Academia.eduAcademia.edu
Urte Krass Strukturwandel der Öffentlichkeit Piero della Francescas »Flagellazione« als Schaustu?ck fu?r die Unerbittlichkeit der Perspektive 18 Seiten DOI 10.4472/9783037344798.0011 Zusammenfassung In the center of this article stands Piero della Francesca’s Flagellation of Christ. The enigmatic painting has been the object of innumerable interpretations; while for the most part, research has focused on the identification of the three prominent figures in the foreground, this article suggests that it is not the painting’s intention to present the bystanders as specific and clearly defined individuals. On the contrary, the painting exemplifies the artist’s relentlessness in constructing a perspectival space: the self-confident artist of the Quattrocento raises simple bystanders or onlookers to the status of protagonists within the pictorial space, while reducing central stories from the Christian salvific history to mere background events. Im Zentrum des Beitrags steht Piero della Francescas Geißelung Christi. Dieses enigmatische Bild hat unzählige, teils einander widersprechende Deutungen erfahren. Immer geht es dabei in erster Linie um die Identifizierung der so ungemein prominent erscheinenden drei Figuren im Vordergrund. Die hier aufgestellte These ist, dass es in diesem Gemälde nicht darum geht, den Betrachtern konkrete, benennbare Zuschauerfiguren zu präsentieren. Im Gegenteil: Piero della Francesca liefert uns ein Schaustück der Unerbittlichkeit der perspektivischen Bildkonstruktion: Der selbstbewusst gewordene Renaissance-Künstler ist es, der durch seine bildnerische Hoheit unwichtige Passanten zu Protagonisten im Bildraum erheben – und gleichzeitig heilsgeschichtlich zentrale Ereignisse wie die Geißelung Christi zum Hintergrundgeschehen herabsetzen kann. Die Flankierung des berühmten Gemäldes mit ihm in dieser Hinsicht verwandten Bildern kann diese Hypothese stützen helfen. Beate Fricke (Hg.), Urte Krass (Hg.) The Public in the Picture / Das Publikum im Bild Involving the Beholder in Antique, Islamic, Byzantine, Western Medieval and Renaissance Art / Beiträge aus der Kunst der Antike, des Islam, aus Byzanz und dem Westen 304 Seiten, Gebunden, 16 farb. Abb., 73 sw. Abb. ISBN 978-3-03734-478-1 Zürich-Berlin 2015 Mit Beiträgen von Beate Fricke, Andrew Griebeler, Annette Haug, Henrike Haug, Christiane Hille, Urte Krass, Christopher Lakey, Andrea Lermer, Cornelia Logemann, Anja Rathmann-Lutz, u.a. diaphanes eTexT www.diaphanes.net Powered by TCPDF (www.tcpdf.org) Urte Krass Strukturwandel der Öffentlichkeit Piero della Francescas Flagellazione als Schaustück für die Unerbittlichkeit der Perspektive Im Dickicht der Deutungsangebote Piero della Francescas Geißelung Christi ist ein enigmatisches Bild (Abb. 1). Es hat seit seiner Vollendung in den 1450er Jahren etliche Regalmeter an Sekundärliteratur mit 1 unterschiedlichen Deutungsangeboten hervorgebracht. Was das Bild so ungeheuer interessant macht, sind die drei Männer im rechten Vordergrund. Es handelt sich um drei Figuren, die aufgrund der perspektivischen Konstruktion des Gemäldes wesentlich größer und bedeutender erscheinen als das Personal in der antikisierend dargestellten Säulenhalle links hinten, also Christus an der Geißelsäule, die beiden Schergen, der Turban tragende Beobachter in Rückenansicht sowie der thronende Pilatus. Keiner der drei Männer scheint sich für das heilsgeschichtlich hochwichtige Geschehen im Hintergrund zu interessieren, weshalb man streng genommen nicht von einem Publikum sprechen kann, jedenfalls nicht von einem Publikum, das Zeuge der Geißelung wird. Gleichwohl stehen die drei interagierend auf einem öffentlichen Platz und konstituieren damit eine Art Öffentlichkeit. Sie sind offenbar ins Gespräch vertieft: Ein bärtiger Mann mittleren Alters mit Hut links gestikuliert in Richtung eines älteren, bartlosen Mannes mit Halbglatze in einem kostbaren blauen Brokatgewand rechts. Zwischen ihnen steht ein barfüßiger, blondgelockter Jüngling in roter Tunika, stemmt seinen linken Arm in die Hüfte und blickt sinnierend – als wäge er das Gehörte ab – aus dem Bild heraus. Dieser Jüngling – und die Tatsache, dass er keine Schuhe trägt – hat die meisten Spekulationen hervorgerufen: Welche Bedeutung, so wird nimmermüde gefragt, haben die drei Männer? Wen oder was verkörpern sie? Einige der vorgeschlagenen Deutungen versuchen, die drei Gestalten aus der biblischen Erzählung heraus zu erklären. So auch Ernst Gombrich, der hier im Bildvordergrund die Reue des Judas thematisiert sieht (mit dem Bärtigen links als Judas). Anderen Autoren zufolge rufen die Männer jene Juden und Pharisäer in Erinnerung, die 1 Silvia Ronchey hat 2006 insgesamt 40 verschiedene bisherige Deutungen zusammengestellt, siehe Silvia Ronchey: L’enigma di Piero. L’ultimo bizantino e la crociata fantasma nella rivelazione di un grande quadro, Mailand 2006. 249 diaphanes eTexT lizenziert für Urte Krass / 26.02.2016 Urte Krass 1 Piero della Francesca: Flagellazione di Cristo, 1450er Jahre?, Öl mit Tempera auf Holz. üblicherweise in Darstellungen der Geißelungsepisode auftauchen. Da die Juden, die Jesus zu Pilatus brachten, nicht den Gerichtssaal betreten durften, habe Piero hier also 2 drei jüdische Notabeln gemalt, die auf der Piazza gegen Christus konspirieren. Eine zweite Gruppe von Interpretationen – es ist wohl die Mehrzahl – sieht in den Männern Porträts von Zeitgenossen des 15. Jahrhunderts. Bisweilen hat man den Eindruck, das Bemühen, die drei Männer zu identifizieren, sei zur Obsession einer interdisziplinären Schar von Forschern und Hobby-Forschern geworden. Für die einzelnen Interpretationen ist jeweils die Frage entscheidend, warum die mutmaßlichen Porträts in die Geißelungsikonographie eingefügt wurden, welche Gründe Maler und Auftraggeber dafür gehabt haben könnten. Silvia Ronchey und andere vertreten die These, dass Pieros Tafel die Bedrohung der Christenheit durch muslimische Mächte darstellt, dass das Bild also im Kontext der osmanischen Einnahme Konstantinopels von 1453 zu lesen sei und man die Gruppe im Vordergrund wahlweise als heidnische Verschwörer gegen 2 Ernst H. Gombrich: [Rezension zu K. Clark, Piero della Francesca], in: Burlington Magazine 94 (1952), S. 176–178; ders.: »The Repentance of Judas, in Piero della Francesca’s Flagellation of Christ«, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 22 (1959), Heft 1, S. 172; Marilyn Aronberg Lavin: Piero Della Francesca. The Flagellation, Chicago 1990 (erstmals New York 1972), S. 23. 