Fachartikel I DOI: 10.5675/HyWa_2014,6_1 Jensen et al.: Meeresspiegeländerungen in der Nordsee ...
HW 58. 2014, H. 6
Jürgen Jensen, Sönke Dangendorf, Thomas Wahl und Holger Stefen
Meeresspiegeländerungen in der Nordsee:
Vergangene Entwicklungen und zukünftige Herausforderungen mit einem Fokus auf die Deutsche Bucht
Sea level changes in the North Sea region: recent developments and future challenges with focus on the
German Bight
Im September 2013 ist der fünfte Sachstandsbericht des Weltklimarates (IPCC) erschienen. Zum ersten Mal beinhaltet der Bericht neben
den globalen auch regionale Projektionen für den zu erwartenden Meeresspiegelanstieg. Je nach Modell und Szenario deuten die Ergebnisse auf einen weiteren Anstieg des globalen Mittels von bis zu 98 cm bis zum Ende dieses Jahrhunderts relativ zur Referenzperiode
von 1986 bis 2005 hin. Vor allem für tieliegende Küstengebiete wie der deutschen Nordseeküste würde ein solcher Anstieg erhebliche
Anpassungen im Küstenschutz erfordern. Die Geschichte des Deichbaus bzw. des Küstenschutzes ist an der deutschen Nordseeküste
bislang durch Anpassungen bzw. Erhöhungen und Verstärkungen der Küstenschutzmaßnahmen als Reaktion auf steigende SturmlutWasserstände geprägt. Diese Strategie hat sich in den vergangenen Jahren im Zuge der Diskussionen zum Klimawandel/Meeresspiegelanstieg in Richtung eines vorbeugenden Schutzniveaus verändert und muss insbesondere in den nächsten Jahrzehnten weiter entwickelt werden.
In diesem Beitrag wird der aktuelle Stand der Forschung zu Meeresspiegeländerungen in der Nordsee zusammengefasst. Neueste Erkenntnisse werden erläutert und daraus resultierende Herausforderungen und Aufgaben diskutiert. Auf geologischen Zeitskalen wird
der mittlere Meeresspiegel (MSL) in der Nordsee vor allem von tektonischen Prozessen beeinlusst. So überstieg der MSL in der späten Kreidezeit (vor ca. 80 Millionen Jahre) die heutigen Werte um 100 bis 300 m. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verzeichnen die
Anstiegsraten des MSL nach einer relativ stabilen Phase über die vergangenen 2000 Jahre eine Beschleunigung. Seit Beginn des 20.
Jahrhunderts ist der MSL um etwa 1,7 mm/a in der Nordsee angestiegen, wobei sich lokal z.T. deutliche Abweichungen davon ergeben können. Diese Abweichungen sind zu einem großen Teil durch vertikale Landbewegungen begründet, aber auch atmosphärisch
induzierte Langzeittrends spielen hier eine Rolle. Während die Langzeittrends über das 20. Jahrhundert generell dem globalen Mittel
gefolgt sind, zeigen sich auf intra-annuellen bis dekadischen Zeitskalen z.T. erhebliche Abweichungen. Diese sind je nach Zeitskala
durch regionale atmosphärische Einlüsse und/oder Wärmeumverteilungen im Nordatlantik begründet. Neben den Änderungen im
MSL verzeichnen vor allem Wasserstandszeitreihen aus dem Gebiet der Deutschen Bucht seit Mitte der 1950er Jahre einen erheblichen
Anstieg des Tidehubs, der die zeitgleiche Entwicklung der mittleren Wasserstände zum Teil sogar deutlich übersteigt. Mit diesen Änderungen gehen ebenso signiikant größere Trends in den Extremwasserständen einher. Die Gründe für die beobachteten Veränderungen
sind derzeit noch größtenteils unbekannt. Eine Berücksichtigung solcher Veränderungen in zukünftigen Projektionen erfordert weitere
Untersuchungen und ein vertieftes Prozessverständnis.
Schlagwörter: Extremwasserstände, mittlerer Meeresspiegel, Nordsee, Tidehub, Tidepegel, Tidewasserstände
In September 2013 the Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) published its ifth assessment report (AR5). For the irst time,
regional projections of future sea level rise (SLR) are presented in addition to global projections. These projections suggest a model
and scenario dependent global SLR of up to 98 cm for the end of the 21st century relative to the reference period from 1986 to 2005.
Especially for low lying coastal areas such as the North Sea coastline increasing sea levels would demand massive eforts in coastal
safety management. The history of dike building and coastal safety management along the German North Sea coastline is characterized
by strengthening of coastal safety measures in response to increasing (storm surge) water levels. In the recent years this strategy has
changed as part of the climate change discussion to a preventive degree of protection, a policy which should be further enhanced in
the coming decades.
Here, a review of contemporary sea level changes in the North Sea region is presented. Recent insights in North Sea sea level science
are summarized and future challenges are discussed. On geological time scales (~ 80 million years) North Sea mean sea level (MSL) was
mainly characterized by tectonic efects with periods exceeding present day MSL by 100 to 300 m. Since the mid-19th century MSL rise
has started to accelerate from relatively stable rates over the past 2000 years. Since 1900, the spatially averaged MSL in the North Sea
has increased by about 1.7 mm/a. However, locally substantial deviations have been observed, which are mainly related to vertical land
movements, but also to atmospherically driven long-term changes. While the regional long-term trend is in general agreement with the
global MSL, on shorter time scales from months to several decades considerable deviations occur. These deviations are mainly related
to local atmospheric forcing and the redistribution of heat in the North Atlantic Ocean. Despite signiicant MSL changes tide gauges
have measured a tremendous increase in the tidal range in the German Bight since the mid-1950s, which locally even exceeds the MSL
trend. These changes also coincide with signiicantly larger trends in extreme sea levels relative to simultaneous MSL trends. The causes
of the observed change remain mostly unexplained. Hence, the consideration of such changes in future SLR projections requires further
investigations and an improved knowledge about the underlying processes.
Keywords: Extreme sea levels, mean sea level, North Sea, tide gauges, tidal range, tidal water levels
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Jensen et al.: Meeresspiegeländerungen in der Nordsee ... DOI: 10.5675/HyWa_2014,6_1 I Fachartikel
Einleitung
Der Anstieg des mittleren Meeresspiegels (englisch: Mean Sea
Level, MSL) ist eines der am meisten diskutierten Themen im Zusammenhang mit dem globalen Klimawandel. Dies ist einerseits
in der hohen Vulnerabilität von Küstenregionen mit ihrer relativ
großen Bevölkerungsdichte und volkswirtschaftlichen Bedeutung begründet, zum anderen ist der MSL ein integraler Indikator
für natürliche und anthropogene Klimaänderungen und damit
von übergeordnetem wissenschaftlichem wie gesellschaftlichem Interesse. Die Nordseeküste wird durch extreme Sturmlutereignisse gefährdet und der Klimawandel bzw. der Anstieg des
MSL führt unmittelbar zu höheren Sturmlutbelastungen (z.B.
JENSEN 1985). Änderungen im MSL resultieren aus einem hochkomplexen System gekoppelter Prozesse wie z.B. temperaturund salzgehaltsbedingten (thermohalinen) Dichteänderungen,
Massenaustausch zwischen Land (Eisschilde, Gletscher, Aquifere)
und Ozean, meteorologischen Wirkungen auf den Ozean, Meeresströmungen/Zirkulationen sowie gravimetrischen Veränderungen und Gezeitenefekten. Die einzelnen Komponenten sind
dabei nur schwer voneinander zu trennen, da sie zum Teil aneinander gekoppelt sind und zudem temporär wie räumlich stark
variieren können (z.B. MILNE et al. 2009). In Abbildung 1A sind
diese vielfältigen physikalischen Wirkungsprozesse auf den MSL
sowie die tektonischen und isostatischen Einlüsse im Bereich
der Küste, d.h. der Pegelstandorte sowie die zugeordneten Zeitskalen schematisch dargestellt (s.a. Erläuterungen in Kap. 2).
aus. In Kapitel 2 werden zunächst die maßgebenden Prozesse,
die an Veränderungen im globalen und regionalen MSL beteiligt
sind, erläutert, während Kapitel 3 einen Überblick über das Untersuchungsgebiet der Nordsee sowie die zu Grunde liegende
Datenbasis gibt. Kapitel 4 beinhaltet einen Abriss vorindustrieller
Entwicklungen auf Basis von geologischen Befunden (vorindustrielle Informationen über den MSL aus Sedimenten etc.). Eine Diskussion der MSL-Entwicklung seit Beginn des 20. Jahrhunderts
bis heute unter Berücksichtigung von vertikalen Landbewegungen und atmosphärisch induzierten Langzeittrends indet sich in
Kapitel 5. In Kapitel 6 wird die zeitliche Variabilität des MSL mit
einem besonderen Fokus auf intra-anuelle bis dekadische Zeitskalen näher beleuchtet, während die nichtlineare Entwicklung
sowie Beschleunigungsmuster in Kapitel 7 diskutiert werden.
Für den Küstenschutz bzw. die Morphologie im Küstenvorfeld
sind neben dem MSL vor allem auch Veränderungen im lokalen
Tideregime von Interesse. Aus diesem Grund werden in Kapitel
8 aktuelle Raten der Tidehubentwicklung bzw. die Änderungen
diskutiert. Eine abschließende Zusammenfassung indet sich in
Kapitel 9.
2
Prozesse, die den Meeresspiegel beeinlussen
In dem im September 2013 erschienenen fünften Sachstandsbericht des Weltklimarates (IPCC, CHURCH et al. 2013) wurde
zusammenfassend festgestellt, dass der globale MSL über die
vergangenen 3 Millionen Jahre erheblichen Veränderungen
unterworfen war und dabei um bis zu 10 m höher lag als zum
gegenwärtigen Zeitpunkt. Aus geologischen Befunden und instrumentellen Tidepegelmessungen geht zudem hervor, dass
sich der MSL-Anstieg nach einer relativ stabilen Phase über die
vergangenen 2000 Jahre seit dem Übergang vom 19. ins 20.
Jahrhundert auf ca. 1,7 mm/a beschleunigt hat (CHURCH et al.
2013, GEHRELS & WOODWORTH 2013, s.a. Abb. 1B), wobei Satellitenmessungen seit 1993 auf eine weitere Beschleunigung der
Anstiegsraten auf rund 3,2 mm/a hindeuten. Dieser Anstieg stellt
den Küstenschutz vor erhebliche Herausforderungen und wird
zukünftig voraussichtlich Anpassungsmaßnahmen erfordern.
Hinzu kommt, dass die Anstiegsraten starken regionalen Unterschieden unterworfen sind (MILNE et al. 2009). So ist aus Satellitenmessungen ersichtlich, dass über den Zeitraum 1993–2011
regionale Diferenzen von bis zu ± 12 mm/a aufgetreten sind
(CHURCH et al. 2013). Diese Tatsache verdeutlicht, dass für den
Küstenschutz die bisherige und zukünftige Entwicklung der regionalen Wasserstände von weit höherem Interesse ist als die des
globalen Mittels (WAHL et al. 2011).
Schwankungen im Meeresspiegel, bezogen auf das Volumen
des globalen Ozeans, resultieren vorwiegend aus zwei Prozessen. Zum einen kann sich der Ozean in Folge von Temperaturoder Salzgehaltsschwankungen ausdehnen/komprimieren (die
sogenannte sterische Komponente); zum anderen kann dem
Ozean Masse hinzugefügt oder entnommen werden (Hinweis:
Veränderungen in der Form der Becken und daraus resultierenden Änderungen im Gravitationsfeld der Erde können indirekt
ebenfalls zu Volumenänderungen führen. Bisher ist jedoch nur
sehr wenig über diese Komponente bekannt). Dies geschieht im
Austausch mit Landeismassen (Eisschilde, Gletscher) oder anderen terrestrischen Wasserspeichern wie Stauseen, Flüssen oder
Aquiferen. Über das vergangene Jahrhundert haben die thermosterische Komponente (temperaturbedingte Dichteänderungen)
und Gletscherschmelze den globalen Meeresspiegelanstieg
dominiert (CHURCH et al. 2013, GREGORY et al. 2013) und über
die vergangenen rund 50 Jahre kann das Meeresspiegelbudget
(Summe aller am MSL beteiligten Prozesse) mit all seinen Komponenten (anthropogener und natürlicher Herkunft) im Rahmen
der Messunsicherheiten weitestgehend geschlossen werden
(CHURCH et al. 2011, vertiefende Informationen inden sich auch
in CHURCH et al. 2013). Auf regionaler Basis hingegen stellt die
Separierung einzelner Faktoren, die am Meeresspiegel relativ
zum Land beteiligt sind, eine weit größere Herausforderung dar.
Dies ist darin begründet, dass regional Prozesse das Meeresspiegelbudget beeinlussen (und temporär wie räumlich signiikante
Abweichungen vom globalen Mittel verursachen), deren globales Mittel jedoch Null ist.
