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Das Aktenkundige und die Dichtung Vivian Liska (Universität Antwerpen) Le poème porte sa voix au delà de l’entaille singulière Jacques Derrida, Schibboleth Derrida, Jacques, Schibboleth. Pour Paul Celan, Galilée, Paris 1987, S. 83. Bekanntlich erreichten zwei Männer, von denen der eine stark, aber blind und der andere lahm und schwächlich war, aber gut sehen konnte, das Gastmahl des Königs indem der eine, auf dem Rücken des anderen sitzend, den Weg wies, den der andere beging. Die Parabel der komplementären Unzulänglichkeiten hat einen glücklichen Ausgang und eine einsichtige Moral. Sie gehört in eine Welt, in der unversehrte Ganzheit die Norm und Gebrechen die überwindbare Ausnahme sind. Wenn angesichts der Zeugnisse des Massenmords Juristen nach dem Dichter rufen, damit er « Worte hergebe, für das, was geschah » Cf.Paul Celans Bremer Preisrede: “[Die Sprache] ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah.” In; Celan, Paul, Gesammelte Werke III, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983, S.186. während von Seiten der Literaten die Dichtung selbst der Barbarei angeklagt und von Dichtern – wie beredt auch immer - zum Verstummen verurteilt wird, weil sie dem Geschehenen nicht gerecht werden kann, dann erscheint anstelle der rettenden Komplementarität der sprachlose Abgrund einer beschädigten Zeit. Vom Eingeständnis der Grenzen des eigenen Diskurses, das gleichermassen im Ruf der Juristen nach dem Dichter und in der poetischen Forderung des « Gerechtwerdens » zum Ausdruck gelangt, erhoffen sich beide, Jurisprudenz und Poesie, den Vollzug jenes Sprechakts, der durch die eigene Selbstentmächtigung die Würde der jeweiligen Sprache wiederherzustellen vermag. Stark aber blind, oder gezwungenermassen sturblickend ist die Sprache der Justiz. Der allegorischen Blindheit der Justitia entsprechend, ist ihr Blickfeld gesetzmässig abgesteckt und vorgegeben, weil kodifiziert ist, was für sie als Beobachtung gelten darf. Ihre Stärke, das Schwert in der Hand, liegt in ihrer tatkräftigen Konsequenz. Auf folgerichtiges Handeln ausgerichtet, hat sie auch angesichts letztlich nicht vollends ersichtlicher, weil weder identifizierend nachvollziehbarer noch mitgefühlter Schuldzusammenhänge und Leiderfahrungen Urteile zu fällen, die Auswirkungen in der Wirklichkeit haben. Lahm und schwächlich, aber sehend ist die Sprache der Dichtung. Der nur scheinbar blinde Seher sieht tiefer und weiter, seiner einfühlenden Vorstellungskraft sind keine Grenzen gesetzt, doch bleibt sein Schauen zumindest unmittelbar folgenlos. Gerade deshalb jedoch ist es vielleicht ihm beschieden, offenzuhalten, was der Nachkommenschaft lebendig bleiben soll, während die Justiz ausgleichend und befriedend zum Abschluss bringt was gerichtet gehört um die verstörte Ordnung wiederherzustellen. Verstört und verstörend bleiben aber kann die Dichtung, wenn in ihr wie in Marie- Luise Kaschnitz’ Gedichtzyklus Zoon Politikon das Vergessene nicht angekündigt, aktenkundig und ad acta gelegt wird, sonder wenn es einbricht, Feiertags, und Rechenschaft verlangt, etwa aus dem Mund der Kinder, die am Morgen, und auch morgen noch aufstehen werden und aufständisch fragen, « Wie konntet ihr nur ? » Kaschnitz, Marie Luise, “Zoon Politikon.” In: Gesammelte Werke (GW) Bd. V, hg. Von Christian Büttrich und Norbert Miller, Insel, Frankfurt am Main 1981, S. 406-411, hier S. 406. Alle Zitate aus dieser Ausgabe. Erstveröffentlichung u.d.T. “Rauch und Nesseln”. In: Die neue Rundschau 75 (1964), S. 419-424. « Nun aber tagts »  Marie Luise Kaschnitz besuchte am 4. und 21. Dezember 1964 den Auschwitzprozess. Cf. “Ein Wörterbuch anlegen” – Marie Luise Kaschnitz zum 100. Geburtstag. Bearbeitet von Brigitte Raitz, Marbach am Neckar 2001 [Marbacher Magazin 95/2001], S. 42. In einem 1970 verfassten Rückblick auf das Jahr 1964 hält Kaschnitz ihre Eindrücke dieser Erfahrung fest. Sie schildert die nüchterne Ermittlung des Tatbestands anhand einer Lagerkarte, auf der « gewisse Entfernungen und gewisse Möglichkeiten, etwas gehört oder gesehen zu haben » gemessen wurden und beschreibt die Diskrepanz zwischen dem