Zur Kritik der Gewalt (1920-1921?)
von Walter Benjamin
(in Walter Benjamin Gesammelte Schriften, vol. II.1,
herausgegeben von R. Tiedemann e H. Schweppenhäuser,
Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1999, S. 179-204)
Die Aufgabe einer Kritik der Gewalt läßt sich als die Darstellung ihres Verhältnisses
zu Recht und Gerechtigkeit umschreiben. Denn zur Gewalt im prägnanten Sinne des
Wortes wird eine wie immer wirksame Ursache erst dann, wenn sie in sittliche
Verhältnisse eingreift. Die Sphäre dieser Verhältnisse wird durch die Begriffe Recht
und Gerechtigkeit bezeichnet. Was zunächst den ersten von ihnen angeht, so ist klar,
daß das elementarste Grundverhältnis einer jeden Rechtsordnung dasjenige von Zweck
und Mittel ist. Ferner, daß Gewalt zunächst nur im Bereich der Mittel, nicht der Zwecke
aufgesucht werden kann. Mit diesen Feststellungen ist für die Kritik der Gewalt mehr,
und freilich auch anderes, als es vielleicht den Anschein hat gegeben. Ist
nämlich Gewalt Mittel, so könnte ein Maßstab für ihre Kritik ohne weiteres gegeben
erscheinen. Er drängt sich in der Frage auf, ob Gewalt jeweils in bestimmten Fällen
Mittel zu gerechten oder ungerechten Zwecken sei. Ihre Kritik wäre demnach in
einem System gerechter Zwecke implizit gegeben. Dem ist aber nicht so. Denn was ein
solches System, angenommen es sei gegen alle Zweifel sichergestellt, enthielte, ist nicht
ein Kriterium der Gewalt selbst als eines Prinzips, sondern eines für die Fälle ihrer
Anwendung. Offen bliebe immer noch die Frage, ob Gewalt überhaupt, als Prinzip,
selbst als Mittel zu gerechten Zwecken sittlich sei. Diese Frage bedarf zu ihrer
Entscheidung denn doch eines näheren Kriteriums, einer Unterscheidung in der Sphäre
der Mittel selbst, ohne Ansehung der Zwecke, denen sie dienen. 180
Die Ausschaltung dieser genaueren kritischen Fragestellung charakterisiert eine
große Richtung in der Rechtsphilosophie vielleicht als ihr hervorstechendstes Merkmal:
das Naturrecht. Es sieht in der Anwendung gewaltsamer Mittel zu gerechten Zwekken
so wenig ein Problem, wie der Mensch eines im »Recht«, seinen Körper auf das
erstrebte Ziel hinzubewegen, findet. Nach seiner Anschauung (die dem Terrorismus in
der französischen Revolution zur ideologischen Grundlage diente) ist Gewalt
ein Naturprodukt, gleichsam ein Rohstoff, dessen Verwendung keiner Problematik
unterliegt, es sei denn, daß man die Gewalt zu ungerechten Zwecken mißbrauche. Wenn
nach der Staatstheorie des Naturrechts die Personen aller ihrer Gewalt zugunsten
des Staates sich begeben, so geschieht das unter der Voraussetzung (die beispielsweise
Spinoza im theologisch-politischen Traktat ausdrücklich feststellt), daß der einzelne an
und für sich und vor Abschluß eines solchen vernunftgemäßen Vertrages jede beliebige
Gewalt, die er de facto innehabe, auch de jure ausübe. Vielleicht sind diese
Anschauungen noch spät durch Darwins Biologie belebt worden, die in durchaus
dogmatischer Weise neben der natürlichen Zuchtwahl nur die Gewalt als ursprüngliches
und allen vitalen Zwecken der Natur allein angemessenes Mittel ansieht. Die
darwinistische Popularphilosophie hat oft gezeigt, wie klein von diesem
naturgeschichtlichen Dogma der Schritt zu dem noch gröberen rechtsphilosophischen
ist, daß jene Gewalt, welche fast allein natürlichen Zwecken angemessen, darum auch
schon rechtmäßig sei.
Dieser naturrechtlichen These von der Gewalt als natürlicher Gegebenheit tritt die
positiv-rechtliche von der Gewalt als historischer Gewordenheit diametral entgegen.
Kann das Naturrecht jedes bestehende Recht nur beurteilen in der Kritik seiner Zwecke,
so das positive jedes werdende nur in der Kritik seiner Mittel. Ist Gerechtigkeit das
Kriterium der Zwecke, so Rechtmäßigkeit das der Mittel. Unbeschadet dieses
Gegensatzes aber begegnen beide Schulen sich in dem gemeinsamen
Grunddogma: Gerechte Zwecke können durch berechtigte Mittel erreicht, berechtigte
Mittel an gerechte Zwecke gewendet werden. Das Naturrecht strebt, durch die
Gerechtigkeit der Zwecke die Mittel zu »rechtfertigen«, das positive Recht durch die
Berechtigung der Mittel die Gerechtigkeit der Zwecke zu »garantieren«. Die 181
Antinomie würde sich als unlösbar erweisen, wenn die gemeinsame dogmatische
Voraussetzung falsch ist, wenn berechtigte Mittel einerseits und gerechte Zwecke
andrerseits in unvereinbarem Widerstreit liegen. Die Einsicht hierein könnte sich
aber keinesfalls ergeben, bevor der Zirkel verlassen und voneinander unabhängige
Kriterien für gerechte Zwecke sowohl als für berechtigte Mittel aufgestellt wären.
Das Bereich der Zwecke und damit auch die Frage nach einem Kriterium der
Gerechtigkeit schaltet für diese Untersuchung zunächst aus. Dagegen fällt in ihr
Zentrum die Frage nach der Berechtigung gewisser Mittel, welche die Gewalt
ausmachen. Naturrechtliche Prinzipien können sie nicht entscheiden, sondern nur in
eine bodenlose Kasuistik führen. Denn wenn das positive Recht blind ist für die
Unbedingtheit der Zwecke, so das Naturrecht für die Bedingtheit der Mittel. Dagegen
ist die positive Rechtstheorie als hypothetische Grundlage im Ausgangspunkt der
Untersuchung annehmbar, weil sie eine grundsätzliche Unterscheidung hinsichtlich der
Arten der Gewalt vornimmt, unabhängig von den Fällen ihrer Anwendung. Diese findet
zwischen der historisch anerkannten, der sogenannten sanktionierten und der nicht
sanktionierten Gewalt statt. Wenn die folgenden Überlegungen von ihr ausgehen, so
kann das natürlich nicht heißen, daß gegebene Gewalten danach klassifiziert werden, ob
sie sanktioniert sind oder nicht. Denn in einer Kritik der Gewalt kann deren positivrechtlicher Maßstab nicht seine Anwendung, sondern vielmehr nur seine Beurteilung
erfahren. Es handelt sich um die Frage, was denn für das Wesen der Gewalt
daraus folge, daß ein solcher Maßstab oder Unterschied an ihr überhaupt möglich sei,
oder mit anderen Worten um den Sinn jener Unterscheidung. Denn daß jene positivrechtliche Unterscheidung sinnvoll, in sich vollkommen gegründet und durch
keine andere ersetzbar sei, wird sich bald genug zeigen, zugleich aber damit ein Licht
auf diejenige Sphäre fallen, in der diese Unterscheidung allein stattfinden kann. Mit
einem Wort: kann der Maßstab, den das positive Recht für die Rechtmäßigkeit
der Gewalt aufstellt, nur nach seinem Sinn analysiert, so muß die Sphäre seiner
Anwendung nach ihrem Wert kritisiert werden. Für diese Kritik gilt es dann den
Standpunkt außerhalb der positiven Rechtsphilosophie, aber auch außerhalb des
Naturrechts 182 rechts zu finden. Inwiefern allein die geschichtsphilosophische Rechtsbetrachtung ihn abgeben kann, wird sich herausstellen.
Der Sinn der Unterscheidung der Gewalt in rechtmäßige und unrechtmäßige liegt
nicht ohne weiteres auf der Hand. Ganz entschieden ist das naturrechtliche
Mißverständnis abzuwehren, als bestehe er in der Unterscheidung von Gewalt zu
gerechten und ungerechten Zwecken. Vielmehr wurde schon angedeutet, daß das
positive Recht von jeder Gewalt einen Ausweis über ihren historischen Ursprung
verlangt, welcher unter gewissen Bedingungen ihre Rechtmäßigkeit, ihre Sanktion
erhält. Da die Anerkennung von Rechtsgewalten sich am greifbarsten in
der grundsätzlich widerstandslosen Beugung unter ihre Zwecke bekundet, so ist als
hypothetischer Einteilungsgrund der Gewalten das Bestehen oder der Mangel einer
allgemeinen historischen Anerkennung ihrer Zwecke zugrunde zu legen. Zwecke,
welche dieser Anerkennung entbehren, mögen Naturzwecke, die anderen Rechtszwecke
genannt werden. Und zwar ist die verschiedenartige Funktion der Gewalt, je nachdem
sie Natur- oder Rechtszwecken dient, am anschaulichsten unter
Zugrundelegung irgendwelcher bestimmter Rechtsverhältnisse zu entwickeln.