Aus diesem Grund soll in dem vorliegenden Beitrag ein Überblick
über den aktuellen Stand der MSL-Forschung in der Nordsee
unter Berücksichtigung des globalen Kenntnisstands gegeben
werden. Hierbei liegt ein besonderer Schwerpunkt auf der deutschen Nordseeküste. In den vergangenen Jahren wurde eine Vielzahl von Arbeiten zum Thema MSL in der Nordsee veröfentlicht.
Die Zielsetzung dieses Artikels liegt neben der Beschreibung
vergangener Entwicklungen und Prozesse vor allem auch darin,
bestehende Herausforderungen und Lücken in der Forschung
aufzuzeigen. Die Strukturierung des Artikels sieht dabei wie folgt
Ein gutes Beispiel hierfür stellt die Massenkomponente dar:
Durch gravitationsbedingte Prozesse wird das Schmelz- oder
Frischwasser, welches dem Ozean hinzugefügt wird, regional
unterschiedlich verteilt. Der Grund hierfür ist das Newtonsche
Gesetz der Massenanziehung oder Gravitation. So wird das
umliegende Wasser durch die Masse einer Frischwasserquelle
(Eisschilde, Gletscher und terrestrische Wasserspeicher) angezogen, d.h. der Meeresspiegel um die Frischwasserquelle herum ist
generell etwas höher als im Fernfeld. Verliert die Quelle nun Masse (beispielsweise das Abschmelzen von Eisschilden und Glet-
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vermessenen Ozeanbecken weltweit und es existieren exzellente Arbeiten, die einen Überblick über die hydrograischen
Bedingungen geben (z.B. OSPAR 2000, OTTO et al. 1990, RODHE
1998, SÜNDERMANN & POHLMANN 2011). Die mittlere Tiefe des
Beckens beträgt rund 94 m. In den Küstenregionen der südlichen
Nordsee (z.B. der Deutschen Bucht) betragen die Wassertiefen
zum Teil weniger als 10 m, während die Norwegische Rinne, die
sich vom Kattegat entlang der norwegischen Küste nordwärts erstreckt, Wassertiefen von bis zu ca. 700 m aufweist. Diese Bedingungen müssen vor allem bei der Analyse der Variabilitätsmuster
berücksichtigt werden (Kap. 5).
Räumlich ebenso variabel sind sterische Veränderungen im
Meeresspiegel. Sterische Veränderungen an einem speziischen
Ort sind stark an die räumliche und zeitliche Umverteilung von
Wärme und Salz im Ozean gekoppelt. Die antreibende Kraft
solcher Umverteilungen sind sich verändernde Oberlächenwinde über dem Ozean, die den regionalen Wärme- und Salzgehaltshaushalt über Prozesse wie dem sogenannten “Ekman
Pumping“, Auf- und Abtrieb (englisch: upwelling/downwelling),
oder planetarische Wellen (Rossby-Wellen, Kelvinwellen) beeinlussen. Ein gutes Beispiel hierfür sind die kürzlich viel diskutierten Veränderungen im regionalen Meeresspiegel im WestPaziik (z.B. MERRIFIELD 2011), die auch unter anderem mit den
geringeren Anstiegsraten der globalen Oberlächentemperatur
(Hiatus) in Verbindung gebracht werden (z.B. ENGLAND et al.
2014) und stark an das El-Niño/La-Niña-Phänomen bzw. an die
Paziisch Dekadische Oszillation (PDO) gekoppelt sind (MERRIFIELD 2011). Hinzu kommen außerdem statische Veränderungen der Meeresspiegeloberläche in Folge von regionalen/lokalen Luftdruckschwankungen (inverser barometrischer Efekt),
die sowohl kurzzeitige Fluktuationen (DIETRICH 1954), aber regional auch längerfristige Veränderungen hervorrufen können
(STAMMER & HÜTTEMANN 2008).
A
Eisschmelze
Energiefluss
3
Untersuchungsgebiet und Datengrundlage
Die Nordsee ist ein Schelfmeer am Rande des Nordostatlantiks,
welches sich über den englischen Kanal im Südwesten und die
Norwegische See im Norden dem Nordatlantik öfnet. Eine Verbindung zur Ostsee besteht über das Kattegat, das sich nördlich
von Dänemark und südlich von Norwegen/Schweden erstreckt
(Abb. 2A). Die Nordsee ist eines der am besten erforschten und
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Tiden
Windeinwirkung
Terrestrische
Wasserspeicher
Setzungen
Dichteänderungen
Relaver
Meeresspiegel
Ozeanzirkulaon
Verkale Landbewegung
(VLM)
Geozentrischer
Meeresspiegel
Verkale Landbewegung
(VLM)
Massenschwerpunkt
Eisschmelze
Terrestrische Wasserspeicher
VLM
Ozeanzirkulaon/Dichteänderungen
Windeinwirkung
Tiden
Stunden
Monate
Jahre
Dekaden
Jahrhunderte
100
50
B
0
−50
−100
MSL [mm]
Vor allem im Zusammenhang mit der Analyse von Pegeldatenaufzeichnungen haben vertikale Landbewegungen (englisch:
vertical land motion, VLM) eine große Bedeutung bei der Untersuchung von Langzeitveränderungen im MSL (z.B. JENSEN et
al. 1992, ROHDE 1975, WEIß & SUDAU 2012). Während vertikale
Landbewegungen keinen Einluss auf die Masse bzw. das Volumen des Ozeans haben, sorgen sie regional dafür, dass der
anhaltende Meeresspiegelanstieg über das vergangene Jahrhundert in einigen Regionen (z.B. Skandinavien) kompensiert
oder auch verstärkt wird. Vertikale Landbewegungen müssen
für klimatisch ausgerichtete Analysen des MSL zuvor aus den
Daten heraus gerechnet werden (z.B. WÖPPELMANN et al.
2009), während sie für die Belange des Küstenschutzes einen
integralen Bestandteil des Überlutungsrisikos darstellen. Die
Komplexität der am MSL beteiligten Prozesse sowie ihre Kopplung untereinander (Abb. 1A) verdeutlichen die Bedeutung
regionaler MSL-Studien. Nur über das Verständnis der am MSL
beteiligten Prozesse kann es gelingen, Projektionen zukünftiger Zustände robuster abzuschätzen.
Interakon OzeanAtmosphäre
−150
−200
−250
2.5
−300
−350
−400
−450
Jevrejeva 2008 [Tide Pegel]
Jevrejeva 2006 [Tide Pegel]
Curch und White 2011 [Tide Pegel + Altimetrie]
Trend [mm/yr]
schern), verringert sich die Anziehungskraft mit der Folge, dass
das zugeführte Frischwasser ins Fernfeld transportiert wird. Aus
diesem Grund lässt beispielsweise das Abschmelzen des grönländischen Eisschildes einen stärkeren Meeresspiegelanstieg in
der südlichen Hemisphäre erwarten, während sich die Schmelzvorgänge in der Antarktis eher in der nördlichen Hemisphäre
bemerkbar machen. Die hieraus resultierenden Muster im regionalen Meeresspiegel werden auch als sogenannte “Fingerprints“
bezeichnet (z.B. MITROVICA et al. 2001, RIVA et al. 2010, TAMISIEA
& MITROVICA 2011).
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2
1.5
1
Jev08 Jev06 CW11
−500
1700
1750
1800
1850
1900
1950
2000
Time [yr]
Abbildung 1
A) Einlussfaktoren des globalen und regionalen Meeresspiegels (oben)
sowie die Zeitskalen, auf denen einzelne Prozesse wirken (unten). Die
Graik stammt aus DANGENDORF (2014) und wurde auf Basis von Abbildung 1 aus STAMMER et al. (2013) adaptiert und erweitert. B) Rekonstruktionen des globalen MSL basierend nur auf Tidepegeln (JEVREJEVA et
al. 2006, 2008) sowie einer Rekonstruktion basierend auf der Kombination von punktuellen Tidepegelmessungen und räumlichen Informationen aus Satellitenaltimetrie (CHURCH & WHITE 2011).
A) Schematic outline of processes afecting global and regional sea level
(top) and corresponding timescales on which the diferent processes mainly
act. The igure is taken from DANGENDORF (2014) and is based on igure 1
from STAMMER et al. (2013). B) Reconstructions of global MSL based on tide
gauges (JEVREJEVA et al. 2006, 2008) and the combination of tide gauges
with spatial information from satellite altimetry (CHURCH & WHITE 2011).
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2
9) Cuxhaven
1
21
17
16
10) Helgoland
0
15
13
12
10 11
6
223 5 8 9
7
4
12
14
−1
−2
GIA [mm/a]
18
19
20
11) Hörnum
12) Esbjerg
−3
−4
13) Hanstholm
A
−5
14) Hirtshals
1) Oostende
15) Tregde
2) Vlissingen
16) Stavanger
3) Hoek van Holland
17) Bergen
4) IJmuiden
18) Lerwick
5) Den Helder
19) Wick
6) West−Terschelling
20) Aberdeen
7) Delfzijl
21) North Shields
8) Norderney
22) Lowestoft
B
1850
1875
1900
1925
Zeit [a]
1950
1975
2000 1850
1875
1900
1925
1950
1975
2000
Zeit [a]
Abbildung 2
A) Untersuchungsgebiet und Pegelstandorte (Punkte und Nummer) in der Nordsee. Die
farbigen Konturen zeigen den Anteil postglazialer Landsenkungserscheinungen nach PELTIER
(2004). B) Die zugehörigen Monatsmittelwert-Zeitreihen (blau) für jeden Pegel aus A) sowie ein
48-monatiges gleitendes Mittel (rot) zur Kennzeichnung der dekadischen Komponente.
A) Investigation area and tide gauge locations (dots and numbers) in the North Sea. The colored
shades show the rates of glacial isostatic adjustment as calculated by PELTIER (2004). B) The corresponding monthly MSL time series (blue) for each tide gauge shown in A) and a 48 month moving
average ilter (red) describing decadal luctuations in MSL.
Analysen langjähriger Tidewasserstandszeitreihen bzw. Untersuchungen zum säkularen Meeresspiegelanstieg haben für verschiedene deutsche Nordseepegel eine lange Tradition und wurden
z.B. durch LÜDERS (1936), GAYE (1951), DIETRICH (1954), ROHDE
(1975), RIETSCHEL (1933), LIESE & LUCK (1978), LIESE (1979),
FÜHRBÖTER & JENSEN (1985), SIEFERT & LASSEN (1985), JENSEN et
al. (1988), JENSEN et al. (1992), HEYEN et al. (1996), LANGENBERG et
al. (1999), WAHL et al. (2010, 2011), ALBRECHT et al. (2011), JENSEN
et al. (2011), HEIN et al. (2011), DANGENDORF et al. (2012, 2013a)
und JENSEN (2014) durchgeführt.
In der vorliegenden Arbeit werden MSL-Zeitreihen von insgesamt
22 Tidepegeln ausgewertet. Diese stimmen mit dem Kollektiv von
WAHL et al. (2013) und DANGENDORF et al. (2014a) für den Teil
der inneren Nordsee überein. Die Pegel aus dem Englischen Kanal bleiben hier unberücksichtigt, da das Gebiet eine sehr eigene,
von der inneren Nordsee entkoppelte, inter-annuelle Variabilität
aufweist (TSIMPLIS & SHAW 2008, WAHL et al. 2013). Der größte
Teil der Pegeldaten stammt aus der Online-Datenbank des Permanent Service for Mean Sea Level (PSMSL), die durch das National Oceanography Centre (NOC) in Liverpool unterhalten wird.
Lediglich für die Deutsche Bucht (Norderney,
Cuxhaven, Helgoland und Hörnum) wird
auf ein abweichendes Kollektiv nach WAHL
et al. (2010, 2011) und JENSEN et al. (2011)
zurückgegrifen. Dies ist darin begründet,
dass die in PSMSL verfügbaren Zeitreihen
für die Deutsche Bucht auf Mittelwerten aus
Tidehoch- und Tideniedrigwasser basieren.
Durch die geringen Wassertiefen und den
großen Einluss nichtlinearer Efekte in der
Region können diese Mittelwerte jedoch
ohne die Korrektur durch den sogenannten
k-Wert (LASSEN 1989) zum Teil signiikant
von den eigentlichen Mittelwerten basierend auf höher aulösenden Zeitreihen
abweichen. WAHL et al. (2010, 2011) und
JENSEN et al. (2011) prüften die Stationarität
dieses Faktors, um anschließend langjährige
MSL-Zeitreihen für insgesamt 13 Tidepegel
in der Deutschen Bucht zu rekonstruieren.
Vier dieser Zeitreihen (Norderney, Cuxhaven,
Helgoland und Hörnum) inden auch in dieser Studie Berücksichtigung. Die 22 verwendeten MSL-Zeitreihen (Monatsmittelwerte
um mittleren saisonalen Zyklus bereinigt)
sowie die Standorte der zugehörigen Pegel
sind in Abbildung 2 dargestellt. Insgesamt
sind die Pegel trotz einer Häufung im Süden
recht homogen um das Nordseebecken herum verteilt.
