Läßt sich der Golfkrieg ethisch rechtfertigen?
Erwiderung auf eine Rede von George Bush
von Olaf L. Müller
unter Mitarbeit von Susanne Gahl, Nelson Killius, Robert Casties und Marco Iorio
GLIEDERUNG
I. Das erste Kriegsziel: Freiheit für Kuwait
II. Das zweite Kriegsziel: Hussein eindämmen
III. Das dritte Kriegsziel: et in terra pax
IV. Zusammenfassung
Nachweise
Nachbemerkung für den Abdruck in diesem Buch
(von Olaf Müller, Göttingen im April 1991)
Noch eine Nachbemerkung
(von Susanne Gahl, Chicago im Juli 2006)
ZUSAMMENFASSUNG. Der erste amerikanische Krieg von 1991 gegen Saddam Hussein war moralisch
falsch. Man muss kein radikaler Pazifist sein, um zu diesem Urteil zu kommen, denn dies Urteil ergibt
sich auch dann, wenn man die drei Kriegsziele ernst und beim Wort nimmt, die George Bush zur
Rechtfertigung des Kriegs angeführt hat. In der Tat sind es auf den ersten Blick löbliche Ziele, Kuwait
von der Besatzung durch irakische Truppen zu befreien, Saddam Husseins Militärmacht einzudämmen
und für eine gerechte Weltordnung zu kämpfen. Doch wenn man die Opfer in den Blick nimmt, die der
Krieg kostet, ändert sich das Bild – die Kriegsopfer wiegen schwerer als der erhoffte Vorteil des Kriegs,
und also war der Krieg moralisch unverantwortlich.
WARNUNG. Dieser elektronische Text wird hier nicht in der offiziellen Form wiedergegeben, in der er auf
Papier erschienen ist. Zwar gibt es keine inhaltlichen Widersprüche zwischen den beiden
Erscheinungsformen des Aufsatzes, wohl aber Unterschiede in Sprachstil und Typographie. Zudem ist
Susanne Gahls Nachbemerkung neu. Hier die bibliographischen Angaben der gedruckten Fassung: Olaf
L. Müller: "Läßt sich der Golfkrieg ethisch rechtfertigen? Erwiderung auf eine Rede von George Bush".
(Unter Mitarbeit von Susanne Gahl, Nelson Killius, Robert Casties und Marco Iorio). In Oliver Doetzer /
Jan Motte (eds) Der Golfkrieg: Kalkül oder Kapitulation der Vernunft? Göttinger Positionen.
(Hannoversch Münden: Verlag in Volkmarshausen, 1992), pp. 37-44.
Läßt sich der Golfkrieg ethisch rechtfertigen?
Erwiderung auf eine Rede von George Bush
von Olaf Müller
unter Mitarbeit von Susanne Gahl, Nelson Killius, Robert Casties und Marco Iorio
Göttingen, Januar / Februar 1991
Man kann auf verschiedene Weise moralisch gegen den Golfkrieg sein. Entweder findet
man jeden Krieg in jeder nur erdenklichen politischen Lage ethisch falsch; dann folgt
die Ablehnung dieses speziellen Krieges ohne weitere Überlegung – eine wirkliche
Debatte mit Golfkriegsbefürwortern wird überflüssig. Der Golfkriegsgegner braucht
aber seine Kontrahenten nicht so einfach davonkommen zu lassen. Er kann nach ihrer
ethischen Begründung des Krieges fragen. Sie gäben gewiß keine gute Figur ab, wenn
sie sich darauf nicht einlassen wollten. Tun sie es doch, so werden sie wahrscheinlich
argumentieren, der Golfkrieg sei dadurch gerechtfertigt, daß er hohen Werten oder
Gütern diene, die all seine Opfer an Bedeutung weit überträfen. Hier haben wir eine –
gewagte – Behauptung, um die sich streiten läßt. Man kann sie bezweifeln, ohne gleich
prinzipiell gegen alle erdenklichen Kriege auf einmal sein zu müssen. Es ist also
möglich, mit viel sparsameren ethischen Voraussetzungen gegen den Golfkrieg zu
plädieren. Ein solches Plädoyer ist Thema dieses Essays.
Das Thema birgt eine besondere Schwierigkeit: allzu nahe liegt die Gefahr des müßigen
Streites um Fakten, die wir alle nicht kennen. Nun beruhen die Meinungsunterschiede
nicht allein auf divergierenden Einschätzungen von Fakten. Um also zum Kern der
Debatte vorzudringen, möchte ich Faktenfragen möglichst weitgehend ausklammern
und mich darauf beschränken, nur diejenigen Tatsachen zu verwenden, die unstrittig
sind und auch von Golfkriegsbefürwortern anerkannt werden; insbesondere solche
Fakten, die schon bei Ausbruch der Kampfhandlungen allseits bekannt waren.