Der Einfachheit halber mögen die folgenden Ausführungen auf die gegenwärtigen
europäischen sich beziehen.
Für diese Rechtsverhältnisse ist, was die einzelne Person als Rechtssubjekt betrifft,
die Tendenz bezeichnend, Naturzwecke dieser einzelnen Personen in allen den Fällen
nicht zuzulassen, in denen solche Zwecke gegebenenfalls zweckmäßigerweise
gewaltsam erstrebt werden könnten. Das heißt: diese Rechtsordnung drängt darauf, in
allen Gebieten, in denen Zwecke von Einzelpersonen zweckmäßigerweise mit Gewalt
erstrebt werden könnten, Rechtszwecke aufzurichten, welche eben nur die Rechtsgewalt
auf diese Weise zu verwirklichen vermag. Ja, sie drängt darauf, auch Gebiete, für
welche Naturzwecke prinzipiell in weiten Grenzen freigegeben werden, wie das der
Erziehung, durch Rechtszwecke einzuschränken, sobald jene Naturzwecke mit einem
übergroßen Maß von Gewalttätigkeit erstrebt werden, wie sie dies in den Gesetzen über
die Grenzen der erzieherischen Strafbefugnis tut. Es kann als eine allgemeine
Maxime gegenwärtiger europäischer Gesetzgebung formuliert werden: alle
Naturzwecke einzelner Personen müssen mit Rechtszwecken 183 in Kollision geraten,
wenn sie mit mehr oder minder großer Gewalt verfolgt werden. (Der Widerspruch, in
welchem das Recht auf Notwehr hierzu steht, dürfte im Laufe der
folgenden Betrachtungen von selbst seine Erklärung finden.) Aus dieser Maxime folgt,
daß das Recht die Gewalt in den Händen der einzelnen Person als eine Gefahr ansieht,
die Rechtsordnung zu untergraben. Als eine Gefahr, die Rechtszwecke und die
Rechtsexekutive zu vereiteln? Doch nicht; denn dann würde nicht Gewalt schlechthin,
sondern nur die auf rechtswidrige Zwecke gewendete verurteilt werden. Man wird
sagen, daß ein System der Rechtszwecke sich nicht halten könne, wenn irgendwo
Naturzwecke noch gewaltsam erstrebt werden dürfen. Das ist aber zunächst ein bloßes
Dogma. Dagegen wird man vielleicht die überraschende Möglichkeit in Betracht zu
ziehen haben, daß das Interesse des Rechts an der Monopolisierung der Gewalt
gegenüber der Einzelperson sich nicht durch die Absicht erkläre, die Rechtszwecke,
sondern vielmehr durch die, das Recht selbst zu wahren. Daß die Gewalt, wo sie nicht
in den Händen des jeweiligen Rechtes liegt, ihm Gefahr droht, nicht durch die Zwecke,
welche sie erstreben mag, sondern durch ihr bloßes Dasein außerhalb des Rechts.
Drastischer mag die gleiche Vermutung durch die Besinnung darauf nahegelegt werden,
wie oft schon die Gestalt des »großen« Verbrechers, mögen auch seine Zwecke
abstoßend gewesen sein, die heimliche Bewunderung des Volkes erregt hat. Das kann
nicht um seiner Tat, sondern nur um der Gewalt willen, von der sie zeugt, möglich sein.
In diesem Fall tritt also wirklich die Gewalt, welche das heutige Recht in allen Bezirken
des Handelns dem einzelnen zu nehmen sucht, bedrohlich auf und erregt noch im
Unterliegen die Sympathie der Menge gegen das Recht. Durch welche Funktion die
Gewalt mit Grund dem Recht so bedrohlich scheinen, so sehr von ihm gefürchtet
werden kann, muß sich gerade da zeigen, wo selbst nach der gegenwärtigen
Rechtsordnung ihre Entfaltung noch zulässig ist.
Dies ist zunächst im Klassenkampf in Gestalt des garantierten Streikrechts der
Arbeiter der Fall. Die organisierte Arbeiterschaft ist neben den Staaten heute wohl das
einzige Rechtssubjekt, dem ein Recht auf Gewalt zusteht. Gegen diese Anschauung
liegt freilich der Einwand bereit, daß die Unterlassung von Handlungen, 184 ein NichtHandeln, wie es der Streik letzten Endes doch ist, überhaupt nicht als Gewalt bezeichnet
werden dürfe. Solche Überlegung hat auch wohl der Staatsgewalt die Einräumung
des Streikrechts, als sie nicht mehr zu umgehen war, erleichtert. Sie gilt aber nicht
uneingeschränkt, weil nicht unbedingt. Zwar kann das Unterlassen einer Handlung,
auch eines Dienstes, wo es einfach einem »Abbruch von Beziehungen« gleichkommt,
ein völlig gewaltloses, reines Mittel sein. Und wie nach Anschauung des Staates (oder
des Rechts) im Streikrecht der Arbeiterschaft überhaupt nicht sowohl ein Recht auf
Gewalt zugestanden ist, als eines sich derselben zu entziehen, wo sie vom
Arbeitgeber mittelbar ausgeübt werden sollte, so mag freilich hin und wieder ein
Streikfall vorkommen, der dem entspricht und nur eine »Abkehr« oder »Entfremdung«
vom Arbeitgeber bekunden soll. Das Moment der Gewalt aber tritt, und zwar als
Erpressung, in eine solche Unterlassung unbedingt dann ein, wenn sie in
der prinzipiellen Bereitschaft geschieht, die unterlassene Handlung unter gewissen
Bedingungen, welche, sei es überhaupt nichts mit ihr zu tun haben, sei es nur etwas
Außerliches an ihr modifizieren, wieder so wie vorher auszuüben. Und in diesem Sinne
bildet nach der Anschauung der Arbeiterschaft, welche der des Staates entgegengesetzt
ist, das Streikrecht das Recht, Gewalt zur Durchsetzung gewisser Zwecke anzuwenden.
Der Gegensatz in beiden Auffassungen zeigt sich in voller Schärfe angesichts
des revolutionären Generalstreiks. In ihm wird die Arbeiterschaft jedesmal sich auf ihr
Streikrecht berufen, der Staat aber diese Berufung einen Mißbrauch nennen, da das
Streikrecht »so« nicht gemeint gewesen sei, und seine Sonderverfügungen erlassen.
Denn es bleibt ihm unbenommen zu erklären, daß eine gleichzeitige Ausübung des
Streiks in allen Betrieben, da er nicht in jedem seinen vom Gesetzgeber vorausgesetzten
besonderen Anlaß habe, widerrechtlich sei. In dieser Differenz der Interpretation drückt
sich der sachliche Widerspruch der Rechtslage aus, nach der der Staat eine Gewalt
anerkennt, deren Zwecken er als Naturzwecken bisweilen indifferent, im Ernstfall (des
revolutionären Generalstreiks) aber feindlich gegenübersteht. Als Gewalt nämlich ist,
wiewohl dies auf den ersten Blick paradox scheint, dennoch auch ein Verhalten, das in
Ausübung eines Rechtes eingenommen wird, unter gewissen Bedingungen zu 185
bezeichnen. Und zwar wird ein solches Verhalten, wo es aktiv ist, Gewalt heißen
dürfen, wenn es ein ihm zustehendes Recht ausübt, um die Rechtsordnung, kraft deren
es ihm verliehen ist, zu stürzen, wo es passiv ist, aber nichtsdestoweniger ebenso
zu bezeichnen sein, wo es im Sinne der oben entwickelten Überlegung Erpressung
wäre. Daher zeugt es nur von einem sachlichen Widerspruch in der Rechtslage, nicht
aber von einem logischen Widerspruch im Recht, wenn es den Streikenden als
Gewalttätigen unter gewissen Bedingungen mit Gewalt entgegentritt. Denn im Streik
fürchtet der Staat mehr als alles andere diejenige Funktion der Gewalt, deren Ermittlung
diese Untersuchung als einzig sicheres Fundament ihrer Kritik sich vorsetzt.
Wäre nämlich Gewalt, was sie zunächst scheint, das bloße Mittel, eines Beliebigen, das
gerade erstrebt wird, unmittelbar sich zu versichern, so könnte sie nur als raubende
Gewalt ihren Zweck erfüllen. Sie wäre völlig untauglich, auf relativ beständige
Art Verhältnisse zu begründen oder zu modifizieren. Der Streik aber zeigt, daß sie dies
vermag, daß sie imstande ist, Rechtsverhältnisse zu begründen und zu modifizieren, wie
sehr das Gerechtigkeitsgefühl sich auch dadurch beleidigt finden möge. Der Einwand
liegt nahe, daß eine solche Funktion der Gewalt zufällig und vereinzelt sei. Die
Betrachtung der kriegerischen Gewalt wird ihn zurückweisen.