250 diaphanes eTexT lizenziert für Urte Krass / 26.02.2016 Strukturwandel der Öffentlichkeit oder als christliche Verteidiger der westlichen und der byzantinischen Kirche interpre3 tieren könne. Am häufigsten zu finden ist die Vermutung, das Gemälde erinnere an den Mord, den Federico da Montefeltro von Urbino 1444 an seinem Halbbruder Oddantonio begangen haben soll. Meist wird in dem barfüßigen Jüngling dann Oddantonio, das unschuldige Opfer (in Analogie zu Christus), erkannt; die beiden anderen werden entweder als 4 des Herzogs böse Berater oder andere Mitglieder der Montefeltro-Familie identifiziert. Nach Marilyn Aronberg Lavin handelt es sich bei dem Mann im Profil ganz rechts um Ludovico Gonzaga, den Markgrafen von Mantua; der links Stehende sei Ottaviano Ubaldini della Carda, Neffe und enger Vertrauter von Federico da Montefeltro – beides Männer, die einen Sohn verloren haben. Zwischen ihnen nimmt, so Lavin, gewissermaßen phantomartig das Thema ihres Gesprächs Gestalt an: ein idealschöner Jüngling, der 5 den beidseitigen Verlust personifiziere. Lavin gibt auch eine Erklärung für die ungewohnte Größe der drei Figuren. In einem anderen Gemälde Piero della Francescas, das Sigismondo Malatesta kniend vor dem Heiligen Sigismund zeigt, und auch in jenem, das Gerolamo Amadi mit dem Heiligen Hieronymus darstellt, werde den porträtierten betenden Stiftern durch Vergrößerung eine neue Signifikanz als historisches Individuum verliehen. Das sei analog auch bei der Geißelung der Fall: Die prominente Platzierung der drei Gestalten auf der Piazza, so ist Lavin wohl zu verstehen, beweise, dass es sich um historisch benennbare Personen handelt. Das bislang spektakulärste Bemühen, das Gemälde mittels Identifizierung der drei Männer zu entschlüsseln, stützte sich auf andere Mittel, als sie Historikern und Kunsthistorikern bis dahin zur Verfügung gestanden hatten: Der stellvertretende Polizeipräsident von Ancona, Silio Bozzi, hat 2009 mit erkennungsdienstlichen Mitteln letztgültig zu klären versucht, wer denn nun der blonde Jüngling sei. Bozzi kommt zu dem überraschend klaren Ergebnis: Es handelt sich um den Humanisten und Neoplatoniker Marsilio Ficino (1433–1499)! Bozzi nahm eine Miniatur zur Hand, die vermutlich Ficino als alten Mann zeigt, und ließ dann mithilfe von Computertechnik den Jüngling aus Pieros Geißelung künstlich altern – und siehe da: Die beiden Alten sehen einander 3 4 5 Ronchey: L’enigma di Piero, a.a.O.; vgl. auch Lavin: Piero Della Francesca, a.a.O., S. 14. Als Beispiel für die These von der »kunstvoll versteckten Mordanklage« siehe Bernd Roeck, Mörder, Maler und Mäzene. Piero della Francescas ›Geißelung‹. Eine kunsthistorische Kriminalgeschichte, München 2006. Carlo Ginzburg hält unterschiedliche Identitäten für möglich, sieht in dem Jüngling aber auf jeden Fall einen vorzeitig zu Tode Gekommenen verkörpert, vgl. Carlo Ginzburg: Erkundungen über Piero. Piero della Francesca, ein Maler der frühen Renaissance, Berlin 1985. Lavin: Piero Della Francesca, a.a.O., S. 71. 251 diaphanes eTexT lizenziert für Urte Krass / 26.02.2016 Urte Krass 2 Jüngling aus Piero della Francescas Flagellazione, derselbe nach künstlichem Alterungsprozess (© Silio Bozzi) sowie Porträt Marsilio Ficinos als alter Mann. ähnlich (Abb. 2). Sekundiert durch Expertisen von Ärzten, Schönheitschirurgen und Ingenieuren interpretiert Bozzi das Bild letztlich als Initiationsritus für einen neopla6 tonischen Geheimbund, der dem Schutz von Byzanz gedient habe. Den jüngsten Versuch, der so rätselhaften Dreiergruppe auf die Spur zu kommen, startete James R. Banker, der das Bild zunächst neu datiert (in die Jahre 1467/68 oder 1470/71). Laut Banker soll es an zwei tragische Todesfälle der Jahre 1465 und 1467 erinnern. In dem Mann im Brokatgewand ganz rechts, der üblicherweise als Aristokrat oder venezianischer Senator interpretiert wird, erkennt Banker den Rechtsgelehrten Jacopo Anastagi, der als Sekretär und Berater von Sigismondo Malatesta fungierte; der barfüßige Jüngling sei Jacopos Sohn Carlo, dem politische Fehlkalkulationen seines Vaters zum Verhängnis wurden. In Auftrag gegeben habe das Bild Carlos Witwe Violante – in der Absicht, ihren Gatten als unschuldiges Opfer einer »Verschwörung von Prinzen« zu 7 verewigen. Neben denjenigen Lesarten, die die drei Männer aus dem biblischen Text herleiten, und denen, die darin prominente Gestalten des italienischen Quattrocento zu erkennen 6 7 Bozzi stellte seinen Befund am 15. Januar 2010 am Deutschen Studienzentrum in Venedig auf einer Podiumsdiskussion mit dem Titel L’enigma della Flagellazione di Piero della Francesca e il suo identikit tra metodi storici e di investigazione criminale vor. Der vorliegende Beitrag basiert auf Überlegungen, die ich dort zu diesem Anlass vorgetragen habe. Siehe auch Luigi Luminati: »Uno sbirro svela l’enigma di Piero«, in: La Nazione, 16. 1. 2010; Henning Klüver: »Der Bulle und das Bild. Noch ein Geheimbund? Die italienische Kriminalpolizei ermittelt im Fall Piero della Francesca«, in: Süddeutsche Zeitung, 22.1.2010, S. 11; ders.: »Das Geheimnis hinter Piero della Francescas ›Geißelung Christi‹«, in: Deutschlandfunk, 17. 1. 2010, Transkript: www.deutschlandfunk.de/tatort-renaissance.691.de.html?dram:article_id=53739 (aufgerufen: 10. 6. 