Exzerpieren – Kompilieren – Tradieren
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Millennium-Studien
zu Kultur und Geschichte
des ersten Jahrtausends n. Chr.
Millennium Studies
in the culture and history
of the first millennium C.E.
Herausgegeben von / Edited by
Wolfram Brandes, Alexander Demandt,
Helmut Krasser, Hartmut Leppin,
Peter von Möllendorff, Karla Pollmann
Volume 64
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Exzerpieren –
Kompilieren –
Tradieren
Transformationen des Wissens
zwischen Spätantike und Frühmittelalter
Herausgegeben von
Stephan Dusil, Gerald Schwedler
und Raphael Schwitter
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ISBN 978-3-11-050126-1
e-ISBN (PDF) 978-3-11-051634-0
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-051508-4
ISSN 1862-1139
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Inhalt
Vorwort
V
Stephan Dusil, Gerald Schwedler, Raphael Schwitter
Transformationen des Wissens zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Zur
Einführung
1
Exzerpieren
Marietta Horster
Livius-Epitome: ein spätantiker Blick auf die (kurzgefasste) römische
25
Republik
Christian Rohr
Von Plinius zu Isidor und Beda Venerabilis. Zur Übernahme antiken Wissens über
Witterungsphänomene im Mittelalter
49
Kompilieren
Inge Kroppenberg
Codex Theodosianus revisited – Plädoyer für eine Geschichte der juridischen
Form
71
Carmen Cardelle de Hartmann
Wissensorganisation und Wissensvermittlung im ersten Teil von Isidors
Etymologiae (Bücher I–X)
85
Hans-Georg Hermann
Verformung, Verdrängung und Verlust von Rechtswissen in den Leges
105
Mayke de Jong
The Resources of the Past: Paschasius Radbertus and his Epitaphium
Arsenii
131
Annina Seiler
Untangling the strands: The spelling of the Épinal glossary
153
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VIII
Inhalt
Tradieren
Julian Führer
Verbrannte Steuerliste oder zerstörte Verwaltung? Zum Umgang mit
Verwaltungswissen im merowingischen Frankenreich
177
Ian Wood
The Problem of Late Merovingian Culture
199
Karl Ubl
Eine Verdichtung der Lex Salica. Die Septinas septem der Handschrift Paris, BN,
lat. 4411
223
Peter Stotz
Hohe Weltgeschichte für langobardische Krieger. Verdichtung und Vereinfachung
von Texten in der Handschrift Bamberg Hist. 3
245
Andreas Thier
Aus Altem ein Neues – Versuch eines Schlusswortes
249
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Christian Rohr
Von Plinius zu Isidor und Beda Venerabilis
Zur Übernahme antiken Wissens über Witterungsphänomene im
Mittelalter
Abstract: This paper contributes to the study of the literary reception of Pliny’s monumental Naturalis historia by analysing in how far later authors, like Isidore of Seville
or the Venerable Bede, incorporated meteorological phenomena described in book II
of the Naturalis historia into their own works. The paper concludes with an outlook on
the encyclopaedists of the 12th and 13th century.
Einleitung
Die Naturalis historia des C. Plinius Caecilius Secundus maior (23/24– 79 n.Chr.) ist
eines der wenigen monumentalen Werke aus der römischen Antike, das durch die
Jahrhunderte vollständig in insgesamt 37 Büchern überliefert ist. Diese umfangreichste erhaltene Enzyklopädie antiken Wissens lässt somit einen detaillierten Einblick in das Wissen der Römerzeit zu, der alle Bereiche der damaligen Wissenschaft
umfasst: von der Kosmologie und Astronomie über die Meteorologie und Geologie zur
Geographie und Ethnologie der Erde, von der Anthropologie und Physiologie über die
Zoologie und Botanik bis hin zur Landwirtschaft, Pharmakologie, Metallurgie und
Mineralogie. Mehr als 200 mittelalterliche Handschriften zeugen bis heute davon, dass
das von Plinius zusammengetragene Wissen auch nach der Spätantike vielerorts zugänglich war.¹
Die Nachwirkung des Werkes war enorm: Schon Zeitgenossen wie der Satiriker
Martial zitierten daraus und auch christliche Autoren hatten keinerlei Scheu, sich
immer wieder auf Plinius zu beziehen, von Minucius Felix über Augustinus bis hin zur
Martianus Capella.² Aufgrund des enormen Umfangs wurden aber schon in der
Spätantike Exzerpte und Kompilationen verfasst, die sich Teilaspekten widmeten.
Besonders wichtig wurden dabei die Collectanea rerum memorabilium des C. Iulius
Solinus aus dem 3./4. Jahrhundert, eine Sammlung von aussergewöhnlichen Merk-
Vgl. Leighton D. Reynolds, The Elder Pliny, in: Texts and Transmission. A survey of Latin Classics,
hrsg. von Leighton D. Reynolds, Oxford , – ; Francesca Romana Berno, Plinius d. Ä.
(Gaius Plinius Caecilius Secundus maior). Naturalis Historia, in: Die Rezeption der antiken Literatur.
Kulturhistorisches Werklexikon (Der Neue Pauly), Supplemente , hrsg. von Christine Walde, Stuttgart Weimar , – , hier .
Vgl. dazu im Detail Berno, Plinius d. Ä. (Anm. ), – .
DOI 10.1515/9783110516340-004
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50
Christian Rohr
würdigkeiten, insbesondere aus den Büchern über die Geographie³, Anthropologie⁴,
Zoologie⁵, Botanik⁶ und Mineralogie⁷. Daneben fasste die anonym überlieferte Kompilation der Medicina Plinii aus dem 4. Jahrhundert⁸ vornehmlich die medizinischen
und pharmakologischen Bücher⁹ zusammen. Besonders Solinus war auch im Mittelalter weit verbreitet, sodass heute nicht immer klar erkennbar ist, ob die Rezeption
über das Gesamtwerk des Plinius oder über die Collectanea erfolgte.¹⁰
Es liegt daher nahe, anhand der Rezeption der Naturalis historia des älteren Plinius danach zu fragen, wie das bei ihm überlieferte Wissen im Laufe der Spätantike
und im Mittelalter variiert und verdichtet wurde, in welcher Form es behalten und
umgestaltet wurde, wie es durch andere Wissensstränge ergänzt wurde und wie explizit oder rein sprachlich auf Plinius als unumstössliche Autorität Bezug genommen
wurde.
Die Forschung zur Plinius-Rezeption konzentrierte sich erstens darauf, die
wichtigsten Entwicklungslinien aufzuzeigen, blieb dabei aber oft auf einer allgemeinen Ebene. Hervorzuheben sind die ausführlichen Darstellungen von Marjorie Chibnall, Arno Borst sowie zuletzt Aude Doody und Francesca Romana Berno, die jeweils
auch den Forschungsstand ausführlich wiedergeben.¹¹ Auch Handbücher zur Wissensgeschichte des Mittelalters gehen in der Regel wenig in die Tiefe, was das genaue
Ausmass und die Form der Rezeption betrifft.¹² Zweitens existieren zahlreiche Studien
zu Einzelaspekten, in denen vor allem gefragt wurde, woher das Wissen eines mittelalterlichen Autors zu einem bestimmten Thema stammte; häufig führte dabei der
Weg zurück zum älteren Plinius, was dann entsprechend auch mit Textvergleichen zu
belegen versucht wurde.¹³ Drittens wurde auch die Überlieferungsgeschichte im Sinne
der Verbreitung der Handschriften sowohl zur Naturalis historia selbst als auch zu den
C. Plinius Secundus Maior, Naturalis historia, Bände, hrsg. von Karl Mayhoff, Leipzig (ND
Stuttgart ), – .