4 Der Nordsee-MSL auf
geologischen Zeitskalen
Das Gebiet der Nordsee ist auf geologischen Zeitskalen durch erhebliche
MSL-Schwankungen mit deutlichen Abweichungen von der heutigen mittleren
Tiefe von rund 94 m gekennzeichnet. Diese
Schwankungen sind insbesondere durch
Prozesse der Plattentektonik beeinlusst.
Aus dem späten Devon (vor ca. 360 Millionen Jahren (Ma)) sind
zum Beispiel kontinentale Sedimente in den tieferen geologischen Schichten der Nordsee erhalten geblieben, hingegen aus
dem späten Jura (vor ca. 150 Ma) zumeist lachmarine Ablagerungen (TORSVIK et al. 2002). Allerdings kann zu dem Zeitpunkt
noch nicht von der Nordsee gesprochen werden; im späten Devon lag das Gebiet südlich des Äquators und grenzte im Südosten an die Überreste des Rheischen Ozeans und im späten Jura
befand sich das Gebiet ca. zehn Breitengrade südlicher als heute
(TORSVIK et al. 2002). Vorherrschend marine Bedingungen im
Gebiet der Nordsee sind durch Sedimente der frühen Kreide (vor
ca. 130 Ma) belegt (TORSVIK et al. 2002). In der späten Kreide (vor
ca. 80 Ma) war der globale MSL zwischen 100 und 300 m höher
als heute und führte zu einer vollständigen Überlutung der
Nordsee und deren umliegenden Gebieten (TORSVIK et al. 2002).
Im folgenden Tertiär (65–2,59 Ma) entstand mit dem Beginn der
Aufspreizung des Nordostatlantiks vor ca. 53 Ma (MOSAR et al.
2002) in den darauf folgenden Jahrmillionen die Nordsee, wie
wir sie heute kennen. In dieser Phase gab es wiederholt deutliche
MSL-Schwankungen, die starke Variationen in der Meeresläche
der Nordsee verursachten (TORSVIK et al. 2002).
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Der Beginn des Pleistozäns (vor ca. 2,59 Ma) geht mit einer Abkühlung der Atmosphäre und der Bildung von Eisschilden auf der
nördlichen Hemisphäre einher (HAUG et al. 2005), die den MSL
der Nordsee stark beeinlussten (COHEN et al. 2014). Durch die
geographische Lage der Nordsee im Vergleich zu den ehemaligen
europäischen Vereisungsgebieten zeigt sich dabei die besondere
Situation der Nordsee und der Deutschen Bucht in der Komplexität der MSL-Schwankungen. Zunächst muss man sich die unterschiedlichen Efekte einer Vereisung veranschaulichen (STEFFEN
& WU 2011). Durch die Entstehung eines mehrere Kilometer (meist
2–4 km) dicken Eispanzers sinkt die stark belastete Lithosphäre
einige hundert Meter in den darunterliegenden hochviskoelastischen Erdmantel. Durch die Biegesteiigkeit der Lithosphäre und
der Umverteilung von Mantelmaterial entsteht außerhalb des Vereisungsgebietes eine Aufwölbung von mehreren 10 m (englisch:
peripheral bulge oder forebulge). Beim Abschmelzen des Eises
dreht sich der Prozess um, sodass man je nach Gebiet Landhebung oder -senkung beobachten kann. Landhebung indet man
z.B. deutlich mit ca. 10 mm/a um die schwedische Stadt Umeå,
Landsenkung mit ca. 1–2 mm/a im Bereich der Deutschen Bucht
(STEFFEN & WU 2011). Zudem werden in den Eisschilden große
Mengen Wasser gespeichert, sodass der MSL weltweit sinkt. Dadurch setzt eine Entlastung der Ozeanbecken ein, die wiederum
zu isostatischen Ausgleichsprozessen führt. Zusammen mit anderen Efekten wie Änderungen der Erdrotation und des Erdschwerefeldes (Kap. 2, Massenkomponente) sowie dem Auslösen von
postglazialen Erdbeben spricht man vom komplexen Prozess der
glazio-isostatischen Anpassung (englisch: glacial isostatic adjustment, GIA). Im Folgenden soll der für heutige Pegelmessungen
wichtige GIA-Efekt der letzten Vereisungsphase, der WeichselKaltzeit, in der Nordsee diskutiert werden.
Die Weichsel-Kaltzeit in Europa begann vor etwa 110 Tausend
Jahren (ka) und dauerte bis etwa 10 ka vor heute. In der Hochphase, dem letzten glazialen Maximum vor etwa 20 ka, bedeckte das fennoskandische Eisschild die skandinavische Halbinsel
und Finnland vollständig und breitete sich über weite Teile
Dänemarks und Norddeutschlands aus (SVENDSEN et al. 2004).
Über den Britischen Inseln dehnte sich das Britische Eisschild
aus (LAMBECK 1993). Beide Eisschilde bedeckten auch Teile der
nördlichen Nordsee. Eine Verbindung beider Eisschilde in diesem
Bereich, wenn auch nur mit relativ geringer Eisbedeckung, wird
nur für kurze Zeit postuliert (LAMBECK et al. 2010). Die südliche
Nordsee, insbesondere ab dem Bereich der Doggerbank, lag zu
diesem Zeitpunkt trocken (PELTIER 1994), sodass es eine Landbrücke zwischen den Britischen Inseln und dem europäischen
Festland im Süden und Osten gab. Die Nordsee wurde von Norden her und über den Ärmelkanal ab ca. 15 ka vor heute gelutet.
Um 9,5 ka vor heute entwickelte sich die Doggerbank allmählich
zu einer Insel in der transgressiven Nordsee (SHENNAN et al.
2000). Etwa 500–1000 Jahre später wurde die Landbrücke durch
die Vereinigung von Ärmelkanal und Nordsee abgebrochen. Um
7,5–7 ka vor heute versank die Doggerbank(-Insel) schließlich in
der Nordsee (PELTIER 1994, SHENNAN et al. 2000). Kurz danach
entwickelte sich bereits eine Küstenlinie entlang der Nordsee, die
vergleichbar zum heutigen Verlauf ist. In den letzten 7000 Jahren
ist der MSL in der südlichen Nordsee, je nach Region, um 6 bis 10
m gestiegen (VINK et al. 2007).
Die oben genannten paläogeographischen Erkenntnisse basieren
auf der Analyse von Paläomeeresspiegelindikatoren. Dies können
z.B. Fossilien, Pollen oder ehemalige Strandlinien sein (STEFFEN
308
HW 58. 2014, H. 6
& WU 2011). Für die Nordsee werden insbesondere sogenannte
Basaltorfe genutzt (JELGERSMA et al. 1979, VINK et al. 2007), die
durch sich aufstauendes Grundwasser entlang der Küste entstanden. Eine sorgfältige Datierung der Indikatoren führt zu einem
Gesamtbild der MSL-Änderungen über Zeit und Raum. In der
südlichen Nordsee haben Arbeiten der letzten Jahre deutliche
regionale Unterschiede für den MSL-Anstieg in den letzten 10 ka
aufgezeigt (BAETEMAN et al. 2011, BUNGENSTOCK & WEERTS
2010, VINK et al. 2007). In der belgischen Nordsee gab es den geringsten MSL-Anstieg. Heute liegt der MSL ca. 17 m höher als vor
9000 Jahren. In der niederländischen sowie deutschen Nordsee
hingegen ist der MSL im gleichen Zeitraum um jeweils ca. 23 bzw.
ca. 28 m gestiegen. An der dänischen Küste wird ein niedrigerer
Anstieg ähnlich dem belgischen diskutiert, allerdings gibt es hier
noch keine ausreichenden Daten für einen Zeitraum von vor 7000
Jahren (VINK et al. 2013). Diese regionalen Diferenzen wurden
größtenteils über einen Zeitraum von 5000 Jahren ausgeglichen,
so dass sich seit etwa 4000 Jahren nur noch geringfügige, aber
dennoch messbare Unterschiede ergeben, die die Pegelmessungen stärker als zumeist erwartet beeinlussen (Kap. 5). Die
Unterschiede stehen im Gegensatz zu Arbeiten, die eine nahezu einheitliche MSL-Änderung entlang der Küste vorschlagen
(BEHRE 2003, 2007). Diese Modelle werden kontrovers diskutiert
(BAETEMAN et al. 2011, 2012; BEHRE 2012a, 2012b, BUNGENSTOCK
& WEERTS 2010, 2012). Zusätzlich gibt es derzeit unterschiedliche
Aufassungen darüber, ob sich in den letzten Jahrtausenden
transgressive und regressive Phasen in der südlichen Nordsee abwechselten (z.B. BEHRE 2007, BUNGENSTOCK & WEERTS 2010), so
dass nicht von einem kontinuierlichen MSL-Anstieg gesprochen
werden kann (MEIER et al. 2013). Kritikpunkte an dieser Theorie
sind eine Überinterpretation der vorhandenen Daten im Rahmen
ihrer Fehler (durch Mess- und Datierungenauigkeiten) und ein
Vermischen von Daten isostatisch unterschiedlich beeinlusster
Gebiete (BAETEMAN et al. 2012, BUNGENSTOCK & WEERTS 2010).
Für eine eindeutige Aulösung dieser Diskussion werden weitere
Paläomeeresspiegelindikatoren sowie verbesserte, im Besonderen räumlich und zeitlich hochaulösende GIA-Modelle für den
Bereich der Nordsee benötigt. Die aktuellsten Kurven zur regionalen MSL-Entwicklung der vergangenen 10 ka in der Deutschen
Bucht inden sich in Abbildung 9 von VINK et al. (2007).
Neben der glazio-isostatischen Komponente gibt es eine (neo-)
tektonische Komponente, die zu Subsidenz in einer Größenordnung von weit weniger als 1 m auf 1000 Jahre und damit zusätzlicher Landsenkung führt (VINK et al. 2013). Während in Küstennähe der Betrag nahezu vernachlässigt werden kann, nimmt die
Subsidenzrate in Richtung der Doggerbank zu (VINK et al. 2013).
5
Säkulartrends des Nordsee-MSL im
20. Jahrhundert
In diesem Abschnitt wird die MSL-Entwicklung seit der Einführung von kontinuierlichen Messungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts dargestellt und diskutiert. Hierfür ist es zunächst wichtig zu verstehen, welches Signal durch die Tidepegel gemessen
wird. Wie bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts von SCHÜTTE
(1908) festgestellt und in Kapitel 2 und 4 angeschnitten, messen
Tidepegel nicht nur Volumen- bzw. Wasserstandsänderungen im
Ozean, sondern auch vertikale Bewegungen des Bodens auf dem
sie gegründet sind. Demzufolge beinden sich in den Rohdaten
des MSL, neben Massen- oder Dichteänderungen, auch die Raten aus vertikalen Landbewegungen (z.B. WÖPPELMANN et al.
Jensen et al.: Meeresspiegeländerungen in der Nordsee ... DOI: 10.5675/HyWa_2014,6_1 I Fachartikel
HW 58. 2014, H. 6
2009). Dies ist vor allem bei der Auswertung klimatischer Signale
im MSL zu beachten, da die Landsenkungen zumeist in keinem
Zusammenhang mit dem anthropogenen Klimawandel stehen.
Um Fehlinterpretationen bei der Analyse der Pegelmessungen
zu vermeiden, müssen die Anteile vertikaler Landbewegungen
möglichst korrekt aus den Daten extrahiert werden. Für den Küstenschutz hingegen sind es eben jene relativen Anstiegsraten
(inklusive Landsenkungen), die von Bedeutung sind, da sich der
Wasserstand relativ zum Land (dem zu schützenden Objekt) verändert und damit das Überlutungsrisiko beeinlusst.