2014). Ausformuliert wurde Bozzis These von Duccio Alessandri: Flagellazione 42. L’ultima interpretazione della tavola urbinate di Piero della Francesca, Pesaro 2011. James R. Banker: Piero della Francesca. Artist and Man, Oxford 2014, S. 134–138. 252 diaphanes eTexT lizenziert für Urte Krass / 26.02.2016 Strukturwandel der Öffentlichkeit 8 meinen, gibt es – abgesehen von randständigeren Einzelinterpretationen – noch eine etwas unaufgeregtere dritte Strömung innerhalb der exegetischen Literatur zu Pieros Geißelung. Gemäß den in dieser Kategorie anzusiedelnden Autorinnen und Autoren sind die drei Männer im Vordergrund keine benennbaren Zeitgenossen Pieros, sondern haben eine eher abstrakte Funktion. Dieser Richtung möchte ich mich im Folgenden anschließen und sowohl Pieros innovativen Umgang mit dem perspektivischen Bildraum herausarbeiten als auch einen weiteren, weithin unbeachteten Aspekt beleuchten: Für das Verständnis des Bildes ist es nämlich darüber hinaus äußerst hilfreich, es an die ikonographische Tradition mittelalterlicher Geißelungsdarstellungen rückzubinden – und die drei Männer als bystanders zu interpretieren, sie also in den Kontext vom Auftauchen des Publikums im Bilde zu stellen. Das Publikum der Geißelung in der ikonographischen Tradition Was im Zusammenhang mit dem hier vorliegenden Band zunächst einmal interessiert, ist die Frage, ab wann eigentlich Publikum – sei es benennbares oder anonymes – in die Ikonographie der Geißelung Christi Einzug erhielt. Wie sahen Geißelungsdarstellungen vor dieser Tafel von Piero della Francesca aus? Welches Personal wurde der biblischen Überlieferung als visuelle Zutat hinzugefügt – und wie? Wenn wir diesen Fragen nachgehen, lässt sich das kleine Bild aus der Galleria Nazionale delle Marche in Urbino vielleicht in eine chronologische Reihe stellen, die den Sinn und Zweck der drei Figuren im Vordergrund zu erhellen hilft. Die einschlägigen Evangelien nennen im Zusammenhang mit der Konfrontation Jesu mit Pilatus zwar zahlreiche involvierte Akteure – Pilatus selbst, dessen Frau, die Hohepriester, die Ältesten, Soldaten, Barrabas und nicht zuletzt »die Juden« –, aber in dem jeweiligen dürren Satz, den Markus (15,15), Matthäus (27,26) und Johannes (19,1) zwischen Verhör und Verspottung über die Geißelung verlieren, wird in keinem Fall explizit gemacht, wer dabei anwesend war, wer zugeschaut hat und ob die Geißelung hinter verschlossenen Türen oder öffentlich vollzogen wurde. Seit dem 9. Jahrhundert wird die Geißelung Jesu in der Kunst dargestellt, zunächst vor allem in Psalterhandschriften. Am Anfang steht »das klassische Dreifigurenbild der Geißelung ohne Zeugen«, die Bilder kommen mit nur drei Figuren – Jesus und zwei 8 So liest etwa John Pope-Hennessy das Gemälde als Darstellung des Traums des Heiligen Hieronymus. John Pope-Hennessy: The Piero della Francesca Trail, London 1992. 253 diaphanes eTexT lizenziert für Urte Krass / 26.02.2016 Urte Krass 3 Duccio: Maestà, Siena, 1308–1311, Geißelungsszene. 9 Schergen – aus. Ab dem 10. Jahrhundert kommt dann Pilatus stehend oder thronend im Prätorium als Beobachter der Szene hinzu, zudem auch weiteres »zuschauendes 10 Volk«. So sind es in Duccios Maestà für den Hochaltar des Doms von Siena (1308–1311) gestikulierende und diskutierende Juden, die als Publikum der Geißelung ins Bild treten (Abb. 3). Einige Helm- und Speerspitzen im Hintergrund zeigen an, dass auch 9 10 Gertrud Schiller: Ikonographie der christlichen Kunst, Bd. 2: Die Passion Jesu Christi, Gütersloh 1968, S. 76–78. Curt Schweicher: Geißelung Christi, in: Engelbert Kirschbaum (Hg.): Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 2: Allgemeine Ikonographie F-K, Rom u.a. 1970, Sp. 127–130, hier Sp. 128. Zu den weiteren unbeteiligten Figuren, die in der Folge auftauchen, zählen Engel, so etwa auf dem ältesten der erhaltenen Kreuze von Sarzana (um 1138 entstanden), und zwar auf den Dächern neben der Martersäule. In einem Tafelkreuz aus dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts in San Martino in Pisa erkennt man neben Pilatus auf einem gegenüberstehenden Turm vage einen zweiten Mann, bei dem es sich um Herodes handeln könnte. 254 diaphanes eTexT lizenziert für Urte Krass / 26.02.2016 Strukturwandel der Öffentlichkeit römische Soldaten anwesend sind. In der Nachfolge Duccios gerät die Geißelung in der 11 italienischen Kunst dann häufig zu einer »Zurschaustellung vor dem Volk«. Auf einem Barna da Siena zugeschriebenen Fresko in der Kollegiatskirche Santa Maria Assunta in San Gimignano, wohl um 1350 entstanden, wendet sich Pilatus sogar sprechend ans jüdische Publikum, offenbar um Mitleid für Jesus zu wecken. Sobald die Auspeitschung Jesu aus dem Arkanum des Statthalterpalastes in eine offene oder halboffene Bühnensituation verlagert wird (und sich das eigentlich Obszöne also buchstäblich in eine Szene verwandelt), nimmt die Anwesenheit anonymer Zuschauer unweigerlich eine voyeuristische Qualität an. Die Geißelung aus Albrecht Dürers Großer Holzschnittpassion (um 1496/97) scheint eine solche sensationslüsterne Rezeptionshaltung der Zuschauermasse zu betonen: Das lebhafte Gewimmel rund um die Martersäule – einschließlich lärmender Kinder und eines mitgebrachten Hundes – verleiht dem physischen Gewaltakt, der hier im Zentrum steht, den Charakter eines Spektakels, ja, einer Rummelplatzattraktion. Andererseits lässt sich Publikum auch so inszenieren, dass eine gegenteilige Wirkung erzielt wird: Im Bronzerelief des Francesco di Giorgio Martini (um 1490/95) findet die Geißelung Jesu auf einer Art Proszenium statt – eigentlich ein ideales Setting, um den Gemarterten öffentlich zur Schau zu stellen. Zugleich platziert der Künstler jedoch im Vordergrund drei Frauen und einen bärtigen Mann, die einem solchen Effekt entgegenwirken: Die vier anonymen Personen sind zwar formal Zeugen des Geschehens, wirken aber trotz ihrer Exponiertheit am Fuße der Stufen zur Bühne wenig