Plinius, Naturalis historia (Anm. ), .
Plinius, Naturalis historia (Anm. ), – .
Plinius, Naturalis historia (Anm. ), – .
Plinius, Naturalis historia (Anm. ), .
Vgl. dazu besonders Aude Doody, Pliny’s Encyclopedia. The Reception of the Natural History,
Cambridge , – .
Plinius, Naturalis historia (Anm. ), – .
Berno, Plinius d. Ä. (Anm. ), – .
Marjorie Chibnall, Pliny’s Natural History and the Middle Ages, in: Empire and Aftermath. Silver
Latin II (Greek and Latin Studies. Classical literature and its Influence), hrsg. von Thomas A. Dorey,
London / Boston , – ; Arno Borst, Das Buch der Naturgeschichte. Plinius und seine Leser im
Zeitalter des Pergaments, Heidelberg (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse , ); Doody, Pliny’s Encyclopedia (Anm. ); Berno,
Plinius d. Ä. (Anm. ).
So etwa bei Otto Mazal, Geschichte der abendländischen Wissenschaft des Mittelalters, Bände,
Graz , Bd. , und Bd. , und .
Vgl. dazu die ausführliche Bibliographie bei Berno, Plinius d. Ä. (Anm. ), – mit zahlreichen Beispielen bis hin zum Wissen über den Gesang des Kuckucks oder über Smaragde.
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Von Plinius zu Isidor und Beda Venerabilis
51
Kompilationen genau aufgearbeitet.¹⁴ Der Aspekt der Verdichtung und Variierung
plinianischen Wissens wurde jedoch nur ansatzweise behandelt, ja im neuesten,
umfangreichen Sammelband „Condensing Texts – Condensed Texts“ zur Verdichtung
antiker Texte wird auf Plinius gerade zweimal kurz und nichtssagend Bezug genommen.¹⁵
Im Folgenden soll daher der Versuch unternommen werden, insbesondere auf die
Aspekte der Wissensverdichtung und Wissensvariierung einzugehen, indem anhand
des Wissens über Witterungsphänomene überprüft wird, wie mit den Erkenntnissen
aus Plinius umgegangen wird. Dieser Themenkomplex wird in Buch 2 der Naturalis
historia ausführlich erwähnt, also einem Buch, das von Solinus nur am Rande exzerpiert wurde, sodass davon auszugehen ist, dass das jeweilige Wissen jeweils direkt
aus Plinius oder von den auf Plinius aufbauenden mittelalterlichen Vorbildern
stammt. Am Beginn der Kapitel wird zunächst kurz summarisch angegeben, welche
Witterungsphänomene insgesamt in den einzelnen Werken Beachtung finden und wie
konkret die Themen Hagel und Donner abgehandelt werden. Der Bogen spannt sich
dabei über die Enzyklopädie Etymologiae (Origines) des Isidor von Sevilla sowie dessen
Schrift De natura rerum bis zum gleichnamigen De natura rerum des Beda Venerabilis.
Ein kursorischer Ausblick wird schliesslich bis zu den Enzyklopädisten des 12. und
13. Jahrhunderts sowie zum Buch der Natur Konrads von Megenberg, der ersten umfangreichen Naturkunde in deutscher Sprache, gerichtet.
Witterungsphänomene in der Naturalis historia
des älteren Plinius
Plinius widmet der Kosmologie sowie der Erklärung von Witterungsphänomenen das
gesamte zweite Buch, wobei er sich in einem ersten ausführlichen Teil mit dem Wesen
der Welt und ihrer Gestalt, der Natur und Bewegung der Planeten, mit Sonnen- und
Mondfinsternissen, Kometen und anderen Himmelserscheinungen bis hin zu musikalischen und geometrischen Betrachtungen über die Welt auseinandersetzt.¹⁶ Nach
einem Abschnitt über die Witterung,¹⁷ auf den unten detaillierter eingegangen wird,
folgt eine allgemeine Abhandlung zur Beschaffenheit der Erde,¹⁸ etwa über den
Vgl. etwa Reynolds, The Elder Pliny (Anm. ); Birger Munk Olsen, C. Plinius Secundus, in: L’étude
des auteurs classiques latins aux XIe en XIIe siècles, Bände, hrsg. von Birger Munk Olsen, Paris ,
, , hier Band , – . Zur handschriftlichen Verbreitung der Collectanea des Solinus vgl.
Mary E. Milham, A Handlist of the Manuscripts of C. Julius Solinus, in: Scriptorium (), –
.
Marietta Horster, Christiane Reitz (Hrsg.), Condensing Texts – Condensed Texts, Stuttgart
(Palingenesia ), und .
Plinius, Naturalis historia (Anm. ), , – .
Plinius, Naturalis historia (Anm. ), , – .
Plinius, Naturalis historia (Anm. ), , – .
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Christian Rohr
Wasserkreislauf, über die bewohnten und unbewohnten Gebiete, die Klimazonen¹⁹
oder die Länge von Tag und Nacht zu den verschiedenen Jahreszeiten und in den
einzelnen Weltregionen. Das Buch endet mit Ausführungen zu Erdbeben, zur Entstehung neuer Inseln, zu den Gezeiten und einer Auflistung seltsamer Naturerscheinungen.²⁰
Da die Kapitel zu den Witterungserscheinungen den Ausgangspunkt für die
meisten mittelalterlichen Abhandlungen des Themas bildeten, soll im Folgenden eine
genaue Übersicht geboten werden, bevor konkret auf die Fallbeispiele Hagel und
Donner eingegangen wird.
,‒
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,
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,
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De aëre
De statis tempestatibus
De caniculae ortu
Vis temporum anni stata
De incertis tempestatibus. De imbribus et quare lapidibus pluat
Von der Luft
Von den bestimmten Ursachen der Witterung
Vom Aufgang des Hundssterns
Vom Einfluss der Jahreszeiten
Von den zu unbestimmten Zeiten auftretenden
Gewittern. Vom Regen und warum es Steine regnet
De tonitribus et fulgetris
Vom Donner und Blitz
Qua ratione echo reddatur. Vento- Wie das Echo entsteht. Die Winde, ihre Arten, ihre
rum genera, naturae, observatio- Natur, Bemerkungen über sie
nes
Ecnephias, typhon
Eknephias (der Orkan), Typhon
Turbines, presteres, vertices, alia Wirbelwinde, feurige Wirbelwinde, Wirbelstürme
prodigiosa genera tempestatum
und andere merkwürdige Arten von Stürmen
De fulminibus
Von den Blitzen
Quibus in terris non cadant et
In welchen Ländern man keine bemerkt und
quare
weshalb
Genera fulgurum et miracula
Arten der Blitze und wunderbare Erscheinungen
Etrusca observatio in iis et Roma- Etruskische und römische Beobachtungen über
na
Blitze
De fulminibus evocandis
Vom Herbeirufen der Blitze
Catholica fulgurum
Allgemeines über Blitze
Quae numquam feriantur
Welche Gegenstände nie vom Blitz getroffen
werden
Lacte pluisse, sanguine, carne,
Regen aus Milch, Blut, Fleisch, Eisen, Wolle und
ferro, lana, lateribus coctis
Ziegelsteinen
<Armorum crepitum, et tubae so- <Waffengeklirr und Trompetengeschmetter vom
nitum de caelo auditum>
Himmel gehört>
De lapidibus caelo cadentibus.