Unter diesen Vorgaben beabsichtige ich zu zeigen: Die Kriegshandlungen, die von der
antiirakischen Allianz seit Ablauf des Ultimatums unternommen werden, fordern Opfer,
die in keiner vertretbaren Relation zu den moralischen Zielen stehen, um deretwillen
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Olaf L. Müller et al
man angeblich kämpft. Ich sage: angeblich kämpft, denn ich möchte mich nicht darum
streiten, ob die Amerikaner nicht vielleicht in Wirklichkeit noch ganz andere Motive
haben. George Bush hat in seiner Rede vom 16. Januar 1991 genuin moralische Gründe
für den Angriff auf Irak und Kuwait angeführt und dadurch vielen Menschen den
Eindruck vermittelt, der Golfkrieg lasse sich moralisch rechtfertigen. Es ist diese
weitverbreitete Auffassung, der ich entgegentreten möchte. Falls es mir gelingen sollte,
sie zu entkräften, kann man mir immer noch erwidern, der Krieg liege im Interesse der
westlichen Länder und ihrer Volkswirtschaften. Das mag so sein, aber dann ist
wenigstens zugegeben, daß jedenfalls nicht die Moral dazu herhalten kann, den Krieg
zu rechtfertigen; und zwar nicht einmal die Moral, die George Bush selber für sich in
Anspruch nimmt. Seine Rede enthält eine ganze Reihe, ja die meisten der ethisch
relevanten Punkte, die in den letzten Wochen von Golfkriegsbefürwortern vorgebracht
worden sind. Wir können unsere Diskussion also getrost auf die Rede des Mannes
beschränken, der den Beginn der Luftangriffe auf Irak und Kuwait befohlen hat.
Bush verschweigt nicht, daß der Krieg Opfer kosten wird, aber er hofft, daß "die Opfer
auf ein absolutes Minimum begrenzt werden". Später in seiner Rede heißt es: "Es gibt
Dinge, für die es sich zu kämpfen lohnt". Doch um welcher Ziele willen lohnen sich die
Opfer? Bush nennt deren drei, die ich zunächst jeweils einzeln vorstellen und isoliert
diskutieren möchte, um sie zum Schluß einer zusammenfassenden Gesamtbetrachtung
zu unterwerfen.
I. Das erste Kriegsziel: Freiheit für Kuwait
Das erste Kriegsziel ist die Befreiung Kuwaits. Bush prophezeiht uns: "Saddam
Husseins Truppen werden Kuwait verlassen. Die legitime Regierung Kuwaits wird
wieder an ihren rechtmäßigen Platz gestellt, und Kuwait wird befreit." Wir wollen
einmal annehmen, daß der gegenwärtige Krieg geeignet sei, diese Prognose
wahrzumachen. Zweifellos wäre es eine gute Sache, in Kuwait den Zustand
wiederherzustellen, den seine Bewohner vor der Invasion der irakischen Truppen
genießen durften: Die Überlebenden der 800.000 kuwaitischen Staatsbürger würden
wieder frei und selbstbestimmt über ihre eigenen Angelegenheiten befinden;
vergleichsweise gesichert wären ihre Menschenrechte; und ihre wirtschaftliche Lage
wäre wieder die beste auf der Welt, wovon sogar die ziemlich rechtlosen 1,1 Millionen
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Läßt sich der Golfkrieg ethisch rechtfertigen?
ausländischen Gastarbeiter profitieren würden. Aber könnte diese Verbesserung auch
nur die Bombardierung Bagdads rechtfertigen?
Ich möchte dagegen plädieren. In Bagdad lebten 3,4 Millionen Menschen, nicht gerade
in Wohlstand und Selbstbestimmung – aber: sie lebten. Welche Schäden die massiven
Luftangriffe der Alliierten angerichtet haben und noch anrichten, wissen wir nicht
genau. Doch erlauben selbst die vorsichtigsten Schätzungen, sich ein Bild von dem
Elend zu machen, das die Einwohner Bagdads nun trifft: Sie sind getötet oder verletzt,
verwitwet, verwaist, ihre Häuser sind zerstört, Seuchen breiten sich aus. So
wünschenswert ein freies Kuwait auch sein mag – dieses Leid wiegt es nicht auf.
Immerhin sei es der Irak gewesen, der seinen Nachbarn überfallen habe: irakisches Leid
– wird eingewendet – sei daher letztlich von Hussein selbst verschuldet. Aber wir
können doch nicht die Iraker kollektiv für einen politischen Führer büßen lassen, der
sich brutal an die Macht geputscht hat und Andersdenkende mit höchster Grausamkeit
unterdrückt. Bush jedenfalls scheint mit mir in diesem Punkt übereinzustimmen, denn er
sagt ausdrücklich: "Wir haben keinen Streit mit dem irakischen Volk." Andererseits hat
Bush in einem Brief an Hussein kurz vor Ablauf des Ultimatums genau diesem
irakischen Volk eine "Tragödie" vorausgesagt, die sich ja nun auch abspielt.
Wer diese Tragödie allein um der Befreiung Kuwaits willen in Kauf zu nehmen bereit
ist, hat eine Vielzahl weiterer Tragödien auf den Spielplan der Weltgeschichte zu
setzen. Denn viele Völker leiden unter Fremdherrschaft und könnten mit einem Krieg
befreit werden. Sollen wir etwa nach diesem Krieg sofort den nächsten lostreten,
nämlich zur Befreiung Tibets, und gleich hinterher den unterdrückten Kurden mit
Waffengewalt zu ihrem eigenen Staat verhelfen? Also Krieg gegen China, gegen die
Türkei, Syrien und den Iran? – Im Falle der Kurden mag man die Analogie bezweifeln
mit dem völkerrechtlichen Hinweis, Kurdistan sei im Gegensatz zu Kuwait kein eigenes
Land. Formaljuristisch mag das stimmen, aber das ist kein moralischer Gesichtspunkt.
