Academia.eduAcademia.edu
Das A-/andere b-/Begehren. M̈nner mit Frauen, Frauen mit Frauen, M̈nner mit Pferden, Pferde mit Afen, Afen mit Fröschen, Blumen mit Bienen […] Br̈der mit Schwestern, Schwestern mit Pfarrern, Pfarrer mit Kindern, Kinder mit Hunden, Hunde mit Beinen, Dicke mit Keinem […] Opa mit Oma, Hanni mit Nanni, Gott mit Maria, Pommes mit Mayo, Keiner mit Gummi, Mama mit Jedem. K.I.Z. „FiciFici“ (Ganz Oben, 2013) Das Behagen des Begehrenden Vos ordres sont des désirs! Das Begehren des durchlöcherten, klafenden Über-Ich ist die endlose Suche nach Selbstüllung S eit der Antike wird dem Menschen eine begehrende Krat zugeschrieben, eine innere Neigung, suchend aus sich heraus auszubrechen, welche zugleich Streben nach Selbsterhalt und nach Fortsetzung des Lebens ist. In der pantheistischen Philosophie Spinozas sind das Prinzip des conatus und die Entstehung menschlicher Afekte eng verbunden: Betr̈bnis oder Traurigkeit empinden wir, wenn unser conatus gehindert wird. Bedeutsam ist dies, denn es zeigt auf, dass die Ursache der positiven oder negativen Afekte nicht in den Eigenschaten des begehrten Objekts liegt. So erkl̈rt Spinoza, dass wir nicht Dinge begehren, weil wir sie ür gut halten – vielmehr halten wir Dinge ür gut, weil wir sie begehren. Anders gesagt, ist das conatus-Prinzip Spinozas reines, objektloses Begehrungsvermögen. In der Psychoanalyse erḧlt die unstillbare, begehrende Krat des Menschen eine speziische Funktion: Sie ist der Versuch, ein Mangelgeühl zu beheben, eine Öfnung zu schließen und auszuüllen. F̈r Freud, und noch mehr ür Lacan, ist das Subjekt um einen festen Punkt strukturiert, der aber fundamental ein Loch ist, ein Abgrund [une béance]. Nach Freud gibt Lacan dem Begehrten zwei Namen: „die Sache“ – die Repr̈sentation des Begehrten in der symbolischen Ordnung; und „das Ding“ – die dumme Realiẗt des Begehrten in ihrer Echtheit, aber auch in ihre Unvorstellbarkeit und Unsagbarkeit jenseits der Symbolisierung. Das „Ding“ ist ür Lacan der tats̈chliche Grund der Begehrung, der pr̈historische und unvergessliche Andere [das objet petit a], das verbotene Objekt des inzestösen Begehrens, die engagée | 11 Das A-/andere b-/Begehren. Mutter. Da sich der Mensch durch die Sprache notwendigerweise in der symbolischen Ordnung beindet, kann er das unaussprechbare Ding, das tats̈chliche Objekt des Begehrens, nie erreichen und genießen. Einerseits entsteht Frust aufgrund der permanenten Spannung zwischen Begehren [désir] und Genießen [jouissance]. Andererseits sind dieser Frust und die Ungenießbarkeit des Begehrten die Bedingung ür die ewige Wiederbelebung des Begehrens selbst. Der Kapitalismus hat sehr schnell in unserem Begehrungsvermögen zus̈tzliche Gewinnchancen sowie neue Disziplin- und Mobilisationsgelegenheiten erkannt. Laut Frédéric Lordon leben wir nun unter einer kapitalistischen Begierdenordnung [régime de désir], in welcher das Kapital nicht mehr prim̈r auf Lohnabḧngigkeit, sondern auf Begehrensmanagement angewiesen ist, um die Arbeit zu disziplinieren. Zu diesem Zweck hat er eine ganze Industrie errichtet, deren einzige raison d’être darin besteht, in Anregung zu versetzen, Lust zu erwecken und Fantasien zu bel̈geln: Die Werbebranche. Diese bewirtschatet auf der Grundlage der ber̈hmten Maxime Schopenhauers, der Mensch könne zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will. Auf der einen Seite wurden Endprodukte von Produktionsprozessen entkoppelt. Ẅhrend uns in Werbeaktionen zahlreiche Waren als potenzielle Kaufobjekte suggeriert werden, wird