Steine, die vom Himmel fallen. Was Anaxagoras
Anaxagorea de his
darüber sagt
Plinius, Naturalis historia (Anm. ), , – .
Plinius, Naturalis historia (Anm. ), , – .
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Von Plinius zu Isidor und Beda Venerabilis
,
,
,
Arcus caelestis
Natura grandinis, nivis, pruinae,
nebulae, roris. Nubium imagines
Proprietates caeli in locis
53
Der Regenbogen
Beschaffenheit des Hagels, des Schnees, des
Reifs, des Nebels, des Taus. Wolkenbilder
Eigentümlichkeiten des Himmels an verschiedenen Orten
Widmen wir uns nun konkret und exemplarisch den Ausführungen zum Donner sowie
zum Hagel. Es geht dabei nicht so sehr um eine inhaltliche Beurteilung aus heutiger,
fachwissenschaftlicher Sicht,²¹ sondern um die Frage, wie die Nachrichten bei Plinius
in der Folge verdichtet oder variiert wurden. Über die Entstehung von Donner (und
Blitz) vermerkt Plinius:
Igitur non eam infitias posse in has et ignes superne stellarum decidere, quales sereno saepe
cernimus; quorum ictu concuti aëra verum est,
quando et tela vibrata stridunt; cum vero in nubem
perveniunt, vaporem dissonum gigni, ut candente
ferro in aquam demerso, et fumidum verticem
volvi. hinc nasci procellas et, si in nube luctetur
flatus aut vapor, tonitrua edi; si erumpat ardens,
fulmina; si longiore tractu nitatur, fulgetras. his
findi nubem, illis perrumpi, et esse tonitrua inpactorum ignium plagas, ideoque protinus coruscare igneas nubium rimas.
posse et repulsu siderum depressum qui a terra
meaverit spiritum nube cohibitum tonare, natura
strangulante sonitum, dum rixetur, edito fragore
cum erumpat, ut in membrana spiritu intenta.
posse et attritu, dum praeceps feratur, illum,
quisquis est, spiritum accendi. posse et conflictu
nubium elidi, ut duorum lapidum, scintillantibus
fulgetris. sed haec omnia esse fortuita; hinc bruta
fulmina et vana, ut quae nullam habeant rationem
Nicht will ich also in Abrede stellen, dass auf diese
Wolken von oben auch das Feuer der Sterne herabfallen kann, wie wir es oft bei heiterem Himmel sehen; dass durch dessen Aufschlag die Luft erschüttert wird, trifft zu, da ja auch abgeschossene Pfeile
schwirren; wenn aber das Feuer in eine Wolke gelangt ist, entsteht offenbar unter Zischen Dampf, wie
wenn man glühendes Eisen in Wasser taucht, und es
bildet sich wirbelnder Qualm. Auf diese Weise entsteht Gewittersturm. Staut sich in einer Wolke Wind
oder Dunst, so gibt es den Donner; bricht der glühende Dunst hervor, so entstehen die Blitze; wenn er
eine längere Strecke dahinfährt, das Wetterleuchten.
Durch dieses werden die Wolken gespalten, durch
jene zerrissen. Die Donnerschläge sind Schläge von
herabprallendem Feuer, und deshalb zeigen auch
sogleich die aufgerissenen Wolken einen feurigen
Schein.
Auch die von der Erde emporgestiegene Luft kann,
durch den Gegendruck der Gestirne zurückgedrängt,
in einer Wolke eingeschlossen, zum Donner führen.
Solange die Luft im Kampfe liegt, erstickt die Natur
jeden Laut, bricht sie aber hervor, so entsteht ein
Knall wie beim Zerplatzen einer mit Atem gefüllten
Blase. Auch durch Reibung kann sich die Luft, wie
immer sie beschaffen sein mag, während des
schnellen Herabstürzens entzünden. Ebenso kann
Vgl. zu dieser Frage ausführlich Gabriele Loose, Das . Buch der Naturalis Historia von Plinius dem
Älteren. Eine kritische Analyse im Lichte moderner geowissenschaftlicher Erkenntnisse (InauguralDissertation Universität Köln), Köln , – (zu Blitz und Donner) sowie – (zu Hagel,
Schnee, Regen und Reif).
Plinius, Naturalis historia (Anm. ), , – .
Übersetzung nach C. Plinius Secundus d. Ä., Naturkunde. Lateinisch – deutsch, Buch II: Kosmologie, hrsg. und übersetzt von Roderich König, München , – . Die Orthographie wurde bei
allen hier zitierten Übersetzungen an die neue Rechtschreibung (Schweiz) angepasst.
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Christian Rohr
naturae; his percuti montes, his maria, omnesque sie beim Zusammenprall von Wolken herausgestosalios inritos iactus. Ilia vero fatidica ex alto sta- sen werden, ähnlich wie bei zwei Steinen mit zutisque de causis et ex suis venire sideribus.²²
ckenden Blitzen. Dies alles jedoch, heisst es, ist zufällig; hieraus entstehen die stumpfen und
nichtssagenden Blitze, die aus keinem Naturgesetz
hervorgehen; die einen treffen Berge, die anderen
Meere und alle anderen fahren wirkungslos herab.
Jene Schicksal verkündenden Blitze jedoch kämen
aus höheren Bereichen, aus bestimmten Ursachen
und aus ihren eigenen Gestirnen.²³
Inhaltlich fällt auf, dass die Entstehung des Donners in den Wolken angesiedelt und
zunächst nicht mit dem Einschlag des Blitzes in Verbindung gesetzt wird. Dies erfolgt
dann erst einige Kapitel später, wenn Plinius nochmals ausführlich auf die Blitze und
damit – weniger prominent – auch auf den Donner zu sprechen kommt; die Gleichzeitigkeit von Blitz und Donner wird aber auch hier nicht auf den Einschlag des Blitzes,
sondern auf die Entstehung beider Phänomene in den Wolken bezogen:
Fulgetrum prius cerni quam tonitrua audiri, cum
simul fiant, certum est, – nec mirum, quoniam
lux sonitu velocior; ictum autem et sonitum
congruere ita modulante natura, sed sonitum
profecti esse fulminis, non inlati, etiamnum
spiritum ociorem fulmine, ideo quati prius omne
et adflari quam percuti, nec quemquam tangi qui
prior viderit fulmen aut tonitrum audierit.²⁴
Gewiss ist, dass man den Blitz früher sieht als man
den Donner hört, obgleich beide gleichzeitig entstehen – und dies ist nicht verwunderlich, da das
Licht sich schneller fortpflanzt als der Schall; gewiss ist aber auch, dass Schlag und Schall zusammenfallen, nachdem die Natur es so einrichtet, dass
dann aber der Schall die Wirkung des ausfahrenden
Blitzes ist, nicht des einschlagenden und dass auch
dann die Luftbewegung schneller ist als der Blitz;
daher werde alles eher erschüttert und vom Wehen
erreicht als vom Strahl getroffen; und es werde
niemand erschlagen, der den Blitz bereits gesehen
oder den Donner gehört hat.²⁵
Etwas zutreffender nach heutigen wissenschaftlichen Kriterien wird die Herkunft des
Hagels und anderer alltäglicher Witterungserscheinungen abgehandelt:
Cetera eiusdem naturae non multis dubia esse
video: grandinem conglaciato imbre gigni et nivem eodem umore mollius coacto, pruinam autem
ex rore gelido; per hiemem nives cadere, non
grandines, ipsasque grandines interdiu saepius
Die übrigen Naturereignisse dieser Art sind, wie ich
sehe, nur weniger zweifelhaft: dass Hagel aus gefrorenem Regen, der Schnee aus der gleichen, nur
weniger fest gewordenen Feuchtigkeit entsteht, der
Reif aber aus gefrorenem Tau; dass im Winter
Plinius, Naturalis historia (Anm. ), ,.