In der Moral zählen die einzelnen Menschen, nicht ihr rechtlicher Status, und wer je
einen Kurden gefragt hat, wird wissen, wie sehr dies Volk an seiner Unterdrückung
leidet. Vielleicht sogar stärker als jetzt die Kuwaitis, die weiter in einem arabischen
Staat (Irak) leben können und die – anders als die Kurden – ihre Sprache und ihre
Kultur nicht gänzlich aufzugeben brauchen. Warum schreit denn aber niemand nach
Krieg zur Befreiung der Kurden? Weil schon die Opfer einer Bombardierung Teherans
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Olaf L. Müller et al
oder Ankaras zu schlimm wären, nehme ich an, und erlaube mir die Empfehlung, im
Falle Kuwaits genauso besonnen zu urteilen.
II. Das zweite Kriegsziel: Hussein eindämmen
Aber dieser Krieg nützt ja nicht nur den Kuwaitis, sondern soll der Stabilität des
gesamten Nahen Ostens dienen. Hussein stoppen! – so lautet kurzgefaßt das zweite
Kriegsziel aus der Rede Bushs. Voller Zustimmung zitiert er seine Soldaten: "Es ist
besser, mit diesem Kerl jetzt als in fünf Jahren fertigzuwerden" und: "Wenn wir ihn
damit davonkommen lassen, wer weiß, was als nächstes passiert?" Statt diese Frage in
der Schwebe zu lassen, sollten wir lieber die befürchteten Gefahren klar aussprechen
und kühlen Kopfes analysieren. Was also ist genau der Gegenstand der Befürchtung?
Falls der Angriff der Alliierten unterblieben wäre, heißt es, hätten die Irakis fortgesetzt
weiterrüsten können, um irgendwann später Saudi-Arabien oder auch Jordanien und
schließlich Israel zu überfallen.
Denken wir diesen Gedanken zuende. Wenn Hussein den UNO-Resolutionen gefolgt
wäre und sich rechtzeitig aus Kuwait zurückgezogen hätte, so hätte trotzdem dieselbe
Gefahr bestanden. Auch dann wäre Saddam in der Lage gewesen, heimlich
weiterzurüsten und viel Unheil über die Region zu bringen. Wer also diese Gefahr
bereits als hinreichenden Kriegsgrund ansieht, hätte auch im Falle von Husseins
Rückzug, ja sogar vor dessen Einmarsch im Kuwait, für Krieg plädieren müssen –
allerdings mit weniger Aussicht auf weltweite Sympathie. War die Annexion Kuwaits
am Ende nur ein willkommener Anlaß, militärisch einzugreifen? Für diesen Argwohn
scheint die kompromißlose Haltung der US-Regierung zu sprechen, die Hussein wenig
Chancen bot, der Krise ohne Gesichtsverlust zu entrinnen. Aber bevor wir uns hier in
Spekulationen verlieren, sollten wir die besagte Gefahr ernstnehmen und überlegen, ob
sie nicht sogar gegen die Meinung der Weltöffentlichkeit in einem Präventivkrieg hätte
gebannt werden sollen – also auch dann, wenn Saddam Kuwait wieder hergegeben
hätte.
Krieg sei sowieso irgendwann unvermeidlich geworden, so lautet das Argument derer,
die diesen Krieg deshalb für richtig halten, weil er Hussein von weiteren Eroberungen
am Golf abhalte. Frage: Wieviele Iraker darf man jetzt opfern, um einen später
drohenden Krieg zu verhindern? Die Frage klingt zynisch, aber Kriegsbefürworter
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Läßt sich der Golfkrieg ethisch rechtfertigen?
scheinen so zu rechnen, also müssen wir uns dem Problem stellen. Wie darauf zu
antworten ist, hängt von der Zahl der Opfer ab, die jener zu verhindernde Krieg fordern
würde. Wir wissen aber nicht, wieviel es sein werden. Der nächste Krieg im Nahen
Osten könnte ein Flächenbrand werden – der Krieg jetzt auch. Wer wagt zu
prophezeihen, welcher Krieg der schrecklichere sein wird? Niemand hat eine seriöse
Prognose. Nun mag es so scheinen, als könne man mit genauso guten Gründen für
Krieg jetzt plädieren wie dagegen. Aber der Anschein trügt: Denn der Krieg jetzt fordert
seine
Opfer
ganz
sicher;
ob
jedoch
der
Irak
tatsächlich
einen
weiteren
Eroberungsfeldzug vom Zaun gebrochen hätte, können wir nur vermuten. D.h. es
bestand die Wahl zwischen einem Übel nicht abschätzbaren Ausmaßes jetzt sofort und
einem genausowenig kalkulierbaren Übel später, das vielleicht gar nicht eintreten wird.