als 95 %-Konidenzintervalle unter Berücksichtigung der Autokorrelationsstruktur (hier autoregressives Modell der Ordnung 1:
Reduzierung der Freiheitsgrade mit Lag-1 Autokorrelation nach
SANTER et al. 2000) in den Daten angegeben. Die Lineartrends
wurden nur für die Pegel geschätzt, an denen mindestens
75 % aller Daten über die Beobachtungsperiode von 1900–2011
zur Verfügung stehen. Insgesamt gehen daher 13 Pegel mit in
die Auswertung ein. Die Ergebnisse dieser Trenduntersuchungen inden sich in Abbildung 3A. Die Lineartrends des relativen
MSL über den Zeitraum 1900 bis 2011 schwanken in der Nordsee
zwischen -0,23 ± 0,24 mm/a in Hirtshals, Dänemark, und
2,32 ± 0,25 mm/a in Norderney, Deutschland. In 11 der 13 ausgewerteten Pegel sind diese Langzeittrends über das 20. Jahrhundert statistisch signiikant unterschiedlich von Null. Die Werte der
Trends variieren stark zwischen den einzelnen Pegelstationen
mit geringeren Werten in Dänemark, Norwegen und Großbritannien und etwas größeren Trends in der südlichen Nordsee. Diese
Trenddiferenzen decken sich generell mit den bekannten GIA-
Aus diesem Grund werden hier zunächst die Veränderungen
des relativen MSL über den Zeitraum von 1900 bis 2011 diskutiert. Dieser Zeitraum wurde gewählt, da genügend Pegel mit
qualitativ hochwertigen Daten bereitstehen. Zur Ermittlung
der Langzeittrends wird daher auf die lineare Regression unter
Verwendung der Methode der kleinsten Abstandsquadrate zurückgegrifen. Die Unsicherheiten der Trendschätzungen werden
A
−1 −0.5
B
0
0.5
1
1.5
2
2.5
3 −1 −0.5
Trend [mm/yr]
Oostende
Vlissingen
Hoek van Holland
IJmuiden
Den Helder
West-Terschelling
Delfzijl
Norderney
Cuxhaven
Helgoland
Hörnum
Esbjerg
Hanstholm
Hirtshals
Tregde
Stavanger
Bergen
Lerwick
Wick
Aberdeen
North Shields
Lowestoft
C
0
0.5
1
1.5
2
2.5
3 −1 −0.5
Trend [mm/yr]
D
0
0.5
1
1.5
2
2.5
3
Trend [mm/yr]
3
E
2.5
2
1.5
1
0.5
Trend [mm/yr]
Oostende
Vlissingen
Hoek van Holland
IJmuiden
Den Helder
West-Terschelling
Delfzijl
Norderney
Cuxhaven
Helgoland
Hörnum
Esbjerg
Hanstholm
Hirtshals
Tregde
Stavanger
Bergen
Lerwick
Wick
Aberdeen
North Shields
Lowestoft
0
−0.5
−1
−1 −0.5
0
0.5
1
1.5
Trend [mm/yr]
2
2.5
3 −1 −0.5
0
0.5
1
1.5
2
2.5
3
Trend [mm/yr]
Abbildung 3
Lineartrends des monatlichen MSL über den Zeitraum 1900–2011. A) gemessen, B) atmosphärisch korrigiert (nach DANGENDORF et al. 2014a), C)
atmosphärisch und VLM-GIA korrigiert, D) atmosphärisch und VLM-geologisch (nach SHENNAN & WOODWORTH 1992) korrigiert, und E) atmosphärisch
und VLM-CGPS korrigiert. Die schwarz gestrichelte Linie und die grau schraierte Fläche markieren den absoluten UK-MSL Trend (± SE) nach WOODWORTH et al. (2009a), der mit 1,4 ± 0,2 mm/a geschätzt wurde. Die farbig gestrichelten Linien repräsentieren jeweils das Mittel für die Nordsee.
Linear trends of monthly MSL over the period 1900-2011. A) observed, B) atmospherically corrected (DANGENDORF et al. 2014a), C) atmospherically and
VLM-GIA corrected, D) atmospherically and VLM-geologically (SHENNAN & WOODWORTH 1992) corrected, and E) atmospherically and VLM-CGPS corrected.
The black dotted line and the grey shaded area show the absolute UK MSL trend and its corresponding SE (1,4 ± 0,2 mm/a) by WOODWORTH et al. (2009a). The
colored dotted lines represent the corresponding North Sea average.
309
Fachartikel I DOI: 10.5675/HyWa_2014,6_1 Jensen et al.: Meeresspiegeländerungen in der Nordsee ...
Mustern (BUNGENSTOCK & SCHÄFER 2009, PELTIER 2004, SHENNAN & WOODWORTH 1992). Die Trendunsicherheiten, welche
hier durch den zweifachen Standardfehler (englisch: Standard
Error, SE) dargestellt werden, bewegen sich in einem Bereich
von ca. 0,15 mm/a in der südwestlichen Nordsee (Oostende)
und Großbritannien (Aberdeen und North Shields) bis hin zu ca.
0,30 mm/a in der Deutschen Bucht und Süd-Dänemark (Esbjerg).
Diese erhöhten Unsicherheiten relektieren die größere inter-annuelle bis dekadische Variabilität, welche in der Deutschen Bucht
am stärksten ausgeprägt ist (DANGENDORF et al. 2014a, WAHL et
al. 2013, WOODWORTh et al. 2007; Kap. 5).
DANGENDORF et al. (2014a) weisen darauf hin, dass regional variierende atmosphärische (barotrope) Einlüsse (Kap. 5 bezüglich
der Variabilität) ebenfalls zu deutlichen regionalen Diferenzen
in den säkularen Anstiegsraten des MSL innerhalb der Nordsee
führen können. Um diesen Efekt zu berücksichtigen, wurde die
atmosphärische Komponente des MSL mit Hilfe linearer multipler
Regressionsmodelle nach DANGENDORF et al. (2014a) auf Basis atmosphärischer Antriebsdaten (COMPO et al. 2011) berechnet und
von den Originaldaten subtrahiert. Die Residualtrends sind in Abbildung 3B dargestellt. Diese Korrektur führt bei den Stationen von
der Deutschen Bucht bis ins Kattegat zu einer leichten Reduzierung
der relativen MSL-Trends. Diese bewegt sich in einem Bereich von
–0,19 bis –0,29 mm/a, wobei die größten Trends (d.h. eine Trendreduktion bei Subtraktion der atmosphärischen Komponente) in Cuxhaven aufgetreten sind. Entlang der norwegischen und englischen
Nordseeküste bewirkt die atmosphärische Korrektur eine Trenderhöhung, wobei diese mit Werten zwischen 0 und 0,1 mm/a deutlich geringer als in der Deutschen Bucht ausfällt und zumeist nicht
signiikant ist.
Wie bereits oben angedeutet, wird ein Großteil der verbleibenden
räumlichen Diferenzen in den Langzeittrends des MSL innerhalb
der Nordsee mit Landsenkungserscheinungen in Verbindung gebracht (SHENNAN & WOODWORTH 1992). Hierbei wird grundsätzlich zwischen zwei verschiedenen Prozessen unterschieden, den
oben bereits erwähnten GIA-Efekten (z.B. PELTIER 2004), welche
mit Hilfe numerischer Modelle im globalen Maßstab approximiert
werden können, sowie lokalen Senkungs- oder Hebungserscheinungen, die aus Gas- oder Grundwasserentnahme, Erdbeben oder
sonstigen Einlüssen resultieren. Für die lokalen Senkungs- und
Hebungserscheinungen liegen jedoch unzureichend Informationen vor, da diese nur lokal gemessen werden können. In der
Summe können beide Efekte eine ähnliche Größenordnung wie
der absolute säkulare Meeresspiegelanstieg selbst annehmen
(WOODWORTH 2006). Die Separierung beider Prozesse ist nur mit
Hilfe geologischer Informationen oder dem globalen Positionsbestimmungssystem (englisch: Continuous Global Positioning System, CGPS) möglich. CGPS wird derzeit vermehrt an Pegeln bzw.
in der direkten Umgebung von Pegeln angebracht (BOUIN & WÖPPELMANN 2010, BRADLEY et al. 2009, SANTAMARIA-GOMEZ et al.
2012, SCHÖNE et al. 2009, TEFERLE et al. 2009, WÖPPELMANN et al.
2009), jedoch ist die Anzahl der Messeinrichtungen im Vergleich
zum globalen Tidepegel-Netzwerk noch immer verhältnismäßig
klein (WAHL et al. 2013). WAHL et al. (2013) haben die drei oben
erwähnten Methoden zur Bestimmung vertikaler Landbewegungen für die Pegel in der Nordsee verglichen. Im Folgenden indet
sich hierzu eine Zusammenfassung der Ergebnisse (s.a. Abb. 3C–E).
Generell ist zu erwarten, dass die Korrektur der Tidepegelmessungen um vertikale Landbewegungen zu einer Reduzierung
310
HW 58. 2014, H. 6
der räumlichen Diferenzen führt (im Idealfall sollten sich die
räumlichen Diferenzen weitestgehend ausgleichen). Dies ist
für das Beispiel der GIA-Korrektur nach PELTIER (2004, mit dem
GIA-Modell ICE-5G (VM2), Abb. 3C) auch der Fall. So ändern sich
beispielsweise die nicht signiikant negativen Trends entlang der
norwegischen Küste in statistisch signiikant positive Trends, wobei die Trends in der Deutschen Bucht um rund 0,5 mm/a verringert werden. Jedoch ist die GIA-Korrektur nicht in der Lage, die
gesamten räumlichen Diferenzen zu erklären. Die Korrekturwerte aus geologischen Befunden nach SHENNAN & WOODWORTH
(1992) führen zu vergleichbaren (wenn auch mit leicht größeren
verbleibenden räumlichen Diferenzen, Abb. 3D) Ergebnissen.
Die Korrektur mittels CGPS erscheint nicht zielführend, was zum
einen darin begründet ist, dass die Raten derzeit nur für vier der
22 Pegelstandorte verfügbar sind und die verfügbaren CGPSZeitreihen nach wie vor recht kurz sind. Letztere sind durch eine
sehr starke zeitliche Variabilität geprägt, wodurch mehrere Jahre
an Daten notwendig sind, um belastbare Trends der vertikalen
Landbewegung abzuleiten (WAHL et al. 2013).
Dieser Befund bestätigt sich ebenfalls beim Vergleich mit früheren
Schätzungen für das Gebiet um Großbritannien. WOODWORTH
et al. (2009a) geben hierfür einen Trend in der Größenordnung
1,4 ± 0,2 mm/a an. Diese Schätzung ist in Abbildung 3 zum Vergleich mit aufgetragen. Nimmt man das Mittel aller Pegel, welche
einer Korrektur für vertikale Landbewegungen unterzogen wurden, so zeigt sich, dass nach Anbringung der GIA-Korrektur die
größte Übereinstimmung mit der Schätzung von WOODWORTH
et al. (2009a) erzielt wird. WAHL et al. (2013) schließen aus dieser
Betrachtung, dass, auch wenn die GIA-Korrektur nur einen einzelnen Prozess von Landsenkungserscheinungen berücksichtigt
und lokale Phänomene vernachlässigt werden, diese Korrektur
aktuell den robustesten Schätzwert für den geozentrischen bzw.
absoluten MSL liefert. Dies sollte sich jedoch ändern, sobald längere und mehr CGPS-Messungen zur Verfügung stehen.
6
Intra-anuelle bis dekadische Variabilität im
Nordsee-MSL
Neben den im vorherigen Kapitel erläuterten Langzeittrends weist
der MSL eine sehr große intra-annuelle (innerjährlich) bis mehrdekadische Variabilität auf, die zu einem großen Teil nicht an anthropogene, sondern an natürliche Schwankungen gekoppelt ist. Das
Verständnis dieser Variabilität ist aus unterschiedlichen Gründen
von Bedeutung. Zum einen tragen intra-annuelle bis mehrdekadische Variationen im MSL einen signiikanten Teil zum Überlutungsrisiko bei, da sie quasi eine Art Vorfüllung des Nordseebeckens
darstellen, auf der Sturmluten aufsatteln können. Zum anderen
sind Prozesse an der Variabilität beteiligt, deren Verständnis zur Verbesserung globaler und regionaler Klimamodelle beitragen kann.
Des Weiteren maskieren vor allem die längerfristigen Variationen
zu erwartende Beschleunigungen als Folge des anthropogenen
Klimawandels (DANGENDORF et al. 2014a, HAIGH et al. 2014).
Abbildung 4A zeigt beispielhaft die monatliche MSL-Zeitreihe
des Pegels Cuxhaven (Pegel in der südöstlichen Nordsee zeigen
die größte Variabilität, s.a. DANGENDORF et al. 2014a) sowie eine
über ein 12-monatiges gleitendes Fenster geglättete Ausgleichsfunktion zur Darstellung inter-annueller Schwankungen. Es ist
deutlich sichtbar, dass der MSL durch Fluktuationen in einem
Bereich von ± 60 cm charakterisiert ist, wobei der größte Anteil
dieser Variabilität innerhalb eines Jahres auftritt. Das wohl mar-
Jensen et al.: Meeresspiegeländerungen in der Nordsee ... DOI: 10.5675/HyWa_2014,6_1 I Fachartikel
kanteste Signal in den monatlichen MSL-Zeitreihen ist der saisonale Zyklus (Partialtide Sa, s.a. DANGENDORF et al. 2012, PATTULLO et al. 1955, PLAG & TSIMPLIS 1999, TSIMPLIS & WOODWORTH
1994), dessen mittlere Ganglinie in Abbildung 4B dargestellt ist.
Die mittlere Amplitude beträgt rund 10 cm in Cuxhaven und sein
Maximum erreicht der mittlere saisonale Zyklus an allen Pegeln
in der Deutschen Bucht im November (DANGENDORF et al. 2012,
DANGENDORF et al. 2013a, JENSEN et al. 1992). DANGENDORF et
al. (2012) konstatierten eine stark divergente saisonale Entwicklung in den vergangenen 60 Jahren (Abb. 4B) mit bis zu dreimal
so großen Trends in den Monaten Januar bis März verglichen zu
den übrigen Monaten. Diese Entwicklung führte vor allem in den
1980er Jahren zu einer Erhöhung der Amplitude des saisonalen
Zyklus auf rund 15 cm in Cuxhaven (Abb. 4C, s.a. PLAG & TSIMPLIS
1999) und wurde maßgeblich durch Änderungen in der atmosphärischen Zirkulation über dem Nordatlantik (Nordatlantische
Oszillation, NAO, HURREL et al. 2003) sowie einhergehenden
Veränderungen im regionalen Windklima (DANGENDORF et al.
