Was zeichnet ein politisches Fehlurteil aus? Überlegungen zum Verhältnis von
Wahrheit und Politik1
I. EINLEITUNG
Theorien der Urteilskraft erfreuen sich seit geraumer Zeit eines gewissen Konjunkturaufschwungs
in der Aufmerksamkeitsökonomie der politischen Theorie. Eine Vielzahl an akademischen
Publikationen feiert vor allem im angloamerikanischen Sprachraum die besondere Rolle, welche die
Urteilskraft in der Politik zu spielen vermag.2 Ganz gleich, auf welche philosophiegeschichtlichen
Referenzpunkte dabei Bezug genommen wird, zumeist wird ein Motiv der Urteilskraft als zentral
hervorgehoben: Die Urteilskraft ist deshalb in politischen Belangen wichtig, weil sie es erlaubt,
kontextsensitive Lösungen für Konflikte in pluralistischen Gesellschaften zu erarbeiten. Das
Urteilen in den Fokus zu rücken, ermöglicht der politischen Theorie also, differenzierte Vorschläge
einzubringen, die auf die konkrete Situation zugeschnitten sind. Verfechter der Urteilskraft grenzen
sich dadurch, grob gesprochen, von Strömungen innerhalb der politischen Theorie ab, die mit
abstrakten Prinzipien der Gerechtigkeit beginnen und diese auf Anwendungsfälle umlegen. Sowohl
von Aristoteles’ Begriff der phronesis inspirierte Ansätze als auch Reflexionen, die bei Kants
Ästhetik ihren Ausgang nehmen, legen Wert darauf, das Spezifische der Problemkonstellation zu
verstehen. In diesem Sinn versprechen Theorien der Urteilskraft näher an der realen Politik zu
argumentieren, als dies zumeist im liberalen Mainstream der politischen Theorie der Fall ist.
In diesem Artikel wird der Versuch unternommen, genau dieses Naheverhältnis zur realen Politik
anhand eines Beispiels zu untersuchen. Dabei möchte ich mich auf ein Thema konzentrieren, das
auf den ersten Blick vielleicht abwegig erscheinen mag, nämlich auf die Frage, welche
Verpflichtungen öffentlichen Intellektuellen erwachsen, wenn sie eines Fehlurteils gewahr werden
und dieses korrigieren wollen. Dabei verwende ich den Begriff der Verpflichtung nicht in einem
strikt moralphilosophischem Sinn, sondern ziele eher auf die gelungene Praxis von
Gesellschaftskritik ab: Es gehört zum normalen Alltag von Intellektuellen sowie BürgerInnen, in
manchen Situationen Fehlurteile in politischen Debaten zu fällen. Entscheidend für
Gesellschaftskritik ist freilich, wie mit diesen Fehlurteilen öffentlich umgegangen wird. In diesem
eingeschränkten Sinn erscheint es mir produktiv, von einer Verpflichtung in Bezug auf den Umgang
mit Fehlurteilen zu sprechen. Gelungene Gesellschaftskritik basiert demnach auf einem
verantwortungsvollen Umgang mit politischen Fehlurteilen. Natürlich ist dieses Thema alles andere
als leicht zu bearbeiten, konfrontiert es uns doch sofort mit einer Reihe weiterer Komplikationen:
Müssen sich öffentliche Intellektuelle für ein Fehlurteil entschuldigen? Welche Kriterien müsste
eine solche Entschuldigung erfüllen? Stellt eine Entschuldigung den Status vor dem Fehlurteil
wieder her oder ist die Reputation eines öffentlichen Intellektuellen unwiederbringlich beschädigt?
Wollten wir uns ernsthaft mit diesen Fragen in ihrer ganzen Tragweite auseinandersetzen, so
müssten wir wohl weiterfragen: Wie kam das Fehlurteil zustande? Auf welchen Annahmen beruhte
es? Welche Konsequenzen führte es herbei? In dieser Allgemeinheit und Unbestimmtheit lassen
sich keine vernünftigen Antworten auf solche Fragen formulieren. Darum will ich mich dem
Problem der Entschuldigung über einen Umweg annähern. Zunächst werde ich mich mit der Frage
auseinandersetzen, was eigentlich ein Fehlurteil in politischen Debatten ausmacht. In weiterer Folge
wende ich mich einer konkreten Situation zu, in welcher die angesprochene Problemstellung
virulent geworden ist. Dabei möchte ich von vornherein eine Komplikation aussparen, die zwar mit
diesem Thema einhergeht, jedoch die Ambition dieses Artikels übersteigt: Der philosophisch höchst
komplexe Akt der Entschuldigung selbst wird hier nicht eingehend beleuchtet.3 Vielmehr richtet
sich das hauptsächliche Augenmerk auf die Frage, was ein Fehlurteil in öffentlichen Debatten
ausmacht. Natürlich sind diese beiden Aspekte miteinander verknüpft – eine Entschuldigung muss
auf das Fehlurteil abgestimmt sein, will sie ihren Zweck erfüllen. Mir geht es freilich in erster Linie
darum, eine Theorie des politischen Fehlurteils anzudenken.