Zittern der Opfer im Zeugenstand und dem hoch- und übermütigen Verhalten der Angeklagten. Kaschnitz, “Die andern schienen noch immer die Herren zu sein” In: GW VII, S. 897-905, hier S. 905. Nach ihren eigenen Angaben entstand der Gedichtzyklus  Zoon Politikon  aus Anlass des Auschwitzprozesses. Cf. Fussnote 3. Der Zyklus kann in Analogie zur Bedeutung des Prozesses als einschneidender Akt der Selbstanklage gelesen werden, die das Gerichtsverfahren im nationalen Selbstverständnis auch bedeuteten konnte, aber auch als kritische Reaktion auf das, was der Prozess aus Kaschnitz’ Sicht nicht leistete und aufgrund der spezifischen Einschränkungen des juristischen Diskurses vielleicht auch nicht leisten kann. Als mit dem Prozess einhergehender Akt der Selbstbezichtigung und der Bekenntnis eigener Verantwortlichkeit ist der Zyklus vor allem im Vergleich zu Kaschnitz’ 1945 erschienenem Essay mit dem Titel « Von der Schuld » zu lesen. Kaschnitz, GW VII, S. 69-74. Darin räumt sie zwar die « Notwendigkeit einer Besinnung, die wir selbst vollziehen » Ibid., S. 69. ein, fordert aber auch Verständnis für den Trotz der Deutschen gegen die « von der Geschichte aufgerufenen Zwischenrichter » der Siegermächte und die « ersten verächtlichen Vorwürfe » der Weltöffentlichkeit. Verständnis verlangte sie zu jener Zeit nicht nur für diesen Trotz, sondern, von den Richtern, auch für die Taten selbst. « Wer richtet », schreibt sie damals , « muss eine Ahnung haben von der Zerrissenheit einer Seele, von Todessehnsucht und Lebenswillen, von Grausamkeit und Traum. Und wenigstens einen schweigenden Augenblick lang muss er sich beugen vor der Macht des Unergründlichen, die so oft aller Vernunft und Sittlichkeit hohnzusprechen scheint und in welcher sich auf Kosten des Glücks und Ansehens von Generationen vielleicht auch ein zukunftsgebärdender Wille vollzieht.» Ibid., S. 74. Inmitten einer generellen Schuldbekenntnis mystifizieren und beschwören hier hochtrabende Worte eine dunkle Macht und einen mythischen Willen und verdunkeln die Verantwortlichkeit des Einzelnen und des Kollektivs. Erst angesichts dieser frühen, weitverbreiteten Nachkriegshaltung, von der bei Kaschnitz nur Spuren enthalten sind, wird die Radikalität des Zoon Politikon-Zyklus erkenntlich.   « Zoon Politikon », der Titel des Zyklus, verweist auf Aristoteles’ Bezeichnung für seine Auffassung des Menschen als von Natur aus geselliges Wesen, als gesellschaftliches Tier, als « politische Kreatur ». Der Terminus fungierte später oft zur Bestimmung des zwar teilweise durch Naturgesetze determinierten, aber dennoch verantwortlichen, schuldfähigen und bestrafbaren Subjekts. Der Begriff des Zoon Politikon kommt im Gedicht auf zweierlei Weisen zum Ausdruck: erstens als Dissonanz, indem Kaschnitz die an der chaotisch-harmonischen Naturordnung teilhabende, sinnlich erfahrende und leidende Kreatur Mensch dem zerstörerischen, waffentragenden und machthungrigen “politischen” Menschen gegenüberstellt, und zweitens als noch zu gebärender Träger gesellschaftlicher und politischer Verantwortlichkeit. In diesem letzteren Sinne streben die neun bedeutungsschwangeren, lose zusammenhängenden Teile des Zyklus der Geburt zum “Zoon Politikon” entgegen und bestimmen die Teilhabe der Dichtung an diesem Werden in ihrem Potential, die Gegenwart zu verstören, das Vergangene zu vergegenwärtigen und das Kommende zu gewahren. Kaschnitz’ Zoon Politikon wiederholt in unterschiedlichen und brüchigen Gewichtungen die ältesten Gesten der Poesie - Klage und Selbstanklage, Unkenruf und memento mori - und erneuert sie durch eine Zurücknahme ihrer Formelhaftigkeit im Selbstzweifel, durch Ungereimtheiten und Dissonanzen, Lakonik und Ellipsis, vor allem aber durch Realitätpartikel – allen voran der Name Auschwitz - die in den hohen Ton des Gedichts einbrechen, die verklärenden mythischen, biblischen und naturlyrischen Referenzen in das grelle Licht des Massenmords setzen und dort zur Rechenschaft ziehen. Ihre eigenen Anfänge in mythosbezogenen und naturverbundenen Schriften hinterfragend, entlarvt Kaschnitz die Gleichgültigkeit der Natur im Angesicht menschlicher Schuld und menschlichen Leids und