Ich für mein Teil finde es in einer solchen Situation vernünftiger, ersteinmal das direkt
bevorstehende Übel zu umgehen. Daß wir dann mit schicksalhafter Ergebenheit auf
Husseins nächsten Schlag hätten warten müssen, stimmt einfach nicht. Man hätte
versuchen können, ihn mit diplomatischem, witschaftlichem und sogar militärischem
Druck von seinen Eroberungsgelüsten abzubringen, und so wenigstens die
Wahrscheinlichkeit
eines
neuen
Krieges
gesenkt.
Zum
Beispiel
durch
Truppenstationierung in Saudiarabien und die deutliche Drohung, sich im Falle eines
Angriffs nach Kräften zu wehren.
Ich höre den Einwand: Wie das am 15. Januar verstrichene Ultimatum zeige, kümmere
sich Saddam nicht um derartige Drohungen. Hier gilt es zu differenzieren. Das
Ultimatum sollte Hussein zu einem Rückzug zwingen, den er sich wahrscheinlich
innenpolitisch nicht leisten konnte, ohne seinen Kopf zu riskieren. Nicht weiter
verwunderlich, scheint mir, daß da die Drohung nichts fruchtete. Die von mir
befürwortete Drohung hingegen wäre viel leichter zu befolgen gewesen, nämlich durch
Saddams Verzicht auf einen neuen Angriff, der ohnehin nicht viel Aussicht auf Erfolg
gehabt hätte. Und wenn Saddam trotzdem angegriffen hätte? Dann hätten wir einen
Nahostkrieg mit unkalkulierbaren Folgen; jetzt haben wir einen solchen Krieg.
Spätestens an diesem Punkt bringt der Kriegsbefürworter die Atombombe in die
Debatte: Der augenblickliche Krieg sei einem späteren Krieg mit irakischen
Atomwaffen noch immer vorzuziehen. Dies ist ein ernstes Argument, das ich bislang
mit Absicht ausgeklammert habe, um es nun einer gesonderten Diskussion zu
unterwerfen. Ich beabsichtige nicht, hier über Fakten zu streiten, zu denen selbst
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Olaf L. Müller et al
Experten geteilter Meinung sind; vielmehr werde ich annehmen: Wenn man nichts
unternommen hätte, wäre der Irak in den Besitz der Atombombe gekommen. Aber ist
denn der Krieg das einzige Mittel gegen diese Gefahr? Es hätte doch eine Vielzahl
anderer Gegenmaßnahmen gegeben, vom weltweiten Kriegstechnik-Boykott bis hin zu
gezielter Sabotage durch die Geheimdienste. Zudem bedeutet es nicht das schlimmste
Übel der Welt, wenn auch noch die Iraker die Bombe haben; sie müssen sie auch
einigermaßen sicher ins Ziel transportieren können und dabei hochentwickelte
amerikanische Luftabwehrsysteme überwinden. Aber das könnten sie natürlich
schaffen; es wäre naiv, diese Möglichkeit nicht ins Auge zu fassen. Jetzt haben wir also
über Atombombenexplosionen in einem begrenzten Nuklearkrieg zu reden. Ich möchte
nicht mißverstanden werden, als wollte ich hier die schrecklichen Folgen auch nur
begrenzter atomarer Kriegsführung verharmlosen; die Bilder von Hiroshima und
Nagasaki sind so entsetzlich, daß man sie hier nicht ausblenden darf. Aber gewisse
Formen konventioneller Kriegsführung sind nicht minder grauenhaft. Am 9. März 1945
haben die Amerikaner unter günstigen Windverhältnissen Tokyo bombardiert und
entfesselten ein brennendes Inferno, in dessen Flammen ungefähr 200.000 Menschen
zugrunde gingen: mehr als in Hiroshima. Mit Recht behält die Menschheit Hiroshima
im Gedächtnis – das Grauen von Tokyo indes ist vergessen. Warum? Weil sich die
Menschen an Nachrichten über konventionelle Kriege gewöhnt haben. Wehren wir uns
gegen die Macht der Abstumpfung. Wenn ich die Bombardierung Tokyos mit dem
Atombombenabwurf über Hiroshima vergleiche, dann möchte ich damit nicht das
Grauen vorm Atomkrieg einschläfern – sondern wachrütteln will ich das Entsetzen vor
Kriegen mit moderner Technik überhaupt, seien sie konventionell oder atomar.
Selbstverständlich bleiben Unterschiede. Noch Jahre nach einer Atombombenexplosion
sterben Menschen an Strahlenschäden, werden mißgebildete Kinder geboren. Die
Kriegsschäden pflanzen sich fort bis ins nächste und übernächste Glied; so weit reichen
konventionelle Waffen nicht – falls sie nicht auf indirekte Weise bevölkertes Gebiet
radioaktiv verseuchen. Es ist eine bittere Ironie, daß gleich in der ersten Kriegsnacht die
irakischen Reaktoren Ziel von US-Bomben wurden. "Wir sind entschlossen, Saddam
Husseins atomares Bombenpotential zu zerstören", sagt Bush – und inzwischen haben
wir die Erfolgsmeldung gehört. Damit dürften bereits jetzt Strahlenfolgen dieses
Krieges garantiert sein. Wenngleich wir über ihr Ausmaß im Augenblick bloß böse
Ahnungen haben können, ist jedenfalls die Qualität atomarer Kriegsführung erreicht.