Übersetzung nach C. Plinius Secundus d. Ä., Naturkunde, hrsg. und übersetzt von König (Anm. ),
.
Plinius, Naturalis historia (Anm. ), ,.
Übersetzung nach C. Plinius Secundus d. Ä., Naturkunde, hrsg. und übers. von König (Anm. ),
– .
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Von Plinius zu Isidor und Beda Venerabilis
quam noctu, et multo celerius resolvi quam nives;
nebulas nec aestate nec maximo frigore exsistere,
rores neque gelu neque ardoribus neque ventis
nec nisi serena nocte: gelando liquorem minui,
resoluta glacie non eundem inveniri modum; varietates colorum figurarumque in nubibus cerni,
prout admixtus ignis superet aut vincatur.²⁶
55
Schnee fällt, aber kein Hagel, der Hagel selbst
häufiger bei Tage als in der Nacht und dass er viel
schneller schmilzt als der Schnee; dass Nebel weder im Sommer noch bei sehr grosser Kälte noch bei
windigem Wetter, sondern nur in heiteren Nächten,
dass beim Gefrieren das Wasser weniger wird und
dass, wenn das Eis aufgetaut ist, sich nicht die
gleiche Menge findet; dass man in den Wolken
verschiedene Farben und Gestalten wahrnimmt, je
nachdem das beigemischte Feuer vorherrscht oder
zurücktritt.²⁷
Die Berichte über Donner, Blitz, Hagel oder Schnee waren viel zu wenig aussergewöhnlich, um das Interesse des C. Iulius Solinus zu erwecken. Dementsprechend
vernachlässigbar sind daher auch die zwei Bezugnahmen auf die meteorologischen
Kapitel von Buch 2 der Naturalis historia in den Collectanea rerum memorabilium. ²⁸
Somit wird aber auch deutlich, dass die Übernahme des meteorologischen Wissens
eben nicht über Solinus, sondern direkt über Plinius ins Mittelalter gelangt sein muss.
Die Rezeption der Naturalis historia bei Isidor von
Sevilla
Noch weiter verbreitet als die Naturalis historia des Plinius war im Mittelalter das
enzyklopädische Kompendium des gelehrten Bischofs Isidor von Sevilla (560 – 636),
die Originum seu etymologiarum libri XX, an denen Isidor offenbar bis zu seinem Lebensende arbeitete, sodass das Werk erst von seinem Schüler Braulio geordnet und
veröffentlicht wurde. Im Zentrum steht allerdings weniger der Versuch, das gesamte
Wissen der Zeit enzyklopädisch festzuhalten, sondern das Werk war vornehmlich auf
die höhere Schulbildung, das Trivium und Quadrivium, ausgerichtet. Die ersten Bücher sind daher der Grammatik, Rhetorik und Dialektik gewidmet,²⁹ ein weiteres der
Mathematik.³⁰ In unserem Zusammenhang ist vor allem Buch 13 der Etymologiae von
Bedeutung, in dem Isidor auf Witterungsphänomene zu sprechen kommt.Wie in Buch
2 der Naturalis historia beginnt Isidor mit kosmologischen Kapiteln über die Welt, die
Die einzigen Bezugspunkte bilden C. Iulius Solinus, Collectanea Rerum Memorabilium, hrsg. von
Theodor Mommsen, . Aufl., Berlin (ND Zürich / Hildesheim ), , (zu Plinius, Naturalis
historia (Anm. ), ,, dass in Syrakus an jedem Tag des Jahres zumindest zeitweise die Sonne
scheine) sowie Solinus, Collectanea (Anm. ), , (loser Anklang an Plinius, Naturalis historia
(Anm. ), , über die Auswirkungen des Hundssterns auf die Witterung).
Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive originum libri XX, Bände, hrsg. von Wallace M. Lindsay,
Oxford (ND Oxford ) (ebenso zugänglich: Isidoro di Siviglia, Etimologie, Libro XIII: De
mundo et partibus, hrsg. Giovanni Gasparotto, Paris ), – .
Isidor, Etymologiae (Anm. ), .
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Atome, die Elemente und den Himmel mit seinen Teilen,³¹ um in der Folge auf die Luft
und die Wolken, Donner und Blitz, auf Regen, den Regenbogen, Tau sowie die Winde
einzugehen.³² Der Rest des Buches ist schliesslich dem Wasser und den unterschiedlichen Gewässern gewidmet.³³ Über den Donner schreibt Isidor:
De tonitruo. Tonitruum dictum quod sonus eius
terreat; nam tonus sonus. Qui ideo interdum tam
graviter concutit omnia ita ut caelum discississe
videatur quia, cum procella vehementissimi venti
nubibus se repente inmiserit, turbine invalescente
exitumque quaerente, nubem, quam excavavit,
impetu magno perscindit, ac sic cum horrendo
fragore defertur ad aures.
Quod mirari quis non debeat, cum vesicula
quamvis parva magnum tamen sonitum displosa
emittit. Cum tonitruo autem simul et fulgura exprimi: sed illud celerius videtur, quia clarum est;
hoc autem ad aures tardius pervenire. Lux autem
quae apparet ante tonitruum fulgetra vocatur.
Quae, ut diximus, ideo ante videtur quia clarum
est lumen; tonitruum autem ad aures tardius
pervenit.³⁴
Vom Donner. Der Donner soll so genannt worden
sein, weil sein Klang erschreckt (terrere). Denn sonus
(Ton, Klang) ist tonus (Ton, Klang, Donner). Dieser
erschüttert deswegen manchmal alles so schwer,
dass der Himmel zu zerreissen scheint, weil ein
Sturm eines sehr heftigen Windes sich plötzlich mit
Wolken vermischt [und], nachdem ein Wirbel erwachsen ist, der sich einen Ausweg sucht, die Wolke,
welche er angetrieben hat, durch einen massiven
Anstoss zertrennt und mit einem gewaltigen Krachen
in die Lüfte hinabgetragen wird.
Darüber muss man sich nicht wundern, wo doch
noch so kleine Bläschen dennoch einen lauten
Knall von sich geben, wenn sie aufspringen. Mit
dem Donner wird aber gleichzeitig ein Blitz herausgedrückt. Jener aber kommt schneller, weil er
leuchtend ist. Dieser aber kommt langsamer zu den
Ohren. Das Licht aber, welches vor dem Donner
erscheint, wird fulgetra (Wetterleuchten) genannt.
Dieses wird, wie wir gesagt haben, vorher gesehen,
weil es ein leuchtendes Licht ist. Der Donner aber
gelangt langsamer zu den Ohren.³⁵
Der Abschnitt beginnt, dem Charakter der Etymologiae gemäss, mit einer Herleitung
des Begriffs, die wie viele andere aus heutiger etymologischer Sicht nicht haltbar ist.
