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Prediger, Susanne; Hußmann, Stephan; Leuders, Timo & Barzel, Bärbel (2014): Kernprozesse – Ein Modell zur Strukturierung von Unterrichtsdesign und Unterrichtshandeln. In: Bausch, Isabell; Pinkernell, Guido; Schmitt, Oliver (Hrsg.): Unterrichtsentwicklung und Kompetenzorientierung. Festschrift für Regina Bruder. Münster. WTM Verlag, 81-92. Kernprozesse – Ein Modell zur Strukturierung von Unterrichtsdesign und Unterrichtshandeln Susanne Prediger & Stephan Hußmann, Technische Universität Dortmund Timo Leuders & Bärbel Barzel, Pädagogische Hochschule Freiburg 1 Wozu Modelle zur Strukturierung von Unterricht? Wie plant man guten Unterricht und wie führt man ihn adäquat durch? Diese Fragen sind nicht nur für Unterrichtshandeln von Lehrkräften bedeutsam, sondern auch für fachdidaktisches Unterrichtsdesign, das neben den konkreten Lehr-Lernarrangements auch die dahinterliegenden Theorien und Design-Prinzipien umfasst (Komorek & Prediger 2013). Spezifiziert man die Fragen weiter aus, so geht es z. B. um die Strukturierung des Lerngegenstandes und seine Darstellung durch entsprechende Aufgaben, um die kognitiven Tätigkeiten de r Lernenden und die moderierenden Aktivitäten der Lehrperson. Charakteristisch für solche Fragen ist, dass sie sich nicht pauschal beantworten lassen, sondern immer nur in Bezug zu den jeweiligen Situationen im Unterricht (wie Einstieg, Üben, …) und zu ihren spezifischen Bedingungen, Funktionen und Zielen. Wer didaktische Entscheidungen treffen will, egal ob für Prinzipien eines übergreifenden fachdidaktischen Unterrichtsdesigns, für eine konkrete Unterrichtsplanung oder im Prozess des konkreten Unterrichtshandelns, braucht daher ein Strukturierungsschema, nach dem sich diese didaktischen Entscheidungen situativ ausrichten (ähnlich z. B. bei Aebli 1983, Bruder 1991a, 2001 oder Büchter & Leuders 2005). In diesem Beitrag soll daher ausgehend von historischen Modellen zur Unterrichtsstrukturierung ein aktuelles Modell vorgestellt und begründet werden, das sowohl nach spezifischen Unterrichtssituationen als auch nach (für diese Situationen typischen) Prozessen differenziert, die sogenannten ‚Kernprozesse’. Dieses im KOSIMA-Projekt (Hußmann et al. 2011) entwickelte, erprobte und erforschte Modell fokussiert weniger auf die zeitliche Strukturierung als auf die Unterscheidung der didaktischen Funktionen des jeweiligen Kernprozesses, die damit verbundenen kognitiven Aktivitäten der Lernenden und deren epistemologische Bedeutung für den Erkenntnisprozess. 2 Klassische Modelle aus der allgemeinen Didaktik In welchen Schritten erfolgt Wissenserwerb, welche Schritte sollte entsprechend ein Instruktionsmodell einplanen? Ausgehend von Herbarts (zunächst individualpsychologisch gemeinter) Spezifikation typischer Stufen des Erkenntniserwerbs entwickelten seine Schüler im 19. Jahrhundert instruktionsbezogene Gliederungsschemata für Unterricht entwickelt und im Zuge einer landesweiten Standardisierung des Volksschulunterrichts propagiert (vgl. Weinert 1996). Diese Stufen hießen (im Originalvokabular) und bedeuteten (in zeitgenössischer Sprache):  Stufe der Klarheit: Lehrkraft verschafft Klarheit über das Vorwissen der Lernenden.  Stufe der Assoziation: Lernende erfahren neue Wissenselemente und assoziieren sie.  