Zu diesem Zweck schlage ich vor, die Aufmerksamkeit auf eine Frage zu lenken, die in Hannah
Arendts Theorie der Urteilkraft eine wesentliche Rolle spielt: Welche Funktion hat die Wahrheit in
der Politik? Arendt war der Meinung, dass Urteilen eine Tätigkeit darstellt, die nicht auf
Wahrheitsansprüchen beruht, ja diesen sogar diametral entgegengesetzt ist. Wahrheit hatte für
Arendt etwas Zwingendes und Tyrannisches an sich, sobald sie in politischen Kontexten eingesetzt
wird. Deshalb erachtete Arendt Wahrheit als unvereinbar mit den pluralistischen Grundlagen
demokratischer Politik. Die Desavouierung der Wahrheit im Rahmen einer Theorie der Urteilskraft
hat indirekt Folgen für die Beurteilung von Fehlurteilen: Wenn ein Fehlurteil nicht (ausschliesslich)
durch einen gescheiterten Wahrheitsanspruch gekennzeichnet werden kann, was ist dann eigentlich
schief gelaufen und wofür muss man sich, sofern eine Verpflichtung besteht, im nachhinein
entschuldigen? Wie könnte eine Theorie des Fehlurteilens aussehen, die sich auf Arendt beruft?
Lässt sich ihr Ansatz überhaupt für die Diagnose von Fehlurteilen nutzbar machen?
Eine tentative Antwort auf diese Fragen könnte man entwickeln, indem man von Arendts Theorie
der Urteilskraft Rückschlüsse darauf zieht, was eigentlich Fehlurteile ausmacht. Diese Methode des
»reverse engineering« will ich unten zur Anwendung bringen. Fehlurteile in der öffentlichen
Debatte lassen sich gemäß dieser Methode auf eine bestimmte Art charakterisieren: nicht
(ausschließlich) durch das Scheitern eines Wahrheitsanspruchs, sondern vielmehr durch den
exzessiven Grad an Gewissheit, mit dem ein Urteil gefällt wird. Damit soll nicht gesagt sein, dass
Wahrheitsanspüche gar nichts mit politischen Urteilen zu tun haben. Wie ich mit Hilfe eines
Einwands von Ronald Beiner zeigen möchte, ist diese von Arendt inspirierte Lesart eines radikalen
Konflikts zwischen Politik und Wahrheit unzufriedenstellend, weil sie es verabsäumt, verschiedene
Facetten im Prozess des politischen Urteilens zu differenzieren. Dennoch lässt sich Arendts Ansatz
nutzen, um über die Charakteristik des politischen Fehlurteils nachzudenken. Diese Vermutung
möchte ich anhand der Kontroverse um den Irakkrieg überprüfen, wobei mir zunächst Richard
Bernsteins Reflexionen zum Begriff des Bösen als Orientierungsmarken dienen werden. Im letzten
Abschnitt dieses Textes fokussiere ich schließlich auf einen konkreten Fall: Michael Ignatieffs
Engagement für den Irakkrieg erregte im Jahre 2003 großes Aufsehen, galt der Harvard-Professor
doch stets als glühender Liberaler, der sich mit Verve für die globale Durchsetzung der
Menschenrechte engagierte. Vier Jahre später sah sich Ignatieff genötigt, seine vormalige
Positionierung auf Seiten des US-Präsidenten zu relativieren. Diese öffentliche Entschuldigung für
die frühere Parteinahme beinhaltet einige Argumente, die für unser Thema von Relevanz sind.
II. ZUM KONFLIKT ZWISCHEN WAHRHEIT UND POLITIK
In diesem Abschnitt werde ich jene Argumente zu rekonstruieren versuchen, mit denen Arendt die
Ansicht verteidigt, dass Wahrheit und Politik miteinander in Konflikt stehen. Der zentrale Text für
ein solches Unternehmen ist »Truth and Politics«4. Dennoch lässt sich Arendts Invektive gegen die
Wahrheit nicht ohne den konzeptuellen Hintergrund begreifen, vor dem ihr Politikverständnis
inszeniert wird. Letztlich müssen wir also auch Arendts Überlegungen zur reflektierenden
Urteilkraft einbeziehen, wollen wir ein vollständiges Bild des Konflikts zwischen Wahrheit und
Politik zeichnen.
Am Beginn von »Truth and Politics« steht eine Diagnose zur conditio humana, die ein
durchgängiges Motiv in Arendts Denken verkörpert: Seine Natalität stellt den Menschen vor die
existenzielle Wahl, entweder politisch in der Öffentlichkeit zu agieren, oder aber den Weg des
»Wahr-Sprechens« (truth-telling) einzuschlagen. Die Flüchtigkeit der menschlichen Existenz
erlaubt grundsätzlich diese beiden konträren Reaktionsmuster. Im Begriff der Wahrheit
unterscheidet Arendt wiederum zwischen faktischer und rationaler Wahrheit. Die rationale
Wahrheit erachtet sie als dermaßen widersprüchlich zur Politik, dass sie diesen Gegensatz zu einer
fundamentalen Spannung zwischen zwei Lebensformen stilisiert: auf der einen Seite verortet
Arendt die Lebensform der Bürgerin, auf der anderen Seite die Lebensform des Philosophen. Der
Philosoph strebt die überzeitliche Geltung der Wahrheit an, um der Flüchtigkeit der menschlichen
Existenz zu entrinnen. Damit hebt er seine Erkenntnis von der bloßen Meinung der Bürgerinnen
und Bürger ab, die permanent im Fluss bleibt und keinerlei Anspruch auf überzeitliche Geltung
haben kann. In einer klaren Volte gegen Platon behauptet Arendt also, dass Philosophie in gewisser
Weise die Verneinung der Politik nach sich zieht, denn in der öffentlichen Sphäre kann es keinen
absoluten Wahrheitsanspruch geben, der vor den Wechselfällen der Politik gefeit wäre. Faktische
Wahrheit hingegen ist aus Arendts Perspektive mit Politik vereinbar, ja sogar eine
Möglichkeitsbedingung politischen Handelns. Dies lässt sich einer Passage entnehmen, in der
Arendt zu unterstreichen sucht, dass Ansprüche auf faktische Wahrheit nicht absolut sind:
»Factual truth [...] is always related to other people. It concerns events and circumstances in which
many are involved; it is established by witnesses and depends upon testimony; it exists only to the
extent that it is spoken about, even if it occurs in the domain of privacy. It is political by nature.