Die Möglichkeit eines Kriegsrechts beruht auf genau denselben sachlichen
Widersprüchen in der Rechtslage wie die eines Streikrechts, nämlich darauf, daß
Rechtssubjekte Gewalten sanktionieren, deren Zwecke für die Sanktionierenden
Naturzwecke bleiben und daher mit ihren eigenen Rechts- oder Naturzwekken im
Ernstfall in Konflikt geraten können. Die Kriegsgewalt richtet allerdings zunächst ganz
unmittelbar und als raubende Gewalt sich auf ihre Zwecke. Aber es ist doch höchst
auffallend, daß selbst – oder vielmehr gerade – in primitiven Verhältnissen, die von
staatsrechtlichen Beziehungen sonst kaum Anfänge kennen, und selbst in solchen
Fällen, wo der Sieger in einen nunmehr unangreifbaren Besitz sich gesetzt hat, ein
Friede zeremoniell durchaus erforderlich ist. Ja, das Wort »Friede« bezeichnet in seiner
Bedeutung, in welcher es Korrelat zur Bedeutung »Krieg« ist (es gibt nämlich noch eine
ganz andere, ebenfalls unmetaphorische und politische, diejenige, in welcher Kant 186
von »Ewigem Frieden« spricht) geradezu eine solche a priori und von allen übrigen
Rechtsverhältnissen unabhängige notwendige Sanktionierung eines jeden Sieges. Diese
besteht eben darin, daß die neuen Verhältnisse als neues »Recht« anerkannt werden,
ganz unabhängig davon, ob sie de facto irgendeiner Garantie für ihren Fortbestand
bedürfen oder nicht. Es wohnt also, wenn nach der kriegerischen Gewalt als einer
ursprünglichen und urbildlichen für jede Gewalt zu Naturzwecken geschlossen werden
darf, aller derartigen Gewalt ein rechtsetzender Charakter bei. Auf die Tragweite dieser
Erkenntnis wird später zurückzukommen sein. Sie erklärt die genannte Tendenz
des modernen Rechts, jede auch nur auf Naturzwecke gerichtete Gewalt zumindest der
Einzelperson als Rechtssubjekt zu nehmen. Im großen Verbrecher tritt ihm diese Gewalt
entgegen mit der Drohung: neues Recht zu setzen, vor der das Volk trotz
ihrer Ohnmacht in bedeutenden Fällen noch heute wie in Urzeiten erschauert. Der Staat
aber fürchtet diese Gewalt schlechterdings als rechtsetzend, wie er sie als rechtsetzend
anerkennen muß, wo auswärtige Mächte ihn dazu zwingen, das Recht zur Kriegführung,
Klassen, das Recht zum Streik ihnen zuzugestehen.
Wenn im letzten Kriege die Kritik der Militärgewalt der Ausgangspunkt für eine
leidenschaftliche Kritik der Gewalt im allgemeinen geworden ist, welche wenigstens
das eine lehrt, daß sie naiv nicht mehr ausgeübt noch geduldet wird, so ist sie doch nicht
nur als rechtsetzende Gegenstand der Kritik gewesen, sondern sie ist vernichtender
vielleicht noch in einer anderen Funktion beurteilt worden. Eine Doppelheit in der
Funktion der Gewalt ist nämlich für den Militarismus, der erst durch die allgemeine
Wehrpflicht sich bilden konnte, charakteristisch. Militarismus ist der Zwang zur
allgemeinen Anwendung von Gewalt als Mittel zu Zwecken des Staates. Dieser Zwang
zur Gewaltanwendung ist neuerdings mit gleichem oder größerem Nachdruck beurteilt
worden, als die Gewaltanwendung selbst. In ihm zeigt sich die Gewalt in einer ganz
andern Funktion als in ihrer einfachen Anwendung zu Naturzwecken. Er besteht in einer
Anwendung von Gewalt als Mittel zu Rechtszwecken. Denn die Unterordnung der
Bürger unter die Gesetze – in gedachtem Falle unter das Gesetz der allgemeinen
Wehrpflicht – ist ein Rechtszweck. Wird jene erste Funktion der Gewalt die 187
rechtsetzende, so darf diese zweite die rechtserhaltende genannt werden. Weil nun die
Wehrpflicht ein durch nichts prinzipiell unterschiedener Anwendungsfall der
rechtserhaltenden Gewalt ist, darum ist ihre wirklich durchschlagende Kritik bei
weitem nicht so leicht, wie die Deklamationen der Pazifisten und Aktivisten sie sich
machen. Sie fällt vielmehr mit der Kritik aller Rechtsgewalt, das heißt mit der Kritik der
legalen oder exekutiven Gewalt zusammen und ist bei einem minderen Programm gar
nicht zu leisten. Sie ist auch, will mari nicht einen geradezu kindischen Anarchismus
proklamieren, selbstverständlich nicht damit geliefert, daß man keinerlei Zwang der
Person gegenüber anerkennt, und erklärt »Erlaubt ist was gefällt«. Eine solche Maxime
schaltet nur die Reflexion auf die sittlich-historische Sphäre und damit auf jeden Sinn
von Handlung, weiterhin aber auf jeden Sinn der Wirklichkeit überhaupt aus, der nicht
zu konstituieren ist, wenn »Handlung« aus ihrem Bereich herausgebrochen ist.
Wichtiger dürfte sein, daß auch die so häufig versuchte Berufung auf den kategorischen
Imperativ mit seinem wohl unbezweifelbaren Minimalprogramm: Handle so, daß
Du die Menschheit sowohl in Deiner Person als in der Person eines jeden Anderen
jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest, zu dieser Kritik an sich
nicht ausreicht.1 Denn das positive Recht wird, wo es seiner Wurzeln sich bewußt
1
Bezweifeln ließe sich an dieser berühmten Forderung vielmehr, ob sie nicht zu wenig
enthält, nämlich ob es erlaubt sei, seiner selbst oder eines andern in irgendwelcher
Hinsicht auch als eines Mittels sich bedienen zu lassen oder zu bedienen. Diesem
Zweifel ließen sich sehr gute Gründe leihen.
ist, durchaus beanspruchen, das Interesse der Menschheit in der Person jedes einzelnen
anzuerkennen und zu fördern. Es erblickt dieses Interesse in der Darstellung und
Erhaltung einer schicksalhaften Ordnung. So wenig dieser, die das Recht mit Grund
zu wahren behauptet, eine Kritik erspart bleiben darf, so ohnmächtig ist doch ihr
gegenüber jede Anfechtung, die nur im Namen einer gestaltlosen »Freiheit« auftritt,
ohne jene höhere Ordnung der Freiheit bezeichnen zu können. Vollends ohnmächtig
aber, wenn sie nicht die Rechtsordnung selbst an Haupt und Gliedern anficht, sondern
einzelne Gesetze oder Rechtsbräuche, welche denn freilich das Recht in den Schutz
seiner Macht nimmt, die darin besteht, daß es nur ein einziges Schicksal gibt und daß
188
gerade das Bestehende und zumal das Drohende unverbrüchlich seiner Ordnung
angehört. Denn die rechtserhaltende Gewalt ist eine drohende. Und zwar hat ihre
Drohung nicht den Sinn der Abschreckung, in dem ununterrichtete liberale Theoretiker
sie interpretieren. Zur Abschreckung im exakten Sinn würde eine Bestimmtheit
gehören, welche dem Wesen der Drohung widerspricht, auch von keinem Gesetz
erreicht wird, da die Hoffnung besteht, seinem Arm zu entgehen. Um so mehr erweist es
sich drohend wie das Schicksal, bei dem es ja steht, ob ihm der Verbrecher verfällt. Den
tiefsten Sinn in der Unbestimmtheit der Rechtsdrohung wird erst die spätere
Betrachtung der Sphäre des Schicksals, aus der sie stammt, erschließen. Ein wertvoller
Hinweis auf sie liegt im Bereich der Strafen. Unter ihnen hat, seitdem die Geltung des
positiven Rechts in Frage gezogen wurde, die Todesstrafe mehr als alles andere die
Kritik herausgefordert. So wenig grundsätzlich auch in den meisten Fällen deren
Argumente gewesen sind, so prinzipiell waren und sind ihre Motive. Ihre Kritiker
fühlten, vielleicht ohne es begründen zu können, ja wahrscheinlich ohne es fühlen zu
wollen, daß eine Anfechtung der Todesstrafe nicht ein Strafmaß, nicht Gesetze, sondern
das Recht selbst in seinem Ursprung angreift. Ist nämlich Gewalt, schicksalhaft
gekrönte Gewalt, dessen Ursprung, so liegt die Vermutung nicht fern, daß in der