Nach einem Mittelteil, der inhaltlich von Plinius nicht allzu sehr abweicht, allerdings
auch keine sprachlichen Parallelen aufweist, folgt am Schluss die bei Plinius ebenfalls
abgehandelte Verbindung, dass man zuerst den Blitz sehen und dann erst den Donner
hören könne.
Ein Vergleich der Passagen zum Donner und Blitz macht deutlich, dass Isidor die
Naturalis historia zwar eindeutig kannte, sie aber in den seltensten Fällen wörtlich
übernahm – im Gesamtwerk wird Plinius gerade sechsmal explizit zitiert³⁶ –, während
Isidor, Etymologiae (Anm. ), , – .
Isidor, Etymologiae (Anm. ), , – .
Isidor, Etymologiae (Anm. ), , – .
Isidor, Etymologiae (Anm. ), ,, – .
Übersetzung nach Isidor von Sevilla, Enzyklopädie, übersetzt von Lenelotte Müller, Wiesbaden
, .
Vgl. im Detail José Oroz Reta, Présence de Pline dans les Etymologies de saint Isidore de Seville, in:
Pline l’Acien témoin de son temps. Conventus Pliniani internationalis, Namneti – Oct. habiti
acta, hrsg.von Jackie Pigeaud und José Oroz Reta, Salamanca / Nantes (Bibliotheca Salmaticensis
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Von Plinius zu Isidor und Beda Venerabilis
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andere Autoritäten wie Vergil ständig wörtlich herangezogen werden. Da aber Buch 2
der Naturalis historia weder von Solinus noch anderen – erhaltenen – Kompilatoren
der Spätantike exzerpiert wurde, ist davon auszugehen, dass sich Isidor direkt an
Plinius hielt, aber die Inhalte sehr frei und mit eigenen Worten verarbeitete. Auch zeigt
die Zusammenstellung der entsprechenden Textstellen, dass die Abhandlung der
ausgewählten Themen bei Isidor deutlich kürzer geworden ist, obschon auch die
Etymologiae insgesamt ein monumentales Werk sind.
Grando appellata quod forma eius granorum similitudinem habeat. Haec autem ventorum rigore
durantur in nube, ac solidantur in nivem, ruptoque
aere solvuntur. Nix a nube, unde venit; et glacies a
gelu et aqua, quasi gelaquies, id est gelata aqua.
Gelus autem quod eo stringatur tellus; γῆ quippe
terra dicitur.Tunc autem maiori gelu stringitur terra,
cum fuerit nox serena. Pruina est matutini temporis
frigus, quae inde pruina nomen accepit quia sicut
ignis urit; πῦρ enim ignis. Urere enim et ad frigus et
ad solem pertinet; nam uno sermone duo diversa
significantur, pro eo quod unum effectum habent.
Similis enim vis est et caloris et frigoris, unde et
utraque saxa rumpunt. […]
Ros Graecum est, quod illi δρόσος dicunt. Alii putant ros dictum quia rarus est, et non spissus ut
pluvia. Nebula inde dicta, unde et nubila, ab obnubendo scilicet, hoc est operiendo, terram, sive
quod nubes volans faciat. Exhalant enim valles
humidae nebulas et fiunt nubes; inde nubilum, inde
nives. Nebulae autem ima petunt cum serenitas est;
summa, cum nubilum.³⁸
Hagel (grando) wird genannt, was durch seine Form
Ähnlichkeit mit Körnern hat. Dieser aber wird durch
die Kälte des Windes in der Wolke gehärtet und zu
Schnee gefestigt und durch das Reissen der Luft
aufgelöst. Schnee (nix) ist nach nubes (Wolke) benannt, woher er auch kommt, und glacies (Eis) nach
Frost (gelu) und Wasser (aqua) wie gelaquies³⁷
(kaltes Wasser), das ist gefrorenes Wasser. Gelu
(Frost) aber [heisst so], weil durch dieses die Erde
zusammengezogen wird (stringere). Γῆ heisst nämlich Erde. Die Erde wird aber dann von heftigerem
Frost zusammengezogen, wenn die Nacht klar war.
Reif (pruina) ist die frühmorgendliche Kälte, welche
daher ihren Namen erhalten hat, dass sie wie das
Feuer brennt. Πῦρ heisst nämlich Feuer. Urere
(brennen) bezieht sich sowohl auf die Kälte als auch
auf die Sonne. Denn mit einem Begriff werden zwei
unterschiedliche Dinge bezeichnet, weil sie eine
einzige Wirkung haben. Ähnlich ist nämlich die
Kraft der Wärme und der Kälte, woher auch jedes
von beiden Felsen zerspringen lässt. […]
Tau (ros) ist griechisch, weil man in jener Sprache
δρόσος (Tautropfen,Tau, Feuchtigkeit,Wasser) sagt.
Andere glauben, ros sei so benannt, weil er rarus
(selten, dünn) ist und nicht dicht wie Reif. Nebel
(nebula) ist wie auch nubilia (trübes Wetter) natürlich von obnubere (verhüllen) benannt, d. h. von
operire (bedecken), [nämlich] die Erde, oder weil er
die Wolken (nubes) zum Fliegen (volare) bringt. Es
atmen nämlich die feuchten Täler Nebel aus, und es
entstehen Wolken. Daher nubilium (trübes Wetter),
daher nives (Schnee). Nebel aber streben nach den
Estudios ), – , der aber auch ausführlich belegt, dass neben den sechs expliziten Zitaten
mehr als sprachlich eindeutige Anlehnungen an Plinius in den Etymologiae zu finden sind, etwa zu
mineralogischen und metallurgischen Fragen (Plinius, Naturalis historia (Anm. ), – bzw. Isidor,
Etymologiae (Anm. ), ).
Eine Wortschöpfung Isidors. Vgl. Müller (Anm. ), .
Isidor, Etymologiae (Anm. ), ,, – .
Übersetzung nach Isidor von Sevilla, Enzyklopädie, übers. von Müller (Anm. ), – .
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untersten Stellen, wenn es klar ist, und nach den
obersten, wenn das Wetter trüb ist.³⁹
An der Passage zu Hagel, Schnee, Eis und Reif wird noch deutlicher, dass Isidors
Intention eine ganz andere war als die des Plinius in der Naturalis historia. In den
Etymologiae steht die Herleitung der Begriffe im Vordergrund, wenn auch zum Teil auf
der Basis völlig unkorrekter Volksetymologien,⁴⁰ und nicht die meteorologische Beschreibung des Phänomens. Gewiss, auch hier ist noch zu erkennen, dass bei der
Auswahl der behandelten Themen Plinius Pate stand, aber das Ziel und das Ergebnis
gehen in eine völlig andere Richtung.