Facts and opinions, though they must be kept apart, are not antagonistic to each other; they belong to
the same realm. Facts inform opinions, and opinions, inspired by different interests and passions, can
differ widely and still be legitimate as long as they respect factual truth. Freedom of opinion is a
farce unless factual information is guaranteed and the facts themselves are not in dispute. In other
words, factual truth informs politics just as rational truth informs philosophical speculation.«5
In dieser Passage scheint Arendt anzudeuten, dass die Spannung zwischen Wahrheit und Politik nur
auf die rationale Wahrheit zutrifft, während faktische Wahrheit als Grundlage für freien
Meinungsaustausch essenziell ist. Doch an späterer Stelle streicht sie überraschenderweise hervor,
dass selbst faktische Wahrheit der öffentlichen Debatte nicht zuträglich ist, da sie einen
»despotischen Charakter« besitzt. Hier lässt Arendt die Unterscheidung von rationaler und
faktischer Wahrheit also wieder fallen, um den Kontrast zwischen Wahrheit und Politik erneut
hervorzuheben.
»I form an opinion by considering a given issue from different viewpoints, by making present to my
mind the standpoints of those who are absent, that is, I represent them. This process of representation
does not blindly adopt the actual views of those who stand somewhere else, and hence look upon the
world from a different perspective; this is a question neither of empathy, as though I tried to be or
feel like somebody else, nor of counting noses and joining a majority but of being and thinking in my
own identity where actually I am not. The more people’s standpoints I have present in my mind
while I am pondering a given issue, and the better I can imagine how I would feel and think if I were
in their place, the stronger will be my capacity for representative thinking and the more valid my
final conclusion, my opinion.«6
Politisches Urteilen basiert demnach auf »repräsentativem Denken«. Eine wesentliche Bedingung
für eine gelungene öffentliche Debatte besteht wiederum darin, dass die geäußerten Meinungen
nicht bloß die subjektive Realität einzelner Individuen widerspiegeln und zum Ausdruck bringen,
sondern auf eine »unparteiliche Allgemeinheit«7 abzielen, die nicht mit einem absoluten
Wahrheitsanspruch einhergeht. Indem sich jede Person, die an der öffentlichen Debatte teilnimmt,
die Positionen aller anderen vor Augen führt, kann die lokale, idiosynkratische Verhaftung von
bloßen Meinungen überwunden werden. Daraus resultiert ein Meinungsaustausch, der das
Gemeinschaftliche des politischen Universums bekräftigt. Nur weil wir die öffentliche Sphäre mit
anderen MitbürgerInnen teilen, sind wir nämlich in der Lage, politisch zu urteilen. Die
Vergegenwärtigung anderer Standpunkte wird letztlich dadurch ermöglicht, dass alle
TeilnehmerInnen an der öffentlichen Debatte einen »Gemeinsinn« (common sense) besitzen und
diesen in der öffentlichen Debatte zum Einsatz bringen.
In ihrem Verständnis der politischen Urteilskraft, das sich in Konkurrenz zur philosophischen
Suche nach Wahrheit versteht, ist Arendt auf eminente Weise von Kants »Kritik der Urteilskraft«
beeinflusst. Auch wenn ich hier keine Rekonstruktion dieser Kant-Lektüre liefern kann, muss doch
zumindest auf eine Idee verwiesen werden, die in der »Kritik der Urteilskraft« von besonderer
Bedeutung ist. Arendt konzeptualisiert politisches Urteilen in Anlehnung an Kant als eine Tätigkeit,
die »reflektierend« verfährt. »Reflektieren« bedeutet in diesem Zusammenhang, dass das Urteil
vom Besonderen ausgeht, um ein Allgemeines zu bestimmen. Umgekehrt verhält es sich bei
»bestimmenden« Spielarten des Urteilens: Hier ist das Allgemeine gegeben, unter dem das
Besondere subsumiert werden kann. Politisches Urteilen passiert folglich stets ohne die Garantie
einer Regel oder eines Prinzips, die bereits vor dem Akt des Urteilens eruiert werden könnten. Aus
diesem Grund ist die »unparteiliche Allgemeinheit«, auf die Beiträge zur öffentliche Debatte
abzielen sollen, nicht mit Geltungsansprüchen zu verwechseln, die ohne freien Meinungsaustausch
zustande kommen.
In politischen Belangen ist eine Aussage also dann gültig, wenn sie Zustimmung durch Überreden
erlangen kann, ohne diese erzwingen zu müssen. Der Unterschied zwischen Zustimmung durch
Überreden und Zustimmung durch Erzwingen markiert ein weiters Charakteristikum gelungenen
Urteilens. Indem die Teilnehmerin an der öffentlichen Debatte ihre Meinung so formuliert, dass
möglichst viele Standpunkte einbezogen werden, verlässt sie die Sphäre bloß subjektiver Aussagen,
in der kein Platz für unparteiliche Allgemeinheit ist. Die Zustimmung der anderen ist durch die
»Beispielhaftigkeit« (exemplarity) des erhobenen Anspruchs herbeizuführen. Dieser Punkt
verdeutlicht einmal mehr, warum für Arendt Wahrheit in politischen Belangen fehl am Platz ist:
»All truths – not only the various kinds of rational truths but also factual truth – are opposed to
opinion in their mode of asserting validity. Truth carries within itself an element of coercion.