klagt um die verlorene Harmonie von Kosmos und Anthropos. In Anspielungen und intertextuellen Assoziationen beschwört sie die abendländische Tradition, vom griechischen Olymp und dem neuen Testament zu den Volksliedern des Knaben Wunderhorn, von Hölderlin zu Brecht und Paul Celan. Skandiert werden diese Verweise von Alpträumen und Weckrufen, von Bildern der Gefangenschaft, des Gejagtseins und des Massenmords, von Geständnissen und Mahnungen, von letzten Fragen und Aufforderungen zu Besinnung, Busse und Bekenntnis. Registerschocks, autobiographische Reminiszenzen traumatischer Schulderfahrungen und realpolitische Spezifika brechen in den poetischen Duktus ein wie das Vergessene am Feiertag. Feiertags Kommt das Vergessene Auf Hahnenfüssen mit Sporen Die ritzen mir ins Parkett Ein Schnittmuster, so Wird uns zugeschnitten Das Nesselhemd Wenn die Wand Rosentapete sich auftut Und ausstösst die Bettlade voll Von gemergelten Judenköpfen Wenn durch den versiegelten schön Glänzenden Estrich hinausdrängt Nichts. Nur ein Rauch Stinkender. So Werden wir eingekleidet In das was uns zukommt Wenn die Kinder aufstehen fragen Wie konntet ihr nur In Rauch und Nesseln Besonders am Feiertag. Analog zur symbolischen Bedeutung der Auschwitzprozesse beginnt der Weg des Zoon Politikon mit der Rückkehr des Vergessenen, doch anders als Kaschnitz’ Erfahrung des Gerichtsverlaufs, der zur Wahrung des juristischen Rahmens diese Rückkehr vermessend und verhalten zähmt und normalisiert, bricht in ihrem Gedicht das Verdrängte in aller Gewaltsamkeit in den Feiertag ein, bricht durch alle Schranken und Abgrenzungen hindurch, durch alle Einschränkungen des möblierten, biedermeierlich-bürgerlichen Interieurs. Der stinkende Rauch verbrannter Körper dringt aus allen Richtungen durch Wand und Boden, durch alle Fugen, Maskierungen und Tarnungen der Geruhsamkeit und der Beruhigung in die verlogenen Schutzräume ein. Er sprengt die Oberfläche des versiegelten Parketts und auch noch dessen Grundierung, den fugenlosen Estrich, und offenbart das unters Bett Gekehrte in seinem unverklärten Grauen. Nicht, wie Nietzsche’s grosse Gedanken auf Tauben- sondern auf Hahnenfüssen kommt das Vergessene und schlägt aus der semantischen Vielfalt des Pflanzennamens eine blutige Spur zwischen Naturwelt und Menschenschuld: Dem Hahnenfuss, einer brennenden Ranunkelpflanze, und seinen Blütensporen entspringen die Krallen kämpfender Hähne mit eisernen Sporen, die schmerzen. Mitten in den feiertäglichen Naturfrieden bricht aus der Polyvalenz der Bedeutungen die Gewalt des Vergessenen ein. Aus dem brennenden Hahnenfuss, entsteht das Büsserhemd, geschneidert nach jenem des Kentauren Nessus, das nach einer Schonzeit zu brennen beginnt, nicht abzustreifen ist und seinen Träger in Qualen verenden lässt. Das Hemd des Nessus wird in den darauffolgenden Versen zum Hemd aus Nesselstoff, aus dem Schneider ihre massgerechten Muster herstellen, und führt zurück zu den Nesseln, dem brennenden, giftigen Unkraut, das schon der Prophet Hosea den Sündigern androht: “Nesseln werden wachsen … und Dornen in ihren Hütten”. Hosea (9:6) Und ihnen gleichzeitig verkündet, dass sie “sein werden … wie der Rauch von dem Schornstein” Hosea (13:4), denn “die Zeit der Heimsuchung ist gekommen, die Zeit der Vergeltung.” “Was”, fragt Hosea an dieser Stelle, “wollt ihr alsdann an den Jahrfesten und an den Feiertagen des Herrn tun?” Hosea (9:7) Mit den Worten des Hosea kleidet Kaschnitz sich und jene, die sie in ihrem “Wir” als Mitbüssende miteinbezieht, in Nesseln und Rauch, doch ist dieser bei ihr kein Sinnbild einer angedrohten Vergänglichkeit sondern die Rückkehr des Vergangenen, der wirkliche, stinkende Rauch des verdrängten Judenmords. Die Anrufung der apokalyptischen Drohung des Hosea und seine Frage, wie der Schuldige den Feiertag des Herren begehen könne, durchkreuzt eine andere, erkenntlichere Anspielung, jene auf Hölderlins “Wie wenn am Feiertage…” Hölderlin, Friedrich, “Wie wenn am Feiertage …”. In: Hölderlin, Friedrich, Gedichte, Reclam, Stuttgart 1963, S. 128-130. Alle Zitate aus dieser Ausgabe., von dessen Anfangsversen Kaschnitz auch den Morgen nach der Sturmnacht und die