Prediger, Susanne; Hußmann, Stephan; Leuders, Timo & Barzel, Bärbel (2014): Kernprozesse – Ein Modell zur Strukturierung von
Unterrichtsdesign und Unterrichtshandeln. In: Bausch, Isabell; Pinkernell, Guido; Schmitt, Oliver (Hrsg.): Unterrichtsentwicklung
und Kompetenzorientierung. Festschrift für Regina Bruder. Münster. WTM Verlag, 81-92.
Kernprozesse – Ein Modell zur Strukturierung
von Unterrichtsdesign und Unterrichtshandeln
Susanne Prediger & Stephan Hußmann, Technische Universität Dortmund
Timo Leuders & Bärbel Barzel, Pädagogische Hochschule Freiburg
1 Wozu Modelle zur Strukturierung von Unterricht?
Wie plant man guten Unterricht und wie führt man ihn adäquat durch? Diese Fragen
sind nicht nur für Unterrichtshandeln von Lehrkräften bedeutsam, sondern auch für
fachdidaktisches Unterrichtsdesign, das neben den konkreten Lehr-Lernarrangements
auch die dahinterliegenden Theorien und Design-Prinzipien umfasst (Komorek &
Prediger 2013). Spezifiziert man die Fragen weiter aus, so geht es z. B. um die
Strukturierung des Lerngegenstandes und seine Darstellung durch entsprechende
Aufgaben, um die kognitiven Tätigkeiten de r Lernenden und die moderierenden
Aktivitäten der Lehrperson. Charakteristisch für solche Fragen ist, dass sie sich nicht
pauschal beantworten lassen, sondern immer nur in Bezug zu den jeweiligen
Situationen im Unterricht (wie Einstieg, Üben, …) und zu ihren spezifischen
Bedingungen, Funktionen und Zielen. Wer didaktische Entscheidungen treffen will,
egal ob für Prinzipien eines übergreifenden fachdidaktischen Unterrichtsdesigns, für
eine konkrete Unterrichtsplanung oder im Prozess des konkreten Unterrichtshandelns,
braucht daher ein Strukturierungsschema, nach dem sich diese didaktischen
Entscheidungen situativ ausrichten (ähnlich z. B. bei Aebli 1983, Bruder 1991a, 2001
oder Büchter & Leuders 2005).
In diesem Beitrag soll daher ausgehend von historischen Modellen zur Unterrichtsstrukturierung ein aktuelles Modell vorgestellt und begründet werden, das sowohl nach
spezifischen Unterrichtssituationen als auch nach (für diese Situationen typischen)
Prozessen differenziert, die sogenannten ‚Kernprozesse’. Dieses im KOSIMA-Projekt
(Hußmann et al. 2011) entwickelte, erprobte und erforschte Modell fokussiert weniger
auf die zeitliche Strukturierung als auf die Unterscheidung der didaktischen Funktionen des jeweiligen Kernprozesses, die damit verbundenen kognitiven Aktivitäten
der Lernenden und deren epistemologische Bedeutung für den Erkenntnisprozess.
2 Klassische Modelle aus der allgemeinen Didaktik
In welchen Schritten erfolgt Wissenserwerb, welche Schritte sollte entsprechend ein
Instruktionsmodell einplanen? Ausgehend von Herbarts (zunächst individualpsychologisch gemeinter) Spezifikation typischer Stufen des Erkenntniserwerbs
entwickelten seine Schüler im 19. Jahrhundert instruktionsbezogene Gliederungsschemata für Unterricht entwickelt und im Zuge einer landesweiten Standardisierung
des Volksschulunterrichts propagiert (vgl. Weinert 1996). Diese Stufen hießen (im
Originalvokabular) und bedeuteten (in zeitgenössischer Sprache):
Stufe der Klarheit: Lehrkraft verschafft Klarheit über das Vorwissen der
Lernenden.
Stufe der Assoziation: Lernende erfahren neue Wissenselemente und assoziieren
sie.
Stufe des Systems: Neu erworbene Vorstellungen werden systematisch in den
vorhandenen Wissensbestand eingeordnet.
Stufe der Methode: Neu erworbene (assoziierte) und eingeordnete
(systematisierte) Wissenselemente werden eingeübt und angewandt.