2013a, 2013b) verursacht. Dies hatte unter anderem eine leichte
Verschiebung der Phase des saisonalen Zyklus, mit einer Anhäufung der Maxima in den Monaten Januar und Februar, zur Folge
(DANGENDORF et al. 2012). Derartige Entwicklungen werden
bisweilen wenig beachtet, haben aber einen nicht unerheblichen
Beitrag zum Sturmlutgeschehen (WAHL et al. 2014) und sollten
daher auch in Zukunft weiter beobachtet werden, vor allem unter Berücksichtigung der Tatsache, dass einige Klimamodelle auf
eine zukünftige Intensivierung des saisonalen Zyklus in der südlichen Nordsee hindeuten (DANGENDORF et al. 2014b).
60
MSL [cm]
40
Auf dekadischen Zeitskalen ändert sich dies jedoch grundlegend.
Die dominierende Komponente dekadischer Wasserstandsvariabilität ist die Sterik (Temperatur- und Wärmehaushalt) sowie die einhergehenden Massenumverteilungsprozesse (DANGENDORF et
al. 2014a, STAMMER et al. 2013). Durch die Trägheit der sterischen
Komponente sowie der großskaligen Wirkung der Antriebsfaktoren weisen dekadische Variabilitätsmuster oftmals eine gleiche
Ausprägung über große räumliche Distanzen auf. Abbildung 6A
zeigt den Nordsee-MSL-Index (Mittelwert aller 22 hier berücksichtigten Pegel, korrigiert für GIA-Efekte) im Vergleich zu vier ausgewählten Stationen im Nordatlantik und dem Mittelmeer (Brest,
Cascais, Tenerifa, Triest). Es ist ofensichtlich, dass die Pegel auf dekadischen Zeitskalen ein sehr ähnliches Verhalten aufweisen, was
auf einen gemeinsamen Antriebsfaktor schließen lässt. CALAFAT et
al. (2012) zeigten für einige Stationen im Nordostatlantik sowie im
Mittelmeer, dass die dekadische Wasserstandsvariabilität zu einem
Monatswerte
12 monatliche Glättung
20
0
60
−20
40
−40
−60
1900
A
1925
1950
1975
2000
Zeit [a]
Amplitude Sa [cm]
Die Anomalien des Nordsee-MSL
abseits des saisonalen Zyklus werden vor allem auf inter-annuellen
Zeitskalen stark durch lokale atmosphärische Einlüsse geprägt
(ALBRECHT & WEISSE 2012, HEYEN
et al. 1996, JEVREJEVA et al. 2005,
LANGENBERG et al. 1999, TSIMPLIS
et al. 2005, WAKELIN et al. 2003,
WOODWORTH et al. 2007, YAN et
al. 2004). Dies ist insbesondere in
den geringen Wassertiefen der
Nordsee sowie der Lage im Einlussgebiet der NAO begründet.
Die in der Region dominanten
Westwinde (Abb. 5A) sorgen, neben der topograisch bedingten
Zirkulation der Gezeitenwelle,
für eine überwiegend zyklonal
(gegen den Uhrzeigersinn) ausgerichtete Residualzirkulation (im
weitesten Sinne unter Nichtberücksichtigung kleinerer Unterbrechungen der beckenweiten
Zirkulation (KAUKER et al. 2000)),
welche sich bei gegenläuigen
Windbedingungen auch umkehren kann (Abb. 5B, SÜNDERMANN
& POHLMANN 2011). Während
entlang der norwegischen (RICHTER et al. 2012) und englischen
Nordseeküste
(WOODWORTH
et al. 2009a) der größte Teil der
MSL-Schwankungen auf den Luftdruck und daher den inversen
barometrischen Efekt zurückgeführt werden kann, sind für die
südlichen Küsten (vor allem die Deutsche Bucht) Westwinde
und der resultierende Windstau entlang der Küste der dominante Antriebsfaktor (CHEN 2013, DANGENDORF et al. 2014a).
Die Dominanz dieser lokalen atmosphärischen Einlussfaktoren
erstreckt sich hauptsächlich auf Zeitskalen von Monaten bis hin
zu einigen Jahren und sorgt dafür, dass die inter-annuellen Wasserstandsschwankungen innerhalb der Nordsee weitestgehend
vom Nordatlantik entkoppelt sind (DANGENDORF et al. 2014a,
TSIMPLIS & SHAW 2008, WAHL et al. 2013).
25
MSL [cm]
HW 58. 2014, H. 6
20
Monatswerte
Saisonaler Zyklus
Positiver Trend
Negativer Trend
0
−20
−40
20
B
−60
15
J F M A M J J A S O N D
10
Zeit [Monat]
5
Amplitude Sa
Amplitude Sa: 68% Konfidenzintervall
Amplitude Sa: 95% Konfidenzintervall
0
−5
1900
C
1925
1950
1975
2000
Zeit [a]
Abbildung 4
A) Monatliche MSL-Zeitreihe am Pegel Cuxhaven über den Zeitraum 1900–2011 (blau) sowie die
zugehörige 12-monatige Glättung (rot) zur Kennzeichnung der inter-annuellen Variabilität. B) Der
mittlere saisonale Zyklus (schwarze Balken) über den Zeitraum 1951–2008 am Pegel Cuxhaven sowie die
monatlichen Anomalien (blau). Monatliche Teilzeitreihen, welche einen statistisch signiikanten Trend
aufweisen, sind ebenfalls dargestellt (rot = positiv; hellblau = negativ). Die graue Schraierung markiert
die beiden Monate, in denen der saisonale Zyklus im Mittel sein Minimum/Maximum erreicht. C) Zeitliche
Entwicklung der Amplituden der jährlichen Komponente (Sa) des saisonalen Zyklus, hier mit Hilfe einer
gleitenden Fourier-Analyse ermittelt (Zeitfenster: 5 Jahre). Die zugehörigen Schätzunsicherheiten sind
ebenfalls dargestellt.
A) Monthly MSL record at the tide gauge of Cuxhaven over the period from 1900-2011 (blue) as well as a
12-month moving average ilter (red) highlighting the inter-annual variability. B) The mean seasonal cycle
(black horizontal lines) at Cuxhaven over the period from 1951–2008 in combination with its monthly anomalies (dark blue). Monthly sub-series showing a statistically signiicant long-term trend are also shown (red
= positive; light blue = negative). The grey shading marks the two months in which the mean seasonal cycle
reaches its minimum/maximum. C) Temporal development of amplitudes of the seasonal cycle estimated with
a moving Fourier-Analysis (window: 5 years). The corresponding estimation errors are also shown.
311
Fachartikel I DOI: 10.5675/HyWa_2014,6_1 Jensen et al.: Meeresspiegeländerungen in der Nordsee ...
80N
6
0.5 m/s
4
60N
50N
2
40N
A
0
80N
Breitengrad [°]
70N
−2
Luftdruckanomalie [hPa]
Breitengrad [°]
70N
60N
50N
−4
40N
B
30N
60W
−6
40W
20W
0E
20E
40E
Längengrad [°]
Abbildung 6B zeigt die Korrelationen der dekadischen Komponente (48-monatiges gleitendes Mittel) der mittleren Nordsee Bodendruckanomalien (Diferenz aus Wasserstand und Sterik, daher
ein Maß der Massenumverteilung im Ozean) mit jeder einzelnen
Gridpunktzeitreihe aus einem regionalen Ozeanmodell (MICOM,
SANDØ et al. 2012). In der Nordsee ist diese Komponente aufgrund der geringen Wassertiefen dominant (PIECUCH et al. 2013).
Die räumliche Korrelationsanalyse bestätigt die auf Satellitenaltimetrie und Sterik basierenden Ergebnisse von DANGENDORF et
al. (2014a), dass die Wasserstandsvariabilität in der Nordsee auf
312
dekadischen Zeitskalen eine starke Kovariabilität
mit dem Nordatlantik aufweist (Wavelet Kohärenzbetrachtungen zeigen die größten Korrelationen
im Frequenzbereich von 8 bis ~ 30 Jahren). Diese
Korrelationen beschränken sich jedoch auf ein
recht schmales Band von wenigen 100 Kilometern
entlang der Küste bzw. des Kontinentalhanges,
was vermuten lässt, dass Küstenkelvinwellen, die
in der nördlichen Hemisphere mit der Küste zu
ihrer Rechten nordwärts propagieren, den Hauptantriebsfaktor darstellen. Die Variationen erreichen
in der Nordsee Amplituden von ungefähr ± 5 cm
und stellen somit auch eine Komponente von Extremwasserständen dar. Die Vermutung, dass Küstenkelvinwellen die dekadische Variabilität in der
Nordsee antreiben, hat zudem weitreichende Folgen für die Modellierung. Küstenkelvinwellen agieren auf einer räumlichen Skala unter 30 km, einer
Aulösung, die globale Klimamodelle nicht aufweisen. Für eine adäquate Modellierung dekadischer
Wasserstandsschwankungen in der Zukunft müssen daher die richtigen Modellrandbedingungen
gewählt werden. So muss beispielsweise beim dynamischen Downscaling darauf geachtet werden,
dass die zugrunde liegenden numerischen Modelle
den Nordostatlantik berücksichtigen.
7
Nichtlineare säkulare Änderungen im
Nordsee-MSL
In den vergangenen Jahren lag ein verstärkter
Fokus von MSL-Studien auf der Identiizierung
möglicher Beschleunigungsvorgänge auf dekadischen und multi-dekadischen Zeitskalen (z.B.
CHURCH and WHITE 2006, GEHRELS & WOODWORTH 2013, HAIGH et al. 2014, JEVREJEVA et al.
2006, 2008, 2014, WOODWORTH et al. 2009b). Seit
der Etablierung der Fernerkundung des globalen
Meeresspiegels mit Hilfe von Satelliten (belastbare Daten liegen ab 1993 vor) beobachten Wissenschaftler einen beschleunigten Anstieg von rund
3,2 mm/a (CHURCH et al. 2013). Auch wenn der Anstieg über das
20. Jahrhundert im Schnitt nur rund 1,7 mm/a betrug (CHURCH
et al. 2013), sind ähnlich hohe Raten wie in den vergangenen
rund 20 Jahren auch schon zwischen 1920 und 1950 aufgetreten (CHURCH et al. 2013). Im Zuge des Klimawandels wird eine
weitere Beschleunigung in den Anstiegsraten gegenüber den
aktuellen bzw. vergangenen Raten erwartet (maßgeblich beeinlusst durch die Massenzufuhr der großen Eisschilde in Grönland
und der Antarktis). So geht der Weltklimarat in seinem fünften
Sachstandsbericht von einem Modell und Szenario abhängigen
Anstieg bis zum Ende des 21. Jahrhunderts von 26 bis 98 cm
relativ zur Jahrtausendwende aus (CHURCH et al. 2013). Die Ergebnisse semi-empirischer Modelle basierend auf der Beziehung
zwischen der globalen Mitteltemperatur und dem globalen
MSL prognostizieren sogar Anstiege im Bereich von 1,5 bis 2 m
(MOORE et al. 2013, RAHMSTORF 2007). Die Identiizierung einer
weiteren Beschleunigung relativ zu den vergangenen Beobachtungen sowie die Quantiizierung ihrer Stärke kann dabei helfen,
den Entwicklungspfad, dem das globale Klima aktuell folgt, zu
identiizieren und entsprechende Anpassungsmaßnahmen (beispielsweise im Küstenschutz) einzuleiten.
Abbildung 5
Anomalien des Luftdrucks (Kontourlinien und Schraierung) und des Windes (Vektoren)
in Zeiten besonders hohem (> 2 Standardabweichungen A)) bzw. besonders niedrigem
(< 2 Standardabweichungen B)) MSL in der Deutschen Bucht (nach DANGENDORF et al.
2014b).
Anomalies of sea level pressure (colored contours) and wind (black vectors) during times of
particular high (> 2 standard deviations A)) and particular low (< 2 standard deviations B))
MSL in the German Bight (adapted from DANGENDORF et al. 2014b).
großen Teil an Schwankungen in den vorwiegend südwärts gerichteten Küstenlängswinden westlich von Afrika, Portugal und Frankreich gekoppelt sind. Schwankungen in den Küstenlängswinden
und den daraus resultierenden Änderungen in den Auf- und Abtriebsprozessen entlang der Küste lösen sogenannte Küstenkelvinwellen (englisch: coastally trapped waves) aus, welche dann über
tausende von Kilometern polwärts propagieren können (CALAFAT
et al. 2013, GILL 1982). DANGENDORF et al. (2014a) fanden Hinweise, dass dieses Signal auf seinem Weg nordwärts auch die Nordsee
beeinlusst und so dekadische MSL-Variationen hervorruft.