[P]ersuasion or dissuasion is useless, for the content of the statement is not of a persuasive nature but
of a coercive one.«8
Wie dem bisher Gesagten wohl unschwer zu entnehmen ist, sind Arendts Gedanken zum Verhältnis
von Wahrheit und Politik nicht konsistent. So nimmt es auch nicht Wunder, dass ihr
Argumentationsgang von verschiedenen Seiten unter Beschuss genommen wurde. Jürgen Habermas
etwa monierte, dass wir einer kognitiven Grundlage zur Regelung von Wertkonflikten verlustig
gingen, sobald wir keine auf Wahrheit abstellende Unterscheidung zwischen legitimen und
illegitimen Standpunkten in der öffentlichen Sphäre mehr treffen könnten.9 Zur Verteidigung
Arendts wurde hingegen angeführt, dass die Privilegierung von Meinungen nicht zu einem
beliebigen, und letztlich irrelevanten Gedankenspiel führen müsse, sondern primär dem Zweck
diene, Widerspruch zu ermöglichen. Nur im Widerspruch, so der Einwand gegen die ArendtKritiker, manifestiere sich schließlich die Freiheit des Menschen.10
Obwohl diese Debatten noch lange nicht an ihr Ende gelangt sind, möchte ich hier bloß auf einen
Punkt zu sprechen kommen, der mir als Kritik an Arendts Darstellung plausibel erscheint. Ronald
Beiner hat sich kürzlich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Argumente in »Truth and
Politics« gegen kognitivistische Einsprüche zu verteidigen sind.11 Beiners Antwort läuft darauf
hinaus, dass die Grundintuition Arendts, politisches Urteilen unter Bedingungen von Pluralität
denken zu wollen, durchaus wünschenswert ist; die Antagonisierung von Wahrheit und Meinung
hingegen erscheint ihm überzeichnet und unhaltbar. Der zentrale Kommentar Beiners lautet, dass
politisches Urteilen zwar unter ungewissen, offenen Vorzeichen von statten geht, dies jedoch nicht
bedeutet, dass der politischen Urteilen inhärente Anspruch auf Wahrheit dadurch vollends
desavouiert wäre. Um die öffentliche Sphäre davor zu bewahren, zum Spielplatz zynischer
Heuchelei zu verkommen, muss jedes politisches Urteil zumindest implizit beanspruchen, wahr zu
sein. Arendts Fehler besteht laut Beiner also darin, den Kontrast zwischen Wahrheit und Meinung
zu scharf zu zeichnen.
Nimmt man diesen Einwand ernst, so ergibt sich ein differenziertes Bild der Urteilskraft, in dem für
einen radikalen Konflikt zwischen Wahrheit und Politik kein Platz ist. Trotzdem birgt »Truth and
Politics« meines Erachtens eine fundamentale Einsicht, die für die folgenden Überlegungen relevant
sein wird: Politisches Urteilen basiert auf einer »erweiterten Denkungsart«, deren Zweck darin
besteht, möglichst viele Standpunkte in der Debatte einzubeziehen, bevor Stellung bezogen wird.
Dadurch bleibt der Prozess des Urteilens, wie bereits angemerkt, offen für Widerspruch und
Vielfalt. Eine derartige Sensibilität zeichnet für Arendt gelungenes politisches Urteilen aus.
Fehlurteile stehen somit zwar mit Wahrheitsanspüchen in Verbindung, die unweigerlich im Prozess
des Urteilens erhoben werden. Fehlurteile können allerdings auch dadurch gekennzeichnet werden,
dass die Forderung nach »repräsentativem Denken« außer Acht gelassen wurde. Wenn sich eine in
die öffentliche Debatte eingreifende Person dem Austausch mit anderen BürgerInnen verschließt, so
mangelt es ihrem Standpunkt an jener »beispielhaften Gültigkeit«, die gelungenes politisches
Urteilen charakterisieren muss.
Es liegt im Wesen der Sache, dass diese allgemeine Bemerkung zur Natur von Fehlurteilen nur in
konkreten Momenten überprüft werden kann. Aber wir sind doch in der Lage, abstrakt festzuhalten,
dass es eine Vielzahl an Umständen gibt, die das Zustandekommen von Fehlurteilen in konkreten
Momenten bewirken. Ich möchte jedenfalls mit Arendt die Offenheit des politischen Urteils für
Widerspruch und Vielfalt als ein besonders wichtiges Qualitätskriterium hervorheben, ohne freilich
andere Kennzeichen vollkommen ausblenden zu wollen.
Eine gute Veranschaulichung dieser diffenzierten Sichtweise der politischen Urteilskraft liefert uns
Richard Bernstein. Bernstein hat Arendts Grundgedanken in eine Richtung weiterentwickelt, die für
die Frage des Fehlurteils und das Problem der Entschuldigung von großem Interesse ist. Ich möchte
nun im Schnelldurchgang seine Auseinandersetzung mit der Rhetorik des »Kriegs gegen den
Terror« Revue passieren lassen.12 Diese Auseinandersezung veranschaulicht, wie eine diffenzierte
Sicht der politischen Urteilskraft zum Verständnis öffentlicher Kontroversen beitragen kann.