Kann das erlaubt sein, nur um einen eventuellen irakischen Atomangriff für die Zukunft
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Läßt sich der Golfkrieg ethisch rechtfertigen?
auszuschließen? Ich denke, solange wir die Opfer aller Nationalitäten gleich ernst
nehmen, lautet die Antwort klar: nein.
Womit ich plausibel gemacht zu haben hoffe, daß jedenfalls nicht die Furcht vor
künftigen Untaten Saddams hinreicht, um diesen Krieg als eine Art vorbeugender
Maßnahme ethisch zu rechtfertigen. Im übrigen sehen die UNO-Resolutionen eine
solche Präventiv-Maßnahme nicht vor.
III. Das dritte Kriegsziel: et in terra pax
Wie steht es aber mit dem dritten Kriegsziel aus der Rede Bushs? Da geht es um
Frieden auf Erden:
"Dies ist ein historischer Augenblick. Wir haben im vergangenen Jahr große Fortschritte
gemacht, die lange Ära des Konflikts und des Kalten Krieges zu beenden. Vor uns liegt
die Chance, für uns und für zukünftige Generationen eine neue Weltordnung zu formen,
eine Welt, in der die Herrschaft des Gesetzes und nicht die Herrschaft des Dschungels
das Verhalten von Nationen leitet. Wenn wir erfolgreich sind, und das werden wir sein,
haben wir eine echte Chance für diese neue Weltordnung, eine Ordnung, in der
glaubwürdige Vereinte Nationen ihre friedensbewahrende Rolle einsetzen können, um
das Versprechen und die Vision der Gründer der UNO zu erfüllen."
Angesichts dieser hehren Worte fällt es schwer, sich die Frage zu verkneifen, wer nun
eigentlich utopischen Friedensillusionen nachträumt: der Kriegsgegner oder nicht doch
eher der Kriegsbefürworter?
Trotzdem hat Bushs Argument auf den ersten Blick eine gewisse Attraktivität. Viele
Menschen atmeten auf, als sich die beiden Supermächte endlich zur Abrüstung
entschlossen hatten – es schien eine Ära wirklichen Friedens bevorzustehen.
Ausgerechnet in diesem hoffnungsvollen Moment überfällt ein größenwahnsinniger
Diktator seinen Nachbarn und macht weithin augenfällig, daß die Welt doch nicht
friedlicher geworden ist. Verständlich, daß man zunächst wütend reagiert und dem
Unruhestifter die Brutalität heimzahlen will. Später dann schraubt man die Rachegelüste
zurück; übrig bleibt die Idee der Generalprävention; indem wir Saddam nun eine
Lektion erteilen, schrecken wir künftige Diktatoren seines Schlages ein für alle Mal von
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Olaf L. Müller et al
Völkerrechtsbrüchen ab. Dann fragt sich nur: Wie berechtigt ist die Hoffnung, daß
dieser Krieg für Weltfrieden sorgt? Das kommt darauf an, was genau wir unter diesem
Begriff verstehen. Wenn Weltfrieden heißt: niemals wieder Krieg, dann handelt es sich
um einen utopischen Zustand, und keine vernünftige Person wird glauben, daß
ausgerechnet der Golfkrieg ihn vom Himmel auf die Erde herunterzuholen vermag.
Wie aber können wir das Ziel des Weltfriedens realistischer interpretieren? Indem wir
Frieden als eine ewige Aufgabe begreifen, die immer wieder neu gelöst werden muß.
Nach dieser Auffassung können wir Völkerrechtsbrüche wie den irakischen Überfall
nicht ein für alle Mal ausschließen – höchstens: seltener machen.
Angenommen, wir wären berechtigt zu vermuten, daß das Vorgehen der Alliierten
tatsächlich diesem bescheideneren Ziel näherzukommen helfe – müßten wir dann den
Krieg für richtig halten? Ich glaube kaum; denn es gibt friedfertigere Mittel, die mir
demselben Ziel zu dienen scheinen, ohne soviel Elend nach sich zu ziehen wie dieser
Krieg.
Zuallererst: Wer kriegerische Untaten brutaler Gewaltherrscher seltener machen will,
darf diesen Leuten keine Waffen liefern. Wieso eigentlich hat man Saddam und
seinesgleichen hochgerüstet? Ein tragischer Irrtum, heißt es nun entschuldigend, man
habe den iranischen Fundamentalismus stoppen müssen. Nun gut, jetzt gilt es, Saddam
zu stoppen, und man bedient sich u.a. der Hilfe der Syrer unter Hafiz al-Assad, einem
nicht minder gefährlichen Kerl, der wahrscheinlich demnächst gestoppt werden muß,
usw.