präsent. Zwei von ihnen starren mit leerem Blick vor sich hin, die anderen beiden wenden sich ebenso teilnahmslos dem Betrachter zu. So paradox es klingen mag: Ausgerechnet das Publikum hilft hier, die Geißelung als intimen, im eigentlichen Sinn obszönen Akt der Gewalt zu 12 entlarven. Von einer Zurschau- oder gar Bloßstellung kann nicht die Rede sein. Relevant zum Verständnis von Piero della Francescas Flagellazione di Cristo sind vor allem ikonographische Spezifika in Geißelungsdarstellungen, wie sie im Italien in der Mitte des 15. Jahrhunderts auftauchen. Ein Vergleich mit Pieros Tafel ergibt, dass einige der rätselhaften Elemente auch bei anderen Künstlern zur Darstellung gekommen sind, so der barfüßige Betrachter und immer wieder auch Turbanträger als Zuschauer. Nackte Füße finden sich bei diversen bystanders auf Darstellungen der Geißelung im 15. Jahrhundert, sowohl nördlich als auch südlich der Alpen. Oft, wie beispielsweise in Albrecht Altdorfers Sebastiansaltar im Stift St. Florian bei Linz oder auch auf Luca 11 12 Schiller: Ikonographie der christlichen Kunst, Bd. 2, a.a.O., S. 77 f. Perugia, Galleria Nazionale dell’Umbria. Reproduziert in Joachim Poeschke: Die Skulptur der Renaissance in Italien. Donatello und seine Zeit, München 1990, Tafel 258. 255 diaphanes eTexT lizenziert für Urte Krass / 26.02.2016 Urte Krass Signorellis etwa 1485 entstandenem Tafelbild aus Santa Maria del Mercato in Fabriano, 13 sind es die heidnischen Schergen, die barfuß ihrer grausamen Tätigkeit nachgehen. Auf dem um 1447 entstandenen Marmorrelief für das Grabmal von Bartolomeo Colleoni in Bergamo ist es eine Trias von Römern – ein Togato und zwei Soldaten –, die die Geißelung beobachtet. Zwei von ihnen sind barfuß, wie auch die Schergen und der Fackel14 träger, der zwischen beiden Gruppen sitzt. Auch auf Andrea Mantegnas Kupferstich, der etwa zeitgleich zu Pieros Geißelungstafel entstanden ist, finden wir außer der Geißelungsgruppe in der Säulenhalle im Bild15 hintergrund drei Männer im Vordergrund. Zwar stehen sie nicht nebeneinander, sondern versetzt zu beiden Seiten der Tür, durch die wir als Betrachter schauen, aber sie scheinen wie die Männer auf Pieros Tafel miteinander zu kommunizieren. Was das Spiel mit der Perspektive angeht und die Strategien, um die Aufmerksamkeit der Betrachter auf die drei Männer vorn zu lenken, so ist dieser Kupferstich Pieros Gemälde durchaus verwandt. Die Verschiebung des Hauptgeschehens in den Hintergrund, wie wir sie bei Piero vorfinden, hat ihre engste Verwandtschaft jedoch in einigen zeitgenössischen Zeichnungen des Venezianers Jacopo Bellini. Dieser hat sich gleich mehrmals mit dem Thema der Geißelung auseinandergesetzt, dreimal im sogenannten Skizzenbuch aus dem Louvre (Tinte auf Pergament) und viermal in den Zeichnungen, die im British Museum in London aufbewahrt werden (Metallstift). Unter letzteren finden sich zwei Zentralkompositionen, in denen durchweg das Prinzip der Symmetrie vorherrscht. Im einen Fall steht Jesus mittig an der Geißelsäule, ihm zur Seite je ein zuschlagender Scherge mit nahezu 16 gespiegelter Armbewegung, vorn rechts und links je zwei anonyme bystanders. Im Hintergrund taucht hier überraschend eine isokephale Zuschauermasse auf, die die Szene ebenfalls betrachtet. In einer zweiten Londoner Zeichnung entfernt sich der Künstler ein Stück weit von Jesus und den Schergen, was vier mittigen Rückenfiguren und je 17 zwei seitlich herantretenden Personen eine größere Prominenz verleiht. Der Blick des Betrachters prallt hier regelrecht ab an der Phalanx der zusammenstehenden Rücken. 13 14 15 16 17 Zu Signorelli, einem Schüler Piero della Francescas, und seinem seit 1811 in der Mailänder Brera aufbewahrten Gemälde siehe Laurence B. Kanter und Tom Henry: Luca Signorelli, München 2002. Poeschke: Skulptur der Renaissance, a.a.O., Tafel 243. Jane Martineau (Hg.): Andrea Mantegna, Metropolitan Museum of Art, New York, und Royal Academy, London, Mailand 1992 (Kat. Ausst.), S. 196; Jay Levenson, Konrad Oberhuber und Jacquelyn Sheehan: Early Italian Engravings from the National Gallery of Art, Washington 1973, S. 201, Kat.nr. 78. Bernhard Degenhart und Annegrit Schmitt: Corpus der italienischen Zeichnungen 1300–1450. Teil II: Venedig. Jacopo Bellini, Bd. 8, Berlin 1990, Tafel 279. Degenhart: Corpus der italienischen Zeichnungen, Bd. 8, a.a.O., Tafel 259. 256 diaphanes eTexT lizenziert für Urte Krass / 26.02.2016 Strukturwandel der Öffentlichkeit 4 Jacopo Bellini: Geißelung Christi mit Publikum auf Balkonen, Zeichnung, Tinte auf Pergament. 5 Jacopo Bellini: Geißelung Christi mit Mann, der sich in den Mantel greift, Zeichnung, Tinte auf Pergament. Während diese beiden Bildbeispiele gewissermaßen einen symmetrischen Idealtypus der Geißelungsdarstellung aufzeigen, experimentiert Jacopo Bellini in den übrigen Zeichnungen mit extremen Verschiebungen. Teilweise entdeckt man die Geißelung erst auf den zweiten Blick, weil die Architektur und das zuschauende Bildpersonal in den Vordergrund geraten sind. Die dritte Londoner Metallstiftzeichnung ist einer der 18 Pariser Federzeichnungen sehr ähnlich. Der Zeichner hat seinen Standpunkt im Vergleich zur symmetrischen Variante so verändert, dass er jetzt von der Seite ein fluchtendes Loggiengebäude rechts einfängt. Jesus an der Säule, nun klein und zierlich, ist kaum mehr erkennbar, steht jedoch in beiden Fällen noch mehr oder weniger im Mittelpunkt des Blattes. Die Gruppe der Betrachter bleibt an dem ihr auch in den symmetrischen Blättern zugewiesenen Platz, wird nun jedoch im Profil gezeigt. Die Weitung der Perspektive hat zur Folge, dass auch zahlreiche weitere Publikumsfiguren wahrnehmbar werden. In der Pariser Zeichnung stehen sie auf den Balkonen und beobachten das 18 Degenhart: Corpus der italienischen Zeichnungen, Bd. 8, a.a.O., Tafel 265; Bernhard Degenhart und Annegrit Schmitt: Corpus der italienischen Zeichnungen 1300–1450. Teil II: Venedig. Jacopo Bellini, Bd. 7, Berlin 1990, Tafel 32. 