt werden, dass die Bestimmung
dessen, was „der Fall“ bzw. das problematische daran ist, und weshalb eine Situation
eingetroffen ist, hohe Anforderungen an die Professionellen darstellen. Dies vor allem, da
Situationseinschätzungen und Entscheidungen auf unvollständiger Informationsgrundlage
getroffen werden müssen. Ein reflexiver Umgang mit Nicht-Wissen ist deshalb zentral für
eine förderliche Kooperationsbeziehung mit Adressatinnen und Adressaten und kann als
wesentliches Merkmal von professionellem Handeln in der Sozialen Arbeit angesehen
werden (vgl. Dewe, 2009, S. 106; Staub-Bernasconi, 2009, S. 38). Nach Dewe (2009) muss
wissenschaftliches Wissen immer fallspezifisch und kontextgebunden mobilisiert und
eingesetzt werden. Differente Wissensformen sind dabei reflexiv aufeinander zu beziehen.
Professionelles Handeln ist nach Dewe zudem daran gebunden, „in Interaktionen mit den
Adressaten
auf
der
Basis
eines
Arbeitsbündnisses
eine
Verständigung
darüber
herbeizuführen, was die je individuelle Problemkonstellation auszeichnet und was aus der
Sicht der Adressaten sozialer Arbeit eine angemessene Bearbeitung und Lösung der
Problemkonstellation sein könnte“ (Dewe, 2009, S. 105). Professionelle der Sozialen Arbeit
müssen Adressatinnen und Adressaten in diesem Prozess umfassende Partizipationsmöglichkeiten einräumen, wenn sie diesen Ansprüchen an professionelles Handeln gerecht
werden wollen. Arnold et al. (2008) fassen den Begriff Partizipation bewusst weit, da in der
Schweiz nicht gesetzlich festgehalten ist, welche Form von Partizipation in welcher Intensität
im Hilfeplanverfahren erwartet wird. Partizipation kann das blosse Informieren von
Adressatinnen und Adressaten über fachliche Überlegungen bis hin zur Mitwirkung
derselben im Entscheidungsprozess beinhalten (vgl. S. 102-103). Das empirische Material
der vorliegenden Untersuchung weist darauf hin, dass Adressatinnen und Adressaten
insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Mitwirkung nicht (immer) genügend am
Entscheidungsfindungsprozess partizipieren können. Die Forderung nach umfassenderen
Partizipationsmöglichkeiten von Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit kann auch
aus menschenrechtlicher Sicht begründet werden. Staub-Bernasconi (2009) nennt als
Interventionsort der Sozialen Arbeit den Schnittpunkt zwischen Individuum und Gesellschaft
sowie Probleme in sozialen Beziehungen. Als Wertbasis nennt sie die soziale Gerechtigkeit
und Prinzipien der Menschenrechte (vgl. S.31). Im Kapitel 3 wurde die explizite Orientierung
der Sozialen Arbeit an den Menschenrechten für die Thematik dieser Arbeit als zentral
73
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
beschrieben. Dass sich die Soziale Arbeit an den Menschenrechten zu orientieren hat,
scheint im Fachdiskurs eher unumstritten. Kontrovers diskutiert wird jedoch die Frage, ob die
Soziale Arbeit für sich in Anspruch nehmen darf, sich als „Menschenrechtsprofession“ zu
definieren (vgl. Staub-Bernasconi, 2008, S. 10). Zudem wird konstatiert, dass sich der
Diskurs um die Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession bislang vielmehr auf einer
Metaebene bewege und im beruflichen Alltag im konkreten Handeln von Professionellen der
Sozialen Arbeit von dieser Orientierung wenig bis nichts erkennbar sei (vgl. Kappeler, 2008,
S. 36). Dies kann auch dahingehend aufgefasst werden, dass die Rede um die Soziale
Arbeit als Menschenrechtsprofession in erster Linie einer Statusaufwertung und Etablierung
der Sozialen Arbeit als Profession zu dienen hat. Kerber-Ganse (2008) fragt danach, was die
Kinder- und Jugendhilfe Deutschlands gewinnt, wenn sie die Rechte von Heranwachsenden
als internationale Menschenrechte begreift und ihr Handeln an diesen reflektiert.
