Academia.eduAcademia.edu
Exzerpieren – Kompilieren – Tradieren Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 Millennium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. Millennium Studies in the culture and history of the first millennium C.E. Herausgegeben von / Edited by Wolfram Brandes, Alexander Demandt, Helmut Krasser, Hartmut Leppin, Peter von Möllendorff, Karla Pollmann Volume 64 Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 Exzerpieren – Kompilieren – Tradieren Transformationen des Wissens zwischen Spätantike und Frühmittelalter Herausgegeben von Stephan Dusil, Gerald Schwedler und Raphael Schwitter Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 ISBN 978-3-11-050126-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-051634-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-051508-4 ISSN 1862-1139 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 Inhalt Vorwort V Stephan Dusil, Gerald Schwedler, Raphael Schwitter Transformationen des Wissens zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Zur Einführung 1 Exzerpieren Marietta Horster Livius-Epitome: ein spätantiker Blick auf die (kurzgefasste) römische 25 Republik Christian Rohr Von Plinius zu Isidor und Beda Venerabilis. Zur Übernahme antiken Wissens über Witterungsphänomene im Mittelalter 49 Kompilieren Inge Kroppenberg Codex Theodosianus revisited – Plädoyer für eine Geschichte der juridischen Form 71 Carmen Cardelle de Hartmann Wissensorganisation und Wissensvermittlung im ersten Teil von Isidors Etymologiae (Bücher I–X) 85 Hans-Georg Hermann Verformung, Verdrängung und Verlust von Rechtswissen in den Leges 105 Mayke de Jong The Resources of the Past: Paschasius Radbertus and his Epitaphium Arsenii 131 Annina Seiler Untangling the strands: The spelling of the Épinal glossary 153 Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 VIII Inhalt Tradieren Julian Führer Verbrannte Steuerliste oder zerstörte Verwaltung? Zum Umgang mit Verwaltungswissen im merowingischen Frankenreich 177 Ian Wood The Problem of Late Merovingian Culture 199 Karl Ubl Eine Verdichtung der Lex Salica. Die Septinas septem der Handschrift Paris, BN, lat. 4411 223 Peter Stotz Hohe Weltgeschichte für langobardische Krieger. Verdichtung und Vereinfachung von Texten in der Handschrift Bamberg Hist. 3 245 Andreas Thier Aus Altem ein Neues – Versuch eines Schlusswortes 249 Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 Christian Rohr Von Plinius zu Isidor und Beda Venerabilis Zur Übernahme antiken Wissens über Witterungsphänomene im Mittelalter Abstract: This paper contributes to the study of the literary reception of Pliny’s monumental Naturalis historia by analysing in how far later authors, like Isidore of Seville or the Venerable Bede, incorporated meteorological phenomena described in book II of the Naturalis historia into their own works. The paper concludes with an outlook on the encyclopaedists of the 12th and 13th century. Einleitung Die Naturalis historia des C. Plinius Caecilius Secundus maior (23/24– 79 n.Chr.) ist eines der wenigen monumentalen Werke aus der römischen Antike, das durch die Jahrhunderte vollständig in insgesamt 37 Büchern überliefert ist. Diese umfangreichste erhaltene Enzyklopädie antiken Wissens lässt somit einen detaillierten Einblick in das Wissen der Römerzeit zu, der alle Bereiche der damaligen Wissenschaft umfasst: von der Kosmologie und Astronomie über die Meteorologie und Geologie zur Geographie und Ethnologie der Erde, von der Anthropologie und Physiologie über die Zoologie und Botanik bis hin zur Landwirtschaft, Pharmakologie, Metallurgie und Mineralogie. Mehr als 200 mittelalterliche Handschriften zeugen bis heute davon, dass das von Plinius zusammengetragene Wissen auch nach der Spätantike vielerorts zugänglich war.¹ Die Nachwirkung des Werkes war enorm: Schon Zeitgenossen wie der Satiriker Martial zitierten daraus und auch christliche Autoren hatten keinerlei Scheu, sich immer wieder auf Plinius zu beziehen, von Minucius Felix über Augustinus bis hin zur Martianus Capella.² Aufgrund des enormen Umfangs wurden aber schon in der Spätantike Exzerpte und Kompilationen verfasst, die sich Teilaspekten widmeten. Besonders wichtig wurden dabei die Collectanea rerum memorabilium des C. Iulius Solinus aus dem 3./4. Jahrhundert, eine Sammlung von aussergewöhnlichen Merk-  Vgl. Leighton D. Reynolds, The Elder Pliny, in: Texts and Transmission. A survey of Latin Classics, hrsg. von Leighton D. Reynolds, Oxford ,  – ; Francesca Romana Berno, Plinius d. Ä. (Gaius Plinius Caecilius Secundus maior). Naturalis Historia, in: Die Rezeption der antiken Literatur. Kulturhistorisches Werklexikon (Der Neue Pauly), Supplemente , hrsg. von Christine Walde, Stuttgart Weimar ,  – , hier .  Vgl. dazu im Detail Berno, Plinius d. Ä. (Anm. ),  – . DOI 10.1515/9783110516340-004 Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 50 Christian Rohr würdigkeiten, insbesondere aus den Büchern über die Geographie³, Anthropologie⁴, Zoologie⁵, Botanik⁶ und Mineralogie⁷. Daneben fasste die anonym überlieferte Kompilation der Medicina Plinii aus dem 4. Jahrhundert⁸ vornehmlich die medizinischen und pharmakologischen Bücher⁹ zusammen. Besonders Solinus war auch im Mittelalter weit verbreitet, sodass heute nicht immer klar erkennbar ist, ob die Rezeption über das Gesamtwerk des Plinius oder über die Collectanea erfolgte.¹⁰ Es liegt daher nahe, anhand der Rezeption der Naturalis historia des älteren Plinius danach zu fragen, wie das bei ihm überlieferte Wissen im Laufe der Spätantike und im Mittelalter variiert und verdichtet wurde, in welcher Form es behalten und umgestaltet wurde, wie es durch andere Wissensstränge ergänzt wurde und wie explizit oder rein sprachlich auf Plinius als unumstössliche Autorität Bezug genommen wurde. Die Forschung zur Plinius-Rezeption konzentrierte sich erstens darauf, die wichtigsten Entwicklungslinien aufzuzeigen, blieb dabei aber oft auf einer allgemeinen Ebene. Hervorzuheben sind die ausführlichen Darstellungen von Marjorie Chibnall, Arno Borst sowie zuletzt Aude Doody und Francesca Romana Berno, die jeweils auch den Forschungsstand ausführlich wiedergeben.¹¹ Auch Handbücher zur Wissensgeschichte des Mittelalters gehen in der Regel wenig in die Tiefe, was das genaue Ausmass und die Form der Rezeption betrifft.¹² Zweitens existieren zahlreiche Studien zu Einzelaspekten, in denen vor allem gefragt wurde, woher das Wissen eines mittelalterlichen Autors zu einem bestimmten Thema stammte; häufig führte dabei der Weg zurück zum älteren Plinius, was dann entsprechend auch mit Textvergleichen zu belegen versucht wurde.¹³ Drittens wurde auch die Überlieferungsgeschichte im Sinne der Verbreitung der Handschriften sowohl zur Naturalis historia selbst als auch zu den  C. Plinius Secundus Maior, Naturalis historia,  Bände, hrsg. von Karl Mayhoff, Leipzig  (ND Stuttgart ),  – .  Plinius, Naturalis historia (Anm. ), .  Plinius, Naturalis historia (Anm. ),  – .  Plinius, Naturalis historia (Anm. ),  – .  Plinius, Naturalis historia (Anm. ), .  Vgl. dazu besonders Aude Doody, Pliny’s Encyclopedia. The Reception of the Natural History, Cambridge ,  – .  Plinius, Naturalis historia (Anm. ),  – .  Berno, Plinius d. Ä. (Anm. ),  – .  Marjorie Chibnall, Pliny’s Natural History and the Middle Ages, in: Empire and Aftermath. Silver Latin II (Greek and Latin Studies. Classical literature and its Influence), hrsg. von Thomas A. Dorey, London / Boston ,  – ; Arno Borst, Das Buch der Naturgeschichte. Plinius und seine Leser im Zeitalter des Pergaments, Heidelberg  (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse , ); Doody, Pliny’s Encyclopedia (Anm. ); Berno, Plinius d. Ä. (Anm. ).  