Auch wenn die Formalstufen der Herbartianer für die angelegte Passivität der Lernenden viel kritisiert wurden, haben die zentralen Ideen der Phasen bis heute viele weitere
Vorschläge für Phasenmodelle beeinflusst (Schulz 1996, S. 153f, zählt 26 Modelle
auf). Vermutlich am meisten rezipiert wurde das Stufenmodell von Roth (1957,
S. 222-227) mit sechs Stufen: 1. Motivation, 2. Bewusstwerden von Schwierigkeiten,
3. Erarbeitung von Lösungswegen, 4. Tun und Ausführen, 5. Behalten und Einüben,
6. Bereitstellen, Übertragen und Integrieren des Gelernten.
In Tradition Herbarts entwickelte Aebli (1983) ein Schema mit zwölf Grundformen als
Grundlage seiner „Didaktik auf psychologischer Grundlage“, bei dem er statt Reihenfolge stärker unterschiedliche didaktische Funktionen herausarbeitete. Einen Gewinn
sah er im vertieften Verständnis durch Reflexion der vielfältigen Wechselbeziehungen
der Funktionen mit Dimensionen der Struktur der Lerninhalte (i. W. der Wissensarten)
und des Mediums des Lehrens und Lernens.
Speziell für die Mathematik extrahierte Zech (1998, erstmals 1977) aus diesen
Vorlagen folgende sechs Phasen: 1. Phase der Motivation, 2. Phase der Schwierigkeiten, 3. Phase der Überwindung der Schwierigkeiten, 4. Phase der Sicherung des
Gelernten, 5. Phase der Anwendung und Übung, 6. Phase des Transfers des Gelernten.
Zech betont dabei, dass nicht jede Unterrichtsstunde alle Phasen enthalten muss,
sondern im Gegenteil ganz unterschiedliche Akzentuierungen der Phasen innerhalb
einer größeren Einheit gesetzt werden können. Die zentrale didaktische Bedeutung
liege darin, „dass es den Lehrer dazu anhält, Lernprozesse im Sinne der angegebenen
Phasen möglichst vollständig zu durchlaufen und den Unterricht entsprechend zu
gliedern bzw. zu artikulieren.“ (Zech 1998, S. 185). An die Stelle des starren Schemas
für die Unterrichtsstunde trat somit bei Zech ein flexibler angewandtes und auf die
didaktischen Funktionen fokussiertes Schema.
Diesen Gedanken griff Bruder (1991a) auf, verzichtete auf die Konzeptualisierung als
Phasen und erweitert das Konstrukt um die Ziele: „Der Begriff der Unterrichtssituation
wird somit neu geprägt: Danach verstehen wir unter einer Unterrichtssituation einen
zeitlich fixierten Abschnitt einer Unterrichtsstunde zur Realisierung eines spezifischen
(Teil-)Ziels in einer bestimmten dominierenden didaktischen Funktion. Es handelt sich
also um eine Sequenz des erzieherischen Aneignungsverhältnisses im Mathematikunterricht, in der Ziele und didaktische Funktionen miteinander verknüpft sind“
(Bruder 1991a, S. 131). Ähnlich wie schon die Herbartianer sah Bruder großes
Potential in einer Orientierung an Unterrichtssituationen, insbesond
ne Chance für
issenschaftliche
die n de
s ild n
e nden mit aktika ilit t nd
samkeit di
il
es für die Lehreraus nd
eit
l
de 99 a
4
ft
e he re her
n a e
e a
n
er en
c e
e
e
nach n er ch e chen
chen
n
Zielorientierung und Motivierung
n n
e
n n
n
erung für einzelnen Arbeitsschritt)
Sicherung des Ausgangsniveaus (explizite und implizite Reaktivierung von
Wissen und Können, auch bezogen auf Denkmethodisches)
Stoffvermittlung: (Finden mathematischer Begriffe, Sätze und Beweise,
Gewinnen mathematischer Verfahren, Erarbeiten von mathematischen Modellen,
Orientierungsbildung zu Methoden und Techniken des Lernens)
Festigung (vielfältige Übungen, komplexes Anwenden)
Kontrolle und Bewertung (Auswertung des Verlaufs und Resultats, Erfassen des
aktuellen Entwicklungsniveaus bzgl. Wissen, Können und Verhalten)
(gekürzt aus Bruder 1991a, S. 133)
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Modelle zur Strukturierung von Unterricht seit jeher versuchten, lernpsychologische und fachdidaktische Theorieelemente
so miteinander zu verbinden, dass sie handlungswirksam für die Planung, Gestaltung
und Erforschung von Unterricht werden können. Während historische Urformen als
starres Gerüst für die (lehrerzentrierte) Gestaltung der einzelnen Unterrichtsstunde
genutzt wurden, arbeiteten Roth, Aebli, Zech und Bruder stärker die Bedeutung der
Ziele und didaktische Funktionen des Unterrichts heraus, die mit den Denkhandlungen
der Lernenden im Erkenntnisprozess (bei Bruder 1991b als Lernhandlungen
bezeichnet) in Einklang zu bringen sind. Damit wurde nicht nur eine geeignete
Chronologie des Unterrichts entworfen, sondern eine Grundlage für situationsangemessene didaktische Entscheidungen geschaffen.