Professionelle der Sozialen Arbeit müssten entsprechende Trainings durchlaufen, um den
Verpflichtungen dieses Völkerrechts in ihrer täglichen Arbeit nachgehen zu können. Kinder
haben das Recht angehört und in ihrer Meinung berücksichtigt zu werden. Diese
übergeordneten Prinzipien haben deshalb durchaus eine Relevanz für das Alltagsleben (vgl.
S. 66-70). Entscheidungsträger könnten demnach das Kindeswohl nur achten, wenn sie
Kenntnisse über die entsprechenden Rechte eines Kindes haben und diese respektieren.
Dies ist ohne deren Mitwirkung nicht möglich (vgl. Kerber-Ganse, 2008, S. 70). Das
empirische Material der vorliegenden Fallanalyse zeigt auf, dass sich Rollenträger in einem
Spannungsverhältnis zwischen Hilfe und Kontrolle befinden. Professionelle der Sozialen
Arbeit müssen dieses aushalten und einen Umgang damit finden. Geraten sie durch den
Kontrollaspekt stark unter Druck, kann dieser Umstand zu einer eingeschränkten
Partizipation von Erziehungsberechtigten und ihren Kindern führen. Dieses Spannungsfeld
der Hilfe und Kontrolle, in welchem sich die Soziale Arbeit konstitutiv befindet, beeinflusst
also die Gestaltung von Arbeitsbündnissen mit Adressatinnen und Adressaten. Köngeter
(2009) zeigt auf, dass sich gerade im Bereich der ambulanten Hilfen zur Erziehung nach
dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) unterschiedliche Graubereiche zwischen Hilfe
und Kontrolle ergeben (vgl. S. 180). Hierzu wird kontrovers diskutiert, ob sich die Soziale
Arbeit diesem Spannungsfeld entziehen kann oder nicht, bzw. ob die Gestaltung eines
Arbeitsbündnisses in Zwangskontexten überhaupt möglich ist (vgl. Wigger, 2009, S.143). Die
Fallanalyse der vorliegenden Untersuchung hat hierzu gezeigt, dass auch unter einem
Zwangskontext ein positives Arbeitsbündnis zwischen einer Sozialpädagogischen Familienbegleiterin bzw. einem Sozialpädagogischen Familienbegleiter und betroffenen Familienmitgliedern aufgebaut werden kann, sofern diese für sich vorteilbringende Aspekte der
Begleitung erahnen oder entdecken bzw. ihre Bedürfnisse- und Interessen in den
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Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
Zielvereinbarungsgesprächen artikulieren können. Es wäre im Weiteren zu untersuchen,
inwieweit dabei das Handeln von Professionellen von organisatorischen Rahmenbedingungen beeinflusst wird (vgl. Dewe & Otto, 2010, S. 205). Heiner (2007) fasst die
theoretische Diskussion zum Verhältnis von Profession und Organisation zusammen und
hält fest, dass Professionalität sowohl von individueller Handlungskompetenz wie auch von
der Leistungsfähigkeit einer Organisation abhängig ist (vgl. S. 203 + 214). Dewe und Otto
(2010) sprechen sich für eine Flexibilisierung der Organisationsformen aus, da nur so neue
Arbeitsformen und Handlungsmuster realisiert werden könnten (vgl. S. 199). Die SPFOrganisation als private Dienstleistungsorganisation legt in ihren Arbeitsformen einen
Schwerpunkt auf die Nutzerpartizipation. In der vorliegenden Untersuchung hat sich gezeigt,
dass sie ihre Angebote dem Bedarf von Organisationen des zivilrechtlichen Kindesschutzes,
aber auch von Adressatinnen und Adressaten anpasst.
75
Master-Thesis-Arbeit
Simone Hengartner Thurnheer
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Master-Thesis-Arbeit
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Anhangsverzeichnis
Anhang 1: Erwähnte Artikel des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB)
Anhang 2: Erwähnte Artikel der UNO-Kinderrechtskonvention (KRK)
Anhang 3: Erwähnte Artikel des Sozialgesetzbuches (SGB) - Achtes Buch (VIII)
Anhang 4: Leitfaden für die Aufnahme von Mitgliedern im SPF-Fachverband
Anhang 5: Leitfaden für Einzelnterview Nr. 020910
Anhang 6: Leitfaden für Gruppendiskussion Nr. 221010
84
Anhang 1
Erwähnte Artikel des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB)
Art. 2961
A. Voraussetzungen
I. Im Allgemeinen
1
Die Kinder stehen, solange sie unmündig sind, unter elterlicher Sorge.