Stufe des Systems: Neu erworbene Vorstellungen werden systematisch in den vorhandenen Wissensbestand eingeordnet.  Stufe der Methode: Neu erworbene (assoziierte) und eingeordnete (systematisierte) Wissenselemente werden eingeübt und angewandt. Auch wenn die Formalstufen der Herbartianer für die angelegte Passivität der Lernenden viel kritisiert wurden, haben die zentralen Ideen der Phasen bis heute viele weitere Vorschläge für Phasenmodelle beeinflusst (Schulz 1996, S. 153f, zählt 26 Modelle auf). Vermutlich am meisten rezipiert wurde das Stufenmodell von Roth (1957, S. 222-227) mit sechs Stufen: 1. Motivation, 2. Bewusstwerden von Schwierigkeiten, 3. Erarbeitung von Lösungswegen, 4. Tun und Ausführen, 5. Behalten und Einüben, 6. Bereitstellen, Übertragen und Integrieren des Gelernten. In Tradition Herbarts entwickelte Aebli (1983) ein Schema mit zwölf Grundformen als Grundlage seiner „Didaktik auf psychologischer Grundlage“, bei dem er statt Reihenfolge stärker unterschiedliche didaktische Funktionen herausarbeitete. Einen Gewinn sah er im vertieften Verständnis durch Reflexion der vielfältigen Wechselbeziehungen der Funktionen mit Dimensionen der Struktur der Lerninhalte (i. W. der Wissensarten) und des Mediums des Lehrens und Lernens. Speziell für die Mathematik extrahierte Zech (1998, erstmals 1977) aus diesen Vorlagen folgende sechs Phasen: 1. Phase der Motivation, 2. Phase der Schwierigkeiten, 3. Phase der Überwindung der Schwierigkeiten, 4. Phase der Sicherung des Gelernten, 5. Phase der Anwendung und Übung, 6. Phase des Transfers des Gelernten. Zech betont dabei, dass nicht jede Unterrichtsstunde alle Phasen enthalten muss, sondern im Gegenteil ganz unterschiedliche Akzentuierungen der Phasen innerhalb einer größeren Einheit gesetzt werden können. Die zentrale didaktische Bedeutung liege darin, „dass es den Lehrer dazu anhält, Lernprozesse im Sinne der angegebenen Phasen möglichst vollständig zu durchlaufen und den Unterricht entsprechend zu gliedern bzw. zu artikulieren.“ (Zech 1998, S. 185). An die Stelle des starren Schemas für die Unterrichtsstunde trat somit bei Zech ein flexibler angewandtes und auf die didaktischen Funktionen fokussiertes Schema. Diesen Gedanken griff Bruder (1991a) auf, verzichtete auf die Konzeptualisierung als Phasen und erweitert das Konstrukt um die Ziele: „Der Begriff der Unterrichtssituation wird somit neu geprägt: Danach verstehen wir unter einer Unterrichtssituation einen zeitlich fixierten Abschnitt einer Unterrichtsstunde zur Realisierung eines spezifischen (Teil-)Ziels in einer bestimmten dominierenden didaktischen Funktion. Es handelt sich also um eine Sequenz des erzieherischen Aneignungsverhältnisses im Mathematikunterricht, in der Ziele und didaktische Funktionen miteinander verknüpft sind“ (Bruder 1991a, S. 131). Ähnlich wie schon die Herbartianer sah Bruder großes Potential in einer Orientierung an Unterrichtssituationen, insbesond ne Chance für issenschaftliche die n de s ild n e nden mit aktika ilit t nd samkeit di il es für die Lehreraus nd eit l de 99 a 4 ft e he re her n a e e a n er en c e e e nach n er ch e chen chen n  Zielorientierung und Motivierung n n e n n n erung für einzelnen Arbeitsschritt)  Sicherung des Ausgangsniveaus (explizite und implizite Reaktivierung von Wissen und Können, auch