die Genealogie dieser Waren bis hin zur Transaktion verschwiegen. So können wir Waren begehren, deren Produktion enormes Menschen- und Tierleid oder massive Umweltzerstörung verursacht hat. Naẗrlich sind wir selbstgef̈llige Opfer in einem sadistischen Spiel des Über-Ich: Die Auforderung eines Werbespots (Lass mich in Ruhe begehren!) ist keine Einladung zum Genießen, sondern Gelegenheit, das Subjekt in Versuchung zu ühren. Gibt der innere Schweinehund Pötchen, so wird das Subjekt mit Schuldgeühlen bestrat. Dass selbst die Selbstl̈ge ihre Grenzen hat, zeigt zum Beispiel ein kleines Experiment in den Straßen Dortmunds: Nur die allerwenigsten Fleischesser sind bereit, sich (gegen Barzahlung!) ein paar Minuten eine Dokumentation ̈ber industrielle Schlachtbetriebe anzusehen. Auf der anderen Seite gelingt es, Formationen von Macht/Wissen, Begehrenswertigkeitsstandards festzulegen, um aggregierte Begehrungsl̈sse zu lenken [orienter les lux de désirs]. Zwei Wege wurden uns aufgezeichnet, um das Ding endlich mal zu erreichen und unsere mangelhaten Leben ein ür allemal aufzuüllen: Die Selbsterüllung durch den materiellen Konsum (‚Level up your life at the App Store‘) und die Selbstverwirklichung in der Arbeit (‚Es erwartet Sie eine sinnvolle T̈tigkeit mit viel Gestaltungsspielraum in einem werteorientierten Unternehmen‘). Auch hier ist die formelle Begehrungsreiheit in der kapitalistischen Begierdenordnung tr̈gerisch, denn es besteht keine Gleichberechtigung zwischen Begehrenden. Individuelle Begierdenprojekte werden je nach inanziellen, kulturellen, sozialen und ideell-symbolischen Ressourcen gebildet und verfolgt. Strukturell wird also unterschieden zwischen dejenigen, die r̈h lernen mussten, Kleines zu begehren und sich mit Wenig zurieden zu geben (‚so was ist nicht ür uns‘) und dejenigen, die r̈h gelernt haben, dass sie Großes begehren d̈rfen und dass sie gegebenenfalls untergeordnete Begehrende als Aushilfe anwerben können. Die reale Begehrungsreiheit in der kapitalistischen Begierdenordnung ̈berlagert also den Kapitalbesitz in seinen unterschiedlichen Formen ziemlich deckungsgleich. Que ta sérénité domine ton désir! Das Begehren des selbstbeherrschten, gleichgültigen Ich ist ein übersteigbares Hindernis auf dem Weg zur wahren Erkenntnis. Vor dem Hintergrund der sozialen Gerechtigkeit bzw. der Endlichkeit der naẗrlichen Ressourcen ist allerdings ein Austritt aus der kapitalistischen Begierden- ordnung ür Menschen, Tiere und Umwelt unabdingbar. Dies wissen wir seit langem. Ellenlang ist die Liste der ethischen Systeme philosophischer und religiöser Art, in denen die Antwort auf die Aussichtslosigkeit bzw. Unendlichkeit des Begehrens in der Entsagung, in der Selbstgen̈gsamkeit oder in der „Ausrottung der Begierde“ (Epiktet) liegt. Am ausgefeiltesten ist diese Idee vielleicht in der Lehre Buddhas und im Daodejing ausgedr̈ckt worden. In der Gr̈ndungsschrit des Daoismus wird ür „Frieden auf Erde“ vorausgesetzt: „Auf nichts Begehrenswertes sehen: so verḧtet man, daß das Herz sich verwirrt.“ Die Praxis des Weges hingegen „macht das Begehren schwach und die Knochen stark.