Struktur des “Wie wenn … so” übernimmt, doch folgt bei ihr kein “so stehn sie unter günstiger Witterung” und nicht, wie bei Hölderlin, die Ahnung der kommenden Erlösung. Vielmehr ensteht aus der Kreuzung der Hölderlinschen Hymne mit der Hoseanischen Prophetie die Zeugung des “Zoon Politikon.” Hölderlins Gedicht gipfelt in der frohen Verkündung : « Jetzt aber tagts ». Das Gewitter ist vorüber und die göttlich schöne Natur erscheint in vollem Glanz, und was der Dichter sieht, « das Heilige sei [s]ein Wort /… und was zuvor geschah, doch kaum gefühlt, ist offenbar erst jetzt ». Auch in Kaschnitz’ Gedicht tagt es, doch der Morgen offenbart keine Weltherrlichkeit und keine Wiederkunft der Götter sondern das Grauen der « gemergelten Judenköpfe », das aus der für Kissen und Decken bestimmten Bettlade ausgestossen wird. Dieser Vers, der genau den Mittelpunkt des Gedichts bildet, schreibt das Verdrängte in die Mitte des Feiertags ein und bildet die Axe der chiastischen Struktur des lyrischen Gebildes. Es führt vom ersten Wort, « Feiertags » zum letzten, « am Feiertag », und formt einen geschlossenen Zirkel, in den das Grauen eingebrochen ist und eingeschrieben bleibt. Denn die an sich befriedende, zum Gleichen zurückkehrende Struktur des Chiasmus ist hier nur scheinbar abgeschlossen: Durch die Zäsur, die durch seine Mitte geht, ist der immer wiederkehrende Zeitbegriff der syntaktischen Form « Feiertags » zum bestimmten Singular « am Feiertag », zur einmaligen und einschneidenden Offenbarung der verdrängten Greuel geworden. In diesem Sinn ist dem gesamten Zyklus, von Anklängen an Frühe, Aufstehen und Morgenrot in den ersten Versen zur Abendstimmung im letzten Gedicht, der Verlauf eines einzigen Tages eingeschrieben. [Dieser Einschnitt datiert in Kaschnitz’ Gedicht zwar eine einmalige Begebenheit, die Rückkehr einer bestimmten Vergangenheit, bezeichnet aber dennoch kein Abgeschlossenes. Vielmehr eröffnet er die Wahrnehmung erneuter Gewalt. Wie im ersten Vers des zweiten Gedichts von Zoon Politikon, « Trommeln sind die Begleiter des Morgenrots » erwacht auch bei Hölderlin die Natur in der Morgenröte « mit Waffenklang ». Während jedoch Hölderlin damit die nahende Rettung ankündigt, bedeuten Kaschnitz’ Trommeln des Morgens die Ahnung neuer Kriege und führen, über Anklänge an Grass und Brecht, zur Warnung: Wehret den Anfängen, sie sind nah.] [Wiederholt steht in Zoon Politikon die rhetorische Figur des durchkreuzten, unterbrochenen oder aufgebrochenen Chiasmus für eine poetische Aufforderung, das Geschlossene, zu sich selbst zurückkehrende, mit sich Versöhnte zu verweigern. In der expliziten Schuldbekenntnis « Vom Übel sein./ Wir sind’s./ Wir sind vom Übel », mit der das dritte Gedicht endet, geschieht dieser Eingriff durch eine Wiederholung und Transformation des ersten und letzten Worts, « Vom Übel ». Die unpersönliche, quasi metaphysische Existenz des Bösen in der ersten Wendung, « Vom Übel sein », wird von einem « Wir » übernommen und mündet in ein zwar gleichlautendes, aber nunmehr personalisiertes Geständnis der Schuld, die das « Wir » im vergegenwärtigenden Vollzug des poetischen Sprechakts buchstäblich auf sich nimmt.] Eine erste, in Zoon Politikon erwirkte Leistung der Dichtung liegt in der sprachlichen Gestaltung der Gewalt, mit der das Verdrängte zurückkehrt, jeden Rahmen und jede Geschlossenheit sprengt und den Aufruf zu einer neuen Wachsamkeit hervorbringt. Noch ausdrücklicher im Gegensatz zu Kaschnitz’ Erfahrung des Gerichtsverfahrens und der Methoden der Justiz steht ein weiteres Potential des poetischen Diskurses: die emphatische, emotionale und sinnliche Vergegenwärtigung der Vergangenheit aus Perspektiven, die dem juristischen, auf Rekonstruktion und neutralisierte Protokollierung angelegten Verfahren verwehrt sind. « Alles nicht aktenkundig »  Alles nicht aktenkundig Nicht der Angstschrei im Bahnhofsgelände Nicht das Schluchzen gefangener Kinder Unterm Kanalgitter Dennoch Leg dich nicht schlafen Registriere Verlust um Verlust Und hinter Alleebäumen wieder Langrohrig kriechen die Panzer Ich weiss, du weisst er weiss Die Erde dreht sich Ein dauerhaftes Gefährt Mit ihren Kerkern Blutbestickten