2
Unmündigen und Entmündigten steht keine elterliche Sorge zu.
Art. 3071
C. Kindesschutz
I. Geeignete Massnahmen
1
Ist das Wohl des Kindes gefährdet und sorgen die Eltern nicht von sich aus für Abhilfe oder
sind sie dazu ausserstande, so trifft die Vormundschaftsbehörde die geeigneten
Massnahmen zum Schutz des Kindes.
2
Die Vormundschaftsbehörde ist dazu auch gegenüber Kindern verpflichtet, die bei
Pflegeeltern untergebracht sind oder sonst ausserhalb der häuslichen Gemeinschaft der
Eltern leben.
3
Sie kann insbesondere die Eltern, die Pflegeeltern oder das Kind ermahnen, ihnen
bestimmte Weisungen für die Pflege, Erziehung oder Ausbildung erteilen und eine geeignete
Person oder Stelle bestimmen, der Einblick und Auskunft zu geben ist.
Art. 3081
II. Beistandschaft
1. Im Allgemeinen
1
Erfordern es die Verhältnisse, so ernennt die Vormundschaftsbehörde dem Kind einen
Beistand, der die Eltern in ihrer Sorge um das Kind mit Rat und Tat unterstützt.
2
Sie kann dem Beistand besondere Befugnisse übertragen, namentlich die Vertretung des
Kindes bei der Wahrung seines Unterhaltsanspruches und anderer Rechte und die
Überwachung des persönlichen Verkehrs.
3
Die elterliche Sorge kann entsprechend beschränkt werden.
Art. 3101
III. Aufhebung der elterlichen Obhut
1
Kann der Gefährdung des Kindes nicht anders begegnet werden, so hat die
Vormundschaftsbehörde es den Eltern oder, wenn es sich bei Dritten befindet, diesen
wegzunehmen und in angemessener Weise unterzubringen.
2
Die gleiche Anordnung trifft die Vormundschaftsbehörde auf Begehren der Eltern oder des
Kindes, wenn das Verhältnis so schwer gestört ist, dass das Verbleiben des Kindes im
gemeinsamen Haushalt unzumutbar geworden ist und nach den Umständen nicht anders
geholfen werden kann.
3
Hat ein Kind längere Zeit bei Pflegeeltern gelebt, so kann die Vormundschaftsbehörde den
Eltern seine Rücknahme untersagen, wenn diese die Entwicklung des Kindes ernstlich zu
gefährden droht.
Quelle: Schweizerische Eidgenossenschaft (o.J.). Schweizerisches Zivilgesetzbuch. Zugriff am 28.12.10 auf
http://www.admin.ch/ch/d/sr/210/index2.html
Anhang 2
Erwähnte Artikel der UNO-Kinderrechtskonvention (KRK)
Art. 3
(1) Bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder
privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder
Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der
vorrangig zu berücksichtigen ist.
(2) Die Vertragsstaaten verpflichten sich, dem Kind unter Berücksichtigung der Rechte und
Pflichten seiner Eltern, seines Vormunds oder anderer für das Kind gesetzlich
verantwortlicher Personen den Schutz und die Fürsorge zu gewährleisten, die zu seinem
Wohlergehen notwendig sind; zu diesem Zweck treffen sie alle geeigneten Gesetzgebungsund Verwaltungsmassnahmen.
(3) Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass die für die Fürsorge für das Kind oder dessen
Schutz verantwortlichen Institutionen, Dienste und Einrichtungen den von den zuständigen
Behörden festgelegten Normen entsprechen, insbesondere im Bereich der Sicherheit und
der Gesundheit sowie hinsichtlich der Zahl und der fachlichen Eignung des Personals und
des Bestehens einer ausreichenden Aufsicht.