bezogen auf Denkmethodisches)  Stoffvermittlung: (Finden mathematischer Begriffe, Sätze und Beweise, Gewinnen mathematischer Verfahren, Erarbeiten von mathematischen Modellen, Orientierungsbildung zu Methoden und Techniken des Lernens)  Festigung (vielfältige Übungen, komplexes Anwenden)  Kontrolle und Bewertung (Auswertung des Verlaufs und Resultats, Erfassen des aktuellen Entwicklungsniveaus bzgl. Wissen, Können und Verhalten) (gekürzt aus Bruder 1991a, S. 133) Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Modelle zur Strukturierung von Unterricht seit jeher versuchten, lernpsychologische und fachdidaktische Theorieelemente so miteinander zu verbinden, dass sie handlungswirksam für die Planung, Gestaltung und Erforschung von Unterricht werden können. Während historische Urformen als starres Gerüst für die (lehrerzentrierte) Gestaltung der einzelnen Unterrichtsstunde genutzt wurden, arbeiteten Roth, Aebli, Zech und Bruder stärker die Bedeutung der Ziele und didaktische Funktionen des Unterrichts heraus, die mit den Denkhandlungen der Lernenden im Erkenntnisprozess (bei Bruder 1991b als Lernhandlungen bezeichnet) in Einklang zu bringen sind. Damit wurde nicht nur eine geeignete Chronologie des Unterrichts entworfen, sondern eine Grundlage für situationsangemessene didaktische Entscheidungen geschaffen. 3 Kernprozesse in kognitiver, epistemologischer und didaktischer Perspektive Ausgehend davon wurde im Rahmen des Entwicklungsforschungsprojektes KOSIMA (Hußmann et al. 2011) ein Strukturierungsmodell entwickelt, das für theoriegeleitete Entwicklung von Lehr-Lernarrangements und für praktisches Unterrichtshandeln situationsspezifische Entscheidungen ermöglicht. Unterschieden werden im Wesentlichen drei Kernprozesse (Barzel et al. 2011, Leuders & Prediger 2012):  Kernprozess des Erkundens als Anknüpfen an Vorerfahrungen und Erarbeiten neuer Zusammenhänge,  Kernprozess des Ordnens als Systematisieren und Sichern,  Kernprozess des Vertiefens durch Üben und Vernetzen. Die Bezeichnung „Kernprozesse“ hebt dabei hervor, dass es hier nicht um das chronologische Abarbeiten von Phasen im Rahmen einer 45-Minuten-Stunde geht, sondern um die klare Artikulation spezifischer Charakteristika und Anforderungen der i i für Lehrende und Lernende. Dabei erweisen sich drei Perspektiven auf Kernprozesse als nützlich:  Kognitive Perspektive: Welche kognitiven Aktivitäten führen die Lernenden aus?  Epistemologische Perspektive: Welche Bedeutung hat die kognitive Aktivität für den Erkenntnisprozess?  Didaktische Perspektive: Welche didaktische Funktion haben die Aktivitäten kognitiv und epistemologisch im Unterricht? Im Folgenden wird für die ersten beiden Kernprozesse Erkunden und Ordnen das Potential dieser Perspektiven für Planung und Design von Unterricht dargestellt. 3.1 Kernprozess des Erkundens als Anknüpfen und Erarbeiten Didaktische Perspektive Zentrale Funktion des Kernprozesses Erkunden ist die Erarbeitung neuen Wissens, d.h. der Begriffsaufbau, die Erarbeitung mathematischer Zusammenhänge oder neuer Verfahren. Gemäß der zugrundeliegenden sozialkonstruktivistischen Lerntheorie konstruieren Menschen neues Wissen stets auf der Basis bisher gesammelter Erfahrungen durch Integration in existierende kognitive Strukturen und situationsbezogene Bezüge (Gerstenmaier & Mandl 