3 Kernprozesse in kognitiver, epistemologischer und didaktischer
Perspektive
Ausgehend davon wurde im Rahmen des Entwicklungsforschungsprojektes KOSIMA
(Hußmann et al. 2011) ein Strukturierungsmodell entwickelt, das für theoriegeleitete
Entwicklung von Lehr-Lernarrangements und für praktisches Unterrichtshandeln
situationsspezifische Entscheidungen ermöglicht. Unterschieden werden im Wesentlichen drei Kernprozesse (Barzel et al. 2011, Leuders & Prediger 2012):
Kernprozess des Erkundens als Anknüpfen an Vorerfahrungen und Erarbeiten
neuer Zusammenhänge,
Kernprozess des Ordnens als Systematisieren und Sichern,
Kernprozess des Vertiefens durch Üben und Vernetzen.
Die Bezeichnung „Kernprozesse“ hebt dabei hervor, dass es hier nicht um das
chronologische Abarbeiten von Phasen im Rahmen einer 45-Minuten-Stunde geht,
sondern um die klare Artikulation spezifischer Charakteristika und Anforderungen der
i
i
für Lehrende und Lernende. Dabei erweisen sich drei
Perspektiven auf Kernprozesse als nützlich:
Kognitive Perspektive: Welche kognitiven Aktivitäten führen die Lernenden aus?
Epistemologische Perspektive: Welche Bedeutung hat die kognitive Aktivität für
den Erkenntnisprozess?
Didaktische Perspektive: Welche didaktische Funktion haben die Aktivitäten
kognitiv und epistemologisch im Unterricht?
Im Folgenden wird für die ersten beiden Kernprozesse Erkunden und Ordnen das
Potential dieser Perspektiven für Planung und Design von Unterricht dargestellt.
3.1 Kernprozess des Erkundens als Anknüpfen und Erarbeiten
Didaktische Perspektive
Zentrale Funktion des Kernprozesses Erkunden ist die Erarbeitung neuen Wissens,
d.h. der Begriffsaufbau, die Erarbeitung mathematischer Zusammenhänge oder neuer
Verfahren. Gemäß der zugrundeliegenden sozialkonstruktivistischen Lerntheorie konstruieren Menschen neues Wissen stets auf der Basis bisher gesammelter Erfahrungen
durch Integration in existierende kognitive Strukturen und situationsbezogene Bezüge
(Gerstenmaier & Mandl 1995). Damit diese Verknüpfungen in fachlich tragfähiger
Weise erfolgen und nicht unintendierte Zufallsprodukte erzeugen, werden im
Unterricht gezielt diejenigen Vorerfahrungen aktiviert, an welche sich eine fachlich
tragfähige Anknüpfung lohnt (Reinmann-Rothmeier & Mandl, 2001). Dies erfolgt
nicht wie bei Herbart durch lehrergesteuerte Wiederholung, sondern durch gezielte
Aktivierung des individuellen Vorwissens (Lengnink, Prediger & Weber 2011).