So etwa bei Otto Mazal, Geschichte der abendländischen Wissenschaft des Mittelalters,  Bände, Graz , Bd. ,  und Bd. ,  und .  Vgl. dazu die ausführliche Bibliographie bei Berno, Plinius d. Ä. (Anm. ),  –  mit zahlreichen Beispielen bis hin zum Wissen über den Gesang des Kuckucks oder über Smaragde. Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 Von Plinius zu Isidor und Beda Venerabilis 51 Kompilationen genau aufgearbeitet.¹⁴ Der Aspekt der Verdichtung und Variierung plinianischen Wissens wurde jedoch nur ansatzweise behandelt, ja im neuesten, umfangreichen Sammelband „Condensing Texts – Condensed Texts“ zur Verdichtung antiker Texte wird auf Plinius gerade zweimal kurz und nichtssagend Bezug genommen.¹⁵ Im Folgenden soll daher der Versuch unternommen werden, insbesondere auf die Aspekte der Wissensverdichtung und Wissensvariierung einzugehen, indem anhand des Wissens über Witterungsphänomene überprüft wird, wie mit den Erkenntnissen aus Plinius umgegangen wird. Dieser Themenkomplex wird in Buch 2 der Naturalis historia ausführlich erwähnt, also einem Buch, das von Solinus nur am Rande exzerpiert wurde, sodass davon auszugehen ist, dass das jeweilige Wissen jeweils direkt aus Plinius oder von den auf Plinius aufbauenden mittelalterlichen Vorbildern stammt. Am Beginn der Kapitel wird zunächst kurz summarisch angegeben, welche Witterungsphänomene insgesamt in den einzelnen Werken Beachtung finden und wie konkret die Themen Hagel und Donner abgehandelt werden. Der Bogen spannt sich dabei über die Enzyklopädie Etymologiae (Origines) des Isidor von Sevilla sowie dessen Schrift De natura rerum bis zum gleichnamigen De natura rerum des Beda Venerabilis. Ein kursorischer Ausblick wird schliesslich bis zu den Enzyklopädisten des 12. und 13. Jahrhunderts sowie zum Buch der Natur Konrads von Megenberg, der ersten umfangreichen Naturkunde in deutscher Sprache, gerichtet. Witterungsphänomene in der Naturalis historia des älteren Plinius Plinius widmet der Kosmologie sowie der Erklärung von Witterungsphänomenen das gesamte zweite Buch, wobei er sich in einem ersten ausführlichen Teil mit dem Wesen der Welt und ihrer Gestalt, der Natur und Bewegung der Planeten, mit Sonnen- und Mondfinsternissen, Kometen und anderen Himmelserscheinungen bis hin zu musikalischen und geometrischen Betrachtungen über die Welt auseinandersetzt.¹⁶ Nach einem Abschnitt über die Witterung,¹⁷ auf den unten detaillierter eingegangen wird, folgt eine allgemeine Abhandlung zur Beschaffenheit der Erde,¹⁸ etwa über den  Vgl. etwa Reynolds, The Elder Pliny (Anm. ); Birger Munk Olsen, C. Plinius Secundus, in: L’étude des auteurs classiques latins aux XIe en XIIe siècles,  Bände, hrsg. von Birger Munk Olsen, Paris , , , hier Band ,  – . Zur handschriftlichen Verbreitung der Collectanea des Solinus vgl. Mary E. Milham, A Handlist of the Manuscripts of C. Julius Solinus, in: Scriptorium  (),  – .  Marietta Horster, Christiane Reitz (Hrsg.), Condensing Texts – Condensed Texts, Stuttgart  (Palingenesia ),  und .  Plinius, Naturalis historia (Anm. ), , – .  Plinius, Naturalis historia (Anm. ), , – .  Plinius, Naturalis historia (Anm. ), , – . Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 52 Christian Rohr Wasserkreislauf, über die bewohnten und unbewohnten Gebiete, die Klimazonen¹⁹ oder die Länge von Tag und Nacht zu den verschiedenen Jahreszeiten und in den einzelnen Weltregionen. Das Buch endet mit Ausführungen zu Erdbeben, zur Entstehung neuer Inseln, zu den Gezeiten und einer Auflistung seltsamer Naturerscheinungen.²⁰ Da die Kapitel zu den Witterungserscheinungen den Ausgangspunkt für die meisten mittelalterlichen Abhandlungen des Themas bildeten, soll im Folgenden eine genaue Übersicht geboten werden, bevor konkret auf die Fallbeispiele Hagel und Donner eingegangen wird. ,‒ ,‒ , ,‒ , ,‒ ,‒ ,‒ ,‒ ,‒ , ‒ , ,‒ ,‒ ,‒ , , , ,‒ De aëre De statis tempestatibus De caniculae ortu Vis temporum anni stata De incertis tempestatibus. De imbribus et quare lapidibus pluat Von der Luft Von den bestimmten Ursachen der Witterung Vom Aufgang des Hundssterns Vom Einfluss der Jahreszeiten Von den zu unbestimmten Zeiten auftretenden Gewittern. Vom Regen und warum es Steine regnet De tonitribus et fulgetris Vom Donner und Blitz Qua ratione echo reddatur. Vento- Wie das Echo entsteht. Die Winde, ihre Arten, ihre rum genera, naturae, observatio- Natur, Bemerkungen über sie nes Ecnephias, typhon Eknephias (der Orkan), Typhon Turbines, presteres, vertices, alia Wirbelwinde, feurige Wirbelwinde, Wirbelstürme prodigiosa genera tempestatum und andere merkwürdige Arten von Stürmen De fulminibus Von den Blitzen Quibus in terris non cadant et In welchen Ländern man keine bemerkt und quare weshalb Genera fulgurum et miracula Arten der Blitze und wunderbare Erscheinungen Etrusca observatio in iis et Roma- Etruskische und römische Beobachtungen über na Blitze De fulminibus evocandis Vom Herbeirufen der Blitze Catholica fulgurum Allgemeines über Blitze Quae numquam feriantur Welche Gegenstände nie vom Blitz getroffen werden Lacte pluisse, sanguine, carne, Regen aus Milch, Blut, Fleisch, Eisen, Wolle und ferro, lana, lateribus coctis Ziegelsteinen <Armorum crepitum, et tubae so- <Waffengeklirr und Trompetengeschmetter vom nitum de caelo auditum> Himmel gehört> De lapidibus caelo cadentibus. Steine, die vom Himmel fallen. Was Anaxagoras Anaxagorea de his darüber sagt  Plinius, Naturalis historia (Anm. ), , – .  Plinius, Naturalis historia (Anm. ), , – . Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 Von Plinius zu Isidor und Beda Venerabilis , , , Arcus caelestis Natura grandinis, nivis, pruinae, nebulae, roris. Nubium imagines Proprietates caeli in locis 53 Der Regenbogen Beschaffenheit des Hagels, des Schnees, des Reifs, des Nebels, des Taus. Wolkenbilder Eigentümlichkeiten des Himmels an verschiedenen Orten Widmen wir uns nun konkret und exemplarisch den Ausführungen zum Donner sowie zum Hagel. Es geht dabei nicht so sehr um eine inhaltliche Beurteilung aus heutiger, fachwissenschaftlicher Sicht,²¹ sondern um die Frage, wie die Nachrichten bei Plinius in der Folge verdichtet oder variiert wurden. Über die Entstehung von Donner (und Blitz) vermerkt Plinius: Igitur non eam infitias posse in has et ignes superne stellarum decidere, quales sereno saepe cernimus; quorum ictu concuti aëra verum est, quando et tela vibrata stridunt; cum vero in nubem perveniunt, vaporem dissonum gigni, ut candente ferro in aquam demerso, et fumidum verticem volvi. hinc nasci procellas et, si in nube luctetur flatus aut vapor, tonitrua edi; si erumpat ardens, fulmina; si longiore tractu nitatur, fulgetras. his findi nubem, illis perrumpi, et esse tonitrua inpactorum ignium plagas, ideoque protinus coruscare igneas nubium rimas. posse et repulsu siderum depressum qui a terra meaverit spiritum nube cohibitum tonare, natura strangulante sonitum, dum rixetur, edito fragore cum erumpat, ut in membrana spiritu intenta. posse et attritu, dum praeceps feratur, illum, quisquis est, spiritum accendi. posse et conflictu nubium elidi, ut duorum lapidum, scintillantibus fulgetris. sed haec omnia esse fortuita; hinc bruta fulmina et vana, ut quae nullam habeant rationem Nicht will ich also in Abrede stellen, dass auf diese Wolken von oben auch das Feuer der Sterne herabfallen kann, wie wir es oft bei heiterem Himmel sehen; dass durch dessen Aufschlag die Luft erschüttert