HW 58. 2014, H. 6
Jensen et al.: Meeresspiegeländerungen in der Nordsee ... DOI: 10.5675/HyWa_2014,6_1 I Fachartikel
A
B
110
0.8
0.6
0.2
0
−0.2
Korrelation [-]
0.4
90
−0.4
70
−0.6
MSL [cm] + Offset
−0.8
50
Nordsee Index
30
Brest
Cascais
10
Tenerife
Trieste
−10
1850
1875
1900
1925
1950
1975
2000
Zeit [a]
Abbildung 6
A) Monatliche MSL-Zeitreihen (geglättet mit einem 48-monatigen
gleitenden Mittel und GIA-korrigiert) der Nordsee (blau, mittlerer Index,
d.h. Mittel aus allen 22 Tidepegeln) sowie vier ausgewählten Stationen (schwarz) im Nordostatlantik (Brest, Cascais, Tenerifa, Trieste). Die
Zeitreihen weisen markante Übereinstimmungen in ihrer Variabilität auf.
B) Räumliche Korrelationen zwischen den mittleren Nordsee Bodendruckanomalien (gemittelt über 50–62°N und 358–10°W, s. schwarzes
Fenster) und jeder einzelnen Gridpunktzeitreihe aus der Nordatlantikreanalyse MICOM nach SANDØ et al. (2012) über den Zeitraum 1952–2007.
Signiikant positive Korrelationen erstrecken sich von der norwegischen
Küste bis zu den Kanarischen Inseln, wobei sich die Korrelationen auf ein
schmales Band von wenigen 100 Kilometern entlang des Kontinentalhanges beschränken. Die Positionen der vier verwendeten Stationen in
A) sind als graue Punkte in B) dargestellt.
Monthly MSL time series (smoothed with a 48 month moving average ilter
and GIA corrected) for the North Sea (blue, averaged index series from all
22 tide gauges) and four selected stations in the Northeast Atlantic (Brest,
Cascais, Tenerife, Trieste). The time series show distinctive coherence in
terms of decadal variability. B) Spatial correlations between the spatially
averaged ocean bottom pressure anomalies in the North Sea (50–62°N and
358–10°W, black window) and each grid point time series from the ocean
reanalysis MICOM (SANDØ et al., 2012) over the period 1952–2007. Signiicant positive correlations are found in a narrow band of a few hundreds
of kilometers along the continental slope extending from the Norwegian
coastline down to the Canary Islands. The four locations of the tide gauge
records in A) are shown as grey dots in B).
auf Pegel in der Nordsee bzw. in der Deutschen Bucht. Für einen
moderaten MSL-Anstieg in der Größenordnung von 0,5 m bis
2100 zeigten die Autoren, dass eine signiikante Beschleunigung
frühestens nach 2070 detektierbar ist. Für höhere Projektionen
zwischen 1 und 2 m ist dies schon in den 2030er bzw. den 2020er
Jahren möglich. Gleichzeitig impliziert dieses Ergebnis, dass ein
langfristiges Ausbleiben (bis ~ 2030–2040) der Beschleunigung
das Erreichen der größten Projektionen (1,5–2 m) bis 2100 der semi-empirischen Modelle unwahrscheinlich werden lässt. Da der
Zeitpunkt der Detektion maßgeblich von der Ausprägung der
inter-annuellen bis mehrdekadischen Variabilität abhängig ist,
versuchten DANGENDORF et al. (2013a, 2014a), die maßgebenden Prozesse an der Wasserstandsvariabilität zu identiizieren
(Kap. 6) und anschließend aus den Beobachtungsdaten herauszuiltern. Für die Zeitreihen in der Nordsee ist nach einer solchen
Korrektur die Detektion einer signiikanten Beschleunigung je
nach Standort und Projektion teils bis zu 60 Jahre früher, dabei
aber frühestens in den 2020er Jahren, möglich.
Abbildung 7A zeigt die MSL-Zeitreihen für den mittleren Nordseeindex vor und nach der atmosphärischen Korrektur sowie
die Zeitreihe der atmosphärischen Komponente über den Zeitraum 1900 bis 2011 (Pegel sowie Paläodaten deuten darauf hin,
dass sich der Meeresspiegel in der Nordsee/Nordostatlantik
Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts von relativ konstanten Raten über die vergangenen rund 2000 Jahre auf die aktuellen Raten des 20. Jahrhunderts von rund 1,6–1,7 mm/a beschleunigt hat. Diese Beschleunigung wird unter anderem mit
erhöhten Schmelzraten des grönländischen Eisschildes sowie
der arktischen Gletscher in Verbindung gebracht (s.a. CHURCH
et al. 2013, GEHRELS & WOODWORTH 2013, WAHL et al. 2013).
In Abbildung 7B sind die zugehörigen Trendraten (19 Jahre gleitend) dargestellt. Die Entwicklung ist durch hohe Anstiegsraten
zu Beginn und Ende des 20. Jahrhunderts und geringeren Raten
50
NSI: atmosphärische Komponente
NSI: gemessen
NSI: atmosphärisch korrigiert
25
MSL [cm]
HW 58. 2014, H. 6
0
−25
HAIGH et al. (2014) zeigten kürzlich auf Basis von zwölf globalen
und regionalen MSL-Zeitreihen unter Verwendung zweier gängiger Detektionsverfahren (gleitende Trends bzw. Anpassung
quadratischer Funktionen) und den möglichen MSL-Projektionen
zwischen 0,5 und 2 m, dass eine signiikante weitere Beschleunigung an vielen Pegeln weltweit unter Berücksichtigung gängiger
Projektionen oftmals nicht vor den 2020er bzw. 2030er Jahren
erwartet werden kann. Regionale Diferenzen ergeben sich bei
dieser Betrachtung maßgeblich aus dem Grad der den Zeitreihen anhaftenden inter-annuellen bis mehrdekadischen Variabilität sowie der jeweiligen MSL-Projektion. DANGENDORF et al.
(2014a) übertrugen das Verfahren von HAIGH et al. (2014) auch
Trendraten [mm/a]
A
−50
5
2.5
0
B
−2.5
1900
1920
1940
1960
1980
2000
Zeit [a]
Abbildung 7
A) Monatsmittelwertzeitreihen des gemessenen (blau) und atmosphärisch korrigierten (rot) MSL sowie der atmosphärischen Komponente
(grau). B) Zugehörige 19-jährige gleitende Lineartrends ± 2SE.
A) Monthly MSL time series of observed (blue) and atmospherically
corrected (red) MSL as well as the atmospheric component (grey). B) The
corresponding 19 year moving linear trends ± 2SE.
313
Fachartikel I DOI: 10.5675/HyWa_2014,6_1 Jensen et al.: Meeresspiegeländerungen in der Nordsee ...
in den 1960er Jahren geprägt. Diese Entwicklung kann zu einem
Teil (aber keinesfalls vollständig) über atmosphärisch induzierte Schwankungen innerhalb der Nordsee erklärt werden, die in
direktem Zusammenhang mit den multi-dekadischen Trends
in der NAO stehen (HURREL et al. 2003). Die größte Erklärungskraft hat die atmosphärische Komponente auf inter-annuellen
Zeitskalen (Kap. 6). Da die Schwankungen auf diesen Zeitskalen
auch am größten sind, bewirkt die atmosphärische Korrektur
hier vor allem eine Reduzierung des Standardfehlers und da-
4
3
2
Trend MThb [mm/a]
6
1
A
0
40
20
0
−20
B
−40
MSL [cm]
40
MSL (Jahreswerte)
99. Perzentil (Jahreswerte)
0
T MSL = 2,1 ± 0,3 mm/a
T PCT99 = 3,1 ± 0,6 mm/a
C
−40
−40
M2 Amplitude [cm]
160
150
16
M2 Amplitude (Jahreswerte)
M2 Phase (Jahreswerte)
14
140
12
130
T M2 Phase = −0,26 ± 0,1 °/a
T
= 1,0 ± 0,4 mm/a
D
10
M2 Phase [°]
Wasserstand [cm]
MThb (monatlich um saisonalen Zyklus bereinigt)
MThw (19 jährliches gleitendes Mittel)
MTnw (19 jährliches gleitendes Mittel)
99. Perzentil [cm]
mit der Unsicherheiten längerfristiger Beschleunigungen. Der
generelle Verlauf der Anstiegsraten bleibt dabei jedoch erwartungsgemäß erhalten, was den Rückschluss zulässt, dass
ozeanograische Prozesse (Sterik) bzw. die Massenkomponente
die Variabilität in den Trendraten dominieren. Abschließend
bleibt dementsprechend festzuhalten, dass der Meeresspiegel
in der Nordsee seit Beginn des 20. Jahrhunderts alternierende
Phasen starken und weniger starken Anstiegs gezeigt hat. Dabei waren die Raten jedoch immer positiv (Säkulartrend). Vor
allem kürzere Phasen höherer oder niedriger Trendraten
können teilweise über Wind
und Luftdruckschwankungen
erklärt werden, jedoch bleibt
auch nach der atmosphärischen Korrektur die generelle
multidekadische
Charakteristik erhalten. Demnach hat
der MSL in der Nordsee in den
vergangenen rund 30 Jahren
eine Beschleunigung in den
Anstiegsraten erfahren. Diese
ist jedoch auf Basis historischer
Beobachtungsdaten nicht als
außergewöhnlich zu bezeichnen. Dies steht im Einklang mit
dem Verhalten, das aus den
Projektionen für das 21. Jahrhundert zu erwarten ist (daher:
die Detektion einer Beschleunigung, die sich signiikant von
vergangenen Beobachtungen
40
unterscheidet, kann nicht vor
den 2020er Jahren erwartet
werden, s.a. DANGENDORF et al.
0
2014a, HAIGH et al. 2014).
7
5
HW 58. 2014, H. 6
M2 Amplitude
120
8
1900
1910
1920
1930
1940
1950
1960
1970
1980
1990
2000
2010
Zeit [a]
Abbildung 8
Veränderungen im Tideregime der Deutschen Bucht. A) Lineartrends im Tidehub an 11 unterschiedlichen Pegelstandorten zwischen 1954 und 2011. B) Tidehubentwicklung (grau, Monatsmittelwerte) und Änderungen
in den MThw (rot, 19-jähriges gleitendes Mittel) und MTnw (blau, 19-jähriges gleitendes Mittel) am Pegel
Cuxhaven seit 1900. Alle Zeitreihen wurden für das Startjahr auf null gesetzt. C) Zeitreihen des 99. Jahresperzentils (rot) und des MSL (schwarz) aus Stundenwerten am Pegel Cuxhaven über den Zeitraum 1918 bis
2008. Lineartrends sind ebenfalls angegeben. D) Simultane Veränderungen in den jährlichen Amplituden
und Phasen der M2-Gezeit. Die Werte stammen aus einer Partialtidenanalyse mit der MATLAB Software
T-Tide (PAWLOWICZ et al. 2002).
Changes in the tidal regime of the German Bight. A) Linear trends in the tidal range at 11 diferent tide gauge locations between 1954 and 2011. B) Tidal range development (grey, monthly means) and changes in the mean tidal
high waters (red, 19 year moving average ilter) and mean tidal low waters (blue, 19 year moving average ilter) at
the tide gauge of Cuxhaven since 1900. All time series were adjusted with an artiicial ofset and start with zero. C)
Time series of the annual 99th percentiles (red) and corresponding MSL (black) based on hourly measurements at
Cuxhaven over the period 1918–2008. Linear trends are also shown (thick solid lines). D) Simultaneous changes
in the annual amplitudes and phases of the M2 tide. The values have been computed using the MATLAB-Software
t-tide (PAWLOWICZ et al. 2002).
314
8 Änderung der NordseeTidedynamik und des
Tidehubes
Aus den vorgenannten Änderungen des mittleren Meeresspiegels in der Nordsee bzw. der
Deutschen Bucht ergibt sich die
Frage: Wie verändern sich die
Gezeiten bzw. die Tidedynamik
und die Sturmlutwasserstände?
Neben den beobachteten Änderungen im MSL zeigen Untersuchungen von Pegelzeitreihen
entlang der deutschen Nordseeküste, dass sich der Anstieg
der mittleren Tidehochwasser
(MThw) seit den 1950er Jahren
beschleunigt hat, die mittleren
Tideniedrigwasser (MTnw) leicht
abgesunken sind bzw. sich nur
unwesentlich verändert haben und der mittlere Tidehub
(MThb) deutlich zugenommen
hat (FÜHRBÖTER & JENSEN 1985,
HW 58. 2014, H. 6
Jensen et al.: Meeresspiegeländerungen in der Nordsee ... DOI: 10.5675/HyWa_2014,6_1 I Fachartikel
HOLLEBRANDSE 2005, JENSEN 1984, JENSEN et al. 1992, JENSEN
& MUDERSBACH 2007, WOODWORTH 1991).
1. Die Tidewelle verhält sich wie eine stehende Welle, bei der
die Erhöhung der Eingangswelle (= Anstieg des MSL, Tidehochwasser) die Relexion verstärkt (FÜHRBÖTER & JENSEN
1985).