Fahnen Ihren schönblühenden Bäumen Voll Vogelgezwitscher Aus der Sonne in den Schatten Aus dem Schatten in die Sonne Du Dennoch Leg dich nicht schlafen « Alles nicht aktenkundig », der erste Vers dieses fünften, also zentralen Gedichts des Zyklus, ist dessen eindringlichstes Echo der Sprache des Gerichts und verweist implizit auf die Grenzen der juristischen Mittel, das Gewesene aus der Sicht der Opfer als Erlebtes und Erlittenes erfahrbar zu machen. Die ersten drei, in einen emphatischen Apell zur Wachsamkeit mündenden Strophen, rufen jeweils eine andere Perspektive auf, die dem gerichtlich Protokollierbaren verwehrt ist: die leidende Innensicht der Opfer, die politische Weitsicht auf das Weltgeschehen und die kosmische Fernsicht ontologisch-metaphysischer Zusammenhänge. Die Erörterung und Aufnahme der Tatbestände im Gerichtssaal dienen einer Rekonstruktion des Vergangenen. Sie blenden die erfühlte Wahrnehmung des Leids der Opfer aus und neutralisieren die Anteilnahme an ihrer Qual. Die Vergegenwärtigung von Angst und Schmerz, die in der nüchtern beschreibenden Sprache der Legislatur abgestumpft ist oder verschwindet, wird im Gedicht in der pathetischen Syntax der invertierten, wiederholten Verneinung im Zusammenspiel mit den Alliterationen von « a » und « u » Lauten wiedergegeben und in der Emphase « Alles nicht aktenkundig » zum Wesentlichen überhöht. Ebensowenig wie dieses Leiden findet die Ahnung neuer Gefahren und Gewaltakte in der Gegenwart Eingang in die Akten. Die « kriechenden » Panzer, die « hinter Alleebäumen wieder » hervorkommen und die politische Dimension dieser Verse einbringen, sind bedrohlichen Tieren angeglichen und mit der metaphysischen Vision der indifferenten Naturordnung verbunden, die das Bild der sich gleichmässig und unbetroffen weiter drehenden Erde «aus der Sonne in den Schatten, aus dem Schatten in die Sonne » zum Ausdruck bringt. Doch nicht dieser geschlossene Chiasmus beendet das Gedicht, sondern ein Aufruf zur Wachsamkeit, der aus dem mörderischen Kreislauf herausfällt und ihm entgegensteht. Mit den Worten « Du/Dennoch/leg dich nicht schlafen » wiederholt Kaschnitz das in einem anderen Vers aus Zoon Politikon explizit benannte christliche Motiv der Jünger, die schliefen anstatt in seiner letzten Nacht mit Christus zu wachen und ihm in seinem Leiden beizustehen. Sie wendet dieses Motiv, das die deutsche Dichtung von der Eichendorffschen Warnung vor den dunklen Mächten der Nacht «Hüte dich, bleib wach und munter» Eichendorff, Joseph v., “Zwielicht”. In: Eichendorff, Gedichte, Reclam, Stuttgart 1972, S. 5. bis zu den unheilsschwangeren Worten von Celans frühem Gedicht Notturno, « Schlaf nicht, sei auf der Hut » Celan, Paul, “Notturno”. In: Celan, Paul, Gedichte 1938-1944, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985, S. 56. durchzieht, in einen Aufruf zur politischen Wachsamkeit : Ich, du, er weiss, dass hinter der Illusion des Friedens die Gefahr neuer Kriegsgewalt lauert. Diese Abfolge der Singularpronomen betont die Iterabilität des im Gedicht angesprochenen Du und ruft gleichzeitig zur individuellen Verantwortlichkeit auf, indem es jedes künftige « Wir wussten nicht » Lügen straft. Der Gerichtssprache entnimmt das Gedicht auch den Imperativ « Registriere / Verlust um Verlust», verbindet ihn jedoch unmittelbar mit dem - in der juristischen Ermittlung im Prinzip unzulässigen - Verweis auf gegenwärtige politische Gefahren. Zwei Mal wiederholt Kaschnitz ihren Aufruf zur Wachsamkeit, zweimal evoziert das Gedicht einen trügerischen Scheinfrieden. Einmal folgt das « Dennoch/ Leg dich nicht schlafen » auf die Feststellung, dass das Leid der Opfer « nicht aktenkundig » ist, das zweite Mal auf die Beschreibung der gleichgültigen Naturordnung. Wachsamkeit muss sich demnach gegen jene verklärte Beruhigung behaupten, die für Kaschnitz auf der Unzulänglichkeit des Protokollierten beruht, in die Gleichgültigkeit der Welt einzugreifen.] Der Regel- und Gesetzmässigkeit von Justiz und Natur entgegnet Kaschnitz mit ihrem Apell an ein individuelles Du, den falschen Beruhigungen zu trotzen und, im Sinne des « Dennoch », den chiastischen Kreislauf zu sprengen. [Ähnlich