Art. 4
Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs—, Verwaltungs- und sonstigen
Massnahmen zur Verwirklichung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte.
Hinsichtlich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte treffen die Vertragsstaaten
derartige Massnahmen unter Ausschöpfung ihrer verfügbaren Mittel und erforderlichenfalls
im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit.
Art. 9
(1) Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass ein Kind nicht gegen den Willen seiner Eltern
von diesen getrennt wird, es sei denn, dass die zuständigen Behörden in einer gerichtlich
nachprüfbaren Entscheidung nach den anzuwendenden Rechtsvorschriften und Verfahren
bestimmen, dass diese Trennung zum Wohl des Kindes notwendig ist. Eine solche
Entscheidung kann im Einzelfall notwendig werden, wie etwa wenn das Kind durch die Eltern
misshandelt oder vernachlässigt wird oder wenn bei getrennt lebenden Eltern eine
Entscheidung über den Aufenthaltsort des Kindes zu treffen ist.
(2) In Verfahren nach Absatz 1 ist allen Beteiligten Gelegenheit zu geben, am Verfahren
teilzunehmen und ihre Meinung zu äussern.
(3) Die Vertragsstaaten achten das Recht des Kindes, das von einem oder beiden
Elternteilen getrennt ist, regelmässige persönliche Beziehungen und unmittelbare Kontakte
zu beiden Elternteilen zu pflegen, soweit dies nicht dem Wohl des Kindes widerspricht.
(4) Ist die Trennung Folge einer von einem Vertragsstaat eingeleiteten Massnahme, wie
etwa einer Freiheitsentziehung, Freiheitsstrafe, Landesverweisung oder Abschiebung oder
des Todes eines oder beider Elternteile oder des Kindes (auch eines Todes, der aus
irgendeinem Grund eintritt, während der Betreffende sich in staatlichem Gewahrsam
befindet), so erteilt der Vertragsstaat auf Antrag den Eltern, dem Kind oder gegebenenfalls
einem anderen Familienangehörigen die wesentlichen Auskünfte über den Verbleib des oder
der abwesenden Familienangehörigen, sofern dies nicht dem Wohl des Kindes abträglich
wäre. Die Vertragsstaaten stellen ferner sicher, dass allein die Stellung eines solchen
Antrags keine nachteiligen Folgen für den oder die Betroffenen hat.
Quelle: Schweizerische Eidgenossenschaft (o.J.). Übereinkommen über die Rechte des Kindes. Zugriff am 28.
12. 10 auf http://www.admin.ch/ch/d/sr/0_107/
Anhang 3
Erwähnte Artikel des Sozialgesetzbuches (SGB) - Achtes Buch (VIII)
§ 1 Recht auf Erziehung, Elternverantwortung, Jugendhilfe
(1) Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung
zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst
ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
(3) Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere
1. junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und
dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen,
2. Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und
unterstützen,
3. Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen,
4. dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre
Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder
zu schaffen.
§ 27 Hilfe zur Erziehung
(1) Ein Personensorgeberechtigter hat bei der Erziehung eines Kindes oder eines
Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder
des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine
Entwicklung geeignet und notwendig ist.
(2) Hilfe zur Erziehung wird insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 gewährt. Art und
Umfang der Hilfe richten sich nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall; dabei soll das
engere soziale Umfeld des Kindes oder des Jugendlichen einbezogen werden. Die Hilfe ist in
der Regel im Inland zu erbringen; sie darf nur dann im Ausland erbracht werden, wenn dies
nach Maßgabe der Hilfeplanung zur Erreichung des Hilfezieles im Einzelfall erforderlich ist.
(2a) Ist eine Erziehung des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses
erforderlich, so entfällt der Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nicht dadurch, dass eine andere
unterhaltspflichtige Person bereit ist, diese Aufgabe zu übernehmen; die Gewährung von
Hilfe zur Erziehung setzt in diesem Fall voraus, dass diese Person bereit und geeignet ist,
den Hilfebedarf in Zusammenarbeit mit dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach
Maßgabe der §§ 36 und 37 zu decken.
(3) Hilfe zur Erziehung umfasst insbesondere die Gewährung pädagogischer und damit
verbundener therapeutischer Leistungen. Sie soll bei Bedarf Ausbildungs- und
Beschäftigungsmaßnahmen im Sinne des § 13 Abs. 2 einschließen.