2. Da sich die Erhöhung des Tidehubs im Wesentlichen auf
den Zeitraum Ende der 1950er Jahre bis in die 1990er Jahre
bezieht, könnte auch die Summe der Baumaßnahmen an
der Nordseeküste, wie z.B. die verstärkten Küstenschutzmaßnahmen entlang der Nordseeküste (Deiche, Sperrwerke, s.a. Generalplan Küstenschutz) nach den Sturmluten
1953 in den Niederlanden und 1962 und 1976 in Deutschland für ein verändertes Relexionsverhalten der Tidewelle
verantwortlich sein.
3. Die Zentren der Amphidromien in der Nordsee verschieben sich auf Grund der Erhöhung des MSL bzw. MThw von
der östlichen deutschen bzw. niederländischen Küste nach
Westen Richtung englische Küste (FÜHRBÖTER & JENSEN
1985, JENSEN & ARNS 2010). Das erklärt eine Erhöhung des
Tidehubs an der deutschen Nordseeküste und eine entsprechende Reduzierung an der englischen Küste.
4. Denkbar ist auch eine Kopplung der in MUDERSBACH et
al. (2013) und DANGENDORF et al. (2013c) genannten
Prozesse, d.h. saisonale Veränderungen im lokalen und
regionalen Windregime (SIEGISMUND & SCHRUM 2001)
Die Änderung der Tidedynamik mit einer dramatischen Erhöhung des Tidehubes (bis zu 10 %, s.o.) ist in der Deutschen Bucht
bzw. der Nordsee für das Küsteningenieurwesen von großer
Bedeutung. Eine Zunahme des Tidehubes ist gleichzusetzen mit
einem Anstieg der Flutstrom- und Ebbstromgeschwindigkeiten
im Nordseebecken und an der gesamten deutschen Nordseeküste. Dieser Prozess ist schematisch in Abbildung 9 dargestellt.
Da die Erosions- und Sedimentationsprozesse bzw. die Küsten-
Einfluss von Veränderungen der Gezeiten
∆ Thw
Tidehub [−]
Kenterpunkt
∆ MSL
Heutige Tide
Zukünftige Tide
Heutiger MSL
Zukünftiger MSL
A
∆ Geschwindigkeit
Fießgeschwindigkeit [−]
Abbildung 8A zeigt die Lineartrends des mittleren Tidehubs
zwischen 1954 und 2011 für 11 ausgewählte Küstenpegel in der
Deutschen Bucht. Es ist deutlich zu erkennen, dass alle 11 Pegel
signiikant positive Trends aufweisen, die je nach Standort zwischen ~ 1 und ~ 7 mm/a variieren. Die größten Trends inden sich
in Emden, einem Gebiet, das stark durch den Ausbau der Ems und
des zugehörigen Sperrwerks geprägt ist (DE JONGE et al. 2014,
JENSEN et al. 2005) sowie den Pegeln entlang der schleswig-holsteinischen Küste. Am Beispiel des Pegels Cuxhavens (Abb. 8B)
wird deutlich, dass die beobachteten Veränderungen Mitte der
1950er Jahre begonnen haben. Gleichzeitig zeigen alle Pegel in
der Deutschen Bucht signiikant höhere Trends in den Extremwasserständen als im MSL auf (DANGENDORF et al. 2013c, JENSEN et
al. 1992, MUDERSBACH et al. 2013; für das Beispiel Cuxhaven s.a.
Abb. 8C). Diese Entwicklung weist auf erhebliche Veränderungen
in der Tidedynamik der Deutschen Bucht hin. MUDERSBACH et
al. (2013) vermuten als Begründung eine Veränderung in den
Hauptpartialtiden. Sie weisen, in Übereinstimmung mit MÜLLER
et al. (2012), auf signiikant positive Trends in den Amplituden
und signiikant negative Trends in den Phasen vor allem in der
halbtägigen M2-Gezeit seit Mitte des 20. Jahrhunderts hin (Abb.
8D). DANGENDORF et al. (2013c) argumentieren außerdem, dass
die beobachteten Veränderungen ebenfalls durch eine signiikante dekadische bis mehrdekadische Variabilität überprägt werden. So stimmen beispielsweise die multi-dekadischen Residualtrends zwischen den hohen Wasserstandsperzentilen und dem
MSL im Winter mit den beobachteten multi-dekadischen Trends
in der NAO überein (DANGENDORF et al. 2013c). Eine endgültige
Beantwortung der Frage, welche Prozesse die Veränderungen im
Tideregime ausgelöst haben, ist weiterhin ofen (Modellstudien
(barotrop) bilden diese Änderungen bisher nicht oder nur unzureichend ab, z.B. PICKERING et al. 2012 und Referenzen darin) und
bedarf weiterer intensiver Untersuchungen. Folgende Ursachen
können u.a. vermutet werden:
in Kombination mit saisonalen Veränderungen in den
Schichtungsverhältnissen (SÜNDERMANN & POHLMANN
2011) der Nordsee, die zu Veränderungen in internen Tiden
(MÜLLER et al. 2014) und damit in den einzelnen Partialtiden (MUDERSBACH et al. 2013) geführt haben könnten.
Der Grund liegt hierbei in einem sich verändernden Einluss der Bodenreibung bei einer durch Schichtungsänderungen modiizierten internen Reibung. Beispiele für
solche Prozesse wurden in MÜLLER (2012) diskutiert.
B
0
100
200
300
400
500
Zeit [Minuten]
600
700
Abbildung 9
Schematische Darstellung von Veränderungen im lokalen Tideregime in
Folge einer Erhöhung des MSL: A) Mittlere Tidekurve, B) die resultierenden
Flut- und Ebbstromgeschwindigkeiten.
Schematic outline of changes in the local tidal regime in response to changes
in MSL: A) Mean tidal curve, and B) the resulting lood stream- and ebb tide
velocities.
315
Fachartikel I DOI: 10.5675/HyWa_2014,6_1 Jensen et al.: Meeresspiegeländerungen in der Nordsee ...
morphologie von diesen Strömungsgeschwindigkeiten nicht
linear, sondern eher exponentiell abhängig sind, sind damit erhebliche morphologische Veränderungen im Küstenvorfeld zu
erwarten, die die Existenz der lachen Außensande und auch der
Halligen und Inseln und somit auch der Festlandküste gefährden
könnten. Durch die Erhöhung der MThw entstehen auf Watten
und Außensänden größerer Wassertiefen größere Wellenhöhen
(Seegang), die wiederum größere Orbitalgeschwindigkeiten und
Brandungsenergien mit sich bringen. Dies kann zu großlächigen
Erosionen führen. Durch den erhöhten Tidehub bei gleichbleibendem oder sogar sinkendem Niedrigwasser treten in allen
Tiderinnen (vom kleinsten Priel bis zum Tideästuar) größere Strömungsgeschwindigkeiten auf, die Ausräumungen bewirken können. Diese können wiederum durch Rückkopplungsbeziehungen weitere Veränderungen des Tideregimes einleiten. Durch
die erhöhten Tideströmungen treten verstärkte Erosionen an
den Inselsockeln auf, die sich in Strandausräumungen fortsetzen
können und im Zusammenhang mit Sturmluten dann zu zunehmenden Dünen- und Klifabbrüchen führen können.
Neben diesen direkten Auswirkungen auf das Küstenvorfeld stellen die beobachteten Veränderungen im Tidehub und den Extremwasserständen relativ zum MSL auch eine Herausforderung
für den vorbeugenden Küstenschutz dar. Bisher bleiben Veränderungen im lokalen Tideregime bei der Ableitung zukünftiger
Wasserstandsprojektionen unberücksichtigt. Die Beobachtungen in der Vergangenheit verdeutlichen hingegen, dass solche
Veränderungen auch in Zukunft einen signiikanten Beitrag
liefern können, vor allem unter Berücksichtigung der Tatsache,
dass die zu erwartenden Änderungen im globalen Meeresspiegel die in der Vergangenheit beobachteten Trends signiikant
überschreiten. Für die Ableitung zukünftiger Bemessungswasserstände wird häuig approximativ angenommen, dass die Entwicklung der Extremwasserstände überwiegend linear an den
MSL gekoppelt ist (u.a. HAIGH et al. 2010, HUNTER 2011). Sowohl
die Beobachtungen (DANGENDORF et al. 2013c, JENSEN 1985,
JENSEN et al. 1992, MUDERSBACH et al. 2013) als auch Modellstudien unter Ansetzung eines hypothetischen MSL-Anstiegs von
50 cm (ARNS et al., in Revision) zeigen, dass dies für die Deutsche
Bucht nicht gültig ist.
9
Zusammenfassung und Ausblick
Im fünften Sachstandsbericht AR5 des Weltklimarates IPCC wurden neue Abschätzungen/Projektionen auf Grundlage von verschiedenen Modellen zum Meeresspiegelanstieg veröfentlicht
(CHURCH et al. 2013). Zum ersten Mal beinhalten die Projektionen auch Kartierungen regionaler Veränderungen (SLANGEN et
al. 2012, 2014). Im globalen Mittel erreichen diese Projektionen
am Ende des 21. Jahrhunderts je nach Modell und Szenario bis
zu 0,98 m relativ zur Vergleichsperiode von 1986 bis 2005. Im
vierten Sachstandsbericht AR4 von 2007 hatte man sich darauf
verständigt, dass die Erwärmung „sehr wahrscheinlich“ vom
Menschen verursacht sei; im neuen Bericht AR5 heißt es, dies sei
„extrem wahrscheinlich“.
Sicher ist, dass der MSL weiter ansteigt (z.B. durch die verzögerte
Reaktion im Ozean auf bereits beobachtete Temperaturveränderungen, s.a. LEVERMANN et al. 2013) und es besteht ein wissenschaftlicher Konsens, dass eine Beschleunigung des derzeitigen
Meeresspiegelanstiegs in den nächsten Jahrzehnten zu erwarten
ist (CHURCH et al. 2013, HAIGH et al. 2014). Wie der Anstieg für
316
HW 58. 2014, H. 6
die Nordsee aussehen wird, ist dabei deutlich schwieriger zu
beurteilen als das globale Mittel. Zwar sind kürzlich eine Reihe
unterschiedlicher Veröfentlichungen mit Projektionen unter anderem auch für die deutschen Küsten erschienen (z.B. HOWARD
et al. 2014, SLANGEN et al. 2014), jedoch basieren diese vor allem
bezüglich dynamischer Änderungen (Sterik) auf recht grobmaschigen globalen Klimamodellen. Für die Deutsche Bucht deuten diese Projektionen darauf hin, dass der MSL im Rahmen der
Modellunsicherheiten in etwa dem globalen Mittel folgen wird
(Abb. 3, SLANGEN et al. 2014).
Der derzeitige Kenntnisstand zu Änderungen der Tidedynamik
in der Deutschen Bucht und Nordsee (vom MSL über die Tidedynamik bis zu Extremwerten) kann wie folgt zusammengefasst
werden:
• Der relative Meeresspiegelanstieg in der Nordsee über den
Zeitraum 1900 bis 2011 beträgt rund 1,6 mm/a mit etwas
höheren Werten von etwa 2 mm/a für die Pegel in der Deutschen Bucht. Ein beträchtlicher Teil dieses Anstiegs (bis zu
einem Drittel) kann vermutlich lokalen Landsenkungen zugeordnet werden, die sich aus postglazialen Anteilen (GIA), aber
auch aus lokalen Senkungs- und Hebungserscheinungen (z.B.
Grundwasser- oder Gasentnahme) zusammensetzen. Die Separierung und Quantiizierung der einzelnen Komponenten
ist weiterhin eine Herausforderung. Verstärkte Bemühungen
zur Ermittlung vertikaler Landbewegungen durch CGPS sind
daher von großer Bedeutung (WEIß & SUDAU 2012). Auch die
GIA-Modelle weisen starke Unsicherheiten in der Nordsee auf
(JEVREJEVA et al. 2014). Die Weiterentwicklung dieser Modelle
in dem Gebiet der Nordsee ist somit sowohl für die Ableitung
der absoluten MSL-Anstiegsraten auf Basis von Tidepegeln als
auch aus geologischen Befunden wichtig.
• Der MSL in der Nordsee variiert sehr stark (auf saisonalen
bis multidekadischen Skalen) und ist sowohl durch lokale
(vornehmlich atmosphärisch induzierte und barotrope) als
auch externe (ebenfalls zu einem großen Teil atmosphärisch
induzierte, aber maßgeblich barokline) Einlüsse/Prozesse
bestimmt. Vor allem die Kopplung der Nordseewasserstände
mit dem Nordatlantik bedarf weiterer Untersuchungen. Dabei
kommt dem Verständnis der an die NAO gekoppelten Prozesse über dem Nordatlantik eine besondere Bedeutung zu
(CALAFAT et al. 2012, 2013, CHEN 2014, DANGENDORF et al.
2012, 2014a).
• Die Variabilität der mittleren Wasserstände stellt einen wichtigen Teil des Sturmlutrisikos dar. Für den Küstenschutz ist es
von Bedeutung, ob der MSL beispielsweise innerhalb eines
Jahres im Mittel um 20–30 cm höher oder niedriger ist. Gleiches gilt auch für dekadische Fluktuationen, die eine Größenordnung des säkularen MSL-Anstiegs über das vergangene
Jahrhundert erreichen können (CALAFAT et al. 2012, 2013,
DANGENDORF et al. 2014a, MERRIFIELD 2011). Solche Variabilitätsmuster sollten daher in die Projektionen zukünftiger
Wasserstände integriert werden (im Rahmen der Unsicherheiten sowie der Wahl des richtigen Modellaufbaus zur Ableitung
der Projektionen).