257 diaphanes eTexT lizenziert für Urte Krass / 26.02.2016 Urte Krass Geschehen in der offenen Loggia (Abb. 4). Die beiden anderen Pariser Zeichnungen sind ebenso von Publikum bevölkert, darunter Kinder, Bettler und Edelmänner. Einige klet19 tern an den Säulen empor, um besser sehen zu können. Besonders interessant für den Vergleich mit Pieros Flagellazione ist eine weitere 20 Pariser Zeichnung (Abb. 5). Sie stammt auch aus dem Pariser Skizzenbuch, zeigt aber wiederum eine symmetrische Komposition. Durch einen mächtigen steinernen Triumphbogen blickt der Betrachter auf die Säulenhalle im Hintergrund, vor der Jesus – im Zentrum des Bildes – gegeißelt wird. Zwei Männer, einer davon sicher Pontius Pilatus, sitzen rechts und links der Säule, im Hintergrund drängt wieder eine anonyme Zuschauermenge ins Bild. Drei Kinder und ein Tanzbär befinden sich im gefliesten Zwischenraum zwischen diesem hinteren Geschehen und dem Triumphbogen. Außen, vor dem Bogen, halten sich drei Männer auf: Zwei Fußgänger kommen von links herbei, ein Reiter mit einer Fackel in der Hand nähert sich der Bogenöffnung von rechts. Der vordere linke Mann greift in sein langes Gewand. Diese Geste, aber auch seine Kappe und Barttracht ähneln ihn dem linken bystander auf Pieros Tafel an. Auch ist er überraschenderweise barfuß, wie bei Piero der Jüngling in der Mitte. Nicht nur im Spiel mit der Perspektive, sondern auch in der Übereinstimmung diverser ikonographischer Details manifestiert sich hier also eine frappierende konzeptionelle Nähe zwischen Pieros Tafel und Bellinis Zeichnungen. Nach diesem kursorischen Überblick über den visuell-ikonographischen Kontext, in dem Pieros Flagellazione in der Mitte des 15. Jahrhunderts zu verorten ist, lässt sich Marilyn Lavins Ansicht, das erstaunlichste Charakteristikum von Pieros Bildentwurf sei 21 dessen radikale Alterität gegenüber zeitgenössischen Geißelungsdarstellungen, nicht mehr pauschal beipflichten. Immerhin: Von der räumlichen Komposition her setzt sich Piero tatsächlich von den symmetrischen Bildfindungen eines Lorenzo Ghiberti oder eines Andrea del Castagno ab, die allesamt das Gerichtsgebäude bzw. das Prätorium des 22 Pilatus als Säulenportikus ins Zentrum der Szene stellen. Demgegenüber rekurriert Piero auf ältere Darstellungsgepflogenheiten, indem er seiner Komposition eine asym23 metrische Bildsyntax unterlegt. Die erste Darstellung einer Geißelung mit einem aus dem Bildzentrum herausgerückten Gebäude ist wohl auf der Rückseite von Duccios 19 20 21 22 23 Colin Eisler: The Genius of Jacopo Bellini, New York 1989, S. 338, Tafel 202. Eisler: Genius of Jacopo Bellini, a.a.O., S. 331, Tafel 195. Lavin: Piero Della Francesca, a.a.O., S. 24: »Seen in an historical context, the most striking fact about the design is the radical way it differs from contemporary representations of the Flagellation.« Interessant, weil hier auch Unbeteiligte auftauchen, ist auch das inzwischen meist Lorenzo Vecchietta zugeschriebene Fresko im Sieneser Baptisterium (Abb. 6 bei Lavin). Die folgenden Beispiele nach Lavin: Piero Della Francesca, a.a.O., S. 26–28. 258 diaphanes eTexT lizenziert für Urte Krass / 26.02.2016 Strukturwandel der Öffentlichkeit Maestà zu finden (Abb. 3). In Assisi entstand einige Jahre später, wohl um 1325, im Umfeld Pietro Lorenzettis eine Darstellung, die rechts im Bild ein kleines überdachtes, 24 mit Juden und Soldaten bevölkertes Gebäude zeigt. Geographisch noch näher kommt der Tafel von Piero della Francesca eine andere asymmetrische Geißelungsdarstellung aus Borgo San Sepolcro, die der Sieneser Schule zugeschrieben wird. Sie befindet sich auf der Predella eines Altars aus der Mitte des 14. Jahrhunderts und war ursprünglich für die Kirche Santa Chiara in Borgo entstanden. Der Berater mit Turban, der in dieser Darstellung zur Rechten Pilatus’ steht, wird von Piero wieder aufgenommen. Auf der Predella ist er außerhalb der Loggia situiert, den Rücken zum Betrachter, und er greift mit der rechten Hand in sein Gewand – ganz ähnlich dem oben beschriebenen Mann in der Zeichnung von Jacopo Bellini. An dieser Stelle nun ist der Hinweis angebracht, dass Piero della Francesca offenbar Bildbeispiele rezipiert aus einer Zeit, in welcher – gemäß einer der Kernthesen des vorliegenden Bandes – Künstler allerorten mit anonymen Figuren in ihren Kompositionen experimentierten. Dadurch ergibt sich eine interessante Verknüpfung zwischen einem zunächst einmal rein bildtopographischen Paradigmenwechsel einerseits und einer Besiedelung dieses veränderten Bildraums durch zusätzliches Personal andererseits: Es ist gut möglich, dass Piero sich in erster Linie für aus dem Zentrum gerückte Architektur interessiert hat, was zu seiner Rezeption älterer Ikonographie führte. Mit an Bord waren aber – gewissermaßen als blinde Passagiere – auch die anonymen Zuschauer, mit denen die Künstler des 14. Jahrhunderts ihre asymmetrisch angeordneten Gebäude bevölkert haben. Durch diesen Konnex wandelt sich die Bildtopographie in zweifacher Hinsicht und fordert den Künstler auf zweifache Weise heraus: Zum einen erweitert allein schon der Verzicht auf Symmetrieachsen das Spektrum der bildkompositorischen Möglichkeiten erheblich. Zum anderen verändert die Präsenz des Publikums die Spannungsverhältnisse der Bildelemente, denn das eintretende sekundäre Personal muss ja nicht nicht nur zum Raum in Bezug gesetzt werden, sondern auch zum primären Personal, in Pieros Fall also zur Geißelungsgruppe. Im Zuge dieses In-Beziehung-Setzens tritt nun jenes irritierende Phänomen zutage, aus dem die Enträtselungsobsession gegenüber Pieros Flagellazione erwachsen ist: Im Gegensatz zu den alten Entwürfen, auf die er rekurriert, bricht Piero della Francesca die herkömmliche kompositorische Hierarchie zwischen den beiden Figurengruppen – also zwischen dem primären (d.h. vorgegebenen, biblisch verankerten) und dem sekundären 24 Hier steht Pilatus übrigens zwischen zwei militärischen Beratern. 