wird, trifft zu, da ja auch abgeschossene Pfeile schwirren; wenn aber das Feuer in eine Wolke gelangt ist, entsteht offenbar unter Zischen Dampf, wie wenn man glühendes Eisen in Wasser taucht, und es bildet sich wirbelnder Qualm. Auf diese Weise entsteht Gewittersturm. Staut sich in einer Wolke Wind oder Dunst, so gibt es den Donner; bricht der glühende Dunst hervor, so entstehen die Blitze; wenn er eine längere Strecke dahinfährt, das Wetterleuchten. Durch dieses werden die Wolken gespalten, durch jene zerrissen. Die Donnerschläge sind Schläge von herabprallendem Feuer, und deshalb zeigen auch sogleich die aufgerissenen Wolken einen feurigen Schein. Auch die von der Erde emporgestiegene Luft kann, durch den Gegendruck der Gestirne zurückgedrängt, in einer Wolke eingeschlossen, zum Donner führen. Solange die Luft im Kampfe liegt, erstickt die Natur jeden Laut, bricht sie aber hervor, so entsteht ein Knall wie beim Zerplatzen einer mit Atem gefüllten Blase. Auch durch Reibung kann sich die Luft, wie immer sie beschaffen sein mag, während des schnellen Herabstürzens entzünden. Ebenso kann  Vgl. zu dieser Frage ausführlich Gabriele Loose, Das . Buch der Naturalis Historia von Plinius dem Älteren. Eine kritische Analyse im Lichte moderner geowissenschaftlicher Erkenntnisse (InauguralDissertation Universität Köln), Köln ,  –  (zu Blitz und Donner) sowie  –  (zu Hagel, Schnee, Regen und Reif).  Plinius, Naturalis historia (Anm. ), , – .  Übersetzung nach C. Plinius Secundus d. Ä., Naturkunde. Lateinisch – deutsch, Buch II: Kosmologie, hrsg. und übersetzt von Roderich König, München ,  – . Die Orthographie wurde bei allen hier zitierten Übersetzungen an die neue Rechtschreibung (Schweiz) angepasst. Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 54 Christian Rohr naturae; his percuti montes, his maria, omnesque sie beim Zusammenprall von Wolken herausgestosalios inritos iactus. Ilia vero fatidica ex alto sta- sen werden, ähnlich wie bei zwei Steinen mit zutisque de causis et ex suis venire sideribus.²² ckenden Blitzen. Dies alles jedoch, heisst es, ist zufällig; hieraus entstehen die stumpfen und nichtssagenden Blitze, die aus keinem Naturgesetz hervorgehen; die einen treffen Berge, die anderen Meere und alle anderen fahren wirkungslos herab. Jene Schicksal verkündenden Blitze jedoch kämen aus höheren Bereichen, aus bestimmten Ursachen und aus ihren eigenen Gestirnen.²³ Inhaltlich fällt auf, dass die Entstehung des Donners in den Wolken angesiedelt und zunächst nicht mit dem Einschlag des Blitzes in Verbindung gesetzt wird. Dies erfolgt dann erst einige Kapitel später, wenn Plinius nochmals ausführlich auf die Blitze und damit – weniger prominent – auch auf den Donner zu sprechen kommt; die Gleichzeitigkeit von Blitz und Donner wird aber auch hier nicht auf den Einschlag des Blitzes, sondern auf die Entstehung beider Phänomene in den Wolken bezogen: Fulgetrum prius cerni quam tonitrua audiri, cum simul fiant, certum est, – nec mirum, quoniam lux sonitu velocior; ictum autem et sonitum congruere ita modulante natura, sed sonitum profecti esse fulminis, non inlati, etiamnum spiritum ociorem fulmine, ideo quati prius omne et adflari quam percuti, nec quemquam tangi qui prior viderit fulmen aut tonitrum audierit.²⁴ Gewiss ist, dass man den Blitz früher sieht als man den Donner hört, obgleich beide gleichzeitig entstehen – und dies ist nicht verwunderlich, da das Licht sich schneller fortpflanzt als der Schall; gewiss ist aber auch, dass Schlag und Schall zusammenfallen, nachdem die Natur es so einrichtet, dass dann aber der Schall die Wirkung des ausfahrenden Blitzes ist, nicht des einschlagenden und dass auch dann die Luftbewegung schneller ist als der Blitz; daher werde alles eher erschüttert und vom Wehen erreicht als vom Strahl getroffen; und es werde niemand erschlagen, der den Blitz bereits gesehen oder den Donner gehört hat.²⁵ Etwas zutreffender nach heutigen wissenschaftlichen Kriterien wird die Herkunft des Hagels und anderer alltäglicher Witterungserscheinungen abgehandelt: Cetera eiusdem naturae non multis dubia esse video: grandinem conglaciato imbre gigni et nivem eodem umore mollius coacto, pruinam autem ex rore gelido; per hiemem nives cadere, non grandines, ipsasque grandines interdiu saepius Die übrigen Naturereignisse dieser Art sind, wie ich sehe, nur weniger zweifelhaft: dass Hagel aus gefrorenem Regen, der Schnee aus der gleichen, nur weniger fest gewordenen Feuchtigkeit entsteht, der Reif aber aus gefrorenem Tau; dass im Winter  Plinius, Naturalis historia (Anm. ), ,.  Übersetzung nach C. Plinius Secundus d. Ä., Naturkunde, hrsg. und übersetzt von König (Anm. ), .  Plinius, Naturalis historia (Anm. ), ,.  Übersetzung nach C. Plinius Secundus d. Ä., Naturkunde, hrsg. und übers. von König (Anm. ),  – . Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 Von Plinius zu Isidor und Beda Venerabilis quam noctu, et multo celerius resolvi quam nives; nebulas nec aestate nec maximo frigore exsistere, rores neque gelu neque ardoribus neque ventis nec nisi serena nocte: gelando liquorem minui, resoluta glacie non eundem inveniri modum; varietates colorum figurarumque in nubibus cerni, prout admixtus ignis superet aut vincatur.²⁶ 55 Schnee fällt, aber kein Hagel, der Hagel selbst häufiger bei Tage als in der Nacht und dass er viel schneller schmilzt als der Schnee; dass Nebel weder im Sommer noch bei sehr grosser Kälte noch bei windigem Wetter, sondern nur in heiteren Nächten, dass beim Gefrieren das Wasser weniger wird und dass, wenn das Eis aufgetaut ist, sich nicht die gleiche Menge findet; dass man in den Wolken verschiedene Farben und Gestalten wahrnimmt, je nachdem das beigemischte Feuer vorherrscht oder zurücktritt.²⁷ Die Berichte über Donner, Blitz, Hagel oder Schnee waren viel zu wenig aussergewöhnlich, um das Interesse des C. Iulius Solinus zu erwecken. Dementsprechend vernachlässigbar sind daher auch die zwei Bezugnahmen auf die meteorologischen Kapitel von Buch 2 der Naturalis historia in den Collectanea rerum memorabilium. ²⁸ Somit wird aber auch deutlich, dass die Übernahme des meteorologischen Wissens eben nicht über Solinus, sondern direkt über Plinius ins Mittelalter gelangt sein muss. Die Rezeption der Naturalis historia bei Isidor von Sevilla Noch weiter verbreitet als die Naturalis historia des Plinius war im Mittelalter das enzyklopädische Kompendium des gelehrten Bischofs Isidor von Sevilla (560 – 636), die Originum seu etymologiarum libri XX, an denen Isidor offenbar bis zu seinem Lebensende arbeitete, sodass das Werk erst von seinem Schüler Braulio geordnet und veröffentlicht wurde. Im Zentrum steht allerdings weniger der Versuch, das gesamte Wissen der Zeit enzyklopädisch festzuhalten, sondern das Werk war vornehmlich auf die höhere Schulbildung, das Trivium und Quadrivium, ausgerichtet. Die ersten Bücher sind daher der Grammatik, Rhetorik und Dialektik gewidmet,²⁹ ein weiteres der Mathematik.³⁰ In unserem Zusammenhang ist vor allem Buch 13 der Etymologiae von Bedeutung, in dem Isidor auf Witterungsphänomene zu sprechen kommt.Wie in Buch 2 der Naturalis historia beginnt Isidor mit kosmologischen Kapiteln über die Welt, die  Die einzigen Bezugspunkte bilden C. Iulius Solinus, Collectanea Rerum Memorabilium, hrsg. von Theodor Mommsen, . Aufl., Berlin  (ND Zürich / Hildesheim ), , (zu Plinius, Naturalis historia (Anm. ), ,, dass in Syrakus an jedem Tag des Jahres zumindest zeitweise die Sonne scheine) sowie Solinus, Collectanea (Anm. ), , (loser Anklang an Plinius, Naturalis historia (Anm. ), , über die Auswirkungen des Hundssterns auf die Witterung).  Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive originum libri XX,  Bände, hrsg. von Wallace M. Lindsay, Oxford  (ND Oxford ) (ebenso zugänglich: Isidoro di Siviglia, Etimologie, Libro XIII: De mundo et partibus, hrsg. Giovanni Gasparotto, Paris ),  – .  Isidor, Etymologiae (Anm. ), . Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 56 Christian Rohr Atome, die Elemente und den Himmel mit seinen Teilen,³¹ um in der Folge auf die Luft und die Wolken, Donner und Blitz, auf Regen, den Regenbogen, Tau sowie die Winde einzugehen.³² Der Rest des Buches ist schliesslich dem Wasser und den unterschiedlichen Gewässern gewidmet.³³ Über den Donner schreibt Isidor: De tonitruo. Tonitruum dictum quod sonus eius terreat; nam tonus sonus. Qui ideo interdum tam graviter concutit omnia ita ut caelum discississe videatur quia, cum procella vehementissimi venti nubibus se repente inmiserit, turbine invalescente exitumque quaerente, nubem, quam excavavit, impetu magno perscindit, ac sic cum horrendo fragore defertur ad aures. Quod mirari quis non debeat, cum vesicula quamvis parva magnum tamen sonitum displosa emittit. Cum tonitruo autem simul et fulgura exprimi: sed illud celerius videtur, quia clarum est; hoc autem ad aures tardius pervenire. Lux autem quae apparet ante tonitruum fulgetra vocatur. Quae, ut diximus, ideo ante videtur quia clarum est lumen; tonitruum autem ad aures tardius pervenit.³⁴ Vom Donner. Der Donner soll so genannt worden sein, weil sein Klang erschreckt (terrere). Denn sonus (Ton, Klang) ist tonus (Ton, Klang, Donner). Dieser erschüttert deswegen manchmal alles so schwer, dass der Himmel zu zerreissen scheint, weil ein Sturm eines sehr heftigen Windes sich plötzlich mit Wolken vermischt [und], nachdem ein Wirbel erwachsen ist, der sich einen Ausweg sucht, die Wolke, welche er angetrieben hat, durch einen massiven Anstoss zertrennt und mit einem gewaltigen Krachen in die Lüfte hinabgetragen wird. Darüber muss man sich nicht wundern, wo doch noch so kleine Bläschen dennoch einen lauten Knall von sich geben, wenn sie aufspringen. Mit dem Donner wird aber gleichzeitig ein Blitz herausgedrückt. Jener aber kommt schneller, weil er leuchtend ist. Dieser aber kommt langsamer zu den Ohren. Das Licht aber, welches vor dem Donner erscheint, wird fulgetra (Wetterleuchten) genannt. Dieses wird, wie wir gesagt haben, vorher gesehen, weil es ein leuchtendes Licht ist. Der Donner aber gelangt langsamer zu den Ohren.³⁵ Der Abschnitt beginnt, dem Charakter der Etymologiae gemäss, mit einer Herleitung des Begriffs, die wie viele andere aus heutiger etymologischer Sicht nicht haltbar ist. Nach einem Mittelteil, der inhaltlich von Plinius nicht allzu sehr abweicht, allerdings auch keine sprachlichen Parallelen aufweist, folgt am Schluss die bei Plinius ebenfalls abgehandelte Verbindung, dass man zuerst den Blitz sehen und dann erst den Donner hören könne. Ein Vergleich der Passagen zum Donner und Blitz macht deutlich, dass Isidor die Naturalis historia zwar eindeutig kannte, sie aber in den seltensten Fällen wörtlich übernahm – im Gesamtwerk wird Plinius gerade sechsmal explizit zitiert³⁶ –, während  Isidor, Etymologiae (Anm. ), , – .  Isidor, Etymologiae (Anm. ), , – .  Isidor, Etymologiae (Anm. ), , – .  Isidor, Etymologiae (Anm. ), ,, – .  Übersetzung nach Isidor von Sevilla, Enzyklopädie, übersetzt von Lenelotte Müller, Wiesbaden , .  Vgl. im Detail José Oroz Reta, Présence de Pline dans les Etymologies de saint Isidore de Seville, in: Pline l’Acien témoin de son temps. Conventus Pliniani internationalis, Namneti  –  Oct.  habiti acta, hrsg.von Jackie Pigeaud und José Oroz Reta, Salamanca / Nantes  (Bibliotheca Salmaticensis Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 Von Plinius zu Isidor und Beda Venerabilis 57 andere Autoritäten wie Vergil ständig wörtlich herangezogen werden. Da aber Buch 2 der Naturalis historia weder von Solinus noch anderen – erhaltenen – Kompilatoren der Spätantike exzerpiert wurde, ist davon auszugehen, dass sich Isidor direkt an Plinius hielt, aber die Inhalte sehr frei und mit eigenen Worten verarbeitete. Auch zeigt die Zusammenstellung der entsprechenden Textstellen, dass die Abhandlung der ausgewählten Themen bei Isidor deutlich kürzer geworden ist, obschon auch die Etymologiae insgesamt ein monumentales Werk sind. Grando appellata quod forma eius granorum similitudinem habeat. Haec autem ventorum rigore durantur in nube, ac solidantur in nivem, ruptoque aere solvuntur. Nix a nube, unde venit; et glacies a gelu et aqua, quasi gelaquies, id est gelata aqua. Gelus autem quod eo stringatur tellus; γῆ quippe terra dicitur.Tunc autem maiori gelu stringitur terra, cum fuerit nox serena. Pruina est matutini temporis frigus, quae inde pruina nomen accepit quia sicut ignis urit; πῦρ enim ignis. Urere enim et ad frigus et ad solem pertinet; nam uno sermone duo diversa significantur, pro eo quod unum effectum habent. Similis enim vis est et caloris et frigoris, unde et utraque saxa rumpunt. […] Ros Graecum est, quod illi δρόσος dicunt. Alii putant ros dictum quia rarus est, et non spissus ut pluvia. Nebula inde dicta, unde et nubila, ab obnubendo scilicet, hoc est operiendo, terram, sive quod nubes volans faciat. Exhalant enim valles humidae nebulas et fiunt nubes; inde nubilum, inde nives. Nebulae autem ima petunt cum serenitas est; summa, cum nubilum.³⁸ Hagel (grando) wird genannt, was durch seine Form Ähnlichkeit mit Körnern hat. Dieser aber wird durch die Kälte des Windes in der Wolke gehärtet und zu Schnee gefestigt und durch das Reissen der Luft aufgelöst. Schnee (nix) ist nach nubes (Wolke) benannt, woher er auch kommt, und glacies (Eis) nach Frost (gelu) und Wasser (aqua) wie gelaquies³⁷ (kaltes Wasser), das ist gefrorenes Wasser. Gelu (Frost) aber [heisst so], weil durch dieses die Erde zusammengezogen wird (stringere). Γῆ heisst nämlich Erde. Die Erde wird aber dann von heftigerem Frost zusammengezogen, wenn die Nacht klar war. Reif (pruina) ist die frühmorgendliche Kälte, welche daher ihren Namen erhalten hat, dass sie wie das Feuer brennt. Πῦρ heisst nämlich Feuer. Urere (brennen) bezieht sich sowohl auf die Kälte als auch auf die Sonne. Denn mit einem Begriff werden zwei unterschiedliche Dinge bezeichnet, weil sie eine einzige Wirkung haben. Ähnlich ist nämlich die Kraft der Wärme und der Kälte, woher auch jedes von beiden Felsen zerspringen lässt. […] Tau (ros) ist griechisch, weil man in jener Sprache δρόσος (Tautropfen,Tau, Feuchtigkeit,Wasser) sagt. Andere glauben, ros sei so benannt, weil er rarus (selten, dünn) ist und nicht dicht wie Reif. Nebel (nebula) ist wie auch nubilia (trübes Wetter) natürlich von obnubere (verhüllen) benannt, d. h. von operire (bedecken), [nämlich] die Erde, oder weil er die Wolken (nubes) zum Fliegen (volare) bringt. Es atmen nämlich die feuchten Täler Nebel aus, und es entstehen Wolken. Daher nubilium (trübes Wetter), daher nives (Schnee). Nebel aber streben nach den Estudios ),  – , der aber auch ausführlich belegt, dass neben den sechs expliziten Zitaten mehr als  sprachlich eindeutige Anlehnungen an Plinius in den Etymologiae zu finden sind, etwa zu mineralogischen und metallurgischen Fragen (Plinius, Naturalis historia (Anm. ),  –  bzw. Isidor, Etymologiae (Anm. ), ).  Eine Wortschöpfung Isidors. Vgl. Müller (Anm. ), .  Isidor, Etymologiae (Anm. ), ,, – .  Übersetzung nach Isidor von Sevilla, Enzyklopädie, übers. von Müller (Anm. ),  – . Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 58 Christian Rohr untersten Stellen, wenn es klar ist, und nach den obersten, wenn das Wetter trüb ist.³⁹ An der Passage zu Hagel, Schnee, Eis und Reif wird noch deutlicher, dass Isidors Intention eine ganz andere war als die des Plinius in der Naturalis historia. In den Etymologiae steht die Herleitung der Begriffe im Vordergrund, wenn auch zum Teil auf der Basis völlig unkorrekter Volksetymologien,⁴⁰ und nicht die meteorologische Beschreibung des Phänomens. Gewiss, auch hier ist noch zu erkennen, dass bei der Auswahl der behandelten Themen Plinius Pate stand, aber das Ziel und das Ergebnis gehen in eine völlig andere Richtung. Viel enger ist die strukturelle Anlehnung an Buch 2 der Naturalis historia hingegen in Isidors Werk De natura rerum, das er zwischen 612 und 621 verfasste und dem Westgotenkönig Sisebut widmete. Nach einem einleitenden Teil über die Zeit – Tag, Nacht, Wochen, Monate, Jahre, Tag- und Nachtgleiche, Winter- und Sommersonnenwende sowie die Jahreszeiten⁴¹ – kommt er auf die „plinianischen“ Themen der Kosmologie zu sprechen: Er erwähnt unter Berufung auf klassisch-antike Autoritäten die fünf Erd- bzw. Klimazonen, die Teile des Himmels sowie die Planeten, Sonne, Mond und Sterne.⁴² Aber auch ein meteorologischer Teil ist enthalten,⁴³ der im Aufbau an Plinius angelehnt ist, aber seine Vorlage deutlich strafft:           De tonitruo De fulminibus De arcu De nubibus De pluviis De nive De grandine De natura ventorum De nominibus ventorum De signis tempestatum Vom Donner Vom Blitz Vom Regenbogen Von den Wolken Vom Regen Vom Schnee Vom Hagel Vom Wesen der Winde Von den Namen der Winde Von den Vorzeichen für Unwetter Schliesslich folgt ein Kapitel über Seuchen, weitere über die Meere und Flüsse und zuletzt über Erdbeben und Vulkanismus.⁴⁴ Das Kapitel zum Donner macht aber offenkundig, dass sich Isidor inhaltlich von Plinius löst und unter deutlicher Bezugnahme auf das Exameron des Ambrosius⁴⁵ eine „christliche“ Erörterung des Donners gegenüberstellt:  Vgl. zu den Etymologien in der zitierten Stelle Müller (Anm. ),  Anm.  –  und  Anm.  – .  Isidor von Sevilla, De natura rerum liber, hrsg. von Gustav Becker, Berlin  (ND Amsterdam ),  – .  Isidor, De natura rerum liber (Anm. ),  – .  Isidor, De natura rerum liber (Anm. ),  – .  Isidor, De natura rerum liber (Anm. ),  – .  Ambrosius, Exameron, hrsg. von Carl Schenkl, Prag / Wien / Leipzig  (CSEL ,), ,, zum Donner. Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 Von Plinius zu Isidor und Beda Venerabilis DE TONITRUO Tonitrua autem ex fragore nubium generantur. Concepti enim intra sinum nubium ventorum spiritus versantur ibidem, cumque vehementer sese erupturos eliserint et virtutis suae mobilitate in quamlibet partem eruperint, magno concrepant murmure et in morem exilientium de stabulis quadrigarum sonus fragoris eius ad aures nostras emittitur. Alias autem tonitruum vocis divinae superna est increpatio sive clara praedicatio sanctorum, quae clamore forti per totum orbem terrarum in auribus fidelium perstrepit, per quod possit culpam suam admonitus agnoscere mundus.⁴⁶ DE GRANDINE Simili quoque ratione grandinum coagulatio fit. Aquae enim nubium rigore ventorum stringuntur in glaciem adque [!] durescunt, de hinc glacies ipsa partim fragore ventorum comminuta in fragmina partim solis vapore soluta frustatim ad terras delabitur. Quod autem rotunda videtur, hoc solis calor facit et mora refrenantis aeris, dum per longum spatium a nubibus usque ad terras decurrit. Figuraliter namque grando perfidiae duritia est torpore malitiae frigida; nix autem homines increduli sunt frigidissimi et pigri et in infima torpore mentis depressi. ltem alio intellectu nives sunt homines dilectione frigentes, qui etiam etsi existant candidi puritate baptismatis, non fervent spiritu caritatis.⁴⁷ 59 Vom Donner Der Donner rührt von einem Krachen in den Wolken her. Denn die im Wolkenbausch eingeschlossenen Windstösse wenden sich ebendort, und wenn sie danach drängen, aus der Wolke auszubrechen bzw. durch ihre Schnelligkeit und Kraft in einen beliebigen Teil der Wolke ausbrechen, ertönen sie mit lautem Grollen und, wie wenn ein Viergespann seine Garage verlässt, wird das Getöse zu unseren Ohren getragen. In einem anderen Sinne aber ist der Donner auch mit dem himmlischen Erschallen der Stimme Gottes bzw. der herrlichen Verkündigung der Heiligen gleichbedeutend, die mit lautem Klang über den ganzen Erdenkreis zu den Ohren der Gläubigen dringt, wodurch die Welt ermahnt werden kann, ihre Schuld zu bekennen. Vom Hagel Auf ähnliche Weise aber [wie beim Schnee] kommt es auch zur Bildung des Hagels: Das Wasser in den Wolken wird nämlich durch die Kraft der Winde steif und gefriert zu Eis; danach wird das Eis selbst teils durch den tosenden Wind in Stücke zerkleinert, teils durch die Sonnenhitze aufgelöst und fällt körnchenweise zur Erde. Die runde Erscheinungsform kommt von der Sonnenwärme und vom Widerstand der sie abbremsenden Luft, weil der Hagel ja über eine weite Strecke von den Wolken bis zur Erde fällt. Bildlich gesprochen freilich steht der Hagel für Härte der Treulosigkeit, die kalt durch die Trägheit der Schlechtigkeit ist; der Schnee aber entspricht den ungläubigen Menschen, die überaus kalt, untätig und von tiefster Trägheit im Geist bedrückt sind. Ebenso entspricht nach anderer Interpretation der Schnee den Menschen, die in der Liebe erkältet sind, die zudem, wenn sie auch weiss durch die Reinheit der Taufe bleiben, nicht vom Geist der Nächstenliebe brennen. Es zeigt sich somit, dass die Rezeption des Plinius vor allem struktureller Natur ist, dass sich aber Isidor inhaltlich ganz offensichtlich scheut, sich direkt auf Plinius zu beziehen. Lieber zitiert er Autoritäten wie Lukrez und sprachlich erfolgt eine Anlehnung an Ambrosius. Der zweite Teil der Kapitel zum Donner und zum Hagel ist jeweils  Isidor, De natura rerum liber (Anm. ), .  Isidor, De natura rerum liber (Anm. ), . Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 60 Christian Rohr bildlich-exegetisch ausgerichtet und setzt sich somit deutlich von Plinius ab, ja das Werk macht den Eindruck einer „pastoralen Gegenwehr“⁴⁸ gegenüber Plinius. Die Rezeption der Naturalis historia bei Beda Venerabilis Der angelsächsische Gelehrte Beda Venerabilis fand im nordenglischen Doppelkloster Wearmouth und Jarrow wohl eine der besten Bibliotheken seiner Zeit vor. Dennoch ist davon auszugehen, dass er nur einen Teil der Naturalis historia im Volltext zur Verfügung hatte, darunter aber sicher Buch 2, das er ausgiebig für seine eigene naturkundliche Schrift De natura rerum exzerpierte.⁴⁹ Nach einem ersten kosmologischen Teil zu Himmel, Erde, Planeten, Kometen und verwandten Themen⁵⁰ folgen Ausführungen zu den Witterungserscheinungen⁵¹; beschlossen wird das Buch von Kapiteln zu Seuchen, Gewässern, Erdbeben und Vulkanismus.⁵² Der Aufbau der meteorologischen Teile der Schrift lehnt sich inhaltlich lose sowohl an Plinius als auch an Isidors De natura rerum an:             De aere De ventis Ordo ventorum De tonitruo De fulminibus Ubi non sint et quare De arcu De nubibus De imbribus De grandine De nive Signa tempestatum vel serenitatis Von der Luft Von den Winden Windrichtungen Vom Donner Von den Blitzen Wo es keine Blitze gibt und weshalb Vom Regenbogen Von den Wolken Vom Regen Vom Hagel Vom Schnee Vorzeichen für Unwetter und klares Wetter Schon an der Aufstellung der einzelnen Kapitel wird deutlich, dass sich Beda sowohl direkt auf Plinius als auch auf Isidor stützen konnte. Während die Kapitel 25 und 26 weitgehend an Isidor angelehnt sind, bauen insbesondere die Kapitel 29 – 32 und 34–  Borst, Das Buch der Naturgeschichte (Anm. ), .  