höchsten Gewalt, in der über Leben und Tod, wo sie in der Rechtsordnung auftritt,
deren Ursprünge repräsentativ in das Bestehende hineinragen und in ihm sich furchtbar
manifestieren. Hiermit stimmt überein, daß die Todesstrafe in primitiven
Rechtsverhältnissen auch auf Delikte wie Eigentumsvergehen gesetzt ist, zu denen sie
ganz außer »Verhältnis« zu stehen scheint. Ihr Sinn ist denn auch nicht, den
Rechtsbruch zu strafen, sondern das neue Recht zu statuieren. Denn in der Ausübung
der Gewalt über Leben und Tod bekräftigt mehr als in irgendeinem andern
Rechtsvollzug das Recht sich selbst. Eben in ihr aber kündigt zugleich irgend etwas
Morsches im Recht am vernehmlichsten dem feineren Gefühl sich an, weil dieses sich
von Verhältnissen, in welchen das Schicksal in eigner Majestät in einem solchen
Vollzug sich gezeigt hätte, unendlich fern weiß. Der Verstand aber muß diesen
Verhältnissen sich um so entschiedener zu nähern suchen, wenn er die Kritik der
rechtsetzenden wie der rechtserhaltenden Gewalt zum Abschluß bringen will. 189
In einer weit widernatürlicheren Verbindung als in der Todesstrafe, in einer
gleichsam gespenstischen Vermischung, sind diese beiden Arten der Gewalt in einer
andern Institution des modernen Staates, der Polizei, gegenwärtig. Diese ist zwar
eine Gewalt zu Rechtszwecken (mit Verfügungsrecht), aber mit der gleichzeitigen
Befugnis, diese in weiten Grenzen selbst zu setzen (mit Verordnungsrecht). Das
Schmachvolle einer solchen Behörde, das nur deshalb von wenigen gefühlt wird, weil
ihre Befugnisse zu den gröblichsten Eingriffen nur selten ausreichen, desto blinder
freilich in den verletzbarsten Bezirken und gegen Besonnene, vor denen den Staat nicht
die Gesetze schützen, schalten dürfen, liegt darin, daß in ihr die Trennung von
rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt aufgehoben ist. Wird von der ersten
verlangt, daß sie im Siege sich ausweise, so unterliegt die zweite der Einschränkung,
daß sie nicht neue Zwecke sich setze. Von beiden Bedingungen ist die Polizeigewalt
emanzipiert. Sie ist rechtsetzende – denn deren charakteristische Funktion ist ja nicht
die Promulgation von Gesetzen, sondern jedweder Erlaß, den sie mit Rechtsanspruch
ergehen läßt – und sie ist rechtserhaltende, weil sie sich jenen Zwecken zur Verfügung
stellt. Die Behauptung, daß die Zwecke der Polizeigewalt mit denen des übrigen Rechts
stets identisch oder auch nur verbunden wären, ist durchaus unwahr. Vielmehr
bezeichnet das »Recht« der Polizei im Grunde den Punkt, an welchem der Staat, sei es
aus Ohnmacht, sei es wegen der immanenten Zusammenhänge jeder Rechtsordnung,
seine empirischen Zwecke, die er um jeden Preis zu erreichen wünscht, nicht mehr
durch die Rechtsordnung sich garantieren kann. Daher greift »der Sicherheit wegen« die
Polizei in zahllosen Fällen ein, wo keine klare Rechtslage vorliegt, wenn sie nicht ohne
jegliche Beziehung auf Rechtszwecke den Bürger als eine brutale Belästigung durch
das von Verordnungen geregelte Leben begleitet oder ihn schlechtweg überwacht. Im
Gegensatz zum Recht, welches in der nach Ort und Zeit fixierten »Entscheidung« eine
metaphysische Kategorie anerkennt, durch die es Anspruch auf Kritik erhebt, trifft
die Betrachtung des Polizeiinstituts auf nichts Wesenhaftes. Seine Gewalt ist gestaltlos
wie seine nirgends faßbare, allverbreitete gespenstische Erscheinung im Leben der
zivilisierten Staaten. Und mag Polizei auch im einzelnen sich überall gleichsehen, so 190
ist zuletzt doch nicht zu verkennen, daß ihr Geist weniger verheerend ist, wo sie in der
absoluten Monarchie die Gewalt des Herrschers, in welcher sich legislative und
exekutive Machtvollkommenheit vereinigt, repräsentiert, als in Demokratien, wo
ihr Bestehen durch keine derartige Beziehung gehoben, die denkbar größte Entartung
der Gewalt bezeugt.
Alle Gewalt ist als Mittel entweder rechtsetzend oder rechtserhaltend. Wenn sie auf
keines dieser beiden Prädikate Anspruch erhebt, so verzichtet sie damit selbst auf jede
Geltung. Daraus aber folgt, daß jede Gewalt als Mittel selbst im günstigsten Falle an der
Problematik des Rechts überhaupt teilhat. Und wenn auch deren Bedeutung an dieser
Stelle der Untersuchung noch nicht mit Gewißheit abzusehen ist, so erscheint doch nach
dem Ausgeführten das Recht in so zweideutiger sittlicher Beleuchtung, daß die Frage
sich von selbst aufdrängt, ob es zur Regelung widerstreitender menschlicher Interessen
keine anderen Mittel als gewaltsame gebe. Vor allem nötigt sie festzustellen, daß eine
völlig gewaltlose Beilegung von Konflikten niemals auf einen Rechtsvertrag
hinauslaufen kann. Dieser nämlich führt, wie sehr er auch friedlich von den
Vertragschließenden eingegangen sein mag, doch zuletzt auf mögliche Gewalt. Denn
er verleiht jedem Teil das Recht, gegen den andern Gewalt in irgendeiner Art in
Anspruch zu nehmen, falls dieser vertragsbrüchig werden sollte. Nicht allein das: wie
der Ausgang, so verweist auch der Ursprung jeden Vertrages auf Gewalt. Sie braucht als
rechtsetzende zwar nicht unmittelbar in ihm gegenwärtig zu sein, aber vertreten ist sie
in ihm, sofern die Macht, welche den Rechtsvertrag garantiert, ihrerseits
gewaltsamen Ursprungs ist, wenn sie nicht eben in jenem Vertrag selbst durch Gewalt
rechtmäßig eingesetzt wird. Schwindet das Bewußtsein von der latenten Anwesenheit
der Gewalt in einem Rechtsinstitut, so verfällt es. Dafür bilden in dieser Zeit
die Parlamente ein Beispiel. Sie bieten das bekannte jammervolle Schauspiel, weil sie
sich der revolutionären Kräfte, denen sie ihr Dasein verdanken, nicht bewußt geblieben
sind. In Deutschland insbesondere ist denn auch die letzte Manifestation
solcher Gewalten für die Parlamente folgenlos verlaufen. Ihnen fehlt der Sinn für die
rechtsetzende Gewalt, die in ihnen repräsentiert ist; kein Wunder, daß sie zu
Beschlüssen, welche dieser Gewalt 191 würdig wären, nicht gelangen, sondern im
Kompromiß eine vermeintlich gewaltlose Behandlungsweise politischer
Angelegenheiten pflegen. Dieses aber bleibt ein »wenn auch noch so sehr alle offene
Gewalt verschmähendes, dennoch in der Mentalität der Gewalt liegendes Produkt, weil
die zum Kompromiß führende Strebung nicht von sich aus, sondern von außen, eben
von der Gegenstrebung, motiviert wird, weil aus jedem Kompromiß, wie freiwillig auch
immer aufgenommen, der Zwangscharakter nicht weggedacht werden kann. ‚Besser
wäre es anders’ ist das Grundempfinden jeden Kompromisses.«2 – Bezeichnenderweise
hat der Verfall der Parlamente von dem Ideal einer gewaltlosen Schlichtung politischer
Konflikte vielleicht ebensoviele Geister abwendig gemacht, wie der Krieg
ihm zugeführt hat. Den Pazifisten stehen die Bolschewisten und Syndikalisten
gegenüber. Sie haben eine vernichtende und im ganzen treffende Kritik an den heutigen
Parlamenten geübt. So wünschenswert und erfreulich dennoch vergleichsweise
ein hochstehendes Parlament sein mag, so wird man bei der Erörterung prinzipiell
gewaltloser Mittel politischer Obereinkunft nicht vom Parlamentarismus handeln
können. Denn was er in vitalen Angelegenheiten erreicht, können nur jene im
Ursprung und Ausgang mit Gewalt behafteten Rechtsordnungen sein.