259 diaphanes eTexT lizenziert für Urte Krass / 26.02.2016 Urte Krass (d.h. willkürlich hinzugefügten, anonymen) Personal – radikal auf. Vordergrundfiguren und Begleitfiguren tauschen ihre Plätze, das traditionelle Narrativ wird ad absurdum geführt. Anders als bei den zeitgenössischen Geißelungsdarstellungen, die das Prätorium mit Mittelvertikale ins Zentrum setzen und dadurch einen einzigen Zeit- und Ortsfokus für alle Elemente der Komposition vorgeben, ermöglicht die Dezentrierung und Trennung des Bildraumes in ein Vorne und ein Hinten, zwei voneinander unab25 hängige Zeit- und Erzählebenen zu etablieren. Eine solche Inversion der visuellen Machtverhältnisse liegt auch in den erwähnten Zeichnungen des Jacopo Bellini vor; umso erstaunlicher ist es, dass ein fundierter Vergleich der Geißelungsdarstellungen beider Künstler noch immer aussteht. Die Zumutung der Anonymität Freilich hat es schon mehrere Versuche gegeben, den immensen visuellen Machtzuwachs der drei Figuren im Vordergrund von Pieros Flagellazione aus Gründen herzuleiten, die mit der Komposition des Bildes zu tun haben – und eben nicht mit einer extrinsischen Bedeutungsaufladung durch den Verweis auf historische Persönlichkeiten oder Ereignisse. Selbst Vertreter der ›Identifizierungsfraktion‹ erkennen die »powerful 26 formal mathematical organization« als Alleinstellungsmerkmal des Bildes an. Piero hat bei der Konstruktion des Bildraumes ein geometrisches Grundmodul angewandt und variiert, um die sich perspektivisch verändernden Pflaster- und Fliesenformen des Bodens darzustellen. Dadurch erreicht er die enorme räumliche Tiefenwirkung, die das Gemälde als eine künstlerische Fingerübung oder als Zurschaustellung rechnerischer Fähigkeiten erscheinen lässt. Die radikale These, das Bild sei inhaltlich gar nicht ausdeutbar, da es sich eben um ein mathematisches Experiment des Malers handele, wurde schon in den 1920er Jahren vom Schriftsteller Aldous Huxley geäußert und dann nochmals in den 1960er Jahren vom Maler Philip Guston. Beide waren fasziniert davon, dass Piero della Francesca das eigentliche Thema in den Hintergrund verschiebt und schlossen daraus, die Tafel sei »nothing but an experiment in composition« – allerdings ein Experiment, das so seltsam und verblüffend erfolgreich sei, dass man das »Fehlen dramatischer Signifikanz« als 25 26 Diese Überlegung schon bei Lavin: Piero Della Francesca, a.a.O., S. 30. Banker: Piero della Francesca, a.a.O., S. 141. 260 diaphanes eTexT lizenziert für Urte Krass / 26.02.2016 Strukturwandel der Öffentlichkeit 27 vollkommen gerechtfertigt erachte. Guston geht sogar so weit, die Geißelung selbst als »die einzige Störung« des Bildes zu bezeichnen, die aber immerhin nur im Hintergrund platziert sei, wie in der Erinnerung. Folgt man der These, dass Pieros Geißelungsbild ein Schaustück seiner Fähigkeiten in mathematisch-perspektivischer Bildkonstruktion ist, ergeben sich völlig neue Möglichkeiten für die Deutung bzw. Nicht-Deutung der drei Männer im Vordergrund. Die intrinsische Evidenz der Komposition deutet dann darauf hin, dass Piero hier recht willkürlich drei Stellvertreter unterschiedlicher Gesellschaftssegmente als Objekte einer Versuchsanordnung ausgewählt hat, um aufzuzeigen, wie sich die Bedeutungszuschreibungen an das Bildpersonal proportional verändern, wenn man die üblichen Größenverhältnisse umkehrt. Die drei bystanders wären somit eher als Typen aufzufassen – ein Kaufmann ganz rechts, vielleicht in Zusammenhang zu bringen mit dem Stadthaus hinter ihm; ein Gelehrter auf der linken Seite, womöglich ein Theologe oder Jurist, der wiederum mit dem Gerichtsgebäude hinter ihm assoziiert werden kann; der barfüßige Jüngling ließe sich somit der Landschaft zuzuordnen, die durch die Baumkronen hinter 28 seinem Kopf angezeigt wird. Dass Piero della Francesca das Bild als showpiece konzipiert haben könnte, ist insofern plausibel, als er durchaus Kenntnis von zwei berühmten Vorgängerexperimenten in perspektivischer Malkunst gehabt haben könnte: Als Erfinder der konstruierten Perspektive – der perspectiva artificialis, wie sie in Absetzung von der perspectiva naturalis, der mittelalterlichen Optik, genannt wurde – gilt Filippo Brunelleschi. Er malte zwei solcher Schaustücke, die als »Inkunabeln der perspektivischen Darstellung« gelten, 29 auch wenn sie nicht auf uns gekommen sind. Piero war nachweislich 1438/39 als junger Mann in Florenz, um mit Domenico Veneziano zu arbeiten. Bei diesem Aufenthalt könnte er Brunelleschis Tafeln, die sich in der Sammlung der Medici im Palazzo Medici30 Riccardi befanden, zu Gesicht bekommen haben. 27 28 29 30 Aldous Huxley: Along the Road, New York 1925, S. 189; Philip Guston: »Piero della Francesca. The Impossibility of Painting«, in: Art News 64 (1965), S. 38 f. Vgl. auch Creighton Gilbert: »On Subject and non-Subject in Italian Renaissance Pictures«, in: Art Bulletin 34 (1952), S. 202–216, und ders.: Change in Piero della Francesca, Locust Valley 1968, S. 33–35. Dazu auch Lavin, Piero Della Francesca, a.a.O., S. 12 f. Vgl. dazu auch J.V. Field: Piero della Francesca. A Mathematician’s Art, New Haven, London 2005, S. 178. Letztere Typenzuordnung beurteilt Field jedoch skeptisch, da Piero in anderen Bildern gänzlich »unsentimental« mit der Darstellung der Landbevölkerung umgehe und der blonde Jüngling hier eher überirdischen Engelscharakter habe. Frank Büttner: »Rationalisierung der Mimesis. Anfänge der konstruierten Perspektive bei Brunelleschi und Alberti«, in: Andreas Kablitz und Gerhard Neumann (Hg.): Mimesis und Simulation, Freiburg i.Br. 1998, S. 55–87, hier S. 59. J.V. Field: »Theory and Practice of Perspective in the Works of Piero della Francesca«, in: 1492. Rivista della Fondazione Piero della Francesca 1 (2008), S. 35–54, hier S. 37. 