Berno, Plinius d. Ä. (Anm. ),  sowie im Detail zu den Stellen, die Beda direkt aus Plinius zitierte, Karl Welzhofer, Beda’s Citate aus der Naturalis historia des Plinius, in: Abhandlungen aus dem Gebiet der klassischen Altertums-Wissenschaft. Wilhelm von Christ zum . Geburtstag dargebracht von seinen Schülern, München ,  – .  Beda Venerabilis, De natura rerum, hrsg. von Charles W. Jones, Turnhout  (CCSL  A),  – , ebenfalls zugänglich: hrsg. von Elisa Tinelli, Bari  (Biblioteca della Tradizione Classica ),  – .  Beda Venerabilis, De natura rerum (Anm. ),  – .  Beda Venerabilis, De natura rerum (Anm. ),  – . Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 Von Plinius zu Isidor und Beda Venerabilis 61 36 ausschliesslich oder vornehmlich auf Plinius auf. Kapitel 28 über den Donner bedient sich kaum bei Plinius, aber dafür fast wörtlich bei Isidors De natura rerum: ⁵³ De tonitruo Tonitrua dicunt ex fragore nubium generari, cum et spiritus ventorum earum sinu concepti, sese ibidem versando pererrantes et virtutis suae mobilitate in quamlibet partem violenter erumpentes, magno concrepant murmure instar exilentium de stabulis quadrigarum, vel vesicae quae licet parva, magnum tamen sonitum displosa emittit.⁵⁴ Vom Donner Man sagt, dass der Donner von einem Krachen in den Wolken herrührt. Wenn sich die im Wolkenbausch eingeschlossenen Windstösse ebendort hin- und herwenden und durch ihre Schnelligkeit und Kraft in einen beliebigen Teil der Wolke ausbrechen, ertönen sie mit lautem Grollen, wie wenn ein Viergespann seine Garage verlässt, oder wie ein Bläschen, das, wenn auch noch so klein, dennoch einen lauten Knall bei der Explosion von sich gibt. Zur Ursache des Donners heisst es bei Isidor tonitrua autem ex fragore nubium generantur, was Beda nur unwesentlich zu tonitrua dicunt ex fragore nubium generari variiert. Ebenso sind die Formulierungen zum spiritus ventorum und concepti intra sinum (Isidor)/sinu concepti (Beda) eindeutig aufeinander bezogen. Auch der bildliche Vergleich magno concrepant murmure et in morem exilentium de stabulis quadrigarum sonus … emittitur (Isidor) bleibt mit magno concrepant murmure instar exilentium de stabulis quadrigarum … sonitum … emittit (Beda Venerabilis) inhaltlich und sprachlich praktisch unverändert. Jedoch wird der zweite Abschnitt des Kapitels bei Isidor mit den religiösen Deutungen von Beda zur Gänze ausgespart. Anders verhält sich die Frage nach der sprachlichen und inhaltlichen Abhängigkeit bei Bedas Hagel-Kapitel: De grandine Grandinis lapilli ex stillis pluviae, frigoris et venti rigore conglaciati in aere coagulantur. Sed citius nive solvuntur, et interdiu saepius quam noctu decidunt.⁵⁵ Vom Hagel Hagelkörner entstehen aus Regentropfen; sie vereisen durch die Kraft der Kälte und des Windes und bilden sich somit in der Luft. Freilich schmelzen sie schneller als der Schnee und sie fallen auch häufiger am Tag als in der Nacht. Es wird deutlich, dass sich Beda auf die rein naturkundlichen Erläuterungen des Plinius bezieht und die religiöse Deutung bei Isidor erneut ganz bewusst weglässt. Um die genauen sprachlichen Abhängigkeiten der Texte voneinander zu verdeutlichen, seien im Folgenden die entsprechenden Ausführungen zum Hagel nochmals gegenübergestellt.  Beda Venerabilis, De natura rerum (Anm. ), .  Beda Venerabilis, De natura rerum (Anm. ), .  Beda Venerabilis, De natura rerum (Anm. ), . Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 62 Christian Rohr Plinius, Naturalis historia , grandinem conglaciato imbre gigni et nivem eodem umore mollius coacto, pruinam autem ex rore gelido; per hiemem nives cadere, non grandines, ipsasque grandines interdiu saepius quam noctu, et multo celerius resolvi quam nives. Isidor, De natura rerum  Simili quoque ratione grandinum coagulatio fit. Aquae enim nubium rigore ventorum stringuntur in glaciem adque [!] durescunt, de hinc glacies ipsa partim fragore ventorum comminuta in fragmina partim solis vapore soluta frustatim ad terras delabitur. Quod autem rotunda videtur, hoc solis calor facit et mora refrenantis aeris, dum per longum spatium a nubibus usque ad terras decurrit. Beda, De natura rerum  Grandinis lapilli ex stillis pluviae, frigoris et venti rigore conglaciati in aere coagulantur. Sed citius nive solvuntur, et interdiu saepius quam noctu decidunt. Der ausführlichste Text zum Hagel stammt somit von Isidor und ist zwar inhaltlich nicht weit von Plinius entfernt, aber vollkommen eigenständig formuliert. Eine „Verdichtung“ ist somit nicht zu konstatieren; dieses Attribut trifft am ehesten noch auf Beda zu, der von der Wortwahl und von den Inhalten ganz eindeutig eher Plinius folgt (conglaciato/conglaciati, celerius resolvi quam nive/citius nive solvuntur, interdiu saepius quam noctu), aber wohl auch Isidors Darstellung vorliegen hatte (coagulatio/ coagulantur). Eine substanzielle Wissensreduktion zum Thema Hagel ist allerdings für den frühmittelalterlichen Autor Beda nicht zu konstatieren. Deutlich stärker gekürzt wurde allerdings der Abschnitt zum Donner. Hier bezieht sich Beda kaum auf die zum Teil schwer nachvollziehbaren plinianischen Erklärungsversuche und folgt nur der kürzeren Darstellung in Isidors De natura rerum. Ausblick: Das Weiterleben plinianischen Gedankenguts im Hoch- und Spätmittelalter Es würde den Rahmen dieses Beitrags bei weitem sprengen, das Nachwirken von meteorologischem Wissen aus der Naturalis historia des Plinius noch in die Karolingerzeit sowie ins Hoch- und Spätmittelalter fortzuführen, auch wenn dadurch unter Umständen ein differenzierteres Bild der Übernahme möglich wäre, als es die allgemeinen Darstellungen von Chibnall, Borst oder Berno gestatten.⁵⁶ Da aber die hier behandelten Werke von Plinius, Isidor und Beda Venerabilis bis ins Spätmittelalter als wesentliche Autoritäten galten, sodass es zum Teil auch zu expliziten Erwähnungen  Chibnall, Pliny’s Natural History (Anm. ); Borst, Das Buch der Naturgeschichte (Anm. ); Berno, Plinius d. Ä. (Anm. ). Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 Von Plinius zu Isidor und Beda Venerabilis 63 als Quelle kam, sollen gleichsam als Ausblick einige wichtige Stationen der Rezeptionsgeschichte im 12. bis 14. Jahrhundert hier aufgezeigt werden.⁵⁷ Im frühen 12. Jahrhundert verfasste der Benediktiner Honorius von Autun ein ausführliches naturkundliches Kompendium mit dem Titel De imagine mundi (1110 – 1139). Ein Blick auf seine Beschreibung des Hagels zeigt, dass er sich sprachlich vor allem auf Bedas Plinius-Rezeption stützt;⁵⁸ ob er die Naturalis historia des Plinius direkt kannte, kann auch aus anderen Stellen des Werkes nicht restlos erschlossen werden, seine Bezüge auf Plinius sind wohl Übernahmen aus dem Werk des Iren Johannes Scottus Eriugena aus dem 9. Jahrhundert.⁵⁹ Das 13. Jahrhundert kann allgemein als eine Zeit der Hochblüte für das Entstehen von Naturenzyklopädien bezeichnet werden. Dabei spielte es eine massgebliche Rolle, dass mit der Scholastik neu auch das Wissen auf der Basis der naturkundlichen Schriften des Aristoteles Verbreitung in den gebildeten Kreisen fand. Thomas von Cantimpré vollendete um 1241 sein Hauptwerk De natura rerum; es ist eine der vier wichtigsten Naturenzyklopädien der Zeit – neben De proprietatibus rerum des Bartholomaeus Anglicus (um 1240), dem Speculum naturale des Vinzenz von Beauvais (um 1256/59) und der Historia naturalis des Juan Gil de Zamora (um 1275/1295).