Bei der Erarbeitung des neuen Wissens werden diese Vorerfahrungen fruchtbar
gemacht zur Deutung unbekannter Situationen und zum Aufbau neuer
Wissenselemente. Dies erfolgt durch aktive und kommunikative Auseinandersetzung
mit substantiellen Lernumgebungen (Wittmann 1995, Reinmann-Rothmeier & Mandl
2001) und genetischen Problemen (Freudenthal 1983), bei denen die Lernenden
mathematische Begriffe und Zusammenhänge aktiv konstruieren. Um die Aktivierung
von Vorwissen zu ermöglichen, spielen inner- und außermathematische (den
Lernenden vertraute) Kontexte für die genetischen Probleme eine zentrale Rolle
(Freudenthal 1983, van den Heuvel-Panhuizen 2001, Hußmann 2002). Die von Roth
angemahnte notwendige Entwicklung von Problembewusstsein wird im KOSIMAModell durch Kernideen ausgeschärft (Barzel et al. 2011). Formuliert als im Kontext
eingebettete Kernfragen ermöglichen sie eine Vorausorientierung der Lernenden,
deren Bedeutung Bruder (1991a, b) vielfach herausgearbeitet hat. Eine solche
Herangehensweise hat zudem eine wichtige diagnostische Funktion: Die von Gallin &
Ruf (1998) beschriebene Form des dialogischen Lernens setzt die Entwicklung von
und Auseinandersetzung mit individuellen Kernideen an den Anfang eines
Lernprozesses. Lerntagebücher als individuelle Eigenproduktion erlauben Einsichten
in die Sichtweisen und Voraussetzungen der Lernenden.
Epistemologische Perspektive
hre
e
he
ar
er
r
n
ern
n
n
en nnen
en
e e e r e e n e e
er
n
en a
f re fen e
eren er
rerfahr n en n
n c e n e ne r e
e
ufen für den darauf aufbauenden Teilprozess des
Erarbeitens, in dem durch die Erkenntnishandlungen Erkunden, Erfinden, Entdecken
tatsächlich neues Wissen konstruiert wird.
Der Unterschied kann illustriert werden an einem Beispiel aus dem Schulbuch
Mathewerkstatt 5 zur Einführung in Umfang und Flächeninhalte (Holzäpfel et al.
2012) in der Einstiegssituation in Abbildung 1 zum Erarbeitungsauftrag in Abbildung 2: Dargestellt wird in einem Bildimpulse zunächst ein Ausschnitt potentieller
Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler. Die Leitfiguren als potentielle Identifikationsfiguren deuten ein Problem an, mit dem sich die Lernenden einer Kernfrage (hier:
„Wie kann man die Größen von Flächen vergleichen?“) nähern (Zielorientierung).
EINSTIEG
Variante „Einstimmung“
In der Kurzfassung kann die Einstiegsseite nur zum
Einstimmen verwendet werden und die mathematische
Aktivität erst mit E1 zu beginnen. Dann sollte
allerdings der Kontext intensiv zur Sprache kommen.
Man kann die Einstimmung auch zum Ende einer
Stunde beginnen und als vorbereitende Hausaufgabe
den Platzbedarf von Zootieren recherchieren und die
Ergebnisse zu Beginn der Folgestunde kurz präsentieren.
© Mathewerkstatt 5, Cornelsen Verlag Berlin
Variante „Projekt“
In Klassen, die bereits selbstständiger arbeiten und
etwas mit der Projektmethode vertraut sind, kann man
d
für die Arbeit an einem „interdisziplinären
Projekt“ Biologie – Mathematik nutzen. Der gemeinsam zu erstellende Arbeitsplan für ca. 2 Wochen
orientiert sich an zwei Zielen:
- Erstellt zu zwei oder drei Tierarten eine Präsentation
zum Thema „Platzbedarf – Tiere in freier Wildbahn
und im Zoo“. Ihr sollt mindestens folgende Themen
ha
n: na ür i r Lebensraum und Lebensweise
der Tiere, Beispiele von Zoohaltung.
- Bearbeitet die Aufgaben E1, E3, E4, E6, O1, O2, O7
aus der Mathe e
a
üllt auch die Wissensspeicherseiten aus. Dabei erfahrt ihr, wie man Platzbedarf
mathematisch ausrechnen kann.