“ Ebenso weist das buddhistische Credo von den „Vier Edlen Wahrheiten“, in denen „das Verlangen, welches zu weiterem Werden treibt, begleitet von Begierde und Erreuen“ als Ursache des Leidens (dukkha) erkannt wird. Zur Leidenserlöschung ührt der Achtfache Edle Pfad, welcher unter anderem die „Z̈gelung der Begierde“ vorsieht. Die M̈ßigung der Begierden (il faut manger pour vivre, et non pas vivre pour manger) gehört zu den ̈ltesten Lebensweisheiten. Auch unter heutigen Kapitalismusgegnern und Globalisierungskritikern bis hin zu Beürwortern der Wachstumsr̈cknahme und der Agrarökologie inden die altgriechischen Ideale der Ataraxie (innere Gelassenheit, Seelenruhe) und der sophrosyne (Enthaltsamkeit, Besonnenheit, M̈ßigkeit) breite Anwendung. Jedoch birgt ein distanzierter Umgang mit dem Weltlichen in Form einer emotionalen Loslösung bzw. einer allgemeinen Gleichg̈ltigkeit (selbst wenn durch ein universales Verantwortungsbewusstsein korrigiert) Gefahren. Zuerst bietet ein temperierter Buddhismus möglicherweise die eizienteste Ideologie zur Untersẗtzung des neoliberalen Kapitalismus. Dem steigenden Leistungsdruck und der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen werden mit „radikaler Akzeptanz“ begegnet, ẅhrend ausgebeutete Mitarbeiter-innen zu gehorsamen Meistern des Sich-Abindens anhand unterschiedlicher Gelassenheitstechniken (Workshops zum Stressabbau in Meditationszentren, Achtsamkeitstrainings zur Burnout-Pr̈vention) gemacht werden können. Des Weiteren stellt das Begehrungsvermögen eine gewaltige Schöpfungsquelle dar. Jede Eind̈mmung der grunds̈tzlichen Freiheit zu begehren ist also eine Einschr̈nkung des dionysischen Kreativpotentials des Menschen. Eine solche Einschr̈nkung lehnen Vitalisten und Lebensphilosophen ab, da sie den Menschen seiner einzigartigen, nicht durch Vernunt erkennbaren Lebenskrat beraube und ihn zu seiner bloßen organischen Materialiẗt zwinge. Mit dem Vitalismus schl̈gt das Pendel in die Gegenrichtung aus: Wenn sich alles Leben fundamental durch seinen Willen oder élan vital auszeichnet, ist dann jedes Begehren legitim bzw. jede Verhinderung eines Begehrens zum Beispiel aufgrund gesetzlicher oder ethischer Verplichtungen illegitim? Kann es legitime Grenzen zu meinem Begehren geben bzw. was macht man, wenn widerspr̈chliche, unvereinbare Begehren aufeinandertrefen? Ne cédez jamais sur votre désir! Das Begehren des ungehemmten, erhabenen Es ist absolutes, über das Subjekt hinausgehendes Streben nach Neuschöpfung Der Aphorismus von Lacan, jedes Begehren sei ein Begehren des Anderen, ist in jedem Sinne dieses Satzes zu verstehen: Mein Begehren ist immer ein Begehren ür den Anderen und durch ihn ein Begehren nach dem Anderssein. Ebenso ist es ein Begehren, vom Anderen begehrt zu werden. Zuletzt ist es ein Begehren des Begehrens vom Anderen sowie und vielleicht vor allem ein Begehren ür das, was der Andere begehrt. Somit weist Lacans Lehre gewisse Ähnlichkeiten mit der Theorie des mimetischen Begehrens von René Girard auf: Individuen innerhalb sozialer Gruppen neigen zur Nachahmung und begehren dieselben Objekte nicht aufgrund ihrer Eigenschaten, sondern weil das Begehren der Anderen diese Objekte als begehrenswert engagée | 13 Das A-/andere b-/Begehren. erscheinen l̈sst. Mimetisches Begehren ührt daher zu Rivaliẗt, Neid und Eifersucht sowie letztendlich zu brutalen Gewaltausbr̈chen und sozialer Zerr̈ttung. Lacan kennt Girard, dessen Ideen er in seiner Theorie des „Namen-des-Vaters“ [Nom-du-Père] verwendet. Ihm war also die Gefahr der gewaltsamen Aulösung menschlicher Gesellschaten aufgrund der mimetischen Konkurrenz unter Begehrenden wohl bewusst. Allerdings ist die Empfehlung Lacans zur Überwindung dieser Konkurrenz weder die M̈ßigung der individuellen Begierden noch die Opferung eines S̈ndenbocks, welche die symbolische Ordnung konstituiert (Girard, Freud). Stattdessen r̈t uns Lacan dazu, hinsichtlich unseres eigenen Begehrens „nicht nachzugeben“ bzw. „nicht aufzugeben“ [ne pas céder sur son désir]. Wie ist diese Auforderung zu verstehen? In „Kant mit Sade“ skizziert Lacan die Grundrisse eines ethischen Begehrens, welches absolut rei betrieben werden kann. Am „Knotenpunkt zwischen Begehren und Gesetz“ stellt die Ataraxie (die Praxis der Distanziertheit mit dem Weltlichen) eine Destitution der Wahrheit dar: Einerseits wird das Begehren dadurch herabgesetzt, was insofern verwerlich ist, als „das Leben nicht den Sinn habe, einen Feigling hervorzubringen.