Mit dieser Art von Politik muß endlich Schluß sein. Übrigens erlaube ich mir Zweifel,
ob die Waffen immer nur aus politischen Gründen verkauft werden. Für den Krieg
zwischen Iran und Irak z.B. haben von 1980 bis 1986 insgesamt 60 Staaten
Rüstungsgüter geliefert, davon 27 Staaten an beide Parteien! U.a. die Bundesrepublik,
Belgien, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, die Niederlande, Österreich,
Portugal, Schweden, die Schweiz, Spanien, die UdSSR, die USA. Es ist die
Rüstungsindustrie der reichen Länder, die daran verdient. Aber es wäre zu einfach, die
Schuld auf einige wenige skrupellose Profitgeier abzuwälzen; die Politik hätte ihnen
durch restriktivere Gesetze und schärfere Überwachung einen Riegel vorschieben
können. Warum ist das nicht geschehen? Wirtschaftliche Sachzwänge sind schuld. Es
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Läßt sich der Golfkrieg ethisch rechtfertigen?
ist dermaßen kostspielig, die nächste Generation einer Waffenart zu entwickeln, daß
sich der Verkauf des fertigen Produkts an NATO-Staaten allein nicht lohnt. Die
Nachfrage ist zu spärlich. Würde man nicht auf den Weltmarkt ausweichen, so wäre der
Preis der ohnehin schon teuren Stücke schier unbezahlbar – unsere Hochrüstung ließe
sich nicht länger sozial verträglich finanzieren. Gegen Waffenexporte zu wettern, ist
billig. Man muß die Konsequenzen sehen, die man sich einhandelt: Entweder steigt
unser Rüstungsetat, oder wir können uns weniger Fortschritt bei der Waffentechnik
leisten. Das letztere wäre mir recht.
Zurück zum Thema. Ich hatte behauptet: Wir müssen die Waffenexporte einschränken,
um Machthabern in der 3. Welt Eroberungskriege schwerer zu machen. Die Ursachen
für Krieg werden dadurch aber genausowenig beseitigt wie etwa durch den Einsatz der
Alliierten am Golf. Zudem wird man mir Blauäugigkeit vorwerfen, weil nämlich meine
Forderung die schon gelieferten Waffen nicht aus der Welt schafft. Das bringt mich zu
meinem nächsten Vorschlag: Kaufen wir die Waffen doch zurück! Es wäre eine Art
Entwicklungshilfe für friedfertige Länder, zugleich Wiedergutmachung dafür, daß wir
sie unsere Hochrüstung mitfinanzieren ließen. Die Rückkaufpreise müßten allerdings
gepfeffert sein; wir hätten soviel Geld zu bieten, bis sich die erste Regierung zum
Verkauf entschließt, weil ihr das Geld mehr nützt als Waffen. Andere Völker der 3.
Welt würden voraussichtlich ihre Regierungen über kurz oder lang drängen, dem
Beispiel zu folgen. Und die Stabilität in der ganzen Welt würde steigen, weil sich
weniger Not in bewaffneten Konflikten entladen könnte.
Ich höre die Frage: Wer soll das bezahlen? Eine erstaunliche Frage. Wer bezahlt denn
diesen Krieg? Eine halbe Milliarde US-Dollar kostete allein der erste Kriegstag, und die
Deutsche Regierung hat bisher 15 Milliarden Mark beizusteuern versprochen; ein
ansehnliches Sümmchen, das den jährlichen Etat des Ministers für Entwicklungshilfe
(7 Milliarden DM) bereits übertrifft. Nein, dieser Krieg wird teurer als die von mir
vorgeschlagene Maßnahme. Daß sie tatsächlich mehr Frieden in die Welt bringen wird,
mag man bezweifeln. Aber ist die Hoffnung, ausgerechnet dieser Krieg sorge für
Frieden, nicht genauso gewagt?
Mithin ist der Golfkrieg jedenfalls nicht um des Weltfriedens willen gerechtfertigt.
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Olaf L. Müller et al
IV. Zusammenfassung
Es ist an der Zeit für ein Fazit. Befreiung Kuwaits, Eindämmung Saddams und
schließlich mehr Frieden auf der Welt: so lauteten die drei Ziele, deretwegen George
Bush den Golfkrieg als ethisch berechtigt bezeichnet. Obwohl diese Ziele voneinander
unabhängig sind, hat Bush sie in seiner Rede eng zusammengeknotet; dadurch stützen
sie sich gegenseitig und machen es dem Kritiker schwer, einen Angriffspunkt zu finden.
Denn jeder Einwand ist immer nur ein Einwand gegen eins der drei Kriegsziele; wer sie
nicht getrennt wahrnimmt, wird den Einwand inadäquat finden, weil er nichts über die
beiden anderen Kriegsziele besagt. Um meine Einwände gegen dies Mißverständnis zu
wappnen, habe ich die drei Punkte nacheinander behandelt. Es will mir so scheinen, als
hätte ich gezeigt: Keins der drei Kriegsziele reicht für sich allein aus, den Golfkrieg
ethisch zu rechtfertigen. Nun hat Bush sie aber alle auf einmal in Anspruch genommen.
Könnte es nicht sein, daß sie, alle zusammen, eben doch hinreichende Gründe für den
Krieg liefern?