Abbildung 1: Einstieg zu Flächen und Umfang mit Handreichungsauszug (Holzäpfel et al. 2012)
Die Bearbeitung der Frage kann völlig offen und projektartig erfolgen, oder sie wird
durch konkretere Anleitungen fokussiert. Epistemologischer Kern ist das Nacherfinden
der Konzepte Flächeninhalt, Umfang und ihre Unterscheidung, so dass diese erlebbar
werden als „Werkzeuge, um die Phänomene der natürlichen, sozialen und geistigen
Welt zu ordnen“(Freudenthal 1983, S. IX). Abbildung 2 zeigt die entsprechende
fokussiertere Erarbeitungsaufgabe für den Umfang.
ERKUNDEN
©
ath
e
e
s
att 5
,
o
r
el
s
e
r
e
a
e
i
r
Erkunden zu Flächeninhalt und Umfang (Holzäpfel et al. 2012)
Für Lernende ist eine Transparenz wichtig, ob zunächst nur Probleme aufgeworfen,
oder diese auch bearbeitet werden. Ob sie im epistemologischen Modus des Erfindens
sind oder (wie im Kernprozess des Vertiefens) im Modus des Anwendens von bereits
gelernten Elementen, fühlt sich unterschiedlich an und erfordert andere Arbeitshaltungen und Kommunikationsformen im Unterricht: Im Kernprozess des Erkundens
nutzen die Lernenden die Erinnerung an individuelle Erlebnisse und Erfahrungen, sie
äußern erste Intuitionen, stoßen auf Schwierigkeiten, und werfen Fragen auf, die an
gemachte Erfahrungen anknüpfen und ein neues Erfahrungsfeld öffnen. Die
Schülerinnen und Schüler erleben diesen Kernprozess also als Gelegenheit für eine
individuelle Positionsbestimmung (Gallin & Ruf 1998) in neuer Perspektive, bei dem
die Erarbeitung der ‚eigenen Mathematik’ die existierenden Erfahrungen nutzt und
dabei den Weg zur fertigen Mathematik ebnet. Im Kernprozess des Vertiefen dagegen
werden erworbene Mittel erprobt und vernetzt, jedoch ohne die gleiche Anforderung
an Kreativität und Offenheit. Um Lernenden Bewusstheit über die unterschiedlichen
epistemologischen Modi zu verschaffen, werden die drei Kernprozesse unterschiedlich
farblich markiert.
Kognitive Perspektive
für Aufgabenentwicklung und Unterrichtsplanung ist in kognitiver
Perspektive, welche konkreten kognitiven Aktivitäten bei den Lernenden die
intendierten Erkenntnisprozesse auslösen können, denn nur so können die Sequenzen
die didaktische Funktion auch erfüllen. Mit welchen Arbeitsaufträgen können
Lernende also zum Beispiel hier Begriffe erfinden? Es gehört zur Grundidee des
genetischen Prinzips, dass dieses Entdecken und Erfinden sich im Zuge konkreter
Problemlösungen vollziehen soll, d. h. die kognitiven Aktivitäten umfassen zum
Beispiel Probleme lösen, Muster untersuchen, mit Vermutungen und Beispielen
experimentieren, Phänomene versuchen zu verstehen usw. Dass diese kognitiven
Aktivitäten ihre epistemologische Bedeutung nur entfalten können, wenn sie durch
geeignete Fokussierung begleitet werden, haben lernpsychologische Untersuchungen
zur Effektivität problemorientierter genetischer bzw. entdeckender Ansätze gezeigt
(vgl. Metaanalyse von Alfieri et al. 2011). Entscheidend ist außerdem die Abrundung
von Erkundungsphasen durch Aktivitäten des kommunikativen Austauschens und
kollektiven Reflektierens der Lernenden (z.B. Stern & Schumacher 2004, konkret für
Mathematikunterricht Sundermann 1999).
3.2 Kernprozess des Ordnens als Systematisieren und Sichern
Didaktische Perspektive
Das Ordnen unter aktiver Beteiligung der Lernenden dient vor allem einem nachhaltigen, konsolidierten Wissensaufbau. Die wichtigsten zwei Qualitätsanforderungen
an den Kernprozess des Ordnens beziehen sich auf die Inhaltsauswahl (1) und die
Eigenaktivität (2): (1) Während sich die Sicherung in der Unterrichtspraxis oft
verengend auf Rechenregeln beschränkt, plädieren wir dafür, zur Sicherung der
Nachhaltigkeit eines breiten Wissensprofils alle Arten prozeduralen und konzeptuellen
Wissens (Begriffe, Sätze, Verfahren, Strategien, ...) in mehreren Facetten (explizit
Formulierung, Vorstellungen und Darstellungen, Abgrenzungsbeispiele, usw.) in den
Kernprozess des Ordnens mit einzubeziehen. (2) Während im traditionellen
Unterrichtsskript der Kernprozess des Ordnens meist als rein lehrergesteuerte Phase
verwirklicht wird (im fragend-entwickelnden Gespräch oder dem Abschreiben lassen
von Merkkästen), zeigte sich in einem Entwicklungsforschugnsprojekt als notwendig,
auch in dieser Phase die Lernenden möglichst aktiv zu beteiligen (Prediger et al.