261 diaphanes eTexT lizenziert für Urte Krass / 26.02.2016 Urte Krass Brunelleschi malte, so sein Biograph Antonio di Tuccio Manetti, zunächst ein Bild des Florentiner Baptisteriums, wie es sich vom Westportal des Doms aus darstellte, und bohrte dann ein Loch durch den Fluchtpunkt. Der Betrachter konnte sich nun vor den Dom stellen und von hinten durch das Loch in der Tafel blicken. Vorn wurde ein Spiegel vorgehalten, der das gemalte Bild solcherart reflektierte, dass der Betrachter meinte, das echte Gebäude vor sich zu sehen. Dieser Effekt wurde noch dadurch verstärkt, dass Brunelleschi den Himmel über dem Baptisterium nicht mit dem Pinsel fingiert hatte, sondern eine silberne Folie aufklebte, so dass sich der echte Himmel darin spiegelte. Eine zweite Tafel zeigte den Palazzo Vecchio und einen Teil der Piazza della Signoria aus einer seitlichen Ansicht heraus. Der Himmel um das Gebäude herum war ausgeschnitten, so dass die echten Wolken an die Stelle der gemalten traten – und die Trennlinie 31 zwischen Realität und Fiktion verwischt wurde. Manetti schrieb in den 1480er Jahren im Rückblick auf Brunelleschis Florentiner Bildexperimente, dass es der Wissenschaft der Perspektive darum gehe, »gut und mit Verstand die Verkleinerungen und Vergrößerungen zu zeigen« (»porre bene e con ragione le diminuzioni e accrescimenti«). Wie Frank Büttner bemerkt, hatte Piero della Francesca in seinem eigenen Traktat De prospectiva pingendi, den er in den 1460er oder 1470er Jahren verfasst hatte, schon ganz ähnlich argumentiert: Die Perspektive erlaube es dem Künstler, die Dinge »commensuramente« und »proportionalmente« darzustellen. Dabei definiert Piero commensuratio folgendermaßen: »Ausmessung nennen wir eben jene propor32 tional an die ihnen zukommenden Plätze gestellten Aufrisse und Konturen.« Und genau darum geht es auch in Pieros Geißelung Christi. Die Tafel demonstriert, was passiert, wenn der Künstler die Entscheidung trifft, das eigentliche Bildthema reduziert in den Hintergrund zu stellen (diminuzione): Dann wachsen anonyme Randfiguren, die wie zufällig gerade auf der Piazza vor dem Gebäude stehen, zu visuellen Protagonisten an (accrescimento). Im Bilde findet hier ein Verdrängungsprozess statt, der zunächst einmal wie eine harmlose künstlerische Spielerei anmutet – der aber freilich im Zusammenhang mit neutestamentlicher Bildmotivik eine subversive Brisanz entfaltet und also theologisch eine Ungeheuerlichkeit darstellt. Dabei ist das, was Piero della Francesca hier vorführt, nichts anderes als der Nachvollzug normaler Sehgewohnheiten: Das menschliche Auge nimmt Objekte und Personen nicht zwangsläufig in der Größe wahr, die ihnen aufgrund ihrer Bedeutung 31 32 Büttner: »Rationalisierung der Mimesis«, in: Kablitz (Hg.): Mimesis und Simulation, a.a.O., S. 75. Ebd, S. 75. Deutschsprachige Übersetzung nach Ulrich Pfisterer (Hg.): Die Kunstliteratur der italienischen Renaissance. Eine Geschichte in Quellen, Stuttgart 2002, S. 172–174, hier S. 173. Im Original heißt es: »Commensuratio diciamo essere essi profili e contorni proportionalmente posti nei luoghi loro.« Zitiert nach Field: »Theory and Practice of Perspective«, in: 1492 1, a.a.O., Appendix, S. 53. 262 diaphanes eTexT lizenziert für Urte Krass / 26.02.2016 Strukturwandel der Öffentlichkeit zukommen müsste. Erst das Gehirn nimmt die »hierarchische Stufung der gesehenen Objekte vor«. So fasst Büttner zusammen, worum es den Künstler-Theoretikern des Quattrocento vor allem geht: »In der Wahrnehmung der Wirklichkeit stellen wir ein Beziehungsnetz her, in dem die einzelnen Gegenstände aufeinander und auf uns bekannte Größen bezogen werden. Protagoras, so vermutet Alberti, nannte den Menschen das Maß aller Dinge, weil wir nur im Vergleich mit ihm alle Dinge in ihren Akzi33 dentien erfassen können.« Der Mensch ist also das Maß aller Dinge? Angesichts von Pieros Geißelungstafel stellt sich genau diese Frage. Der Umstand, dass der Betrachter – wahrscheinlich schon der zeitgenössische – versucht ist, dem dreiköpfigen Publikum bestimmte Identitäten anzutragen, und dass genau dieser Versuch nicht erfolgreich sein kann, weil Piero hier eben keine real existierenden Menschen dargestellt hat: Genau dieser Täuschungseffekt könnte von Piero intendiert gewesen sein. Die bewusste Fehllenkung der Aufmerksamkeit verleitet den Betrachter zu dem Irrglauben, die prominent in Szene gesetzten Zeitgenossen im Vordergrund seien der Schlüssel zum Verständnis des Bildes, also das 34 Maß aller Dinge. Der rhetorische Kniff des attentum facere sorgt hier für einen Überraschungseffekt. Mit Täuschung und Enttäuschung spielen nicht nur die Künstler im italienischen Quattrocento, schon in den Künstleranekdoten des Trecento ist es das häufigste 35 Thema. In der Novelle vom dicken Holzschnitzer, die der Brunelleschi-Vita von Manetti beigebunden ist (und meist auch diesem Autor zugeschrieben wird), ist ausgerechnet Brunelleschi selbst der Drahtzieher eines bösen Streiches, in welchem einem Florentiner Handwerker jegliches Bezugssystem zu Wahrheit und Fiktion genommen wird – dies ist gewissermaßen ein »in-vivo-Experiment«, eine Einlegearbeit, vergleichbar 36 den gemalten Schaustücken. 33 34 35 36 Büttner: »Rationalisierung der Mimesis«, in: Kablitz (Hg.): Mimesis und Simulation, a.a.O., S. 81. Büttner zieht hier auch Leon Battista Alberti heran, der bereits feststellte, »dass wir die Größen von Gegenständen nicht an sich, sondern nur ›per accidentia‹, im Vergleich, wahrnehmen können« (zit. nach ebd.). Zu diesem Terminus Frank Büttner: »Perspektive als rhetorische Form. Kommunikative Funktionen der Perspektive in der Renaissance«, in: Joachim Knape (Hg.): Bildrhetorik, Baden-Baden 2007, S. 201–231, hier S. 213. Vgl. etwa Urte Krass: »Der Stein und die Weisen. Reflexionen über Kunst und Künstlerberuf in Boccaccios Decameron VIII.3 und in Cenninis Libro dell’arte«, in: Gerhard Wolf (Hg.): Bild – Ding – Kunst. Aspekte einer Dreiecksbeziehung, Berlin, München 2015 (i. Ersch.); dies.: »Malinconoso con la casa piena di pietre (Decameron VIII.3). Zur narrativen Symbiose von Malern und Steinen«, in: Gerhard Wolf (Hg.): Kunstgeschichten. Parlare de’ll arte nel Trecento, Berlin, München 2015 (i. Ersch.). Friedrich Teja Bach: »Filippo Brunelleschi and the Fat Woodcarver. The Anthropological Experiments of Perspective and the Paradigm of the Picture as Inlay«, in: Res 51 (2007), S. 157–174. 