Viel enger ist die strukturelle Anlehnung an Buch 2 der Naturalis historia hingegen
in Isidors Werk De natura rerum, das er zwischen 612 und 621 verfasste und dem
Westgotenkönig Sisebut widmete. Nach einem einleitenden Teil über die Zeit – Tag,
Nacht, Wochen, Monate, Jahre, Tag- und Nachtgleiche, Winter- und Sommersonnenwende sowie die Jahreszeiten⁴¹ – kommt er auf die „plinianischen“ Themen der
Kosmologie zu sprechen: Er erwähnt unter Berufung auf klassisch-antike Autoritäten
die fünf Erd- bzw. Klimazonen, die Teile des Himmels sowie die Planeten, Sonne, Mond
und Sterne.⁴² Aber auch ein meteorologischer Teil ist enthalten,⁴³ der im Aufbau an
Plinius angelehnt ist, aber seine Vorlage deutlich strafft:
De tonitruo
De fulminibus
De arcu
De nubibus
De pluviis
De nive
De grandine
De natura ventorum
De nominibus ventorum
De signis tempestatum
Vom Donner
Vom Blitz
Vom Regenbogen
Von den Wolken
Vom Regen
Vom Schnee
Vom Hagel
Vom Wesen der Winde
Von den Namen der Winde
Von den Vorzeichen für Unwetter
Schliesslich folgt ein Kapitel über Seuchen, weitere über die Meere und Flüsse und
zuletzt über Erdbeben und Vulkanismus.⁴⁴
Das Kapitel zum Donner macht aber offenkundig, dass sich Isidor inhaltlich von
Plinius löst und unter deutlicher Bezugnahme auf das Exameron des Ambrosius⁴⁵ eine
„christliche“ Erörterung des Donners gegenüberstellt:
Vgl. zu den Etymologien in der zitierten Stelle Müller (Anm. ), Anm. – und Anm. – .
Isidor von Sevilla, De natura rerum liber, hrsg. von Gustav Becker, Berlin (ND Amsterdam
), – .
Isidor, De natura rerum liber (Anm. ), – .
Isidor, De natura rerum liber (Anm. ), – .
Isidor, De natura rerum liber (Anm. ), – .
Ambrosius, Exameron, hrsg. von Carl Schenkl, Prag / Wien / Leipzig (CSEL ,), ,, zum
Donner.
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Von Plinius zu Isidor und Beda Venerabilis
DE TONITRUO
Tonitrua autem ex fragore nubium generantur.
Concepti enim intra sinum nubium ventorum
spiritus versantur ibidem, cumque vehementer
sese erupturos eliserint et virtutis suae mobilitate
in quamlibet partem eruperint, magno concrepant
murmure et in morem exilientium de stabulis
quadrigarum sonus fragoris eius ad aures nostras
emittitur.
Alias autem tonitruum vocis divinae superna est
increpatio sive clara praedicatio sanctorum, quae
clamore forti per totum orbem terrarum in auribus
fidelium perstrepit, per quod possit culpam suam
admonitus agnoscere mundus.⁴⁶
DE GRANDINE
Simili quoque ratione grandinum coagulatio fit.
Aquae enim nubium rigore ventorum stringuntur
in glaciem adque [!] durescunt, de hinc glacies
ipsa partim fragore ventorum comminuta in fragmina partim solis vapore soluta frustatim ad terras
delabitur. Quod autem rotunda videtur, hoc solis
calor facit et mora refrenantis aeris, dum per
longum spatium a nubibus usque ad terras decurrit.
Figuraliter namque grando perfidiae duritia est
torpore malitiae frigida; nix autem homines increduli sunt frigidissimi et pigri et in infima torpore
mentis depressi. ltem alio intellectu nives sunt
homines dilectione frigentes, qui etiam etsi existant candidi puritate baptismatis, non fervent
spiritu caritatis.⁴⁷
59
Vom Donner
Der Donner rührt von einem Krachen in den Wolken her. Denn die im Wolkenbausch eingeschlossenen Windstösse wenden sich ebendort, und
wenn sie danach drängen, aus der Wolke auszubrechen bzw. durch ihre Schnelligkeit und Kraft in
einen beliebigen Teil der Wolke ausbrechen, ertönen sie mit lautem Grollen und, wie wenn ein
Viergespann seine Garage verlässt, wird das Getöse
zu unseren Ohren getragen.
In einem anderen Sinne aber ist der Donner auch
mit dem himmlischen Erschallen der Stimme
Gottes bzw. der herrlichen Verkündigung der Heiligen gleichbedeutend, die mit lautem Klang über
den ganzen Erdenkreis zu den Ohren der Gläubigen
dringt, wodurch die Welt ermahnt werden kann,
ihre Schuld zu bekennen.
Vom Hagel
Auf ähnliche Weise aber [wie beim Schnee] kommt
es auch zur Bildung des Hagels: Das Wasser in den
Wolken wird nämlich durch die Kraft der Winde
steif und gefriert zu Eis; danach wird das Eis selbst
teils durch den tosenden Wind in Stücke zerkleinert, teils durch die Sonnenhitze aufgelöst und fällt
körnchenweise zur Erde. Die runde Erscheinungsform kommt von der Sonnenwärme und vom
Widerstand der sie abbremsenden Luft, weil der
Hagel ja über eine weite Strecke von den Wolken
bis zur Erde fällt.
Bildlich gesprochen freilich steht der Hagel für
Härte der Treulosigkeit, die kalt durch die Trägheit
der Schlechtigkeit ist; der Schnee aber entspricht
den ungläubigen Menschen, die überaus kalt, untätig und von tiefster Trägheit im Geist bedrückt
sind. Ebenso entspricht nach anderer Interpretation der Schnee den Menschen, die in der Liebe
erkältet sind, die zudem, wenn sie auch weiss
durch die Reinheit der Taufe bleiben, nicht vom
Geist der Nächstenliebe brennen.
Es zeigt sich somit, dass die Rezeption des Plinius vor allem struktureller Natur ist,
dass sich aber Isidor inhaltlich ganz offensichtlich scheut, sich direkt auf Plinius zu
beziehen. Lieber zitiert er Autoritäten wie Lukrez und sprachlich erfolgt eine Anlehnung an Ambrosius. Der zweite Teil der Kapitel zum Donner und zum Hagel ist jeweils
Isidor, De natura rerum liber (Anm. ), .
Isidor, De natura rerum liber (Anm. ), .
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60
Christian Rohr
bildlich-exegetisch ausgerichtet und setzt sich somit deutlich von Plinius ab, ja das
Werk macht den Eindruck einer „pastoralen Gegenwehr“⁴⁸ gegenüber Plinius.
Die Rezeption der Naturalis historia bei Beda
Venerabilis
Der angelsächsische Gelehrte Beda Venerabilis fand im nordenglischen Doppelkloster
Wearmouth und Jarrow wohl eine der besten Bibliotheken seiner Zeit vor. Dennoch ist
davon auszugehen, dass er nur einen Teil der Naturalis historia im Volltext zur Verfügung hatte, darunter aber sicher Buch 2, das er ausgiebig für seine eigene naturkundliche Schrift De natura rerum exzerpierte.⁴⁹ Nach einem ersten kosmologischen
Teil zu Himmel, Erde, Planeten, Kometen und verwandten Themen⁵⁰ folgen Ausführungen zu den Witterungserscheinungen⁵¹; beschlossen wird das Buch von Kapiteln zu
Seuchen, Gewässern, Erdbeben und Vulkanismus.⁵² Der Aufbau der meteorologischen
Teile der Schrift lehnt sich inhaltlich lose sowohl an Plinius als auch an Isidors De
natura rerum an:
De aere
De ventis
Ordo ventorum
De tonitruo
De fulminibus
Ubi non sint et quare
De arcu
De nubibus
De imbribus
De grandine
De nive
Signa tempestatum vel serenitatis
Von der Luft
Von den Winden
Windrichtungen
Vom Donner
Von den Blitzen
Wo es keine Blitze gibt und weshalb
Vom Regenbogen
Von den Wolken
Vom Regen
Vom Hagel
Vom Schnee
Vorzeichen für Unwetter und klares Wetter
Schon an der Aufstellung der einzelnen Kapitel wird deutlich, dass sich Beda sowohl
direkt auf Plinius als auch auf Isidor stützen konnte. Während die Kapitel 25 und 26
weitgehend an Isidor angelehnt sind, bauen insbesondere die Kapitel 29 – 32 und 34–
Borst, Das Buch der Naturgeschichte (Anm. ), .