endet das sechste Gedicht, das von autobiographischen Reminiszensen durchzogen ist und in dem die Offenbarung des Schreckens in eine wohlanständige Welt der Wollmäntel, Krawatten und guten Geschäfte einbricht, mit einem Chiasmus, der durch die Wirkung einer plötzlichen Assoziation durchkreuzt wird : Vor einer Wand Schwarz ohne Fenster Gezittert Vor der ohne Fenster Schwarzen Wand Eine zunächst noch unbestimmte Wand wird durch eine unerwartete assoziative Identifikation zu der Wand, der schwarzen Todeswand von Auschwitz. Das Gedicht beschreibt und vollzieht hier seine selbstgesetze Aufgabe einer alles durchdringenden Vergegenwärtigung des Vergessenen mit den Mitteln poetischer Anklänge und Verknüpfungen. Diese verleihen dem Vergangenen eine Präsenz, die nicht eingerahmt und dadurch nicht auf einen Bereich – etwa den Gerichtssaal – begrenzt ist, sondern ins Innere eindringt, wo es fortlebt, im Alltag mitgetragen wird und dort unerwartet und furchterregend hervorbricht.] “Ohne Netz” “Immer daran denken/ In Zusammenhang bringen.” Die Ubiquität der mitgetragenen Vergangenenheit verdankt sich in Kaschnitz’ Gedichtzyklus dem dichterischen Potential der sprachlichen Entgrenzung. Die Möglichkeit der Dichtung, unerwartete Assoziationen aufzurufen und Zusammenhänge zwischen fremden Bereichen zu schaffen, ist im achten Gedicht öffentlichen, pragmatischen Diskursen gegenübergestellt. Die Freiheit, ohne Raster und Regeln zu operieren wird dort zum Kriterium der poetischen Existenzberechtigung berufen. [Immer daran denken In Zusammenhang bringen. Fragen Zurücktreten Zurücktreten Abstand gewinnen Was Was sagen wir der Pressekonferenz Wenn der Begrabene die Glocke läutet In der Distanzierung – dem schrittweisen “Zurücktreten” – wird Rechenschaft zu Rechtfertigung. Die überraschende Vokabel der “Pressekonferenz” steht im Gegensatz zum darauffolgenden, religös gefärbten Bild des Begrabenen, der als Untoter zurückgekehrt ist, um im Läuten der Glocke seinen vergessenen, verdrängten Tod zu verkünden. Möglicherweise von der Umgebung der Auschwitzprozesse inspiriert, kontrastieren diese Verse den schauererregenden Glockenklang, der zu Besinnung und Bekenntnis aufruft, mit opportunistischen, fabrizierten Selbsterklärungen. Diese werden von den vorgegebenen Erwartungshaltungen und den abgesteckten Rahmenbedingungen gefördert, die jeder Institution, die von aussen Rechenschaft fordet, eigen ist. Dichtung durchkreuzt diese Erwartungen und sprengt diesen Rahmen, der auch dem Gerichtsverfahren unterliegt.] Dass sie auf nichts zurückfallen kann, ist der Preis für ihre grenzüberschreitende Freiheit und der Ursprung einer heldenhaften Artistenmetaphysik, die Kaschnitz gleichzeitig vergegenwärtigt und durchschaut: Wir arbeiten ohne Netz. Fliegen, umklammern uns Nüchterne Springer. Muskeln wie Eisen Zuckersüsse Musik Versäumnis tötet Im Gegensatz zur Justiz, die Grundgesetze und ein Parkett unter den Füssen hat, schwebt Dichtung frei wie Zirkusakrobaten, die lächerlich kraftprotzend und zuckersüss säuselnd ihre Sprachschau vorführen. Die subtile Mehrdeutigkeit von Kaschnitz’ Versen verknüpft allerdings die fatale poetische Versäumnis der Dichter-Akrobaten mit den Konsequenzen einer ethischen oder politischen Unachtsamkeit. Gerade weil Dichtung “ohne Netz” arbeitet und allein auf die eigene Präzision und Achtsamkeit angewiesen ist, wird ihr menschliches Versäumnis auch zum künstlerischen Verhängnis. Schon die letzten Verse des vierten Gedichts stellen die Dichtung selbst und die von ihr Angesprochenen vor einen Abgrund und verbinden den Tod in den Massengräbern von Auschwitz mit der Aufforderung, sich selbst zu exponieren und diesem Tod allen Gefahren zum Trotz dichterisch gerecht zu werden. Nackt vor der Grube Woran erinnert dich das? Zu verstehen ist nichts. Geh. Weiter. “Ein Wort weiter” heisst der 1965 erschienene Gedichtband, in den Zoon Politikon aufgenommen ist. Die Aufforderung, die zunächst dem Appell gilt, auch ohne zu verstehen zu reagieren, richtet sich auch an die notorische Lahmheit des dichterischen Worts und ruft es dazu auf, weiter zu gehen, auch und gerade im Angesicht der Grauen, die hier bedacht sind, auch