263 diaphanes eTexT lizenziert für Urte Krass / 26.02.2016 Urte Krass Insofern kann man im Fall von Pieros Flagellazione tatsächlich von der Unerbittlichkeit der Perspektive sprechen. Alles, was im Bildfeld zur Darstellung kommt, ist dem Diktat der perspektivischen Durchdringung des Kompositionsvorgangs unterworfen; das wechselseitige Verhältnis der Dinge und Figuren wird hier nicht von inhaltlichen Vorgaben, sondern einzig von der willkürlichen Berechnung durch den Künstler bestimmt. Durch eine solche schöpferische Souveränität wird letztlich die Kunst über 37 die Natur gestellt – und sogar über die Heilsgeschichte. Jedenfalls könnte angesichts von Pieros Geißelungstafel leicht der Eindruck entstehen: »Die in der Perspektive erreichte Rationalisierung des Bildes ist zum Modell für die Rationalisierung des Welt38 bildes geworden.« Frappierend ist, dass auch weitere bei der Geißelung zur Anwendung gekommene technische Aspekte an Piero della Francescas theoretische Abhandlungen andocken – oder umgekehrt. Im dritten Teil seines bereits erwähnten Traktats De prospectiva pingendi beschäftigt sich Piero mit »schwierigen Körpern«. Neben Säulen und Kapitellen veranschaulicht er das Problem der Seiten- und Frontalansicht auch anhand von diversen Zeichnungen des menschlichen Kopfes. Die Parallelen zu den drei bystanders seiner Geißelungstafel sind bemerkenswert: Hier wie dort präsentiert Piero die Darstellung 39 eines Männerkopfes in zweifacher Variation: im Profil und in der Frontalansicht. Genau wie das perspektivische Spiel mit der Architektur im Bild zeugen die Kopfskizzen in Pieros Traktat von seinem das ganze Bild durchdringenden vornehmlich mathematischen Interesse. Dass der Trend zur Rationalisierung letztlich »an den Bedürfnissen der weitgehend 40 auf sakrale Aufträge ausgerichteten Malerei jener Zeit vorbei[ging]«, findet seine Entsprechung im theologischen Kern der Passionsgeschichte Jesu – zumindest wenn man der Überlieferung der Legenda aurea folgt. Im Abschnitt De passione domini wird dort nämlich explizit begründet, warum Jesus bei seinen Verhören »vor Herodes, Pilatus und den Juden« so hartnäckig schweigt: Einer der Gründe ist, dass Eva durch ihre Schwatzhaftigkeit (loquacitas) gesündigt habe und Jesus dies nun durch Schweigen (taciturnitas) sühnen wolle. Auf Piero della Francescas Geißelungstafel bezogen heißt das wohl: Dass das Geschwätz auf der Piazza so sehr in den Vordergrund rückt, hätte Jesus gewiss verachtet. 37 38 39 40 Vgl. hierzu auch die Ausführugen zur Eselswunder-Darstellung von Francesco di Giorgio Martini in der Einleitung des vorliegenden Bandes. Büttner: »Rationalisierung der Mimesis«, in: Kablitz (Hg.): Mimesis und Simulation, a.a.O., S. 84–87. Die Zeichnungen stammen von Piero selbst. Der Traktat befindet sich in Parma, Biblioteca Palatina, MS 1576. Es ist kein Zufall, dass sich auf der Geißelungstafel außerdem – wie im Traktat – verschiedene Ansichten von Säulen und Kapitellen finden. Büttner: »Rationalisierung der Mimesis«, in: Kablitz (Hg.): Mimesis und Simulation, a.a.O., S. 77. 264 diaphanes eTexT lizenziert für Urte Krass / 26.02.2016 Strukturwandel der Öffentlichkeit 6 Piero della Francesca: Menschlicher Kopf im Profil, frontal und von oben, Skizze aus Pieros Traktat De prospectiva pingedi, Mitte 15. Jahrhundert. 265 diaphanes eTexT lizenziert für Urte Krass / 26.02.2016 Urte Krass Ein kulturwissenschaftlich höchst interessantes Phänomen ist freilich die Tatsache, dass der Strom von Deutungsangeboten und Versuchen, die drei bystanders in Pieros Flagellazione di Cristo letztgültig zu identifizieren, nicht abreißt. Meines Erachtens zeugt dies vor allem von einem: von einem weit verbreiteten Unvermögen, die Vorstellung auszuhalten, dass es auf diesem Bild schlicht niemanden zu identifizieren gibt. Der Gedanke an ein anonymes Publikum, so kann man daraus schließen, flößt regelrecht Angst ein. Wenn man Anonymität mit Namen- und Identitätslosigkeit gleichsetzt, mit einer Leerstelle inmitten von Myriaden erforschter, namentlich erfasster und archivierter Figuren im Bildgedächtnis der Menschheit, dann kann man sagen: In Bezug auf Pieros Geißelungstafel herrscht ein Horror Vacui vor. Der Drang, diese schmerzliche Lücke mit der Vergabe dreier Identitäten zu füllen, scheint nicht zu erlahmen. Dabei spielt freilich eine Rolle, dass Piero hier durchaus mit dem Porträtcharakter dieser Figuren spielt. Wahrscheinlich handelt es sich um sogenannte attributive Porträts. Durch »Realismus-Inseln« (Wölfflin) – wie die Halbglatze des Brokat-Gewandeten oder die Barttracht und die spezielle Nasenform des linken Mannes – erreicht Piero es, dass man zumindest diese beiden Männer für Porträts real existierender Menschen halten kann. Interessant ist, dass man eine solche Identitätszuschreibung nie mit den Schergen oder Pontius Pilatus versucht, was sicher an ihrer maßstäblich kleineren Darstellung liegt. Mathematisch ließe sich folgende Gleichung aufmachen: Porträthafte Züge plus überproportional große Darstellung ergibt den Reflex des Betrachters, hier echte Personen erkennen zu wollen. Anonymes Publikum hat einfach zurückhaltend zu sein. Jede andere Darstellungsform war nicht nur zu Zeiten Piero della Francescas – also rund anderthalb Jahrhunderte nach dem allmählichen Auftauchen von Zuschauern in der italienischen Bilderwelt – eine Zumutung, sondern sie ist es offenbar noch heute, siebenhundert Jahre später. 266 diaphanes eTexT lizenziert für Urte Krass / 26.02.2016