Ich glaube nicht. Was für eine Art von Argumentation vermag den Streit zu
entscheiden? Es reicht jedenfalls nicht, bloß zu zeigen, daß die unmittelbaren
Kriegsfolgen einen schlimmeren Schaden anrichten, als die drei Kriegsziele ausgleichen
können. Denn diesen Krieg nicht zu führen, könnte sehr wohl noch viel schrecklichere
Folgen nach sich ziehen. Es kommt also auf die Alternativen an; nur wenn sich keine
deutlich bessere Alternative zum Golfkrieg findet, ist er moralisch zulässig. Wenn Bush
sagt: "Die Vereinigten Staaten ... erschöpften jedes Mittel", dann will er uns damit
anscheinend bedeuten, daß es keine bessere Alternative gegeben habe. Ebendas
bestreite ich, und ich werde als Alternative ein ganzes Bündel von Maßnahmen
angeben, die mir zusammen deutlich besser abzuschneiden scheinen als Krieg. Die
meisten von ihnen habe ich schon genannt, aber es kann nicht schaden, sie sich in einem
Überblick abermals zu vergegenwärtigen:
1.
Ein weltweites Wirtschafts- und vor allem Kriegstechnik-Embargo, solange
Saddam keine Bereitschaft zum Einlenken zeigt. Hauptziel des Embargos: eine
weitere Hochrüstung des Irak verhindern.
2.
Man erklärt, daß man eine weitere irakische Expansion nicht hinnehmen wird,
und unterstreicht dies durch Stationierung von Truppen in Saudiarabien sowie
Installation wirksamer Luftabwehrsysteme in allen Ländern, die sich vom Irak
bedroht fühlen.
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Läßt sich der Golfkrieg ethisch rechtfertigen?
3.
Man bietet Saddam Verhandlungen an, ohne ihm einen Gesichtsverlust
zuzumuten. Ziele solcher Verhandlungen wären:
(a)
Eine akzeptable Lösung für die Menschen im Kuwait (das muß kein eigener
Staat sein; für eine Provinz Kuwait im Irak wäre durchaus ein Sonderstatus mit
garantierten ökonomischen, politischen und Bürgerrechten denkbar: ähnlich
denen, die England für Hongkong mit der VR China ausgehandelt hat).
Saddam verpflichtet sich, keine ABC-Waffen zu besitzen oder zu bauen und dies
von einer unabhängigen Kommission regelmäßig überwachen zu lassen.
Angemessene Wirtschaftshilfe für Irak, damit keine außenpolitischen Abenteuer
mehr nötig sind, um innenpolitische Probleme zu überdecken.
Eine internationale Palästina-Konferenz. (Welche vernünftigen Gründe sprechen
eigentlich gegen eine solche längst überfällige Konferenz?)
(b)
(c)
(d)
4.
Ein Ende aller Waffenexporte in alle Länder der 3. Welt.
Wir haben oben die einzelnen Komponenten dieses Bündels detailliert diskutiert und
dabei gesehen, inwiefern sie besser sind als Krieg (und zwar selbst dann, wenn sich
Hussein nicht auf Verhandlungen über den Rückzug aus Kuwait einläßt). Also ist dieser
Krieg ethisch falsch; es ist moralisch geboten, ihn sofort zu beenden.
Nachweise
Die Bush-Rede vom 16. Januar ist zitiert nach der deutschen Übersetzung aus der Süddeutschen Zeitung,
18.01.91. Der Brief von Bush an Hussein findet sich z.B. in The Sunday Times, 13.01.91.
Die meisten Zahlen sind dem Fischer Weltalmanach '91 entnommen (Frankfurt 1990).
Die deutsche Übersetzung eines Augenzeugenberichts von Robert Guillain über die Bombardierung
Tokyos findet sich in Frank Whitford: Richtig reisen: Tokyo (Köln 1980), S. 46ff.
Die Namen der Staaten, die dem Irak und dem Iran Waffen lieferten, stehen im SIPRI-Jahrbuch 7 des
Stockholmer Friedensforschungs-Instituts (Hamburg 1987), S. 113ff.
Weiterführende Literatur, die sich auch für Nicht-Philosophen eignet:
Einer der Klassiker, auf den die hier benutzte ethische Theorie zurückgeht, ist John Stuart Mill: Der
Utilitarismus (in England zuerst 1861 veröffentlicht; deutsche Übersetzung Stuttgart, 1976).
Dies ethische System hat in der Zwischenzeit unzählige Verfeinerungen und Verbesserungen erfahren;
eine gut verständliche Darstellung des aktuellen Stands der Diskussion in den Kapiteln 2 und 3 aus Dieter
Birnbacher: Verantwortung für zukünftige Generationen (Stuttgart 1988).
Von einem etwas anderen Ausgangspunkt argumentiert Ernst Tugendhat speziell pazifistisch:
Nachdenken über die Atomkriegsgefahr und warum man sie nicht sieht (Berlin 1986).
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Olaf L. Müller et al
Nachbemerkung für den Abdruck in diesem Buch
von Olaf Müller, Göttingen im April 91
Die Amerikaner wollten kein zweites Vietnam. Deshalb war es ihnen wichtig, die Moral
auf ihrer Seite zu haben. George Bush hat immer wieder argumentiert, der Golfkrieg sei
ein gerechter Krieg: er sei ethisch gerechtfertigt. Der Appell an die Moral blieb nicht
ohne Wirkung. Selbst in Deutschland plädierten plötzlich namhafte Links-Intellektuelle
für Krieg. Die Friedensbewegung wirkte dagegen naiv, realitätsblind, verantwortungslos
– mit einem Wort: gesinnungsethisch.