und gerade im Angesicht des damit verbundenen Risikos für die Dichtung. Ein Wort weiter geht dann auch das Ende des Gedichtzyklus. Meergrüner Wind in den Lärchen Chaotische Harmonie Am Rand der Schonung aller Unsichtbaren Die sich zujauchzen zutrillern schluchzen Während das Licht dir von den Fingern schmilzt Die Torkelschnepfe einfällt. Dann stufenweis dunkler Änderung der Tonart Sehnsüchtiger leiser. Abendtau Füsse im Nassgras Holzfällerfeuer gelöscht. Letzter noch einziger Liebesruf unentwegter Und Antwort waldinnen vom Kauz. Stern erster Venus. Dies All All dies und die Insel Zypern. Als wär’s zum letzten Mal, so schwingt sich Kaschnitz’ lyrische Stimme zunächst nostalgisch zur Lobpreisung einer ganz in romantische Begriffe gefassten Naturschönheit auf. Nur das Schluchzen, das weniger dem zwitschernden Vogelgesang zugeordnet werden kann als dem zuvor vergegenwärtigten Weinen gefangener Kinder, geht mit dem Schwinden der eigenen dichterischen Leuchtkraft einher. Stufenweise und wehmütig verabschiedet Kaschnitz sich von dieser Sprachwelt, nachdem sie noch einmal den Balzruf der Schnepfe, der immer erst am späten Abend erklingt, vom Nachtvogel beantworten lässt. Die letzten Spuren einer Tätigkeit das Menschen sind verschwunden. Seine nackten Füsse im nassen Gras lassen ihn als Zoon, in seiner ursprünglichen, kreatürlichen Gestalt erscheinen. Über diesem befriedeten Raum leuchtet noch einmal der “Stern erster Venus” auf – Natur, Antike und unschuldige Liebe - bevor Zoon Politikon in den letzten Worten zu sich kommt - und ein Wort weiter geht. Ein letzter meisterhafter Chiasmus schliesst den Zyklus. Und schliesst ihn nicht. “Dies All/ All dies und die Insel Zypern.” Die abendliche, naturlyrische Szenerie verlockender Vogelgesänge und im Liebesspiel aufgehender Gestirne mündet mit den Worten “Dies All” in einer feierlichen Geste umfassender Vereinigung, in der aus der Stern- und Vogelperspektive das Universum mitsamt der Erde noch einmal in seiner Einheit, in seiner ganzen, ganzheitlichen Herrlichkeit erstrahlt bevor die chiastische Umkehrung “all dies” es in seine einzelnen Teile zerfallen und das All, also die Ganzheit selbst, zu einem dieser Teile werden lässt. Aus dieser letzten Umstülpung, diesem letzten Bruch entsteht dann auch die Perspektive des Zoon Politikon: was folgt ist weder aus der individuellen Nahsicht noch aus der ekstatischen Vogelperspektive erkenntlich: Die Insel Zypern. Weder die Nähe, aus der das Schluchzen der Kinder vernommen werden kann, noch die Entfernung, aus der die sich unbekümmert weiter drehende Erde oder, gedanklich gewendet, das Böse im Menschen wahrzunehmen ist, sind als Politikum einzubringen: Aus beiden Perspektiven sind keine Unterscheidungen zu treffen, keine von ihnen bringt Zypern in den Blick. Zypern, dieses letzte, überraschendes Wort führt aus dem Chiasmus hinaus, bleibt sein nicht integrierbarer Rest. Er führt weiter, hinaus aus der herrlichen Ganzheit der Natur mit ihrem Vogelgesang und ihrer Liebe, aber auch weg aus der Vergangenheit, deren vergegenwärtigendes Eingedenken der Zyklus zum Anlass hatte, hinaus in die Gegenwart, in die Weltpolitik, in der, wie wir auch in Kaschnitz Rückblick lesen, 1964, also zur Zeit der Entstehung dieser Gedichte “die Unruhen auf der meergrünen Insel Zypern neue Opfer forderten”. Kaschnitz, GW VII, S. 902. Die Zypernkrise, der blutige Streit zwischen Griechen und Türken am Ende des von den Auschwitzprozessen inspirierten Gedichtzyklus. Zypern – das Wort weiter ? Das Wort zu weit? “Jenseits des singulären Einschnitts” Das Wort weiter, das dem Chiasmus entsteigt und die Geburt des Zoon Politikon aus dem Gedichtzyklus bezeugt, trägt die Wunde Auschwitz, die ihn zeugte, hinaus aus der Singularität des nationalsozialistischen Judenmords. Diesen Schritt geht das Gedicht in der konsequenten Absicht, der politischen Mündigkeit, zu der es aufruft, zu entsprechen. Tatsächlich könnte der einmalige Einschnitt, den Kaschnitz’ Vers “Warum ist seit Auschwitz nichts besser geworden beschwört, eine mythisierende Geste des Abschliessens bedeuten, wenn in ihm nicht schon seine Wiederholbarkeit angelegt wäre. Cf. Derrida, Schibboleth, S. 