1995). Damit diese Verknüpfungen in fachlich tragfähiger Weise erfolgen und nicht unintendierte Zufallsprodukte erzeugen, werden im Unterricht gezielt diejenigen Vorerfahrungen aktiviert, an welche sich eine fachlich tragfähige Anknüpfung lohnt (Reinmann-Rothmeier & Mandl, 2001). Dies erfolgt nicht wie bei Herbart durch lehrergesteuerte Wiederholung, sondern durch gezielte Aktivierung des individuellen Vorwissens (Lengnink, Prediger & Weber 2011). Bei der Erarbeitung des neuen Wissens werden diese Vorerfahrungen fruchtbar gemacht zur Deutung unbekannter Situationen und zum Aufbau neuer Wissenselemente. Dies erfolgt durch aktive und kommunikative Auseinandersetzung mit substantiellen Lernumgebungen (Wittmann 1995, Reinmann-Rothmeier & Mandl 2001) und genetischen Problemen (Freudenthal 1983), bei denen die Lernenden mathematische Begriffe und Zusammenhänge aktiv konstruieren. Um die Aktivierung von Vorwissen zu ermöglichen, spielen inner- und außermathematische (den Lernenden vertraute) Kontexte für die genetischen Probleme eine zentrale Rolle (Freudenthal 1983, van den Heuvel-Panhuizen 2001, Hußmann 2002). Die von Roth angemahnte notwendige Entwicklung von Problembewusstsein wird im KOSIMAModell durch Kernideen ausgeschärft (Barzel et al. 2011). Formuliert als im Kontext eingebettete Kernfragen ermöglichen sie eine Vorausorientierung der Lernenden, deren Bedeutung Bruder (1991a, b) vielfach herausgearbeitet hat. Eine solche Herangehensweise hat zudem eine wichtige diagnostische Funktion: Die von Gallin & Ruf (1998) beschriebene Form des dialogischen Lernens setzt die Entwicklung von und Auseinandersetzung mit individuellen Kernideen an den Anfang eines Lernprozesses. Lerntagebücher als individuelle Eigenproduktion erlauben Einsichten in die Sichtweisen und Voraussetzungen der Lernenden. Epistemologische Perspektive hre e he ar er r n ern n n en nnen en e e e r e e n e e er n en a f re fen e eren er rerfahr n en n n c e n e ne r e e ufen für den darauf aufbauenden Teilprozess des Erarbeitens, in dem durch die Erkenntnishandlungen Erkunden, Erfinden, Entdecken tatsächlich neues Wissen konstruiert wird. Der Unterschied kann illustriert werden an einem Beispiel aus dem Schulbuch Mathewerkstatt 5 zur Einführung in Umfang und Flächeninhalte (Holzäpfel et al. 2012) in der Einstiegssituation in Abbildung 1 zum Erarbeitungsauftrag in Abbildung 2: Dargestellt wird in einem Bildimpulse zunächst ein Ausschnitt potentieller Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler. Die Leitfiguren als potentielle Identifikationsfiguren deuten ein Problem an, mit dem sich die Lernenden einer Kernfrage (hier: „Wie kann man die Größen von Flächen vergleichen?“) nähern (Zielorientierung). EINSTIEG Variante „Einstimmung“ In der Kurzfassung kann die Einstiegsseite nur zum Einstimmen verwendet werden und die mathematische Aktivität erst mit E1 zu beginnen. Dann sollte allerdings der Kontext intensiv zur Sprache kommen. Man kann die Einstimmung auch zum Ende einer Stunde beginnen und als vorbereitende Hausaufgabe den Platzbedarf von Zootieren recherchieren und die Ergebnisse zu Beginn der Folgestunde kurz präsentieren. © Mathewerkstatt 5, Cornelsen Verlag Berlin Variante „Projekt“ In Klassen, die bereits selbstständiger arbeiten und etwas mit der Projektmethode vertraut sind, kann