• Bisher sind für die Nordsee keine Budgetuntersuchungen
durchgeführt worden. Dies hängt zum einen mit den fehlenden historischen Informationen über die Massenkomponente
(Eisschmelze, Hydrologie) und den resultierenden “Fingerprints“ zusammen, zum anderen ist die Ermittlung der sterischen Komponente für die Nordsee recht kompliziert, da die
Wassertiefen so gering sind (die Sterik ist deiniert über das
HW 58. 2014, H. 6
Jensen et al.: Meeresspiegeländerungen in der Nordsee ... DOI: 10.5675/HyWa_2014,6_1 I Fachartikel
Integral der Wassertiefe) und sterische Signale hauptsächlich
extern verursacht sind und als Massensignal entlang der Nordseeküste sichtbar werden. Hier sind weitere Untersuchungen
unter Integration der Fernerkundung und der numerischen
Modellierung unbedingt erforderlich.
• Die bisherigen Projektionen zum Meeresspiegel basieren
größtenteils auf den Ergebnissen globaler Klimamodelle (dies
betrift vor allem die dynamischen Komponenten). Neuere
Untersuchungen deuten jedoch darauf hin, dass vor allem
die dekadischen Fluktuationen in der Nordsee an Prozesse
im Nordostatlantik mit deutlich kleineren Wirkungsradien
(< 30 km), als durch globale Klimamodelle aufgelöst, gekoppelt sind (CALAFAT et al. 2012, DANGENDORF et al. 2014a). Für
die Ableitung realistischer Szenarien (der sterischen Komponente) sollten demnach zukünftig Regionalmodelle mit den
entsprechenden Randbedingungen oder statistische Downscaling-Ansätze (ALBRECHT & WEISSE 2014, DANGENDORF et
al. 2014b) gewählt werden.
• Die Wasserstandsentwicklung in der Nordsee und vor allem
in der Deutschen Bucht ist nicht linear oder gleichförmig.
Sowohl Beobachtungen (DANGENDORF et al. 2013c, HOLLEBRANDSE 2005, JENSEN 1984, JENSEN et al. 1992, JENSEN &
MUDERSBACH 2007, MUDERSBACH et al. 2013) als auch Modellstudien (ARNS et al., in Revision) zeigen eine nichtlineare
Entwicklung mit signiikant größeren Trends in den Extremwasserständen als im MSL auf. Gleichzeitig steigt der Tidehub
seit Mitte des 20. Jahrhunderts stärker als der MSL selbst an.
Die Ursachen dieser erheblichen Veränderungen sind derzeit
zum größten Teil noch nicht erklärt. Hier besteht demnach
weiterer Forschungsbedarf, da solche Tidehubveränderungen
deutliche Änderungen in den Tidestromgeschwindigkeiten
und die daran gekoppelten Erosions- und Sedimentationsprozesse erwarten lassen. Potenzielle zukünftige nichtlineare
Entwicklungen müssen daher auch in den Projektionen unbedingt Berücksichtigung inden.
• Der derzeitige Meeresspiegelanstieg stellt bisher noch keine
direkte Gefährdung der deutschen Nordseeküste bzw. für die
vorhandenen Küstenschutzbauwerke dar. Zukünftig ist aber
von einer Beschleunigung des Meeresspiegelanstiegs auszugehen (CHURCH et al. 2013, HAIGH et al. 2014). Küstenschutzmaßnahmen sollten daher regelmäßig überprüft und ggf.
angepasst werden.
Für die weitere Verbesserung der Datenbasis sollten alle verfügbaren und noch auswertbaren historischen Pegeldaten digitalisiert, plausibilisiert und anschließend analysiert werden (s.a.
WOODWORTH 2010). Nur mit der Kenntnis der bisherigen Entwicklung lassen sich gute Abschätzungen des zukünftigen Verlaufs des Meeresspiegels ableiten. Zudem sind Pegeldaten eine
unverzichtbare Verbindung zwischen modernen Messmethoden
der Fernerkundung und geologischen Befunden. Auch die Daten
aus dem Bereich der Fernerkundung selbst (z.B. Satellitenaltimetrie, Satellitengravimetrie) stellen ein reichhaltiges Archiv mit
wertvollen Informationen vor allem zu räumlichen Mustern und
Zusammenhängen dar und sollten daher in die Analyse der Vergangenheit integriert werden.
Die daraus abgeleiteten Analysen und Rekonstruktionen des
MSL können dann auch genutzt werden, die Klimamodelle zu
verbessern bzw. zu veriizieren und validieren. In verschiedenen
Forschungsvorhaben der vergangenen Jahre wurde das Prozessund Systemverständnis der Meeresspiegeländerungen in der
Nordsee deutlich verbessert, dennoch sind weitere Forschungen
in allen Disziplinen (Meteorologie, Ozeanographie, Küstenhydrologie usw.) erforderlich, um zu verlässlichen Aussagen, insbesondere zu zukünftigen lokalen und regionalen MSL-Änderungen in
der Nordsee zu kommen.
Summary and Outlook
The 5th assessment report (AR5) of the Intergovernmental Panel
on Climate Change (IPCC) published new estimations/projections based on various models on sea level rise (CHURCH et al.
2013). For the irst time, the projections include maps of regional changes (SLANGEN et al. 2012, 2014). For the end of the 21st
century, depending on model and scenario, these projections
suggest a global mean sea level (MSL) rise of up to 0.98 m relative
to the reference period from 1986 to 2005. The IPCC report AR4
of 2007 had agreed on global warming being ”very likely“ caused
by human activities; the new report AR5 states that this is ”extremely likely“.
It is certain that MSL will continue to rise (e.g. due to the delayed
oceanic response to temperature changes already observed, e.g.
LEVERMANN et al. 2013). There is a scientiic consensus that an
acceleration of the current sea level rise is to be expected in the
coming decades (CHURCH et al. 2013, HAIGH et al. 2014). Projecting future MSL rise for the North Sea is much more diicult
than projecting the global mean. Although regional projections
(including the German Bight) have recently been published, (e.g.
HOWARD et al. 2014, SLANGEN et al. 2014), these are based on
rather large-meshed global climate models, notably in terms of
dynamic changes (steric). As for the German Bight, these projections indicate that the MSL will roughly follow the global mean
within the scope of the model uncertainties (igure 3, SLANGEN
et al. 2014).
The current state of knowledge on changes in the tidal dynamics
of the German Bight and the North Sea (from MSL via tidal dynamics to extreme values) can be summarized as follows:
• The relative sea level rise in the North Sea in the period 1900
to 2011 amounts to approx. 1.6 mm/a with slightly higher
values of approx. 2 mm/a in the German Bight. A substantial part of this rise (up to one third) can presumably be
attributed to local land subsidence activities comprising
glacial isostatic adjustment (GIA) but also local subsidence
and uplift phenomena (e.g. withdrawal of groundwater or
gas). Separating and quantifying the individual components
continues to be a challenge. Therefore, increased eforts for
ascertaining vertical land movements by means of CGPS are
vital (WEIß & SUDAU 2012). The GIA models also show high
degrees of uncertainty in the North Sea (JEVREJEVA et al.
2014). Hence, further developing these models for the North
Sea region is of importance both in terms of deriving the
absolute MSL rate of increase based on tide gauges or from
geologic records.
• The North Sea MSL varies greatly (on seasonal to multidecadal scales) and is determined both by local (primarily
atmospherically induced and barotropic) and remote (also
largely atmospherically induced but essentially baroclinic)
inluences/processes. Especially the exchange processes of
heat and mass between the North Sea and the North Atlantic
require further investigations. One major challenge is related to an improved understanding of NAO related processes
317
Fachartikel I DOI: 10.5675/HyWa_2014,6_1 Jensen et al.: Meeresspiegeländerungen in der Nordsee ...
•
•
•
•
•
318
occurring in the North Atlantic, notably on decadal scales
(CALAFAT et al. 2012, 2013; CHEN 2014, DANGENDORF et al.
2012, 2014a).
The MSL variability has also important inluences on the
height and occurrence of storm surges. For coastal protection it does matter indeed whether the MSL mean is by
20–30 cm higher or lower, for instance within a period of
one year. The same is true of decadal luctuations that can
reach an order of the secular MSL rise over the past century
(CALAFAT et al. 2012, 2013; DANGENDORF et al. 2014a, MERRIFIELD 2011). Therefore, such variability patterns should be
integrated into the projections of future water levels (within
the scope of uncertainties and the choice of the right model
set-up for deriving the projections).
To date, budget analyses have been implemented for the
North Sea. On the one hand, this is due to the lack of historical information on the mass component (ice melt, hydrology) and the resulting ingerprints. On the other hand,
estimating the steric component for the North Sea is highly
complicated given the low water depths over the shallow
continental shelf (the steric height is deined through the
integral of the water depth). Hence, steric sea level changes
in the deep ocean of the North Atlantic appear as mass changes along the North Sea coasts. Further investigations including remote sensing and numeric modelling are absolutely
indispensable.
Previous projections on the sea level were largely based on
the output of global climate models (this notably applies
to dynamic components). Recent studies indicate that especially decadal sea level luctuations in the North Sea are
linked to processes in the North Atlantic occuring on much
smaller horizontal scales (< 30 km) than resolved by global climate models (CALAFAT et al. 2012, DANGENDORF et
al. 2014a). Accordingly, regional dynamic models including
the relevant boundary conditions or statistical downscaling
approaches (ALBRECHT & WEISSE 2014, DANGENDORF et al.
2014b) should be applied in future to derive realistic scenarios
(of the steric component).
The water level development in the North Sea, and notably
in the German Bight, is not linear or uniform. Both observations (DANGENDORF et al. 2013c, HOLLEBRANDSE 2005, JENSEN 1984, JENSEN et al. 1992, JENSEN & MUDERSBACH 2007,
MUDERSBACH et al. 2013) and model studies (ARNS et al., in
revision) show a non-linear development with signiicantly
larger trends in the extreme water levels than in the MSL. At
the same time, the tidal range has been rising more strongly
than the MSL since the mid-20th century. The reasons for these substantial changes have been largely unexplained so far.
There is further need for research given that such changes in
the tidal range give reason to expect major changes in the
velocities of tidal currents and the connected erosion and
sedimentation processes. Therefore, any potential future
nonlinear changes have to be considered in the projections
by all means.
The present sea level rise does not yet pose any direct threat
to the German North Sea coast and/or the existing coastal
protection structures. However, an acceleration of the sea level rise is to be expected in future (CHURCH et al. 2013, HAIGH
et al. 2014). Hence, coastal protection measures should be
regularly reviewed and adapted as may be the case.
HW 58. 2014, H. 6
To further improve the data basis, all historical sea level records
available and still evaluable should be digitalised, validated and
inally analysed (c.f. WOODWORTH 2010). Good estimations
of the future behaviour of the sea level can only be derived by
means of knowledge of previous developments. Moreover, sea
level records are an indispensable link between modern remote
sensing methods and geological proxies. Data originating from
remote sensing (e.g. satellite altimetry, satellite gravimetry) serve
as a comprehensive archive containing valuable information, notably on spatial patterns and correlations and should therefore
be integrated into the analysis of the past.
The analyses and reconstructions of the MSL derived from this
can also be used to improve, verify and validate climate models.
In the past few years, various research projects have indeed signiicantly improved our understanding of processes behind sea
level changes in the North Sea. Nevertheless, further research in
all disciplines (meteorology, oceanography, coastal hydrology,
etc.) is required to obtain reliable statements, especially on future
local and regional changes of the MSL in the North Sea.
Danksagung
Ein Teil der hier vorgestellten Ergebnisse ist im Rahmen des Ressortforschungsprogrammes KLIWAS in Zusammenarbeit mit der
Bundesanstalt für Gewässerkunde (BfG, Hartmut Hein, Stefan
Mai, Enno Nilson) und dem Bundesamt für Seeschiffahrt und Hydrographie (BSH, Hartmut Heinrich, Anette Ganske, Birgit Klein)
entstanden. Wir danken daher beiden Partnern für die gute Zusammenarbeit. Wir danken außerdem Jan Even Øie Nilsen vom
Nansen Center in Bergen, Norwegen, für den MICOM Nordatlantik Modelllauf.
Anschriften der Verfasser:
Univ. Prof. Dr.-Ing. J. Jensen
Dr.-Ing. S. Dangendorf
Dr.-Ing. T. Wahl*
Universität Siegen
Forschungsinstitut Wasser und Umwelt
Paul-Bonatz-Str. 9-11
57076 Siegen
soenke.dangendorf@uni-siegen.de
* University of South Florida, College of Marine Science, St. Petersburg, USA
Dr. H. Stefen
Lantmäterigatan 2c, 80182 Gävle, Schweden
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