Bernsteins Engagement wurde dadurch angeregt, dass es unmittelbar nach dem 11. September 2001
in politischen Diskursen zu einer inflationären Verwendung der Kategorie des Bösen kam. Die
Regierung Bush machte sich die Unterscheidung zwischen gut und böse geschickt zunutze, um
politische Gegner zu stigmatisieren und als moralisch verwerflich zu degradieren. Auf diese Weise
wurde die Kategorie des Bösen zu einer ideologischen Waffe im Krieg gegen den Terror. Bernstein
bezeichnet diese Instrumentalisierung, wie bereits der Titel seines Buches verrät, als
»missbräuchlich«. Daraus folgt natürlich, dass es auch legitime Verwendungsweisen der Kategorie
geben muss.13 Bernstein bringt im Gegensatz zu vielen Skeptikern keinen Fundamentaleinwand
gegen die Unterscheidung zwischen gut und böse in politischen Belangen ein. Vielmehr sieht er die
Aufgabe verantwortungsbewusster Gesellschaftskritik gerade darin, zwischen legitimen und
illegitimen Gebrauchsformen der Kategorie des Bösen zu differenzieren. Damit setzt sich Bernstein
vehement von simplistischen Lesarten ab:
»The champions of the new ›evil‹ discourse claim that the only alternative to such a firm and clear
understanding of good and evil is a wishy-washy (secular) relativism that lacks the serious
commitment to oppose and eliminate evil. This is the way in which many neo-conservatives
characterize their political opponents. They are weak and vacillating; they lack the moral conviction,
realism, firmness, and fervor to do what is required to fight and eliminate evil. We are told that if we
give up on ›moral certainties‹, we will lack the backbone to fight our enemies.«14
Diese Gegenüberstellung von säkularem Relativismus und religiös verbrämter Standhaftigkeit
erscheint Bernstein illusionär. Wir können auch dann im Angesicht fundamentaler Konflikte Urteile
fällen und Stellung zu beziehen, wenn wir uns manichäistischen Zuschreibungen verweigern.
Tatsächlich besteht gerade darin die größte Herausforderung für öffentliche Intellektuelle. Bernstein
argumentiert, dass sich öffentliche Intellektuelle von einem »pragmatischen Fallibilismus« leiten
lassen sollen.15 Damit ist eine bestimmte Mentalität gemeint, die grundsätzlich von der
Widerlegbarkeit der eigenen Position überzeugt ist, ohne deshalb von der Korrektheit des
Standpunkts abzusehen. Ideengeschichtlich verankert Bernstein diese Geisteshaltung in der
Tradition des amerikanischen Pragmatismus. Der pragmatische Fallibilismus führt zu einer
revidierten Sichtweise dessen, was Gewissheit sein kann:
»It is the unspoken assumption that ›tough minded realism‹, strength, forcefulness, decisiveness, and
persistence are based upon unwavering moral certainty. For without a firm, absolute, moral
conviction, we will lack the determination to do what is required to fight evil. But here is where we
detect the gross fallacious slide from subjective moral certitude to objective moral certainty.«16
Bernstein behauptet weiters, der bloße Anspruch, über »objektive moralische Gewissheit« verfügen
zu können, stelle ein Zeichen von Unreife dar. Ganz im Einverständnis mit Arendt postuliert er,
dass die politische Urteilskraft ohne die Sicherheit solcher Ansprüche auskommen müsse. Daraus
folgt jedoch nicht, dass öffentliche Intellektuelle, die sich der Fehlbarkeit ihrer Urteile bewusst sind,
außer Stande sind, starke Positionen zu beziehen. Im Gegensatz zu dieser weit verbreiteten Ansicht
sieht Bernstein hier eine Chance für Engagement jenseits verhärteter Fronten.
Welche Schlüsse lassen sich aus diesen Überlegungen für eine Theorie des politischen Fehlurteils
ziehen? Bernsteins Unterscheidung zwischen »subjektiver moralischer Überzeugung« und
»objektiver moralischer Gewissheit« führt uns vor Augen, dass in politischen
Auseinandersetzungen davon Abstand genommen werden muss, den eigenen Standpunkt absolut zu
setzen. Für Arendt war »Wahrheit« ein Kürzel für diese Behauptung, insofern sie
Wahrheitsanspüche im Widerspruch zum freien Austausch von Meinungen konzipierte. Ein
differenziertes Bild der politischen Urteilskraft registriert die Bedeutung von Wahrheitsanspüchen,
legt aber Wert auf die Feststellung, dass die »subjektive moralische Überzeugung« niemals
dogmatisch übersteigert werden darf. Im letzten Teil dieses Essays soll versucht werden, diese
spezifische Dimension politischer Fehlurteile anhand eines konkreten Anlassfalls zu untersuchen.
III. MICHAEL IGNATIEFF UND DER IRAKKRIEG: SICH FÜR EIN FEHLURTEIL
ENTSCHULDIGEN
Ich möchte mich nun mit einer bestimmten Strategie auseinandersetzen, um Fehlurteile zu
entschuldigen. Dabei konzentriere ich mich, wie bereits angedeutet, auf einen aktuellen Anlass der
jüngsten Geschichte, der uns allen nur allzu präsent ist: Die Jahre der US-Präsidentschaft George
W. Bushs werden wohl aufgrund einer Vielzahl bedenklicher, ja erschreckender Entwicklungen in
Erinnerung blieben. Der Einmarsch in Irak, die allgemeine Diffamierung muslimischer USBürgerInnen, der Versuch der Rehabilitierung von folterähnlichen Maßnahmen in Abu Ghraib und
Guantanamo – all diese Maßnahmen halten die Weltöffentlichkeit auch noch unter Präsident Obama
in Atem. Mit Blick auf die ausgreifenden Debatten sticht hervor, dass es zu einem allerorts
spürbaren Bekenntniszwang gekommen war: Entweder man akzeptierte eindeutig die
Notwendigkeit des »Krieges gegen den Terror« oder man verweigerte den Kriegsbefürwortern die
Gefolgschaft. Die Kriegsbefürworter untermauerten ihren Standpunkt zumeist mit dem Faktum
einer veränderten Weltordnung, in der imperiales Verhalten von Seiten der USA schlichtweg
unausweichlich geworden war.