2011).
Zu den wichtigsten Strukturelementen, die den Übergang zur fertigen Mathematik für
Lehrende wie Lernende unterrichtpraktisch unterstützen, gehört der so genannte
„Wissensspeicher“ (Abbildung 3), der durch vorbereitete Seiten Ergebnisse für die
nachfolgenden Wochen, Monate und Schuljahre sichert.
Epistemologische Perspektive
Um Wissen langfristig konsolidiert verfügbar zu haben, müssen nach dem Erfinden
und Entdecken die Erkenntnistätigkeiten des Reflektierens, Regularisierens,
Vernetzens (zusammen Systematisieren) und des Sicherns durch Dokumentieren im
Wissensspeicher mit ihrer je eigenen epistemologischen Bedeutung initiiert werden
Reflektieren
ll di
elt
e e
t
die ei
elt it
idi
at
ati
i de u
e
Regularisieren eht e da u da i i iduell
eitete t
the ti che
e a u leiche ( lli
i
de e ul e
da e
e e
e
tei a de i
e ehu
et t u d u ei e
e et
e
Vernetzen
il u d achh
ügbar bleibt. Das
schriftliche Sichern des Gelernten, das Ausschärfen der Gedanken beim Dokumentieren dient nicht nur der langfristigen Zugriffsmöglichkeit, sondern rundet auch
(durch das Ausschärfen der Gedanken beim Aufschreiben) den Kernprozess des
Ordnens epistemologisch ab.
ORDNEN
7 Flächeninhalt und Umfang unterscheiden
*
Neues Wort
Eine Fläche hat nicht
nur einen Inhalt,
sondern auch
einen Umfang.
Bei den Pinguinbecken im Zoo haben die vier Freunde gesehen, dass manche Flächen
einen längeren Rand haben als andere. Zur Länge des Randes sagt man auch Umfang*.
a) Jeder der vier Freunde beschreibt einen Rechenweg.
Welcher der Rechenwege passt zum Flächeninhalt und welcher passt zum Umfang?
Zeichnet und berechnet jedes Mal ein Beispiel.
Man zählt alle
Seitenlängen
zusammen.
Man zerlegt in
Rechtecke und rechnet
jeweils Länge mal Breite.
Am Ende addiert
man alles.
Neues Wort
Eine Eselsbrücke ist ein
Spruch, mit dem man sich
etwas gut merken kann.
b) Merve merkt sich, was Umfang und
Flächeninhalt ist, mit einer Eselsbrücke*.
Was gehört wohl in die Lücken dieser
Eselsbrücke?
▶ Materialblock S. 98
c) Vergleicht eure Ergebnisse aus a) und b) und korrigiert sie, wenn nötig.
Tragt sie in den Wissensspeicher ein.
*
Wissensspeicher
Umfang von Flächen
■ ■fang ist dr ■ ■ her ■ ■,
Flächen ■ ■halt ist ■ ■nen dr ■ ■.
© Mathewerkstatt 5, Cornelsen Verlag Berlin
Man zählt die Anzahl
der Quadratmeter oder
Quadratzentimeter,
die hineinpassen.
Man misst die
Strecke, die einmal
ganz herum geht.