Berno, Plinius d. Ä. (Anm. ), sowie im Detail zu den Stellen, die Beda direkt aus Plinius zitierte,
Karl Welzhofer, Beda’s Citate aus der Naturalis historia des Plinius, in: Abhandlungen aus dem Gebiet
der klassischen Altertums-Wissenschaft. Wilhelm von Christ zum . Geburtstag dargebracht von
seinen Schülern, München , – .
Beda Venerabilis, De natura rerum, hrsg. von Charles W. Jones, Turnhout (CCSL A),
– , ebenfalls zugänglich: hrsg. von Elisa Tinelli, Bari (Biblioteca della Tradizione
Classica ), – .
Beda Venerabilis, De natura rerum (Anm. ), – .
Beda Venerabilis, De natura rerum (Anm. ), – .
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Von Plinius zu Isidor und Beda Venerabilis
61
36 ausschliesslich oder vornehmlich auf Plinius auf. Kapitel 28 über den Donner bedient sich kaum bei Plinius, aber dafür fast wörtlich bei Isidors De natura rerum: ⁵³
De tonitruo
Tonitrua dicunt ex fragore nubium generari, cum
et spiritus ventorum earum sinu concepti, sese
ibidem versando pererrantes et virtutis suae mobilitate in quamlibet partem violenter erumpentes,
magno concrepant murmure instar exilentium de
stabulis quadrigarum, vel vesicae quae licet parva,
magnum tamen sonitum displosa emittit.⁵⁴
Vom Donner
Man sagt, dass der Donner von einem Krachen in
den Wolken herrührt. Wenn sich die im Wolkenbausch eingeschlossenen Windstösse ebendort
hin- und herwenden und durch ihre Schnelligkeit
und Kraft in einen beliebigen Teil der Wolke ausbrechen, ertönen sie mit lautem Grollen, wie wenn
ein Viergespann seine Garage verlässt, oder wie
ein Bläschen, das, wenn auch noch so klein,
dennoch einen lauten Knall bei der Explosion von
sich gibt.
Zur Ursache des Donners heisst es bei Isidor tonitrua autem ex fragore nubium generantur, was Beda nur unwesentlich zu tonitrua dicunt ex fragore nubium generari
variiert. Ebenso sind die Formulierungen zum spiritus ventorum und concepti intra
sinum (Isidor)/sinu concepti (Beda) eindeutig aufeinander bezogen. Auch der bildliche
Vergleich magno concrepant murmure et in morem exilentium de stabulis quadrigarum
sonus … emittitur (Isidor) bleibt mit magno concrepant murmure instar exilentium de
stabulis quadrigarum … sonitum … emittit (Beda Venerabilis) inhaltlich und sprachlich
praktisch unverändert. Jedoch wird der zweite Abschnitt des Kapitels bei Isidor mit den
religiösen Deutungen von Beda zur Gänze ausgespart.
Anders verhält sich die Frage nach der sprachlichen und inhaltlichen Abhängigkeit bei Bedas Hagel-Kapitel:
De grandine
Grandinis lapilli ex stillis pluviae, frigoris et venti
rigore conglaciati in aere coagulantur. Sed citius
nive solvuntur, et interdiu saepius quam noctu
decidunt.⁵⁵
Vom Hagel
Hagelkörner entstehen aus Regentropfen; sie
vereisen durch die Kraft der Kälte und des Windes
und bilden sich somit in der Luft. Freilich
schmelzen sie schneller als der Schnee und sie
fallen auch häufiger am Tag als in der Nacht.
Es wird deutlich, dass sich Beda auf die rein naturkundlichen Erläuterungen des
Plinius bezieht und die religiöse Deutung bei Isidor erneut ganz bewusst weglässt. Um
die genauen sprachlichen Abhängigkeiten der Texte voneinander zu verdeutlichen,
seien im Folgenden die entsprechenden Ausführungen zum Hagel nochmals gegenübergestellt.
Beda Venerabilis, De natura rerum (Anm. ), .
Beda Venerabilis, De natura rerum (Anm. ), .
Beda Venerabilis, De natura rerum (Anm. ), .
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Plinius, Naturalis historia ,
grandinem conglaciato imbre
gigni et nivem eodem umore
mollius coacto, pruinam autem
ex rore gelido; per hiemem nives
cadere, non grandines, ipsasque
grandines interdiu saepius quam
noctu, et multo celerius resolvi
quam nives.
Isidor, De natura rerum
Simili quoque ratione grandinum coagulatio fit. Aquae enim
nubium rigore ventorum stringuntur in glaciem adque [!] durescunt, de hinc glacies ipsa
partim fragore ventorum comminuta in fragmina partim solis
vapore soluta frustatim ad terras
delabitur. Quod autem rotunda
videtur, hoc solis calor facit et
mora refrenantis aeris, dum per
longum spatium a nubibus usque ad terras decurrit.
Beda, De natura rerum
Grandinis lapilli ex stillis pluviae,
frigoris et venti rigore conglaciati
in aere coagulantur. Sed citius
nive solvuntur, et interdiu saepius quam noctu decidunt.
Der ausführlichste Text zum Hagel stammt somit von Isidor und ist zwar inhaltlich
nicht weit von Plinius entfernt, aber vollkommen eigenständig formuliert. Eine
„Verdichtung“ ist somit nicht zu konstatieren; dieses Attribut trifft am ehesten noch
auf Beda zu, der von der Wortwahl und von den Inhalten ganz eindeutig eher Plinius
folgt (conglaciato/conglaciati, celerius resolvi quam nive/citius nive solvuntur, interdiu
saepius quam noctu), aber wohl auch Isidors Darstellung vorliegen hatte (coagulatio/
coagulantur). Eine substanzielle Wissensreduktion zum Thema Hagel ist allerdings für
den frühmittelalterlichen Autor Beda nicht zu konstatieren. Deutlich stärker gekürzt
wurde allerdings der Abschnitt zum Donner. Hier bezieht sich Beda kaum auf die zum
Teil schwer nachvollziehbaren plinianischen Erklärungsversuche und folgt nur der
kürzeren Darstellung in Isidors De natura rerum.
Ausblick: Das Weiterleben plinianischen
Gedankenguts im Hoch- und Spätmittelalter
Es würde den Rahmen dieses Beitrags bei weitem sprengen, das Nachwirken von
meteorologischem Wissen aus der Naturalis historia des Plinius noch in die Karolingerzeit sowie ins Hoch- und Spätmittelalter fortzuführen, auch wenn dadurch unter
Umständen ein differenzierteres Bild der Übernahme möglich wäre, als es die allgemeinen Darstellungen von Chibnall, Borst oder Berno gestatten.⁵⁶ Da aber die hier
behandelten Werke von Plinius, Isidor und Beda Venerabilis bis ins Spätmittelalter als
wesentliche Autoritäten galten, sodass es zum Teil auch zu expliziten Erwähnungen
Chibnall, Pliny’s Natural History (Anm. ); Borst, Das Buch der Naturgeschichte (Anm. ); Berno,
Plinius d. Ä. (Anm. ).