(4) Wird ein Kind oder eine Jugendliche während ihres Aufenthaltes in einer Einrichtung oder
einer Pflegefamilie selbst Mutter eines Kindes, so umfasst die Hilfe zur Erziehung auch die
Unterstützung bei der Pflege und Erziehung dieses Kindes.
§ 36 Mitwirkung, Hilfeplan
(1) Der Personensorgeberechtigte und das Kind oder der Jugendliche sind vor der
Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe und vor einer notwendigen Änderung
von Art und Umfang der Hilfe zu beraten und auf die möglichen Folgen für die Entwicklung
des Kindes oder des Jugendlichen hinzuweisen. Vor und während einer langfristig zu
leistenden Hilfe außerhalb der eigenen Familie ist zu prüfen, ob die Annahme als Kind in
Betracht kommt. Ist Hilfe außerhalb der eigenen Familie erforderlich, so sind die in Satz 1
genannten Personen bei der Auswahl der Einrichtung oder der Pflegestelle zu beteiligen. Der
Wahl und den Wünschen ist zu entsprechen, sofern sie nicht mit unverhältnismäßigen
Mehrkosten verbunden sind. Wünschen die in Satz 1 genannten Personen die Erbringung
einer in § 78a genannten Leistung in einer Einrichtung, mit deren Träger keine
Vereinbarungen nach § 78b bestehen, so soll der Wahl nur entsprochen werden, wenn die
Erbringung der Leistung in dieser Einrichtung nach Maßgabe des Hilfeplans nach Absatz 2
geboten ist.
(2) Die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart soll, wenn Hilfe
voraussichtlich für längere Zeit zu leisten ist, im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte
getroffen werden. Als Grundlage für die Ausgestaltung der Hilfe sollen sie zusammen mit
dem Personensorgeberechtigten und dem Kind oder dem Jugendlichen einen Hilfeplan
aufstellen, der Feststellungen über den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die
notwendigen Leistungen enthält; sie sollen regelmäßig prüfen, ob die gewählte Hilfeart
weiterhin geeignet und notwendig ist. Werden bei der Durchführung der Hilfe andere
Personen, Dienste oder Einrichtungen tätig, so sind sie oder deren Mitarbeiter an der
Aufstellung des Hilfeplans und seiner Überprüfung zu beteiligen. Erscheinen Maßnahmen
der beruflichen Eingliederung erforderlich, so sollen auch die für die Eingliederung
zuständigen Stellen beteiligt werden.
(3) Erscheinen Hilfen nach § 35a erforderlich, so soll bei der Aufstellung und Änderung des
Hilfeplans sowie bei der Durchführung der Hilfe die Person, die eine Stellungnahme nach §
35a Abs. 1a abgegeben hat, beteiligt werden.
(4) Vor einer Entscheidung über die Gewährung einer Hilfe, die ganz oder teilweise im
Ausland erbracht wird, soll zur Feststellung einer seelischen Störung mit Krankheitswert die
Stellungnahme einer in § 35a Abs. 1a Satz 1 genannten Person eingeholt werden.
Quelle: Bundesministerium der Justiz (o.J.). Sozialgesetzbuch (SGB) - Achtes Buch (VIII) - Kinderund Jugendhilfe. Zugriff am 28.12.2010 auf http://www.gesetze-iminternet.de/sgb_8/BJNR111630990.html#BJNR111630990BJNG000104308
Anhang 4
Leitfaden für die Aufnahme von Mitgliedern im Fachverband Schweiz
Sozialpädagogische Familienbegleitung
Siehe unter:
http://spf-fachverband.ch/content/fachverband/documents/Leitfaden0309_000.pdf
Anhang 5
Leitfaden für Einzelnterview Nr. 020910
Kurze Selbstpräsentation des Rollenträgers: Funktion, Position innerhalb der Organisation,
Aufgabenbereich
Erzählstimulus:
Mich interessiert es, wie das genau abläuft, wenn das Vormundschaftsamt eine
Gefährdungsmeldung oder einen Hinweis erhält, dass es in einer Familie oder mit einem
Kind oder Jugendlichen Probleme gibt. Sie können ja vielleicht damit beginnen zu
beschreiben, woher solche Meldungen kommen können und was dann passiert, welches
dann die nächsten Schritte sind und welche Möglichkeiten und Varianten es bei diesen
schon gegeben hat. Erzählen Sie ruhig ausführlich, auch Details, und lassen Sie sich Zeit.