Ist überhaupt gewaltlose Beilegung von Konflikten möglich? Ohne Zweifel. Die
Verhältnisse zwischen Privatpersonen sind voll von Beispielen dafür. Gewaltlose
Einigung findet sich überall, wo die Kultur des Herzens den Menschen reine Mittel der
Ubereinkunft an die Hand gegeben hat. Den rechtmäßigen und rechtswidrigen Mitteln
aller Art, die doch samt und sonders Gewalt sind, dürfen nämlich als reine Mittel die
gewaltlosen gegenübergestellt werden. Herzenshöflichkeit, Neigung, Friedensliebe,
Vertrauen und was sich sonst hier noch nennen ließe, sind deren subjektive
Voraussetzung. Ihre objektive Erscheinung aber bestimmt das Gesetz (dessen gewaltige
Tragweite hier nicht zu erörtern ist), daß reine Mittel niemals solche
unmittelbarer, sondern stets mittelbarer Lösungen sind. Sie beziehen sich daher niemals
unmittelbar auf die Schlichtung der Konflikte zwischen Mensch und Mensch, sondern
nur auf dem Wege über die Sachen. 192
In der sachlichsten Beziehung menschlicher Konflikte auf Güter eröffnet sich das
Gebiet der reinen Mittel. Darum ist Technik im weitesten Sinne des Wortes deren
eigenstes Bereich. Ihr tiefgreifendstes Beispiel ist vielleicht die Unterredung als
eine Technik ziviler Übereinkunft betrachtet. In ihr ist nämlich gewaltlose Einigung
nicht allein möglich, sondern die prinzipielle Ausschaltung der Gewalt ist ganz
ausdrücklich an einem bedeutenden Verhältnis zu belegen: an der Straflosigkeit der
Lüge. Es gibt vielleicht keine Gesetzgebung auf der Erde, welche sie ursprünglich
bestraft. Darin spricht sich aus, daß es eine in dem Grade gewaltlose Sphäre
menschlicher Übereinkunft gibt, daß sie der Gewalt vollständig unzugänglich ist: die
eigentliche Sphäre der »Verständigung«, die Sprache. Erst spät und in einem
eigentümlichen Verfallsprozeß ist die Rechtsgewalt dennoch in sie eingedrungen, indem
sie den Betrug unter Strafe stellte. Während nämlich die Rechtsordnung an ihrem
Ursprung im Vertrauen auf ihre siegreiche Gewalt sich begnügt, die rechtswidrige zu
schlagen, wo sie sich gerade zeigt, und der Betrug, da er selbst nichts von Gewalt an
sich hat, nach dem Grundsatz ius civile vigilantibus scriptum est bzw. Augen für Geld
im römischen und altgermanischen Recht straffrei war, fühlte das Recht einer späteren
Zeit, dem es an Vertrauen in seine eigene Gewalt gebrach, nicht mehr wie das frühere
aller fremden sich gewachsen. Vielmehr bezeichnet Furcht vor ihr und Mißtrauen in
sich selbst seine Erschütterung. Es beginnt sich Zwecke in der Absicht zu setzen, der
rechtserhaltenden Gewalt stärkere Manifestationen zu ersparen. Es wendet sich also
gegen den Betrug nicht aus moralischen Erwägungen, sondern aus Furcht vor
den Gewalttätigkeiten, die er im Betrogenen auslösen könnte. Da solche Furcht im
Widerstreit mit der eigenen, Gewaltnatur des Rechts aus seinen Ursprüngen her liegt, so
sind derartige Zwecke den berechtigten Mitteln des Rechts unangemessen. In ihnen
2
Erich Unger: Politik und Metaphysik. (Die Theorie. Versuche zu
philosophischer Politik, i. Veröffentlichung.) Berlin 1921, S. 8.
bekundet sich nicht nur der Verfall seiner eigenen Sphäre, sondern zugleich auch eine
Minderung der reinen Mittel. Denn im Verbot des Betruges schränkt das Recht den
Gebrauch völlig gewaltloser Mittel ein, weil diese reaktiv Gewalt erzeugen
könnten. Die gedachte Tendenz des Rechtes hat auch bei der Einräumung des
Streikrechts, das den Interessen des Staates widerspricht, mitgewirkt. Das Recht gibt es
frei, weil es gewaltsame Handlungen, 193 denen entgegenzutreten es fürchtet, hintan
hält. Griffen doch vordem die Arbeiter sogleich zur Sabotage und steckten die Fabriken
an. – Um Menschen zum friedlichen Ausgleich ihrer Interessen diesseits aller
Rechtsordnung zu bewegen, gibt es abgesehen von allen Tugenden zuletzt ein
wirksames Motiv, das auch dem sprödesten Willen jene reinen Mittel statt
gewaltsamer oft genug in die Hand gibt, in der Furcht vor gemeinsamen Nachteilen, die
aus der gewaltsamen Auseinandersetzung zu entstehen drohen, wie auch immer sie
ausfalle. Solche liegen beim Interessenkonflikt zwischen Privatpersonen in zahllosen
Fällen klar zutage. Anders, wenn Klassen und Nationen im Streit liegen, wobei jene
höheren Ordnungen, welche den Sieger und den Besiegten gleichermaßen zu
überwältigen drohen, den meisten dem Gefühl und fast allen der Einsicht nach noch
verborgen sind. Hier würde das Aufsuchen solcher höheren Ordnungen und der ihnen
entsprechenden gemeinsamen Interessen, welche das nachhaltigste Motiv für eine
Politik der reinen Mittel abgeben, zu weit fuhren.3 Daher möge nur auf reine Mittel
der Politik selbst als Analogon zu denen, die den friedlichen Umgang zwischen
Privatpersonen beherrschen, hingewiesen werden.
Was die Klassenkämpfe betrifft, so muß in ihnen der Streik unter gewissen
Bedingungen als ein reines Mittel gelten. Zwei wesentlich verschiedene Arten des
Streiks, deren Möglichkeit schon erwogen wurde, sind hier eingehender zu
kennzeichnen. Sorel hat das Verdienst, sie – mehr auf Grund politischer als rein
theoretischer Erwägungen – zuerst unterschieden zu haben. Er stellt sie als politischen
und proletarischen Generalstreik einander gegenüber. Zwischen ihnen besteht auch in
der Beziehung auf die Gewalt ein Gegensatz. Von den Parteigängern des ersteren gilt:
»Stärkung der Staatsgewalt ist die Grundlage ihrer Konzeptionen; in ihren
gegenwärtigen Organisationen bereiten die Politiker (sc. die gemäßigt sozialistischen)
schon die Anlage einer starken zentralisierten und disziplinierten Gewalt vor, die durch
die Kritik der Opposition sich nicht beirren lassen wird, die Schweigen aufzuerlegen
wissen und ihre verlogenen Dekrete erlassen wird.«4 »Der politische Generalstreik ...
demonstriert, 194 wie der Staat nichts von seiner Kraft verlieren wird, wie die Macht von
Privilegierten auf Privilegierte übergeht, wie die Masse der Produzenten ihre Herren
wechseln wird.«5 Diesem politischen Generalstreik gegenüber (dessen Formel übrigens
die der verflossenen deutschen Revolution zu sein scheint), setzt der proletarische sich
die eine einzige Aufgabe der Vernichtung der Staatsgewalt. Er »schaltet alle
ideologischen Konsequenzen jeder möglichen Sozialpolitik aus; seine Parteigänger
sehen auch die populärsten Reformen als bürgerlich an«.6 »Dieser Generalstreik
bekundet ganz deutlich seine Gleichgültigkeit gegen den materiellen Gewinn der
Eroberung, indem er erklärt, daß er den Staat aufheben will; der Staat war wirklich.., der
Daseinsgrund der herrschenden Gruppen, die von allen Unternehmungen, deren Lasten
die Gesamtheit trägt, den Nutzen haben.«7 Während die erste Form der
Arbeitseinstellung Gewalt ist, da sie nur eine äußerliche Modifikation der
3
Siehe aber Unger a. a. O. S. 18 ff.
Georges Sorel: Réflexions sur la violence, 5e édition, Paris 1919, p. 250.
5
Ebenda S. 265.
6
Ebenda S. 95.
7
Ebenda S. 249.