Abbildung 3: Ordnen und Wissensspeicher zu Flächeninhalt und Umfang (Holzäpfel et al. 2012)
Kognitive Perspektive
Während das Reflektieren und Vernetzen als Elaborationsstrategie in der pädagogischen Psychologie wiederholt als wichtiges Element effektiven Lernens empirisch
untermauert wurde (Stern & Schumacher 2004, Mandl & Friedrich 2006), ist das
Regularisieren (Gallin & Ruf 1998) und Dokumentieren zwar für die Unterrichtspraxis
als von großer Relevanz herausgearbeitet worden (exemplarisch bei Brückner 1978),
aber bislang unseres Wissens wenig im Fokus der Forschung. Erforderlich war es
daher, im Rahmen des KOSIMA-Projekts für diesen Kernprozess systematische
Design-Prinzipien überhaupt erst zu entwickeln und zu erproben. Von besonderer
Bedeutung war die Herausarbeitung geeigneter kognitiver Aktivitäten, die die zuvor
genannten epistemologischen Prozesse initiieren können, und zwar unter möglichst
aktiver Beteiligung der Lernenden bei gleichzeitiger Gewährleistung von Konvergenz
(Prediger et al. 2011). Solche kognitiven Aktivitäten wurden für unterschiedliche
Wissensfacetten spezifiziert und erprobt, zum Beispiel Identifizieren und Realisieren,
Zuordnen von Darstellungen, Prüfen von Aussagen (wie in Abbildung 3) u.v.m.
4 Fazit
i
h
de
tu
dell d
e e ei et ich
hl u the eti h e ützten Design von Unterricht (durch
Spezifizierung von Designprinzipien und exemplarischer Umsetzung in LehrLernarrangements) als auch für das praktische Unterrichtshandeln in spezifischen
Unterrichtssituationen. Es hilft in kognitiver Perspektive, die Teilprozesse in Form
kognitiver Aktivitäten auf Seiten der Lernenden zu spezifizieren. In epistemologischer
Perspektive ermöglicht das Modell, die Bedeutung dieser Lernhandlungen für den
Erkenntnisprozess herauszuarbeiten und für alle Beteiligten transparent zu machen.
Die epistemologische Perspektive betont zudem, dass nicht nur im wissenschaftlichen,
sondern auch im pädagogischen Kontext ein epistemologisch authentisches Erleben
mathematischer Erkenntnisprozesse möglich und wünschenswert ist (vgl. Leuders
2003 „prozessorientierter Mathematikunterricht“). In didaktischer Perspektive bietet
das Strukturierungsmodell schließlich einen Rahmen, geeignete Zielperspektiven zu
artikulieren, die Lernsituation ganzheitlich zu planen und durchzuführen (z.B. in
Leuders & Prediger 2012 für das Differenzieren oder bei Büchter & Leuders 2005 für
Aufgaben). Dies ermöglicht, auch den Lernenden Transparenz hinsichtlich der Ziele
und epistemologischen Qualitäten der Prozesse zu verschaffen.
Literatur
Aebli, H. (1983): Zwölf Grundformen des Lehrens. Stuttgart: Klett-Cotta.
Alfieri, L. , Brooks, P. J. , Aldrich, N.J. & Tenenbaum, H. (2011): Does discovery-based
instruction enhance learning? In: Journal of Educational Psychology, 103(1), 1-18.
Barzel, B., Prediger, S., Leuders, T., Hußmann, St. (2011): Kontexte und Kernprozesse – Ein
theoriegeleitetes und praxiserprobtes Schulbuchkonzept. In: Beiträge zum Mathematikunterricht, 71-74.
Büchter, A. & Leuders, T. (2005): Mathematikaufgaben selbst entwickeln. Berlin: Cornelsen.
Bruder, R. (1991a): Unterrichtssituationen - ein Modell für die Aus- und Weiterbildung zur
Gestaltung von Mathematikunterricht. In: Wiss. ZS der Brandenburgischen
Landeshochschule Potsdam, 2, 129-134.
Bruder, R. (1991b): Das Lernen lehren im Mathematikunterricht - ein Gestaltungskonzept. In:
Beiträge zum Mathematikunterricht, 179-182.
Bruder, R. (2001): Situationen und Strategien im Mathematikunterricht. Vorlesungsskript, TU
Darmstadt.
Brückner, H. (1978): Systematische Festigung des grundlegenden Wissens in den Klassen 5
bis 10. Zur Erarbeitung eines Wissensspeichers in den Klassen 5 bis 7. In: Mathematik in
der Schule 16(6), 310-316.
Freudenthal, H. (1983): Didactical Phenomenology of Mathematical Structures. Dordrecht:
Kluwer.
Gallin, P. & Ruf, U. (1998): Dialogisches Lernen im Mathematikunterricht. Seelze:
Kallmeyer.