Ich werde Sie nicht unterbrechen. Für mich ist alles interessant, was für Sie wichtig ist.
Phase: Hinweis oder Gefährdungsmeldung:
Wo kommt ein Hinweis herein?
Wer gibt den Hinweis?
Woher kommt er?
Wann, zu welchem Zeitpunkt? Unter welchen Umständen?
Wer nimmt ihn entgegen?
Wie findet die Informationsübergabe statt?
Wieviel wird erzählt?
Warum fühlt sich jemand dazu verpflichtet?
Phase: Dem Hinweis oder der Meldung nachgehen oder nicht
Wer bearbeitet die Information?
Wer entscheidet bzw. wie wird entschieden, ob einem Hinweis nachgegangen wird?
Was geschieht damit genau?
Wie wird die Info weiterverarbeitet?
Wo wird dies gemacht?
Wann wird ein Hinweis weiterverfolgt, wann nicht?
Warum?
An wen werden Informationen weitergeleitet?
Wer ist für diese Entscheidung verantwortlich?
Phase: Abklärung der Situation
Wer klärt die Situation der Familie ab? Warum diese Person?
Wer kommt alles in Frage für diese Aufgabe, warum diese und keine anderen?
Was muss bei der Abklärung berücksichtigt werden?
Wo findet die Abklärung statt?
Warum wird diese Form gewählt?
Wieviele Infos sind nötig, um zu entscheiden ob es weiteren Handlungsbedarf gibt?
Welche Infos sind vor allem nötig dazu?
Bei wem werden notwendige Infos eingeholt?
Wird die SPF beigezogen, um die Situation genauer abzuklären? Wie?
Werden Empfehlungen der SPF berücksichtigt bei der Planung des weiteren
Vorgehens? Wie?
Phase: Verarbeitung der Informationen der Abklärung
Wer fasst Infos zusammen und auf welche Art und Weise?
Wer gibt sie an wen weiter und weshalb?
Wann muss der Fall weitergeführt werden, wann kann er bereits abgeschlossen
werden?
Wer entscheidet dies, aufgrund welcher Unterlagen?
Phase: Entscheidungsfindung (was weiter zu tun ist)
Wer hat Entscheidungskompetenzen?
Wer diskutiert mit wem und warum mit diesen Personen?
Wo findet der Entscheid statt?
Wann kann eine Entscheidung getroffen werden? Was braucht es dazu?
Wie gelangen entsprechende Personen zu einem Entscheid?
Was passiert, wenn nicht alle Personen mit dem Entscheid einverstanden sind?
Welche Kompetenzen haben Sozialarbeiter im Entscheidungsprozess?
Für welche Unterstützungsleistungen können überhaupt externe Dienstleister
herangezogen werden? Welche Tätigkeiten können / dürfen delegiert werden? Für
welche Unterstützungsleistungen werden grundsätzlich externe Dienstleister
herangezogen?
Wann wird der Einsatz einer sozialpädagogischen Familienbegleitung als sinnvoll
erachtet und wann eben genau nicht?
Wer entscheidet bzw. beurteilt dies aufgrund welcher Informationen?
Werden Empfehlungen der SPF berücksichtigt bei der Planung des weiteren
Vorgehens? Wie?
Fragen, welche zu jeder Phase des Prozesses gestellt werden können:
Welche verschiedenen Personen können an so einem Prozess beteiligt sein?
Welche Funktion/Rolle übernehmen die Behördenmitglieder?
Welche Funktion/Rolle übernimmt der Vormundschaftssekretär?
Welche Rolle spielen strukturelle / organisatorische Rahmenbedingungen?
Wird spezifisches sozialarbeiterisches und sozialpädagogisches Wissen im
Abklärungs- und Entscheidungsprozess eingesetzt?