4
Arbeitsbedingungen veranlaßt, so ist die zweite als ein reines Mittel gewaltlos. Denn sie
geschieht nicht in der Bereitschaft, nach äußerlichen Konzessionen und irgendwelcher
Modifikation der Arbeitsbedingungen wieder die Arbeit aufzunehmen, sondern im
Entschluß, nur eine gänzlich veränderte Arbeit, eine nicht staatlich erzwungene, wieder
aufzunehmen, ein Umsturz, den diese Art des Streikes nicht sowohl veranlaßt als
vielmehr vollzieht. Daher denn auch die erste dieser Unternehmungen rechtsetzend, die
zweite dagegen anarchistisch ist. Im Anschluß an gelegentliche Außerungen von
Marx weist Sorel jede Art von Programmen, Utopien, mit einem Wort von
Rechtsetzungen für die revolutionäre Bewegung zurück: »Mit dem Generalstreik
verschwinden alle diese schönen Dinge; die Revolution erscheint als eine klare,
einfache Revolte und es ist ein Platz weder den Soziologen vorbehalten noch den
eleganten Amateuren von Sozialreformen, noch den Intellektuellen, die es sich zum
Beruf gemacht haben, für das Proletariat zu denken.«8 Dieser tiefen, sittlichen und echt
revolutionären Konzeption kann auch keine Erwägung gegenübertreten, die
wegen seiner möglichen katastrophalen Folgen einen solchen Generalstreik 195 als
Gewalt brandmarken möchte. Wenn man auch mij Recht sagen dürfte, daß die heutige
Wirtschaft als Ganzes angesehen viel weniger einer Maschine vergleichbar ist, die
stillsteht, wenn ihr Heizer sie verläßt, als einer Bestie, die rast, sobald ihr Bändiger ihr
den Rücken gekehrt hat, so darf dennoch über die Gewaltsamkeit einer Handlung
ebensowenig nach ihren Wirkungen wie nach ihren Zwecken, sondern allein nach dem
Gesetz ihrer Mittel geurteilt werden. Die Staatsgewalt freilich, welche nur die
Wirkungen ins Auge faßt, tritt gerade solchem Streik im Gegensatz zu den meist
tatsächlich erpresserischen Partialstreiken als angeblicher Gewalt entgegen. Inwiefern
übrigens eine so rigorose Konzeption des Generalstreiks als solche die Entfaltung
eigentlicher Gewalt in den Revolutionen zu vermindern geeignet ist, hat Sorel mit sehr
geistvollen Gründen ausgeführt. – Dagegen ist ein hervorragender Fall gewalttätiger
Unterlassung, unsittlicher und roher als der politische Generalstreik, verwandt der
Blockade, der Streik der Arzte, wie mehrere deutsche Städte ihn gesehen haben. In ihm
zeigt sich aufs Abstoßendste skrupellose Gewaltanwendung, die geradezu verworfen ist
bei einer Berufsklasse, die jahrelang ohne den leisesten Versuch eines Widerstandes
»dem Tod seine Beute gesichert hat«, um danach bei der ersten Gelegenheit das Leben
aus freien Stücken preiszugeben. – Deutlicher als in den jungen Klassenkämpfen haben
in der jahrtausendealten Geschichte von Staaten sich Mittel gewaltloser Übereinkunft
herausgebildet. Nur gelegentlich besteht die Aufgabe der Diplomaten im gegenseitigen
Verkehr in der Modifikation von Rechtsordnungen. Im wesentlichen haben sie ganz
nach Analogie der Übereinkunft zwischen Privatpersonen im Namen ihrer Staaten
friedlich und ohne Verträge von Fall zu Fall deren Konflikte beizulegen. Eine zarte
Aufgabe, die resoluter von Schiedsgerichten gelöst wird, eine Methode der Lösung
aber, welche grundsätzlich höher steht als die schiedsgerichtliche, weil jenseits aller
Rechtsordnung und also Gewalt. So hat denn wie der Umgang von Privatpersonen auch
der der Diplomaten eigene Formen und Tugenden hervorgebracht, die, weil sie
äußerlich geworden, es darum nicht immer gewesen sind.
Im ganzen Bereich der Gewalten, die Naturrecht wie positives Recht absehen, findet
sich keine, welche von der angedeuteten 196 schweren Problematik jeder Rechtsgewalt
frei wäre. Da dennoch jede Vorstellung einer irgendwie denkbaren Lösung
menschlicher Aufgaben, ganz zu geschweigen einer Erlösung aus dem Bannkreis aller
bisherigen weltgeschichtlichen Daseinslagen, unter völliger und prinzipieller
Ausschaltung jedweder Gewalt unvollziehbar bleibt, so nötigt sich die Frage nach
andern Arten der Gewalt auf, als alle Rechtstheorie ins Auge faßt. Zugleich die Frage
8
Ebenda S. 200.
nach der Wahrheit des jenen Theorien gemeinsamen Grunddogmas: Gerechte Zwecke
können durch berechtigte Mittel erreicht, berechtigte Mittel an gerechte Zwecke
gewendet werden. Wie also, wenn jene Art schicksalsmäßiger Gewalt, wie sie
berechtigte Mittel einsetzt, mit gerechten Zwecken an sich in unversöhnlichem
Widerstreit liegen würde, und wenn zugleich eine Gewalt anderer Art absehbar werden
sollte, die dann freilich zu jenen Zwecken nicht das berechtigte noch das unberechtigte
Mittel sein kannte, sondern überhaupt nicht als Mittel zu ihnen, vielmehr irgendwie
anders, sich verhalten würde? Damit würde ein Licht auf die seltsame und zunächst
entmutigende Erfahrung von der letztlichen Unentscheidbarkeit aller Rechtsprobleme
fallen (welche vielleicht in ihrer Aussichtslosigkeit nur mit der Unmöglichkeit bündiger
Entscheidung über »richtig« und »falsch« in werdenden Sprachen zu vergleichen
ist). Entscheidet doch über Berechtigung von Mitteln und Gerechtigkeit von Zwecken
niemals die Vernunft, sondern schicksalhafte Gewalt über jene, über diese aber Gott.
Eine Einsicht, die nur deshalb selten ist, weil die hartnäckige Gewohnheit herrscht, jene
gerechten Zwecke als Zwecke eines möglichen Rechts, d. h. nicht nur als
allgemeingültig (was analytisch aus dem Merkmal der Gerechtigkeit folgt), sondern
auch als verallgemeinerungsfähig zu denken, was diesem Merkmal, wie sich zeigen
ließe, widerspricht. Denn Zwecke, welche für eine Situation gerecht, allgemein
anzuerkennen, allgemeingültig sind, sind dies für keine andere, wenn auch in anderen
Beziehungen noch so ähnliche Lage. – Eine nicht mittelbare Funktion der Gewalt,
wie sie hier in Frage steht, zeigt schon die tägliche Lebenserfahrung. Was den
Menschen angeht, so führt ihn zum Beispiel der Zorn zu den sichtbarsten Ausbrüchen
von Gewalt, die sich nicht als Mittel auf einen vorgesetzten Zweck bezieht. Sie ist nicht
Mittel, sondern Manifestation. Und zwar kennt diese Gewalt 197 durchaus objektive
Manifestationen, in denen sie der Kritik unterworfen werden kann. Diese finden sich
höchst bedeutend zunächst im Mythos.
Die mythische Gewalt in ihrer urbildlichen Form ist bloße Manifestation der Götter.
Nicht Mittel ihrer Zwecke, kaum Manifestation ihres Willens, am ersten Manifestation
ihres Daseins. Die Niobesage enthält von ihr ein hervorragendes Beispiel. Zwar könnte
es scheinen, die Handlung Apollons und der Artemis sei nur eine Strafe. Aber ihre
Gewalt richtet viel mehr ein Recht auf, als für Übertretung eines bestehenden zu strafen.
Niobes Hochmut beschwört das Verhängnis über sich herauf, nicht weil er das Recht
verletzt, sondern weil er das Schicksal herausfordert – zu einem Kampf, in dem es
siegen muß und ein Recht erst allenfalls im Siege zutage fördert. Wie wenig solche
göttliche Gewalt im antiken Sinne die rechtserhaltende der Strafe war, zeigen die
Heroensagen, in denen der Held, wie z. B. Prometheus, mit würdigem Mute das
Schicksal herausfordert, wechselnden Glückes mit ihm kämpft und von der Sage nicht
ohne Hoffnung gelassen wird, ein neues Recht dereinst den Menschen zu bringen.
Dieser Heros und die Rechtsgewalt des ihm eingeborenen Mythos ist es eigentlich, die
das Volk noch heute, wenn es den großen Missetäter bewundert, sich zu
vergegenwärtigen sucht. Die Gewalt bricht also aus der unsicheren, zweideutigen
Sphäre des Schicksals über Niobe herein. Sie ist nicht eigentlich zerstörend. Trotzdem
sie Niobes Kindern den blutigen Tod bringt, hält sie vor dem Leben der Mutter ein,
welches sie durch das Ende der Kinder nur verschuldeter als vordem als ewigen
stummen Träger der Schuld wie auch als Markstein der Grenze zwischen Menschen und
Göttern zurückläßt. Wenn diese unmittelbare Gewalt in mythischen Manifestationen der
rechtsetzenden sich nächstverwandt, ja identisch Verweisen möchte, so fällt von ihr aus
eine Problematik auf die rechtsetzende zurück, sofern diese oben in der Darstellung der
kriegerischen Gewalt als eine nur mittelartige charakterisiert wurde. Zugleich
verspricht dann dieser Zusammenhang mehr Licht über das Schicksal, das der
Rechtsgewalt in allen Fällen zugrunde liegt, zu verbreiten und deren Kritik in großen
Zügen zu Ende zu führen. Die Funktion der Gewalt in der Rechtsetzung ist nämlich
zwiefach in dem Sinne, daß die Rechtsetzung zwar dasjenige, was als Recht 198
eingesetzt wird, als ihren Zweck mit der Gewalt als Mittel erstrebt, im Augenblick der
Einsetzung des Bezweckten als Recht aber die Gewalt nicht abdankt, sondern sie nun
erst im strengen Sinne und zwar unmittelbar zur rechtsetzenden macht, indem sie nicht
einen von Gewalt freien und unabhängigen, sondern notwendig und innig an sie
gebundenen Zweck als Recht unter dem Namen der Macht einsetzt. Rechtsetzung ist
Machtsetzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation der Gewalt.