⁶⁰ Thomas von Cantimpré ist für zwei Fassungen seiner Naturenzyklopädie verantwortlich, eine etwas kürzere (Thomas I) und eine erweiterte (Thomas II), wobei für die längere Fassung zusätzliche Details sowie ein neues Kapitel über die Bewegung der Sterne eingefügt wurden. Als wichtigste Quellen nennt Thomas in seinem Prolog insbesondere Aristoteles, Plinius, Solinus und Isidor.⁶¹ Dass diese Enzyklopädie im Mittelalter weit verbreitet war und auch entsprechende Nachwirkung hatte, beweisen nicht nur die über 100 Handschriften zu den Versionen Thomas I und Thomas II, sondern auch der Umstand, dass selbst sein Lehrer Albertus Magnus fünf Bücher von  Zur Weitergabe des Wissens über Hagel von Honorius von Autun bis Konrad von Megenberg vgl. Christian Rohr, Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit, Köln / Weimar / Wien  (Umwelthistorische Forschungen ), .  Honorius von Autun, De imagine mundi, hrsg. von Valerie I. J. Flint, in: Archives d’histoire doctrinale et littérature du moyen âge  (), ,: Quid grando sit. Stillae pluviae ventis et frigore congelatae in aere coagulantur, et in lapillos grandinis mutantur. Auch der kurze Abschnitt zu Donner und Blitz (De imagine mundi ,) folgt inhaltlich vor allem Beda als Autorität.  Vgl. dazu im Detail Borst, Das Buch der Naturgeschichte (Anm. ),  – .  Traude-Marie Nischik, Das volkssprachliche Naturbuch im späten Mittelalter. Sachkunde und Dinginterpretation bei Jacob von Maerlant und Konrad von Megenberg, Tübingen  (Hermaea, N.F. ), ; Benedikt Konrad Vollmann, Thomas von Cantimpré und Konrad von Megenberg, in: Konrad von Megenberg ( – ): ein spätmittelalterlicher ‚Enzyklopädist’ im europäischen Kontext, hrsg. von Edith Feistner, Wiesbaden  (Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft ),  – , hier .  Thomas von Cantimpré, Liber de natura rerum, hsrsg. von Hermann Boese, Berlin / New York , prologus. Daneben werden auch noch Ambrosius, Basilius, Jakob von Vitry ( – ), der Physiologus, Palladius sowie die Mediziner Galen und Matthaeus de Platea (gest. ) genannt. Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 64 Christian Rohr De animalibus ⁶² auf der Basis von Thomas von Cantimpré verfasste und zudem Vinzenz von Beauvais die Thomas’sche Enzyklopädie exzerpierte. Ausserdem wurde das Werk um 1250, also noch zu Lebzeiten von Thomas von Cantimpré, durch einen namentlich unbekannten Autor überarbeitet und in vielen Teilen gestrafft, an manchen Stellen aber auch erweitert. Diese Version Thomas III machte vom Umfang her etwa 45 Prozent von Thomas I/II aus; sie wurde später zu einer der Hauptvorlagen für Konrad von Megenbergs Buch der Natur. ⁶³ Ausführlich geht Thomas auf Witterungsphänomene wie den Hagel ein, wobei dieser in ein System von sieben Regionen oder Feuchtigkeitszuständen der Luft (septem regiones sive septem humores aeris) eingegliedert wird. Als Quelle für diese Kategorisierung werden die Meteora des Aristoteles angegeben, dem Thomas aus Gründen der Kürze allerdings compendiosius folgt.⁶⁴ Trotz dieser selbst verordneten Kürze verfasste Thomas ein ausführliches Kapitel zum Hagel, das zwar auf der Definition des philosophus (Aristoteles) aufbaut, dann aber sprachlich wieder erstaunlich nahe an Plinius und Beda ausgestaltet ist. Gänzlich neu ist hingegen der Bezug zu aktuellen Ereignissen: Chroniken würden immer wieder von schweren Hagelgewittern und riesigen Hagelkörnern berichten, die nicht nur Vögel und kleinere Landtiere, sondern auch Grossvieh und Menschen erschlagen hätten.⁶⁵  Albertus Magnus, De animalibus libri XXVI,  Bände, hrsg. von Hermann Stadler, Münster  –  (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalter  – ), Bd. ,  – .  Vollmann, Thomas von Cantimpré und Konrad von Megenberg (Anm. ),  – . Allgemein zum Wesen der Naturenzyklopädie von Thomas von Cantimpré vgl. Benedikt Konrad Vollmann, Enzyklopädie im Wandel: Thomas von Cantimpré, De natura rerum, in: Die Enzyklopädie im Wandel vom Hochmittelalter bis zur frühen Neuzeit, hrsg. von Christel Meier, München  (Akten des Kolloquiums des Projekts D im Sonderforschungsbereich , . – ..),  – .  Thomas von Cantimpré, Liber de natura rerum (Anm. ), ,: De quibusdam istorum humorum in libro Metheororum Aristotiles diffusius et habundantius scripsit, que quidem brevitatis causa compendiosius exequemur.  Thomas von Cantimpré, Liber de natura rerum (Anm. ), ,: De grandine. Grandinis regio tertia est. Grandinem quidem Philosophus ita diffinit: Stille, inquit, pluvie ventis et frigore superioris aeris conglaciate in aere coagulantur et in lapillos grandinis permutantur, qui utique corpus spericum habere probantur propter circumactionem volubilitatis, qua de aere violentius impelluntur. Grando aliquando pisarum vel fabarum aut etiam nucis avellane magnitudinem prefert. Que, si de superiori regione dilabitur et eius materiam, stillas pluvie, condensatim aer fuderit, conglobate multe gutte in unicas grandines, tunc grando excedit solitam quantitatem et fit pestis valida frugum et volucrum. Narrant annales et cronica temporum multotiens grandines tante magnitudinis cecidisse, ut non solum volucres et minora animalia, sed etiam bestias et homines extra tecta positos conquassarent. Grando turbida magis est quam in terra glacies congelata; et hec ratio, quia de minima gutta primitus coagulata paulative adicitur descendenti fitque de multis partibus, quod utique non sic de glacie, que ex continua aque materia concrescit per gelu. Grando multum infrigidat aerem, unde quandocumque in vere et autumpno de celo grando ceciderit, tunc periculum imminet pestis in frugibus dire gelideque pruine. Et hoc raro fallitur, nisi immediate post grandinem sol calidior aerem terramque lustraverit. Grando si media estate circa solstitium estivale ceciderit, signum est, in superiori aeris regione frigus esse permaximum et, nisi pars inferior aeris solis radiis calefacta grandinem liquefaceret descendentem, in immensam quantitatem moles faceret monstruosas. At quoniam tunc simul et semel sunt opposita frigoris et caloris, morbos generari tunc facillime Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 Von Plinius zu Isidor und Beda Venerabilis 65 Umfangreich ist auch das Kapitel zu Donner und Blitz: Als Autoritäten werden dabei nicht nur die philosophi (also u. a. Aristoteles) angegeben, sondern insbesondere auch Plinius, der allein in diesem Kapitel dreifach genannt ist. Ebenso wird aber auch aus dem entsprechenden Kapitel bei Isidor zitiert und dieser explizit als Autor genannt. Was nach der Ankündigung des Zitats folgt, ist in unserem rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhang bemerkenswert: Thomas zitiert nicht wörtlich, sondern gibt eine Paraphrasierung mit zum Teil eigenen Worten, die auf Inhalten sowohl aus Isidors De natura rerum als auch aus den Etymologiae aufbaut – und ein Satz ist fast wortwörtlich aus Bedas De natura rerum übernommen!⁶⁶ Vom Umfang her beginnt mit den Naturenzyklopädien des 13. Jahrhunderts ein Gegentrend zur Verdichtung, gleichsam eine amplificatio, indem sowohl die Aristoteles- als auch die Plinius-Tradition referiert werden und mit zeitgenössischen Bezügen verbunden werden. Den Endpunkt dieses Ausblicks bildet schliesslich Konrad von Megenberg mit seinem weit verbreiteten Buch der Natur (1349), der oft als „erste Naturgeschichte in deutscher Sprache“ titulierten Adaption scholastisch orientierter Enzyklopädien. Mit seiner fast volkstümlichen Sprache und durch viele Beispiele gelang es ihm, aristotelisch und plinianisch geprägtes Wissen einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln, was sich auch in einer sehr grossen Zahl an Handschriften sowie Übersetzungen niederschlug.