Um welches sozialarbeiterische und sozialpädagogische Wissen handelt es sich
dabei genau?
Wird Bezug genommen auf konkrete Hilfsmittel wie Handbücher, Methoden o.ä.?
Welche Rolle übernehmen Professionelle der Sozialen Arbeit in diesem Prozess?
Erhebungsdaten nach Abschluss des Interviews:
Jahrgang:
Wohnort:
Kinder ja/nein:
Leibliche ja/nein:
Beruf:
Berufliche Tätigkeit:
Telefonnummer und Erreichbarkeit:
Geschlecht:
Anhang 6
Leitfaden für Gruppendiskussion Nr. 221010
Die Vorbereitung für die Gruppendiskussion orientiert sich an: Przyborski Wohlrab-Sahr,
2009, S. 109 – 115
Wichtige Kriterien für Durchführung:
Interventionen immer an die ganze Gruppe
Weitgehender Verzicht auf die Teilnehmerrolle, Zurückhaltung im Gespräch
Themenvorschläge ohne themenbezogenen Orientierungsrahmen
Demonstrative Vagheit, methodisch reflektierte Fremdheit
Anstossen detailreicher Darstellungen
Die Gruppe besteht aus drei Personen (Vormundschaftssekretär, Leiter Amtsvormundschaft
und Beistand, Sozialpädagogische Familienbegleiterin)
Vor der Eingangsfrage werden die Teilnehmer über Interviewform infomiert. Es wird ihnen
gesagt, dass es nichts ausmacht, wenn sie von meinem eingegebenen Thema abweichen,
ich werde sie nicht unterbrechen. Spannend ist, wenn sie insbesondere Bezug auf die zwei
untersuchten Fälle nehmen, sie können aber auch weitere Beispiele nehmen für die
Diskussion um Unterschiede / Kontraste aufzuzeigen.
Themenvorschlag ohne themenbezogenen Orientierungrahmen als Einstieg für selbstläufige
Diskussion:
Mich interessiert es, wie es zum Einsatz einer SPF kommen kann. Welche Erfahrungen
haben Sie da in Ihrer Zusammenarbeit gemacht?
Fragemodelle für immanente und
exmanente Nachfragen
Dahinter liegendes Erkenntnisinteresse
Wie erleben Sie die Zusammenarbeit?
Welche Wünsche oder Erwartungen haben
Sie an die Zusammenarbeit?
Welche Unterstützung bietet SPF?
Welche Form der Zusammenarbeit ist
sinnvoll?
Kriterien?
Indikatoren / Kriterien?
Für welche Interventionen ist SPF geeignet?
Bezug auf sozialarbeiterisches Wissen?
Wie merken Sie ob SPF eine Lösung sein
könnte?
Welches Wissen oder welche Hilfsmittel
erleben Sie als hilfreich?
Kennen Sie konkrete Hilfsmittel, wie
Diagnose-Tabellen oder Indikatoren-Listen?
Was halten Sie davon?
Indikatoren?
Sozialarbeiterisches Wissen?
Master in Sozialer Arbeit
Bern I Luzern I St.Gallen I Zürich
Persönliche Erklärung Einzelarbeit
Erklärung der Studierenden zur Master-Thesis-Arbeit
Studierende:
Hengartner Thurnheer, Simone
Master-Thesis-Arbeit:
Entscheidungszwänge im zivilrechtlichen Kindesschutz –
Die Bedeutung der Sozialpädagogischen Familienbegleitung
(SPF) als Hilfeleistung im Abklärungsprozess und / oder als
professionelle Intervention zur Abwendung einer drohenden
oder bestehenden Gefährdungslage
Abgabe:
13. Januar 2011
Fachbegleitung:
Prof. Sabine Makowka M.A.
Ich, obengenannte Studierende, habe die obengenannte Master-Thesis-Arbeit selbstständig
verfasst.
Wo ich in der Master-Thesis-Arbeit aus Literatur oder Dokumenten zitiere, habe ich dies als
Zitat kenntlich gemacht. Wo ich von anderen Autoren oder Autorinnen verfassten Text
referiere, habe ich dies reglementskonform angegebenen.
Ort, Datum:
Unterschrift:
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S. Hengartner Thurnheer