Heute haben sich die Machtverhältnisse umgekehrt, und die ehemaligen Kriegsbefürworter stehen
angesichts der weitgehend missglückten Invasion des Irak unter massivem Druck, ihre
Positionierungen erneut zu rechtfertigen und eventuell zu revidieren. Ein wichtiger Stein des
Anstoßes ist hierbei die offizielle Legitimation des Einmarsches, wie sie von der Regierung Bush
vorgetragen wurde und auf die sich die Mehrzahl der öffentlichen Intellektuellen stützte.
Bekanntermaßen erklärte der damalige US-Außenminister Powell am 5. Februar 2003 vor dem UNSicherheitsrat, Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen, deren Einsatz dringend zu unterbinden
sei. Diese Tatsache wurde von der Regierung Bush als unmittelbarer Grund für den bevorstehenden
Krieg vorgelegt. Heute wissen wir freilich, dass die von Powell getätigten Aussagen nicht auf
Tatsachen beruhten. All jene, die sich in den Chor der Kriegsbefürworter einreihten, müssen sich
nun den Vorwurf gefallen lassen, entweder fahrlässig naiv oder vorsätzlich heuchlerisch gehandelt
zu haben.
Die Erklärungsstrategien dieser ehemaligen Kriegsbefürworter sind für unsere Frage relevant, weil
es bei den Rechtfertigungsvorhaben unzweifelhaft um das Verhältnis von Wahrheit und Politik
geht. In diesem Zusammenhang böte sich eine Reihe von Intellektuellen an, die Apologien für ihre
vormalige Unterstützung des Einmarschs in Irak vorgelegt haben. Christopher Hitchens etwa tat
geradezu körperliche Buße, als er sich freiwillig der Prozedur des »waterboarding« unterzog, um
danach reumütig und einigermaßen geschockt einzugestehen, dass es sich dabei wohl doch um
Folter handle.17 Ich möchte mich jedoch auf den Fall Michael Ignatieffs stützen, der vielleicht nicht
in ähnlich spektakulären Licht erscheint, deshalb jedoch nicht weniger aussagekräftig ist. Michael
Ignatieff ist eine facettenreiche Persönlichkeit: Nach einer Karriere in den angesehensten
Hochschulen Englands und der USA sowie als Print- und TV-Journalist steht Ignatieff heute der
»Liberal Party« Kanadas vor. Dieser Wechsel in die Politik erfolgte im Jahre 2005, als Ignatieff
seine Harvard-Professur aufgab, um auf dem politischen Parkett seines Heimatlandes Karriere zu
machen.
Zuvor hatte sich Ignatieff über einen längeren Zeitraum in Zeitungsartikeln für die New York Times
als Verfechter einer Politik des »geringeren Übels« profiliert: Ziel einer solchen Politik sei es, in
Ausnahmesituationen, wie etwa während des Krieges gegen den Terror, völkerrechtlich illegale und
sogar unmoralische Mittel zum Einsatz zu bringen, um größeren Schaden für das Kollektiv
abzuwenden. Demokratien sind auf derartige Maßnahmen deshalb angewiesen, weil ihre
Legitimationsgrundlagen in sich widersprüchlich sind. So müssen etwa Freiheit und Sicherheit
gegeneinander abgewogen und in Balance gehalten werden, wenn terroristische Anschläge
drohen.18 Vor diesem Hintergrund ist auch Ignatieffs Stellungnahme für den Irakkrieg zu lesen.19
Der durch eine Invasion herbeigeführte Regimewechsel erschien Ignatieff gleichsam als tragische
Bürde, die nur ein modernes Imperium schultern könne – und die USA sollten sich selbst als ein
solches Imperium wider Willen begreifen lernen. An diesem Punkt offenbart Ignatieffs Position klar
erkennbare Parallelen zu neokonservativen Rechtfertigungsvorhaben.20
Während Ignatieff über einen längeren Zeitraum die Invasion im Irak also mit der typisch
zögerlichen Geste des liberalen Akademikers unterstützte21, sah er sich schließlich im Sommer
2007 dazu gezwungen, eine Entschuldigung für seine früheren Stellungnahmen vorzubringen. Ein
strategisch wichtiger Grund für diesen Schritt lag gewiss darin, dass Ignatieff inzwischen als
Politiker tätig war und im vergleichsweise liberal gesinnten Kanada aufgrund seiner Unterstützung
der Regierung Bush unter Druck geraten war. Doch die Argumente, mit denen Ignatieff sein
Fehlurteil zu erklären versuchte, verlangen nach eine tiefer gehenden Untersuchung. Ignatieff
beginnt seine Apologie mit einer Unterscheidung, die für die weiteren Überlegungen entscheidend
ist:
»I’ve learned that good judgment in politics looks different from good judgment in intellectual life.