Gerechtigkeit ist das Prinzip aller göttlichen Zwecksetzung, Macht das Prinzip aller
mythischen Rechtsetzung.
Dieses letztere erfährt eine ungeheuer folgenschwere Anwendung im Staatsrecht. In
seinem Bereich nämlich ist die Grenzsetzung, wie sie der »Friede« aller Kriege des
mythischen Zeitalters vornimmt, das Urphänomen rechtsetzender Gewalt
überhaupt. Auf das deutlichste zeigt sich in ihr, daß Macht mehr als
der überschwenglichste Gewinn an Besitz von aller rechtsetzenden Gewalt
gewährleistet werden soll. Wo Grenzen festgesetzt werden, da wird der Gegner nicht
schlechterdings vernichtet, ja es werden ihm, auch wo beim Sieger die überlegenste
Gewalt steht, Rechte zuerkannt. Und zwar in dämonisch-zweideutiger Weise »gleiche«
Rechte: Für beide Vertragschließenden ist es die gleiche Linie, die nicht überschritten
werden darf. Hiermit tritt in furchtbarer Ursprünglichkeit dieselbe mythische
Zweideutigkeit der Gesetze, die nicht »übertreten« werden dürfen, in Erscheinung, von
der Anatole France satirisch spricht, wenn er sagt: Sie verbieten es Armen und Reichen
gleichermaßen, unter Brückenbogen zu nächtigen. Auch scheint es, daß Sorel an eine
nicht nur kulturhistorische, sondern metaphysische Wahrheit rührt, wenn er vermutet,
daß in den Anfängen alles Recht »Vor«recht der Könige oder der Großen, kurz der
Mächtigen gewesen sei. Das wird es nämlich mutatis mutandis bleiben, solange es
besteht. Denn unter dem Gesichtspunkt der Gewalt, welche das Recht allein garantieren
kann, gibt es keine Gleichheit, sondern bestenfalls gleich große Gewalten. Der Akt
der Grenzsetzung aber ist für die Erkenntnis des Rechts noch in anderer Hinsicht
bedeutungsvoll. Gesetzte und umschriebene Grenzen bleiben, wenigstens in Urzeiten,
ungeschriebene Gesetze. Der Mensch kann sie ahnungslos überschreiten und so
der Sühne verfallen. Denn jener Eingriff des Rechts, den die Verletzung 199 des
ungeschriebenen und unbekannten Gesetzes heraufbeschwört, heißt zum Unterschied
von der Strafe die Sühne. Aber so unglücklich sie den Ahnungslosen treffen mag, ihr
Eintritt ist im Sinne des Rechts nicht Zufall, sondern Schicksal, das sich hier nochmals
in seiner planvollen Zweideutigkeit darstellt. Schon Hermann Cohen hat es in einer
flüchtigen Betrachtung der antiken Schicksalsvorstellung eine »Einsicht, die
unausweichlich wird,« genannt, daß es seine »Ordnungen selbst sind, welche dieses
Heraustreten, diesen Abfall zu veranlassen und herbeizuführen scheinen.«9 Von diesem
Geiste des Rechts legt noch der moderne Grundsatz, daß Unkenntnis des Gesetzes
nicht vor Strafe schützt, Zeugnis ab, wie auch der Kampf um das geschriebene Recht in
der Frühzeit der antiken Gemeinwesen als Rebellion gegen den Geist mythischer
Satzungen zu verstehen ist.
Weit entfernt, eine reinere Sphäre zu eröffnen, zeigt die mythische Manifestation der
unmittelbaren Gewalt sich im tiefsten mit aller Rechtsgewalt identisch und macht die
Ahnung von deren Problematik zur Gewißheit von der Verderblichkeit
ihrer geschichtlichen Funktion, deren Vernichtung damit zur Aufgabe wird. Gerade
diese Aufgabe legt in letzter Instanz noch einmal die Frage nach einer reinen
unmittelbaren Gewalt vor, welche der mythischen Einhalt zu gebieten vermöchte. Wie
9
Hermann Cohen: Ethik des reinen Willens, 2. rev. Aufl., Berlin 1907, S. 362.
in allen Bereichen dem Mythos Gott, so tritt der mythischen Gewalt die göttliche
entgegen. Und zwar bezeichnet sie zu ihr der Gegensatz in allen Stücken. Ist die
mythische Gewalt rechtsetzend, so die göttliche rechtsvernichtend, setzt jene Grenzen,
so vernichtet diese grenzenlos, ist die mythische verschuldend und sühnend zugleich, so
die göttliche entsühnend, ist jene drohend, so diese schlagend, jene blutig, so diese auf
unblutige Weise letal. Der Niobesage mag als Exempel dieser Gewalt Gottes Gericht an
der Rotte Korah gegenübertreten. Es trifft Bevorrechtete, Leviten, trifft sie
unangekündigt, ohne Drohung, schlagend und macht nicht Halt vor der Vernichtung.
Aber es ist zugleich eben in ihr entsühnend und ein tiefer Zusammenhang zwischen
dem unblutigen und entsühnenden Charakter dieser Gewalt nicht zu verkennen. Denn
Blut ist das Symbol des bloßen Lebens. Die Auslösung der Rechtsgewalt geht nun, wie
hier nicht genauer 200 dargelegt werden kann, auf die Verschuldung des bloßen
natürlichen Lebens zurück, welche den Lebenden unschuldig und unglücklich der
Sühne überantwortet, die seine Verschuldung »sühnt« – und auch wohl den Schuldigen
entsühnt, nicht aber von einer Schuld, sondern vom Recht. Denn mit dem bloßen Leben
hört die Herrschaft des Rechtes über den Lebendigen auf. Die mythische Gewalt ist
Blutgewalt über das bloße Leben um ihrer selbst, die göttliche reine Gewalt über alles
Leben um des Lebendigen willen. Die erste fordert Opfer, die zweite nimmt sie an.
Diese göttliche Gewalt bezeugt sich nicht durch die religiöse Überlieferung allein,
vielmehr findet sie mindestens in einer geheiligten Manifestation sich auch im
gegenwärtigen Leben vor. Was als erzieherische Gewalt in ihrer vollendeten Form
außerhalb des Rechtes steht, ist eine ihrer Erscheinungsformen. Diese definieren sich
also nicht dadurch, daß Gott selber unmittelbar sie in Wundern ausübt, sondern durch
jene Momente des unblutigen, schlagenden, entsühnenden Vollzuges. Endlich durch
die Abwesenheit jeder Rechtsetzung. Insofern ist es zwar berechtigt, diese Gewalt auch
vernichtend zu nennen; sie ist dies aber nur relativ, in Rücksicht auf Güter, Recht,
Leben u. dgl., niemals absolut in Rücksicht auf die Seele des Lebendigen. – Eine
solche Ausdehnung reiner oder göttlicher Gewalt wird freilich gerade gegenwärtig die
heftigsten Angriffe herausfordern und man wird ihr mit dem Hinweis entgegentreten,
daß sie nach ihrer Deduktion folgerecht auch die letale Gewalt den Menschen
bedingungsweise gegeneinander freigebe. Das wird nicht eingeräumt. Denn auf die
Frage »Darf ich töten?« ergeht die unverrückbare Antwort als Gebot »Du sollst nicht
töten«. Dieses Gebot steht vor der Tat wie Gott »davor sei«, daß sie geschehe. Aber es
bleibt freilich, so wahr es nicht Furcht vor Strafe sein darf, die zu seiner Befolgung
anhält, unanwendbar, inkommensurabel gegenüber der vollbrachten Tat. Aus ihm folgt
über diese kein Urteil. Und so ist denn im vorhinein weder das göttliche Urteil über sie
abzusehen noch dessen Grund. Darum sind die nicht im Recht, welche die Verurteilung
einer jeden gewaltsamen Tötung des Menschen durch den Mitmenschen aus dem Gebot
begründen. Dieses steht nicht als Maßstab des Urteils, sondern als Richtschnur des
Handelns für die handelnde Person 201 oder Gemeinschaft, die mit ihm in ihrer
Einsamkeit sich auseinanderzusetzen und in ungeheuren Fällen die Verantwortung von
ihm abzusehen auf sich zu nehmen haben. So verstand es auch das Judentum, welches
die Verurteilung der Tötung in der Notwehr ausdrücklich abwies. – Aber jene Denker
gehen auf ein ferneres Theorem zurück, aus dem sie vielleicht sogar das Gebot
seinerseits zu begründen gedenken. Dieses ist der Satz von der Heiligkeit des Lebens,
den sie entweder auf alles animalische oder gar vegetabile Leben beziehen oder auf
das menschliche einschränken. Ihre Argumentation sieht in einem extremen Fall, der
auf die revolutionäre Tötung der Unterdrücker exemplifiziert, folgendermaßen aus:
»töte ich nicht, so errichte ich nimmermehr das Weltreich der Gerechtigkeit ... so
denkt der geistige Terrorist ... Wir aber bekennen, daß höher noch als Glück und
Gerechtigkeit eines Daseins ... Dasein an sich steht«.10 So gewiß dieser letzte Satz
falsch, sogar unedel ist, so gewiß deckt er die Verpflichtung auf, nicht länger den
Grund des Gebotes in dem zu suchen, was die Tat am Gemordeten, sondern in dem, was
sie an Gott und am Täter selbst tut. Falsch und niedrig ist der Satz, daß Dasein höher als
gerechtes Dasein stehe, wenn Dasein nichts als bloßes Leben bedeuten soll – und in
dieser Bedeutung steht er in der genannten Überlegung. Eine gewaltige Wahrheit aber
enthält er, wenn Dasein (oder besser Leben) – Worte, deren Doppelsinn durchaus dem
des Wortes Frieden analog aus ihrer Beziehung auf je zwei Sphären aufzulösen ist – den
unverrückbaren Aggregatzustand von »Mensch« bedeutet. Wenn der Satz sagen will,
das Nichtsein des Menschen sei etwas Furchtbareres als das (unbedingt: bloße)
Nochnichtsein des gerechten Menschen. Dieser Zweideutigkeit verdankt der genannte
Satz seine Scheinbarkeit. Der Mensch fällt eben um keinen Preis zusammen mit dem
bloßen Leben des Menschen, so wenig mit dem bloßen Leben in ihm wie mit
irgendwelchen andern seiner Zustände und Eigenschaften, ja nicht einmal mit
der Einzigkeit seiner leiblichen Person. So heilig der Mensch ist (oder auch dasjenige
Leben in ihm, welches identisch in Erdenleben, Tod und Fortleben liegt), so wenig sind
es seine Zustände, so wenig ist es sein leibliches, durch Mitmenschen verletzliches
Leben. 202 ben. Was unterscheidet es denn wesentlich von dem der Tiere und Pflanzen?