man d für die Arbeit an einem „interdisziplinären Projekt“ Biologie – Mathematik nutzen. Der gemeinsam zu erstellende Arbeitsplan für ca. 2 Wochen orientiert sich an zwei Zielen: - Erstellt zu zwei oder drei Tierarten eine Präsentation zum Thema „Platzbedarf – Tiere in freier Wildbahn und im Zoo“. Ihr sollt mindestens folgende Themen ha n: na ür i r Lebensraum und Lebensweise der Tiere, Beispiele von Zoohaltung. - Bearbeitet die Aufgaben E1, E3, E4, E6, O1, O2, O7 aus der Mathe e a üllt auch die Wissensspeicherseiten aus. Dabei erfahrt ihr, wie man Platzbedarf mathematisch ausrechnen kann. Abbildung 1: Einstieg zu Flächen und Umfang mit Handreichungsauszug (Holzäpfel et al. 2012) Die Bearbeitung der Frage kann völlig offen und projektartig erfolgen, oder sie wird durch konkretere Anleitungen fokussiert. Epistemologischer Kern ist das Nacherfinden der Konzepte Flächeninhalt, Umfang und ihre Unterscheidung, so dass diese erlebbar werden als „Werkzeuge, um die Phänomene der natürlichen, sozialen und geistigen Welt zu ordnen“(Freudenthal 1983, S. IX). Abbildung 2 zeigt die entsprechende fokussiertere Erarbeitungsaufgabe für den Umfang. ERKUNDEN © ath e e   s  att 5 ,  o  r el s e r  e   a   e   i r Erkunden zu Flächeninhalt und Umfang (Holzäpfel et al. 2012) Für Lernende ist eine Transparenz wichtig, ob zunächst nur Probleme aufgeworfen, oder diese auch bearbeitet werden. Ob sie im epistemologischen Modus des Erfindens sind oder (wie im Kernprozess des Vertiefens) im Modus des Anwendens von bereits gelernten Elementen, fühlt sich unterschiedlich an und erfordert andere Arbeitshaltungen und Kommunikationsformen im Unterricht: Im Kernprozess des Erkundens nutzen die Lernenden die Erinnerung an individuelle Erlebnisse und Erfahrungen, sie äußern erste Intuitionen, stoßen auf Schwierigkeiten, und werfen Fragen auf, die an gemachte Erfahrungen anknüpfen und ein neues Erfahrungsfeld öffnen. Die Schülerinnen und Schüler erleben diesen Kernprozess also als Gelegenheit für eine individuelle Positionsbestimmung (Gallin & Ruf 1998) in neuer Perspektive, bei dem die Erarbeitung der ‚eigenen Mathematik’ die existierenden Erfahrungen nutzt und dabei den Weg zur fertigen Mathematik ebnet. Im Kernprozess des Vertiefen dagegen werden erworbene Mittel erprobt und vernetzt, jedoch ohne die gleiche Anforderung an Kreativität und Offenheit. Um Lernenden Bewusstheit über die unterschiedlichen epistemologischen Modi zu verschaffen, werden die drei Kernprozesse unterschiedlich farblich markiert. Kognitive Perspektive für Aufgabenentwicklung und Unterrichtsplanung ist in kognitiver Perspektive, welche konkreten kognitiven Aktivitäten bei den Lernenden die intendierten Erkenntnisprozesse auslösen können, denn nur so können die Sequenzen die didaktische Funktion auch erfüllen. Mit welchen Arbeitsaufträgen können Lernende also zum Beispiel hier Begriffe erfinden? Es gehört zur Grundidee des genetischen Prinzips, dass dieses Entdecken und Erfinden sich im Zuge konkreter Problemlösungen vollziehen soll, d. h. die kognitiven Aktivitäten umfassen zum Beispiel Probleme lösen, Muster untersuchen, mit Vermutungen und Beispielen experimentieren, Phänomene versuchen zu verstehen usw. Dass diese kognitiven Aktivitäten ihre epistemologische Bedeutung nur entfalten können, wenn sie durch geeignete Fokussierung begleitet werden, haben lernpsychologische Untersuchungen zur Effektivität problemorientierter genetischer bzw. entdeckender Ansätze gezeigt (vgl. Metaanalyse von Alfieri et al. 2011). Entscheidend ist außerdem die Abrundung von Erkundungsphasen durch Aktivitäten des kommunikativen Austauschens und kollektiven Reflektierens der Lernenden (z.B. Stern & Schumacher 2004, konkret für Mathematikunterricht Sundermann 1999). 