Among intellectuals, judgment is about generalizing and interpreting particular facts as instances of
some big idea. In politics, everything is what it is and not another thing. Specifics matter more than
generalities. Theory gets in the way.«22
Ignatieff behauptet hier also, dass Intellektuelle sich auf große Ideen kaprizieren können, während
politische Akteure über einen geschärften Realitätssinn verfügen müssen. Seine Parteinahme für
den Irakkrieg erscheint aus der Sicht des engagierten Harvard-Professors konsequent: Öffentlich
agierende Intellektuelle sollten sich vollends von ihren persönlichen Überzeugungen leiten zu
lassen; politische Akteure hingegen seien dazu gezwungen, harte Entscheidungen im Namen des
Kollektivs zu treffen, die keinerlei Aufschub erlauben. Ignatieff charakterisiert die Entscheidung, in
den Irak einzumarschieren als solch eine genuin politische Angelegenheit. Dabei sollten sich
Politiker zwar an unverrückbare Prinzipien halten, doch zugleich davon absehen, diese Prinzipien
dogmatisch verhärtet zur Anwendung zu bringen. Erst am Ende des Aufsatzes kann sich Ignatieff
jedoch zu einem persönlichen Eingeständnis fehlerhaften Urteilens aufraffen. So interpretiert er
seine naive Herangehensweise an den Irakkrieg als Resultat emotionaler Verblendung: »The lesson
I draw for the future is to be less influenced by the passions of people I admire – Iraqi exiles, for
example – and to be less swayed by my emotions.«23
Ignatieff wurde von verschiedenen Seiten die Halbherzigkeit zum Vorwurf gemacht, mit der er
seine mea culpa in Szene setzte.24 So wurde darauf hingewiesen, dass in der Apologie ein
vollständiges Schuldeingeständnis charakteristischerweise fehle.25 Auch wurde der Wandel vom
Saulus zum Paulus als ein notwendiger Schritt auf dem Weg an die Spitze der liberalen Partei
Kanadas entlarvt. Aus der Sicht einer von Arendt inspirierten Theorie des Fehlurteils, mangelte es
Ignatieff freilich an einer anderen Qualität, die gelungenes Urteilen auszeichnen muss: Der
kanadische Intellektuelle vernachlässigte es sträflich, eine Vielfalt an normativen Positionen in sein
Urteil einzubeziehen. Seinen Stellungnahmen mangelte es an jener »erweiterten Denkungsart«, die
von Arendt ins Zentrum ihrer Theorie der Urteilskraft gerückt wurde. Insofern ist auch die
Unterscheidung zwischen verschiedenen Akteuren wie den Mitgliedern der politischen Klasse und
den Intellektuellen, die sich auf unterschiedliche Weise der Urteilskraft bedienen, nicht geeignet,
um Erfolgskriterien für gültiges Urteilen zu postulieren. Wie viele andere Befürworter des
Einmarschs legte Ignatieff zu wenig Wert auf eine kontextsensitive Sichtweise, die ihn davor
bewahrt hätte, euphorisch den Bruch völkerrechtlicher Konventionen zu bejubeln.
Für unsere Fragestellung ist die gescheiterte Entschuldigung Ignatieffs deshalb von Interesse, weil
wir uns ein kontrafaktisches Szenario vorstellen können, in dem die Befürworter des Krieges auf
den ersten Blick durchaus triumphiert hätten. Dieses kontrafaktische Szenario rückt einmal mehr
das Verhältnis zwischen Wahrheit und Politik in den Fokus. Stellen wir also die folgende Frage:
Wären Massenvernichtungswaffen im Irak gefunden worden, hätte dies ein komplett anderes Licht
auf die Bewertung imperialer Rechtfertigungsvorhaben geworfen? Zweifelsohne wäre ein
Wahrheitsanspruch eingelöst worden, denn die Befürworter des Krieges vor der Invasion öffentlich
erhoben hatten. Auch wäre der Vorwurf der gezielten Medienmanipulation zumindest vorerst aus
dem Raum geschafft.
Doch wenn wir Arendts Konzeptualisierung der politischen Urteilskraft ernst nehmen, so bliebe
selbst bei einem korrekten Wahrheitsanspruch der Vorwurf aufrecht, dass Intellektuelle wie
Ignatieff in der Debatte um den Irakkrieg fahrlässig agierten. Dies ist damit zu begründen, dass
viele neokonservative (und einige liberale) Parteigänger sich der Auseinandersetzung mit jenen
kritischen Stimmen entzogen, die von Anfang an die Motive und Ziele der Invasion bezweifelt
hatten. Daraus lässt sich allgemein der Schluss ziehen, dass spezifisch politische Fehlurteile durch
die Weigerung zu charakterisieren sind, die produktive Auseinandersetzung mit kontroversiellen
Positionen zu suchen.
In diesem Sinn kann die erfolgreiche Ausübung der Urteilskraft als ein wesentlicher Motor für
jenen demokratischen Ethos erachtet werden, auf dem moderne Gesellschaften basieren.
Intellektuelle, die sich diesem demokratischen Ethos verbunden fühlen, müssen dementsprechend
sensibel agieren. Diese Sensibilität erstreckt sich sowohl auf die Art und Weise, wie politische
Urteile gefällt werden, als auch auf die Art und Weise, wie mit Fehlurteilen im Rückblick zu
verfahren wird, etwa durch eine öffentlich geäußerte Entschuldigung. Michael Ignatieffs
Weigerung, das eigene Versagen anzuerkennen, liefert uns dementsprechend ein Beispiel dafür, wie
sich Intellektuelle nicht verhalten sollen.
Die große Herausforderung für all jene, die sich an öffentlichen Debatten beteiligen, besteht darin,
Standhaftigkeit – was Bernstein als »subjektive moralische Überzeugung« bezeichnet – nicht mit
Unfehlbarkeit zu verwechseln. Polarisierende Themen wie die Kontroverse um den Irakkrieg
erschweren offenkundig die Erfolgschancen einer Konzeption von Urteilskraft, die für Widerspruch
und Vielfalt offen bleibt. Denn man gerät in der Auseinandersetzung mit diesen Themen schnell
unter Druck, die jeweils eigene Positionierung als unverrückbar zu präsentieren. Doch gerade in
solchen Momenten kommen die potenziellen Vorzüge einer differenzierten Sicht politischen
Urteilens zum Vorschein: Wenn gegnerische Standpunkte in die eigene Positionierung einbezogen
werden, wie es Arendts Forderung nach »repräsentativem Denken« verlangt, so kann zumindest die
Gefahr verringert werden, dass Fehlurteile aufgrund eines exzessiven Grades an Gewissheit zu
Stande kommen.