Gerstenmaier, J. & Mandl, H. (1995): Wissenserwerb unter konstruktivistischer Perspektive.
In: Zeitschrift für Pädagogik, 41(6), 867–888.
Holzäpfel, L., Leuders, T. & Marxer, M. (2012): Lebensraum Zoo – Flächen und Räume
vergleichen. In: Barzel, B., Hußmann, S., Leuders, T. & Prediger, S. (Hrsg):
Mathewerkstatt 5. Berlin: Cornelsen, 167-194.
Hußmann, S. (2002): Konstruktivistisches Lernen an intentionalen Problemen. Mathematik
unterrichten in einer offenen Lernumgebung. Hildesheim: Franzbecker.
Hußmann, S., Leuders, T., Barzel, B. & Prediger, S. (2011): Kontexte für sinnstiftendes
Mathematiklernen (KOSIMA) – ein fachdidaktisches Forschungs- und Entwicklungsprojekt. In: Beiträge zum Mathematikunterricht, 419-422.
Lengnink, K., Prediger, S. & Weber, C. (2011): Lernende abholen, wo sie stehen – Individuelle Vorstellungen aktivieren und nutzen. In: Praxis der Mathematik in der Schule,
53(40), 2-7.
Leuders, T. (2003): Prozessorientierter Mathematikunterricht. In T. Leuders (Hrsg.):
Mathematikdidaktik. Ein Praxishandbuch für die Sekundarstufe I & II. Berlin: Cornelsen
Scriptor, 265–291.
Leuders, T., & Prediger, S. (2012): „Differenziert Differenzieren“ – Mit Heterogenität in
verschiedenen Phasen des Mathematikunterrichts umgehen. In R. Lazarides & A. Ittel
(Hrsg.): Differenzierung im mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht: Implikationen für Theorie und Praxis. Heilbrunn: Klinkhardt, 35-66.
Mandl, H. & Friedrich, H.F. (2006): Handbuch Lernstrategien. Göttingen: Hogrefe.
Komorek, M. & Prediger, S. (2013) (Hrsg.): Der lange Weg zum Unterrichtsdesign: Zur
Begründung und Umsetzung genuin fachdidaktischer Forschungs- und Entwicklungsprogramme. Münster u.a.: Waxmann.
Prediger, S., Barzel, B., Leuders, T. & Hußmann, S. (2011): Systematisieren und Sichern.
Nachhaltiges Lernen durch aktives Ordnen. In: Mathematik lehren 164, 2-9.
Reinmann-Rothmeier, G. & Mandl, H. (2001): Unterrichten und Lernumgebungen gestalten.
In A. Krapp & B. Weidenmann (Hrsg.): Pädagogische Psychologie. Weinheim: Beltz,
601–646.
Roth, H. (1957): Pädagogische Psychologie des Lehrens und Lernens. Berlin: Schroedel.
Schulz, W. (1996): Anstiftung zum didaktischen Denken. Weinheim: Beltz.
Stern, E. & Schumacher, R. (2004): Intelligentes Wissen als Lernziel. In: Universitas, 59 (2),
121–134.
Sundermann, B. (1999): Rechentagebücher und Rechenkonferenzen. In: Grundschule, 1,4850.
Van den Heuvel-Panhuizen, M. (2001): Realistic mathematics education in the Netherlands.
In J. Anghileri (Hrsg.): Principles and practices in arithmetic teaching. Innovative
approaches for primary classroom. Buckingham: Open University Press, 49-63.
Weinert, F.E. (1996): Lerntheorien und Instruktionsmodelle. In F.E. Weinert (Hrsg.):
Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich D, Serie I, Bd 2. Göttingen: Hogrefe, 1-48.
Wittmann, E. Ch. (1995): Aktiv-entdeckendes und soziales Lernen im Rechenunterricht –
vom Kind und vom Fach aus. In G. N. Müller & E. Ch. Wittmann (Hrsg.): Mit Kindern
rechnen. Frankfurt a.M.: Arbeitskreis Grundschule, 10-41.
Zech, F. (1998): Grundkurs Mathematikdidaktik. Theoretische und praktische Anleitungen für
das Lehren und Lernen von Mathematik, 9. Auflage. Weinheim: Beltz.