Und selbst wenn diese heilig wären, könnten sie es doch nicht um ihres bloßen Lebens
willen, nicht in ihm sein. Dem Ursprung des Dogmas von der Heiligkeit des Lebens
nachzuforschen möchte sich verlohnen. Vielleicht, ja wahrscheinlich ist es jung, als die
letzte Verirrung der geschwächten abendländischen Tradition, den Heiligen, den sie
verlor, im kosmologisch Undurchdringlichen zu suchen. (Das Alter aller religiösen
Gebote gegen den Mord besagt hiergegen nichts, weil diesen andere Gedanken als dem
modernen Theorem zugrunde liegen.) Zuletzt gibt es zu denken, daß, was hier heilig
gesprochen wird, dem alten mythischen Denken nach der gezeichnete Träger der
Verschuldung ist: das bloße Leben.
Die Kritik der Gewalt ist die Philosophie ihrer Geschichte. Die »Philosophie« dieser
Geschichte deswegen, weil die Idee ihres Ausgangs allein eine kritische, scheidende
und entscheidende Einstellung auf ihre zeitlichen Data ermöglicht. Ein nur aufs Nächste
gerichteter Blick vermag höchstens ein dialektisches Auf und Ab in den Gestaltungen
der Gewalt als rechtsetzender und rechtserhaltender zu gewahren. Dessen
Schwankungsgesetz beruht darauf, daß jede rechtserhaltende Gewalt in ihrer Dauer die
rechtsetzende, welche in ihr repräsentiert ist, durch die Unterdrückung der feindlichen
Gegengewalten indirekt selbst schwächt. (Auf einige Symptome hiervon ist im Laufe
der Untersuchung verwiesen worden.) Dies währt so lange, bis entweder neue Gewalten
oder die früher unterdrückten über die bisher rechtsetzende Gewalt siegen und damit ein
neues Recht zu neuem Verfall begründen. Auf der Durchbrechung dieses Umlaufs
im Banne der mythischen Rechtsformen, auf der Entsetzung des Rechts samt den
Gewalten, auf die es angewiesen ist wie sie auf jenes, zuletzt also der Staatsgewalt,
begründet sich ein neues geschichtliches Zeitalter. Wenn die Herrschaft des Mythos
hie und da im Gegenwärtigen schon gebrochen ist, so liegt jenes Neue nicht in so
unvorstellbarer Fernflucht, daß ein Wort gegen das Recht sich von selbst erledigte. Ist
aber der Gewalt auch jenseits des Rechtes ihr Bestand als reine unmittelbare gesichert,
so ist damit erwiesen, daß und wie auch die revolutionäre Gewalt möglich ist, mit
welchem Namen die höchste Manifestation reiner Gewalt durch den Menschen zu
belegen ist. Nicht gleich 203 möglich noch auch gleich dringend ist aber für Menschen
die Entscheidung, wann reine Gewalt in einem bestimmten Falle wirklich war. Denn
10
Kurt Hiller: Anti-Kain. Ein Nachwort [...]. In: Das Ziel. Jahrbücher für
geistige Politik. Hrsg. von Kurt Hiller. Bd. 3, München 1919, S. 25.
nur die mythische, nicht die göttliche, wird sich als solche mit Gewißheit erkennen
lassen, es sei denn in unvergleichlichen Wirkungen, weil die entsühnende Kraft
der Gewalt für Menschen nicht zutage liegt. Von neuem stehen der reinen göttlichen
Gewalt alle ewigen Formen frei, die der Mythos mit dem Recht bastardierte. Sie vermag
im wahren Kriege genau so zu erscheinen wie im Gottesgericht der Menge am
Verbrecher. Verwerflich aber ist alle mythische Gewalt, die rechtzende, welche die
schaltende genannt werden darf. Verwerflich auch die rechtserhaltende, die verwaltete
Gewalt, die ihr dient. Die göttliche Gewalt, welche Insignium und Siegel, niemals
Mittel heiliger Vollstreckung ist, mag die waltende heißen.
<THEOLOGISCH-POLITISCHES FRAGMENT>
Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem
Sinne, daß er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet,
schafft. Darum kann nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen
wollen. Darum ist das Reich Gottes nicht das Telos der historischen Dynamis; es kann
nicht zum Ziel gesetzt werden. Historisch gesehen ist es nicht Ziel, sondern Ende.
Darum kann die Ordnung des Profanen nicht am Gedanken des Gottesreiches aufgebaut
werden, darum hat die Theokratie keinen politischen sondern allein einen religiösen
Sinn. Die politische Bedeutung der Theokratie mit aller Intensität geleugnet zu haben ist
das größte Verdienst von Blochs »Geist der Utopie«.
Die Ordnung des Profanen hat sich aufzurichten an der Idee des Glücks. Die
Beziehung dieser Ordnung auf das Messianische ist eines der wesentlichen Lehrstücke
der Geschichtsphilosophie. Und zwar ist von ihr aus eine mystische
Geschichtsauffassung bedingt, deren Problem in einem Bilde sich darlegen läßt.
Wenn eine Pfeilrichtung das Ziel, in welchem die Dynamis des Profanen wirkt,
bezeichnet, eine andere die Richtung der messianischen Intensität, so strebt freilich das
Glückssuchen der freien 204 Menschheit von jener messianischen Richtung fort, aber
wie eine Kraft durch ihren Weg eine andere auf entgegengesetzt gerichtetem Wege zu
befördern vermag, so auch die profane Ordnung des Profanen das Kommen des
messianischen Reiches. Das Profane also ist zwar keine Kategorie des Reichs, aber eine
Katego- rie, und zwar der zutreffendsten eine, seines leisesten Nahens. Denn im Glück
erstrebt alles Irdische seinen Untergang, nur im Glück aber ist ihm der Untergang zu
finden bestimmt. – Während freilich die unmittelbare messianische Intensität des
Herzens, des innern einzelnen Menschen durch Unglück, im Sinne des Leidens
hindurchgeht. Der geistlichen restitutio in integrum, welche in die Unsterblichkeit
einführt, entspricht eine weltliche, die in die Ewigkeit eines Unterganges führt und der
Rhythmus dieses ewig vergehenden, in seiner Totalität vergehenden, in seiner
räumlichen, aber auch zeitlichen Totalität vergehenden Weltlichen, der Rhythmus der
messianischen Natur, ist Glück. Denn messianisch ist die Natur aus ihrer ewigen und
totalen Vergängnis.
Diese zu erstreben, auch für diejenigen Stufen des Menschen, welche Natur sind, ist
die Aufgabe der Weltpolitik, deren Methode Nihilismus zu heißen hat.