1
Ich möchte mich herzlich bei Sophie Loidolt für ihre großzügigen und hilfreichen Kommentare zu einer früheren
Version dieses Textes bedanken. Im Allgemeinen würde ich diesen Text gerne als einen ersten, zaghaften Schritt in
Richtung einer tiefer gehenden Auseinandersetzung mit dem Thema begreifen. Ohne Sophies freundliche Einladung zu
diesem Beitrag wäre selbst dieser Schritt nicht möglich gewesen. Alle im Essay verbleibenden Fehlurteile sind zur
Gänze mir anzulasten.
2
Ronald Beiner, Political Judgment, Chicago: University of Chicago Press 1983; Peter J. Steinberger, The Concept of
Political Judgment, Chicago: University of Chicago Press 1993; Alessandro Ferrara, Justice and Judgment. The Rise
and the Prospect of the Judgment Model in Contemporary Political Philosophy, London: Sage 1999; Alessandro
Ferrara, The Force of the Example. Explorations in the Paradigm of Judgment, New York: Columbia University Press
2008; Kennan Ferguson, The Politics of Judgment. Aesthetics, Identity, and Political Theory, London: Lexington Books
2007; María Pía Lara Narrating Evil. A Post-Metaphysical Theory of Reflective Judgment, New York: Columbia
University Press 2007.
3
Zum Verhältnis zwischen Entschuldigen und Vergeben vgl. etwa: Jacques Derrida, On Cosmopolitanism and
Forgiveness, London: Routledge 2001; Marguerite La Caze, »The Asymmetry between Apology and Forgiveness«, in:
Contemporary Political Theory 5/4, 2006: 447-468.
4
Hannah Arendt, »Truth and Politics: Its Social and its Political Significance«, in: Between Past and Future: Eight
Exercises in Political Thought, New York: Penguin 1993: 227-264.
5
Ebd. 238.
6
Ebd. 241.
7
Ebd. 242.
8
Ebd. 239-240.
9
Jürgen Habermas, »Hannah Arendts Begriff der Macht«, in: Philosophisch-politische Profile, Frankfurt/Main:
Suhrkamp 1987, 228-248.
10
Siehe: Linda M. G. Zerilli, »›We Feel Our Freedom‹: Imagination and Judgment in the Thought of Hannah Arendt«,
Political Theory, 33/2, 2005: 158-77; Linda M. G. Zerilli, »Feminists Make Judgment: Hannah Arendt’s Lectures on
Kant’s Political Philosophy and the Affirmation of Freedom«, in: Feminism and the Abyss of Freedom. Chicago:
University of Chicago Press 2005: 125-64; Maurizio Passerin d’Entrèves, The Political Philosophy of Hannah Arendt,
London/New York: Routledge 1994: 101-38.
11
Ronald Beiner, »Rereading ›Truth and Politics‹«, in: Philosophy & Social Criticism, 34/1-2, 2008, 123-136
12
Richard J. Bernstein, The Abuse of Evil: The Corruption of Politics and Religion Since 9/11, Cambridge, UK: Polity
Press, 2005; für eine philosophiegeschichtliche Studie vgl. Richard J. Bernstein, Radical Evil. A Philosophical
Interrogation, Cambridge/Maden: Polity Press 2002.
13
Für eine tiefer gehende Analyse der Kategorie des Bösen in den internationalen Beziehungen vgl. P. E. Digeser,
»Forgiveness, the Unforgivable and International Relations«, in: International Relations 18/4: 480-497; Catherine Lu
»Agents, Structures and Evil in World Politics«, in: International Relations 18/4: 498-509.
14
Bernstein, Abuse of Evil, 12-13.
15
Diese Einstellung erinnert an Richard Rortys Plädoyer für eine Philosophie ironischen Engagements. Vgl: Richard
Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992
16
Bernstein, Abuse of Evil, 62.
17
Christopher Hitchens, »Believe Me, It’s Torture«, Vanity Fair, August 2008;
http://www.vanityfair.com/politics/features/2008/08/hitchens200808.
18
Michael Ignatieff, The Lesser Evil. Political Ethics in an Age of Terror, Princeton: Princeton University Press 2005
19
Michael Ignatieff, »The Burden«, in: The New York Times, 5. Januar 2003:
http://www.nytimes.com/2003/01/05/magazine/05EMPIRE.html?pagewanted=all.
20
Robert Kagan, Of Paradise and Power. America and Europe in the New World Order, New York: Knopf 2003
21
Michael Ignatieff, »The Year of Living Dangerously«, in: The New York Times, 14. März 2004:
http://www.nytimes.com/2004/03/14/magazine/14WWLN.html?pagewanted=all&position;
Michael Ignatieff, »The Uncommitted«, in: The New York Times, 30. Januar 2005:
http://www.nytimes.com/2005/01/30/magazine/30WWLN.html?scp=3&sq=%22Michael%20Ignatieff%22&st=cse;
Michael Ignatieff, »Who Are Americans to Think That Freedom Is Theirs to Spread?«: in: The New York Times, 26.
Juni 2005:
http://www.nytimes.com/2005/06/26/magazine/26EXCEPTION.html?scp=6&sq=%22Michael%20Ignatieff%22&st=cs
e.
22
Michael Ignatieff, »Getting Iraq Wrong«, in: The New York Times, 5. August 2007:
http://www.nytimes.com/2007/08/05/magazine/05iraq-t.html?_r=1&ref=magazine.
23
Ebd.
24
Lois E. Beckett, »Ignatieff’s ›Getting Iraq Wrong‹ Gets Harvard Wrong, Ex-Colleagues Say«, The Harvard Crimson,
17. März 2008: http://www.thecrimson.com/article.aspx?ref=522574.
25
Linda McQuaig, »Tears of an Intellectual Warmonger«, The Guardian, 6. September 2007.
http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2007/sep/06/intellectualwarmonger.