“ Andererseits verschat Selbstbeherrschung (auch Verdr̈ngung?) keinen Gehorsam, sondern entwertet nur das Gesetz, indem verhindert wird, „dass das Gesetz rei sei.“ Die Ursache aller Revolutionen und Transformationen liege daher in der absoluten, uneingeschr̈nkten Freiheit zu begehren also in der Bereitschat, „um eines Begehrens willen zu k̈mpfen oder sterben“ bzw. im Willen, „einen Kampf um die Freiheit des Begehrens zu ühren.“ So betrachtet, ist das Begehren „die Kehrseite des Gesetzes“ – aber auch mehr: Es ist der Ausgangspunkt der Moral. Mein Begehren ist Ausdruck der revolution̈ren und zugleich sehr menschlichen Hybris, die Welt verbessern zu wollen, eine Hybris, welche weit ̈ber meine Person hinausgeht und zur Gr̈ndung neuer Ordnungen ühren kann. Das Primat des Begehrens in der Neuschöpfung gesetzlich-ethischer Vorschriten verplichtet aber die Begehrenden, eine ebenso uneingeschr̈nkte Verantwortung ür ihre Begehrung zu ̈bernehmen. Dies ist der Sinn der zweiten Auforderung – eigentlich der Bitte – Lacans, „dass Ihr Euch mit Euren Begehren ins Benehmen setzt“ [de vous mettre en règle avec vos désirs]. Aufgrund der absoluten, unbegrenzten, transformativen Macht, ̈ber welche wir dank unseres Begehrungsvermögens verügen, m̈ssen wir stets an unseren Begierden arbeiten. Nicht um sie zu m̈ßigen und zu z̈geln, sondern um sie zu verfeinern und zu veredeln, bis sie uns zum Erhabenen bereitet haben. Weiter kann uns Lacan nicht ühren – daür ist die psychoanalytische Theorie des Unbewussten zu steif auf den Ödipuskomplex ixiert. Wir wenden uns daher Deleuze und Guattari zu, deren einsichtsvolle Erkenntnis, „man könne gegen das eigene Interesse begehren“ [Il arrive qu‘on désire contre son intérêt], Anlass zu einer Gegen̈berstellung von désir und délire, von Begehren und Wahn gibt. Ein Begehren ist ein Delirium, ein wahnsinniges und ekstatisches Aus-SichHeraustreten. Die Bereiung der Begehrungsl̈sse setzt also voraus, dass wir unsere Begehren ernst nehmen, dass wir ihnen gen̈gend Raum geẅhren und sie nicht dauernd auf unsere kleinen Familiengescḧte zur̈ckühren. In seinem Seminar vom 2. Mai 1980 blamiert Deleuze die Psychoanalyse daür, dass sie jedes Begehren axiomatisch ür ein „Begehren von Papa-Mama“ ḧlt. Vielmehr sei ein Begehren laut Deleuze eine Fluchtlinie, die den Begehrenden mit einer gewissen Region des historischen Felds verbinde. Unsere Begehren binden uns zwar an den Kosmos, dieser wird jedoch zugleich in seiner Tiefe von unseren Begehrungskr̈ten gepl̈gt und durchzogen. Uns mit unseren Begehren ins Benehmen zu setzen ist also das Bestreben, ̈ber Papa-Mama hinauszubegehren, um uns einen Zugang zum Absoluten zu verschafen. Dass unsere Leben durch Kontingenz und Endlichkeit gekennzeichnet sind, dient hier als Ausgangspunkt ür eine erhabene, universelle Konstruktion: On veut et fait la révolution par désir, non par devoir. (Deleuze et Guattari in L‘Anti-Œdipe) [Die Revolution wollen und die Revolution machen: das begehrt man, dazu wird man nicht verplichtet.] | Mathieu Rousselin engagée | 15