11-18; Hartman, The Fateful Question of Culture, S. 109-139 und Tholen, Georg Christoph, “Anamnesen des Undarstellbaren. Zum Widerstreit um das Vergessen(e)”. In: Weber, Elisabeth und Georg Christoph Tholen (Hrsg.), Das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren, Wien 1997, S. 225-238. Einen Schritt weiter, näher, tiefer und höher als das Aktenkundige will das Gedicht durchaus gehen. Doch “geht es” überhaupt? “Nackt vor der Grube/… Geh. Weiter.”, sagt uns, sagt sich das Gedicht vor dem Abgrund. Wohin, bleibt zu fragen, führte die Dichtung, diese Lahme, die blinde Justitia? Sind aus Kaschnitz’ Gedicht die Möglichkeiten der Dichtung – bleibende Verstörung, Innen-, Weit- und Fernsicht, Entgrenzung durch Assoziationen und Korrespondenzen – im Vergleich zu den Grenzen des juristischen Diskurses herauszulesen, so gilt es nunmehr, die Tragfähigkeit seines eigenen Anspruchs zu befragen. Wenn aus heutiger Sicht auch der Eindruck entstehen kann, Kaschnitz hätte die Botschaft, dass Auschwitz literarisch nur noch als Augenzeugenbericht, als auratische Leerstelle oder, jüngstens, als bittere Komödie erscheinen darf, eben noch nicht empfangen – Lacht nur/Lacht nicht” heisst es bei ihr - so ist der hohe Ton des Gedichts im damaligen Kontext zweifellos von Aufrichtigkeit und wahrer Bekenntnis zu Mitschuld und Verantwortlichkeit getragen. Problematisch – und einen Ruf nach dem Juristen herausfordernd - ist hingegen das Wort, sind die Worte, zu weit: Emphatische Verse wie “Keiner ist freizusprechen”, “Nichts ist zu verstehen”, “Alles nicht aktenkundig”, wohin führten sie, wörtlich genommen, wenn nicht in katzengraue Kollektivschuld, Mystifizierung des Massenmords und entwirklichende Beliebigkeit? Oder etwa die Eklektik der Referenzen des Bösen: “Warum hat die Grossmutter Schlangenköchin/ Das Fischlein gekocht?/ Warum haben die Jünger am Ölberg sich schlafend gestellt/ Warum ist seit Auschwitz nichts besser geworden?” Das Volkslied, die Bibel - und Auschwitz? Und führt die Negation jeglicher Rationalisierungsmöglichkeit nicht ins “Niemandsland des Verstehens”, verführt der Weg von Auschwitz nach Zypern nicht zu Wolfgang Bialas’ “Zappen durch die Katastrophen des Jahrhunderts”? (“Das, liebe Leser, liebe Zuhörer, liebe Zuschauer, war die Shoah. Kommen wir nun zu einem ähnlichen Ereignis dieses Jahrhunderts, das viele Menschen sicher in ähnlicher Weise bewegt…”). Bialas, Wolfgang, “Die Shoah in der Geschichtsphilosophie der Postmoderne”. In: Berg, Nicolas Jess Jochimsen, Bernd Stiegler (Hrsg.) Shoah. Formen der Erinnerung. Geschichte. Philosophie. Literatur. Kunst, Wilhelm Fink, München 1996, S.120. Ob und was von Auschwitz mit- und weitergetragen werden soll - das Böse als metaphysische Tatsache, das Eingedenken der gemergelten Judenköpfe als Opfer eines jahrhundertealten, eines ideologischen Antisemitismus, oder die Wachsamkeit für heutige Massenmorde, sollte unterscheidbar bleiben, ist es doch nicht nur von philosophischer, sondern auch von realpolitischer Bedeutung. Weder die Dichtung noch die Jurisprudenz hat hierzu schlüssige, abschliessende Antworten zu vergeben. Die Akten registrieren faktische Fragmente und geben, wie alles Konsensuelle, auch grundlegender kein Ganzes her. Wo die Justiz misst und wägt und ausgleicht um den Rahmen zu wahren und das Verstörte zu richten, riskiert Dichtung, zumindest jene der Marie Luise Kaschnitz in Zoon Politikon, mitsamt seiner gebrochenen Chiasmen, aufs Ganze zu gehen. In ihrem Drang zu Intensivieren, visiert sie nichts weniger als das Absolute an, doch - oder gerade dann - läuft sie Gefahr, auf der Strecke zu bleiben. Dass die Grenzen und Möglichkeiten beider Diskurse, des juristischen und des poetischen, wenn sie ins Gespräch gebracht werden, klarer erkenntlich sind, ist anzunehmen und wird hier noch zu zeigen sein. Dass sie jedoch gemeinsam, blind und lahm, das Gastmahl des Königs erreichen könnten, ist zu bezweifeln, denn es gibt, zumindest seit Auschwitz – oder nicht doch schon davor ? - kein Gastmahl mehr und keinen König. Sicher aber « kein Herz des Ganzen », wie Fritz Bauer es poetisch zu erreichen wünschte, kein Ganzes und kein Herz.  16