Um diesem schlechten Bild entgegenzutreten, fand ich es angebracht, die moralische
Argumentation der Kriegsbefürworter zu zerpflücken und ihnen eine vernünftige
Begründung für die friedliche Position gegenüberzustellen; dies war das Thema eines
Referats, das ich am Montag nach Kriegsausbruch (dem 21.1.1991) in Lorenz Krügers
Ethik-Seminar an der Georg-August-Universität Göttingen gehalten habe. Teilnehmer
der anschließenden Debatte schlugen vor, die Argumente zu veröffentlichen, und also
setzte ich mich hin und schrieb einen pazifistischen Essay in angewandter Ethik; an
seiner endgültigen Fassung wirkten meine Kommilitonen Susanne Gahl, Nelson Killius,
Robert Casties und Marco Iorio mit. Wir verschickten das Papier an diverse
überregionale Tages- und Wochenzeitungen, doch keine von ihnen mochte dem Thema
eine einzige Seite opfern. Bahnhofsblockaden machen Schlagzeilen – wohlüberlegte
Argumente nicht.
Inzwischen haben die Alliierten ihren Krieg gewonnen; wir wissen heute viel mehr als
im vergangenen Januar über Kriegsopfer, Kriegsdauer und Kriegskosten. Es lag daher
nahe, daß mich die Herausgeber gebeten haben, den Essay an den aktuellen
Wissensstand anzupassen. Warum ich dieser Bitte nicht folge, möchte ich kurz
begründen.
Für oder gegen Krieg mußte entschieden werden, als noch nicht bekannt war, wie der
Krieg verlaufen werde. Auch jetzt wissen wir nicht sicher, was geschehen wäre, wenn
Bush auf Krieg verzichtet hätte. Wer vor einer moralischen Wahl steht, findet sich
immer in einer solchen Lage der Unkenntnis. Daß gerade dann sorgfältige Abwägungen
nötig und daß sie auch möglich sind: diese Überzeugung liegt der ganzen
Argumentation zugrunde. Ihr entscheidender Kern würde verwässert, wenn ich nun
12
Läßt sich der Golfkrieg ethisch rechtfertigen?
nachträglich an der Datenbasis herummanipulieren sollte, die zur Zeit der Entscheidung
gegeben war. Ohne eine solche Aktualisierung behält der Essay meiner Ansicht nach
Gültigkeit. Er kritisiert die Behauptung, der Golfkrieg sei – als er beschlossen wurde –
zu Recht als ethisch zulässig anzusehen gewesen. Wer damals schon gewußt hat, daß
der Krieg kürzer dauern würde als befürchtet, daß er aber tatsächlich eine
Ökokatastrophe dieses Ausmaßes und einen Völkermord an den Kurden nach sich
ziehen würde, der mag all diese Punkte in der Argumentation ergänzen. Das Ergebnis
der Abwägung fiele nicht anders aus: Der Krieg war ethisch falsch, und man mußte kein
realitätsblinder Illusionär sein, um zu dieser Ansicht zu gelangen.
Ob es dem amerikanischen Präsidenten wirklich um die Moral zu tun war, mag man
bezweifeln – hierüber sagt der Essay nichts. Sind unsere moralischen Argumente
vielleicht überflüssig, weil sie Bush überhaupt nicht interessieren würden? Ich glaube
nicht; denn Völker lassen sich, wie es scheint, viel eher auf Kriege ein, wenn sie das
Gefühl haben, im Recht zu sein. Bushs ethischer Argumentation Fehler nachzuweisen,
bedeutet Skepsis zu wecken gegenüber Kriegen im Namen der Moral. Von dieser
Skepsis ging im Westen während des Golfkriegs zu viel verloren. Hoffentlich finden die
Menschen zu ihr zurück, denn auch der nächste Krieg wird sicherlich als gerechter
Krieg gepriesen werden.
Noch eine Nachbemerkung
von Susanne Gahl, Chicago im Juli 2006
Der nächste und übernächste Krieg wurde tatsächlich als gerechter Krieg gepriesen. Ich
lese diesen Essay heute mit einiger Verlegenheit, ja mit Befremden. Ich muß mir ins
Gedächtnis rufen, was das Ziel des Essays war: eine Art Argumentationshilfe
auszuarbeiten, warum der Golfkrieg noch nicht einmal dann vertretbar war, wenn man
die Prämissen der Bush-Regierung akzeptierte. Schriebe ich heute wieder einen Essay
über die jetzigen Kriege, wäre es mir ganz undenkbar, die erklärten geopolitischen Ziele
der U.S. Regierung unerwähnt zu lassen. Undenkbar wäre es auch, die öffentliche
Meinung in den arabischen Ländern, ja überhaupt die arabische Welt unerwähnt zu
lassen. Am allerwenigsten denkbar wäre es, die vorgebrachten – und vorgeschobenen –
Prämissen der Regierung Bush unkommentiert zu lassen. Einen kühlen Kopf zu
bewahren, bemühe ich mich immer noch – aber hoffentlich nicht mehr, indem ich die
Augen verschließe vor den Zielen und vermutlichen Folgen der Kriegsführung.
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