3.2 Kernprozess des Ordnens als Systematisieren und Sichern Didaktische Perspektive Das Ordnen unter aktiver Beteiligung der Lernenden dient vor allem einem nachhaltigen, konsolidierten Wissensaufbau. Die wichtigsten zwei Qualitätsanforderungen an den Kernprozess des Ordnens beziehen sich auf die Inhaltsauswahl (1) und die Eigenaktivität (2): (1) Während sich die Sicherung in der Unterrichtspraxis oft verengend auf Rechenregeln beschränkt, plädieren wir dafür, zur Sicherung der Nachhaltigkeit eines breiten Wissensprofils alle Arten prozeduralen und konzeptuellen Wissens (Begriffe, Sätze, Verfahren, Strategien, ...) in mehreren Facetten (explizit Formulierung, Vorstellungen und Darstellungen, Abgrenzungsbeispiele, usw.) in den Kernprozess des Ordnens mit einzubeziehen. (2) Während im traditionellen Unterrichtsskript der Kernprozess des Ordnens meist als rein lehrergesteuerte Phase verwirklicht wird (im fragend-entwickelnden Gespräch oder dem Abschreiben lassen von Merkkästen), zeigte sich in einem Entwicklungsforschugnsprojekt als notwendig, auch in dieser Phase die Lernenden möglichst aktiv zu beteiligen (Prediger et al. 2011). Zu den wichtigsten Strukturelementen, die den Übergang zur fertigen Mathematik für Lehrende wie Lernende unterrichtpraktisch unterstützen, gehört der so genannte „Wissensspeicher“ (Abbildung 3), der durch vorbereitete Seiten Ergebnisse für die nachfolgenden Wochen, Monate und Schuljahre sichert. Epistemologische Perspektive Um Wissen langfristig konsolidiert verfügbar zu haben, müssen nach dem Erfinden und Entdecken die Erkenntnistätigkeiten des Reflektierens, Regularisierens, Vernetzens (zusammen Systematisieren) und des Sicherns durch Dokumentieren im Wissensspeicher mit ihrer je eigenen epistemologischen Bedeutung initiiert werden Reflektieren ll di elt e e t die ei elt it idi at ati i de u e Regularisieren eht e da u da i i iduell eitete t the ti che e a u leiche ( lli i de e ul e da e e e e tei a de i e ehu et t u d u ei e e et e Vernetzen il u d achh ügbar bleibt. Das schriftliche Sichern des Gelernten, das Ausschärfen der Gedanken beim Dokumentieren dient nicht nur der langfristigen Zugriffsmöglichkeit, sondern rundet auch (durch das Ausschärfen der Gedanken beim Aufschreiben) den Kernprozess des Ordnens epistemologisch ab. ORDNEN 7 Flächeninhalt und Umfang unterscheiden * Neues Wort Eine Fläche hat nicht nur einen Inhalt, sondern auch einen Umfang. Bei den Pinguinbecken im Zoo haben die vier Freunde gesehen, dass manche Flächen einen längeren Rand haben als andere. Zur Länge des Randes sagt man auch Umfang*. a) Jeder der vier Freunde beschreibt einen Rechenweg. Welcher der Rechenwege passt zum Flächeninhalt und welcher passt zum Umfang? Zeichnet und berechnet jedes Mal ein Beispiel. Man zählt alle Seitenlängen zusammen. Man zerlegt in Rechtecke und rechnet jeweils Länge mal Breite. Am Ende