⁶⁷ Inhaltlich orientierte sich Konrad von Megenberg in erster Linie an Albertus Magnus⁶⁸ und Thomas von Cantimpré (in der Kurzversion Thomas III)⁶⁹, verkürzte aber deren Darstellungen wieder, um die Lesbarkeit zu erleichtern. Sein Kapitel über den Hagel ist daher nicht einmal halb so lang wie das bei Thomas von Cantimpré – und Albertus Magnus widmet in seinen Meteora dem Thema Hagel gar comprobantur. Remedium autem tunc precipuum est includi tectis et domibus et hominem tueri calidis mutationemque fieri aeris circa se et focum accendi.  Thomas von Cantimpré, Liber de natura rerum (Anm. ), ,: De tonitruo quidem Ysidorus dicit: Tonitrus interdum graviter concutit omnia, quia, cum procella vehementissimi venti nubibus se repente miscuerit, turbine invalescente exitumque querente, nubem quam excavabat impetu magno rescindit ac sic cum horrendo fragore defertur ad aures. Quod mirari quis non debet, cum vesica quamvis parva magnum tamen sonitum displosa emittit. Der letzte Satz entspricht fast wörtlich Beda Venerabilis, De natura rerum (Anm. ), : … vel vesicae quae licet parva, magnum tamen sonitum displosa emittit.  Zur handschriftlichen Verbreitung des Buchs der Natur vgl. ausführlich Gerold Hayer, Konrad von Megenberg, „Das Buch der Natur“. Untersuchungen zu seiner Text- und Überlieferungsgeschichte, Tübingen  (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters ), sowie für einen ersten Überblick Claudia Märtl, Gisela Drossbach und Martin Kintzinger (Hrsg.), Konrad von Megenberg ( – ) und sein Werk. Das Wissen der Zeit, München  (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft ), XXIV-XXX.  Zu Konrads Albertus Magnus-Rezeption in Bezug auf das aristotelische Konzept der Luftregionen und zur Meteorologie allgemein vgl. ausführlich Dagmar Gottschall, Konrad von Megenbergs Buch von den natürlichen Dingen. Ein Dokument deutschprachiger Albertus-Magnus-Rezeption im . Jahrhundert, Leiden / Boston  (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters ),  – .  Zur Abhängigkeit Konrads von Megenberg von der gekürzten Fassung Thomas III vgl. im Detail Vollmann, Thomas von Cantimpré und Konrad von Megenberg (Anm. ),  – . Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 66 Christian Rohr fünf Kapitel⁷⁰. Konrad meint zum Ursprung des Hagels, dass es sich dabei um Regentropfen handle, die durch eine kalte Luftschicht dringen und dann gefrieren. Sie hätten daher oft, wie der Schnee im Winter, die Form von Kristallen.⁷¹ Auf ähnliche Weise baut auch das Kapitel Konrads über Donner und Blitz auf Albertus Magnus und Thomas von Cantimpré auf, verkürzt diese Autoritäten aber ebenso radikal.⁷² Fazit Die Untersuchung von Berichten zu ausgewählten Witterungserscheinungen (Donner und Hagel) hat gezeigt, dass die Rezeption der Naturalis historia des Plinius durchaus komplex verlief und nicht rein unter dem Aspekt der Verdichtung betrachtet werden kann. Da sich C. Iulius Solinus, so wie auch andere Kompilatoren der Spätantike, jeweils nur auf bestimmte Aspekte konzentrierte – in diesem Fall auf merkwürdige oder wunderbare Begebenheiten und Erscheinungen –, fanden so profane Inhalte wie Erklärungen zu Witterungsphänomenen dort keine Aufnahme. Somit müssen sowohl Isidor als auch Beda Venerabilis direkt Kenntnis von Buch 2 der Naturalis historia gehabt haben. Die Abschnitte in Isidors Etymologiae haben ein völlig anderes Erkenntnisinteresse als die naturkundlichen Werke vor und nach ihm, doch ist trotz einer auffallend distanzierten Bezugnahme zu erkennen, dass sich Isidor vom Aufbau und teilweise auch vom Inhalt her doch an Plinius orientierte. Näher ist der inhaltliche Bezug in Isidors De natura rerum, doch auch hier werden zu nahe sprachliche Anklänge aus „pastoraler Gegenwehr“ offenbar bewusst vermieden. Ein zusätzlich exegetisch-moralisierender Teil der einzelnen Kapitel zu Donner und Hagel steht in der Tradition des Exameron des Ambrosius.  Albertus Magnus, Meteora, hrsg. von Paul Hossfeld, Münster  (Alberti Magni Opera Omina ,), ,, – : De loco, ubi generatur grando / De tempore generationis grandinis, ex quo etiam scitur, quare saepius fit in locis calidis quam frigidis / Et est digressio docens materiam grandinis / Et est digressio declarans de causa efficiente grandinis / De figura grandinis.  Konrad von Megenberg, Buch der Natur, hrsg.von Robert Luff und Georg Steer, Bd. : Kritischer Text nach den Handschriften, Tübingen  (Texte und Textgeschichte ), , : Von dem schawr: Der schaur haizzt in anderr daͤutsch der hagel, vnd chuͤmt da von, daz der wazzrig dunst dez ersten sich entsliuzt in regentropfen ain ainer niht vͤbrig chalter stat in dem luft, da der regen wirt, und die tropfen darnach vallent durch ain gar chalt stat, da die hitz in dem sumer die chelten ze samen hat getriben, wan die selb vͤbrig chelten verchert die tropfen in eys, reht als sie daz wazzer tuͦt hie in den winter zeiten. Dar umb sint des schaurn choͤrner gestalt sam die christallen vnd sint sinbel darvmb, daz sie sich sleifent durch den luft her ab zuͦ allen enden.  Konrad von Megenberg, Buch der Natur (Anm. ), , (Von dem doner vnd von dem plitzen) nach Albertus Magnus, Meteora (Anm. ), ,, (De causa tonitrui et fulguris secundum sententiam Aristotelis et de diversitate sonorum tonitrui) sowie ,, –  bzw. Thomas von Cantimpré, De natura rerum (Anm. ), , (De tonitruo). Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48 Von Plinius zu Isidor und Beda Venerabilis 67 Beda bedient sich in seinem Werk De natura rerum sowohl bei Plinius selbst als auch bei Isidors De natura rerum, wobei die Bezugnahme in die eine oder andere Richtung je nach Kapitel variiert. Die moralisierenden Teile Isidors werden aber konsequent weggelassen. Vom Umfang her ist Beda um Kürze bemüht und verdichtet somit seine Vorlagen. Auch für die Blütezeit naturkundlicher Enzyklopädien und Kompendien blieben Plinius, Isidor und Beda Autoritäten, auf die explizit oder sprachlich Bezug genommen wurde, obwohl mit der Scholastik die Werke des Aristoteles im Westen wiederentdeckt wurden. Autoren wie Honorius von Autun oder Thomas von Cantimpré hatten mit Sicherheit direkten Zugriff auf alle drei Autoren, ja Letzterer führte sie prominent in seinem Prolog zu De rerum natura als Hauptquellen neben Aristoteles an. Durch die Heranziehung sowohl der Aristoteles- als auch der Plinius-Tradition wurde die allmähliche Verdichtung der Inhalte, wie dies noch bei Beda zu konstatieren war, in eine gegenteilige Richtung geführt: die Naturkundebücher des Spätmittelalters, ob Thomas von Cantimpré oder das mittelhochdeutsche Buch der Natur Konrads von Megenberg, übertreffen die spätantiken und frühmittelalterlichen Werke deutlich an Umfang. Die Naturalis historia selbst blieb aber auch als Gesamtwerk im Mittelalter in zahlreichen Abschriften erhalten, sodass im Gegensatz zum immer noch weit verbreiteten Klischee, das antike Wissen sei im Mittelalter verloren gegangen, zumindest auf Plinius bezogen, das Gegenteil der Fall ist.⁷³  Zum Mythos des Verlusts naturkundlichen Wissens vgl. zuletzt am Beispiel der Kenntnis von der Kugelgestalt der Erde Christian Rohr, Die Welt als Scheibe oder Kugel? Zum Wissen von der Kugelgestalt der Erde im Mittelalter, in: Welterfahrung und Welterschließung in Mittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. von Anna Kathrin Bleuler, Heidelberg  (Interdisziplinäre Beiträge zu Mittelalter und Früher Neuzeit ),  – . Bereitgestellt von | Universitätsbibliothek Bern Angemeldet Heruntergeladen am | 02.03.17 18:48