addiert man alles. Neues Wort Eine Eselsbrücke ist ein Spruch, mit dem man sich etwas gut merken kann. b) Merve merkt sich, was Umfang und Flächeninhalt ist, mit einer Eselsbrücke*. Was gehört wohl in die Lücken dieser Eselsbrücke? ▶ Materialblock S. 98 c) Vergleicht eure Ergebnisse aus a) und b) und korrigiert sie, wenn nötig. Tragt sie in den Wissensspeicher ein. * Wissensspeicher Umfang von Flächen ■ ■fang ist dr ■ ■ her ■ ■, Flächen ■ ■halt ist ■ ■nen dr ■ ■. © Mathewerkstatt 5, Cornelsen Verlag Berlin Man zählt die Anzahl der Quadratmeter oder Quadratzentimeter, die hineinpassen. Man misst die Strecke, die einmal ganz herum geht. Abbildung 3: Ordnen und Wissensspeicher zu Flächeninhalt und Umfang (Holzäpfel et al. 2012) Kognitive Perspektive Während das Reflektieren und Vernetzen als Elaborationsstrategie in der pädagogischen Psychologie wiederholt als wichtiges Element effektiven Lernens empirisch untermauert wurde (Stern & Schumacher 2004, Mandl & Friedrich 2006), ist das Regularisieren (Gallin & Ruf 1998) und Dokumentieren zwar für die Unterrichtspraxis als von großer Relevanz herausgearbeitet worden (exemplarisch bei Brückner 1978), aber bislang unseres Wissens wenig im Fokus der Forschung. Erforderlich war es daher, im Rahmen des KOSIMA-Projekts für diesen Kernprozess systematische Design-Prinzipien überhaupt erst zu entwickeln und zu erproben. Von besonderer Bedeutung war die Herausarbeitung geeigneter kognitiver Aktivitäten, die die zuvor genannten epistemologischen Prozesse initiieren können, und zwar unter möglichst aktiver Beteiligung der Lernenden bei gleichzeitiger Gewährleistung von Konvergenz (Prediger et al. 2011). Solche kognitiven Aktivitäten wurden für unterschiedliche Wissensfacetten spezifiziert und erprobt, zum Beispiel Identifizieren und Realisieren, Zuordnen von Darstellungen, Prüfen von Aussagen (wie in Abbildung 3) u.v.m. 4 Fazit i h de tu dell d e e ei et ich hl u the eti h e ützten Design von Unterricht (durch Spezifizierung von Designprinzipien und exemplarischer Umsetzung in LehrLernarrangements) als auch für das praktische Unterrichtshandeln in spezifischen Unterrichtssituationen. Es hilft in kognitiver Perspektive, die Teilprozesse in Form kognitiver Aktivitäten auf Seiten der Lernenden zu spezifizieren. In epistemologischer Perspektive ermöglicht das Modell, die Bedeutung dieser Lernhandlungen für den Erkenntnisprozess herauszuarbeiten und für alle Beteiligten transparent zu machen. Die epistemologische Perspektive betont zudem, dass nicht nur im wissenschaftlichen, sondern auch im pädagogischen Kontext ein epistemologisch authentisches Erleben mathematischer Erkenntnisprozesse möglich und wünschenswert ist (vgl. Leuders 2003 „prozessorientierter Mathematikunterricht“). In didaktischer Perspektive bietet das Strukturierungsmodell schließlich einen Rahmen, geeignete Zielperspektiven zu artikulieren, die Lernsituation ganzheitlich zu planen und durchzuführen (z.B. in Leuders & Prediger 2012 für das Differenzieren oder bei Büchter & Leuders 2005 für Aufgaben). Dies ermöglicht, auch den Lernenden Transparenz hinsichtlich der Ziele und epistemologischen Qualitäten der Prozesse zu verschaffen. Literatur Aebli, H. (1983): Zwölf Grundformen des Lehrens. Stuttgart: Klett-Cotta. 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