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Von Plinius zu Isidor und Beda Venerabilis
63
als Quelle kam, sollen gleichsam als Ausblick einige wichtige Stationen der Rezeptionsgeschichte im 12. bis 14. Jahrhundert hier aufgezeigt werden.⁵⁷
Im frühen 12. Jahrhundert verfasste der Benediktiner Honorius von Autun ein
ausführliches naturkundliches Kompendium mit dem Titel De imagine mundi (1110 –
1139). Ein Blick auf seine Beschreibung des Hagels zeigt, dass er sich sprachlich vor
allem auf Bedas Plinius-Rezeption stützt;⁵⁸ ob er die Naturalis historia des Plinius
direkt kannte, kann auch aus anderen Stellen des Werkes nicht restlos erschlossen
werden, seine Bezüge auf Plinius sind wohl Übernahmen aus dem Werk des Iren Johannes Scottus Eriugena aus dem 9. Jahrhundert.⁵⁹
Das 13. Jahrhundert kann allgemein als eine Zeit der Hochblüte für das Entstehen
von Naturenzyklopädien bezeichnet werden. Dabei spielte es eine massgebliche Rolle,
dass mit der Scholastik neu auch das Wissen auf der Basis der naturkundlichen
Schriften des Aristoteles Verbreitung in den gebildeten Kreisen fand. Thomas von
Cantimpré vollendete um 1241 sein Hauptwerk De natura rerum; es ist eine der vier
wichtigsten Naturenzyklopädien der Zeit – neben De proprietatibus rerum des Bartholomaeus Anglicus (um 1240), dem Speculum naturale des Vinzenz von Beauvais
(um 1256/59) und der Historia naturalis des Juan Gil de Zamora (um 1275/1295).⁶⁰
Thomas von Cantimpré ist für zwei Fassungen seiner Naturenzyklopädie verantwortlich, eine etwas kürzere (Thomas I) und eine erweiterte (Thomas II), wobei für die
längere Fassung zusätzliche Details sowie ein neues Kapitel über die Bewegung der
Sterne eingefügt wurden. Als wichtigste Quellen nennt Thomas in seinem Prolog
insbesondere Aristoteles, Plinius, Solinus und Isidor.⁶¹ Dass diese Enzyklopädie im
Mittelalter weit verbreitet war und auch entsprechende Nachwirkung hatte, beweisen
nicht nur die über 100 Handschriften zu den Versionen Thomas I und Thomas II,
sondern auch der Umstand, dass selbst sein Lehrer Albertus Magnus fünf Bücher von
Zur Weitergabe des Wissens über Hagel von Honorius von Autun bis Konrad von Megenberg vgl.
Christian Rohr, Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und am
Beginn der Neuzeit, Köln / Weimar / Wien (Umwelthistorische Forschungen ), .
Honorius von Autun, De imagine mundi, hrsg. von Valerie I. J. Flint, in: Archives d’histoire doctrinale et littérature du moyen âge (), ,: Quid grando sit. Stillae pluviae ventis et frigore
congelatae in aere coagulantur, et in lapillos grandinis mutantur. Auch der kurze Abschnitt zu Donner
und Blitz (De imagine mundi ,) folgt inhaltlich vor allem Beda als Autorität.
Vgl. dazu im Detail Borst, Das Buch der Naturgeschichte (Anm. ), – .
Traude-Marie Nischik, Das volkssprachliche Naturbuch im späten Mittelalter. Sachkunde und
Dinginterpretation bei Jacob von Maerlant und Konrad von Megenberg, Tübingen (Hermaea, N.F.
), ; Benedikt Konrad Vollmann, Thomas von Cantimpré und Konrad von Megenberg, in: Konrad
von Megenberg ( – ): ein spätmittelalterlicher ‚Enzyklopädist’ im europäischen Kontext, hrsg.
von Edith Feistner, Wiesbaden (Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft ), – ,
hier .
Thomas von Cantimpré, Liber de natura rerum, hsrsg. von Hermann Boese, Berlin / New York ,
prologus. Daneben werden auch noch Ambrosius, Basilius, Jakob von Vitry ( – ), der Physiologus, Palladius sowie die Mediziner Galen und Matthaeus de Platea (gest. ) genannt.
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Christian Rohr
De animalibus ⁶² auf der Basis von Thomas von Cantimpré verfasste und zudem Vinzenz
von Beauvais die Thomas’sche Enzyklopädie exzerpierte. Ausserdem wurde das Werk
um 1250, also noch zu Lebzeiten von Thomas von Cantimpré, durch einen namentlich
unbekannten Autor überarbeitet und in vielen Teilen gestrafft, an manchen Stellen
aber auch erweitert. Diese Version Thomas III machte vom Umfang her etwa 45 Prozent
von Thomas I/II aus; sie wurde später zu einer der Hauptvorlagen für Konrad von
Megenbergs Buch der Natur. ⁶³
Ausführlich geht Thomas auf Witterungsphänomene wie den Hagel ein, wobei
dieser in ein System von sieben Regionen oder Feuchtigkeitszuständen der Luft
(septem regiones sive septem humores aeris) eingegliedert wird. Als Quelle für diese
Kategorisierung werden die Meteora des Aristoteles angegeben, dem Thomas aus
Gründen der Kürze allerdings compendiosius folgt.⁶⁴ Trotz dieser selbst verordneten
Kürze verfasste Thomas ein ausführliches Kapitel zum Hagel, das zwar auf der Definition des philosophus (Aristoteles) aufbaut, dann aber sprachlich wieder erstaunlich
nahe an Plinius und Beda ausgestaltet ist. Gänzlich neu ist hingegen der Bezug zu
aktuellen Ereignissen: Chroniken würden immer wieder von schweren Hagelgewittern
und riesigen Hagelkörnern berichten, die nicht nur Vögel und kleinere Landtiere,
sondern auch Grossvieh und Menschen erschlagen hätten.⁶⁵
Albertus Magnus, De animalibus libri XXVI, Bände, hrsg. von Hermann Stadler, Münster –
(Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalter – ), Bd. , – .
Vollmann, Thomas von Cantimpré und Konrad von Megenberg (Anm. ), – . Allgemein zum
Wesen der Naturenzyklopädie von Thomas von Cantimpré vgl. Benedikt Konrad Vollmann, Enzyklopädie im Wandel: Thomas von Cantimpré, De natura rerum, in: Die Enzyklopädie im Wandel vom
Hochmittelalter bis zur frühen Neuzeit, hrsg. von Christel Meier, München (Akten des Kolloquiums des Projekts D im Sonderforschungsbereich , . – ..), – .
Thomas von Cantimpré, Liber de natura rerum (Anm. ), ,: De quibusdam istorum humorum in
libro Metheororum Aristotiles diffusius et habundantius scripsit, que quidem brevitatis causa compendiosius exequemur.
Thomas von Cantimpré, Liber de natura rerum (Anm. ), ,: De grandine. Grandinis regio tertia
est. Grandinem quidem Philosophus ita diffinit: Stille, inquit, pluvie ventis et frigore superioris aeris
conglaciate in aere coagulantur et in lapillos grandinis permutantur, qui utique corpus spericum habere
probantur propter circumactionem volubilitatis, qua de aere violentius impelluntur. Grando aliquando
pisarum vel fabarum aut etiam nucis avellane magnitudinem prefert. Que, si de superiori regione dilabitur
et eius materiam, stillas pluvie, condensatim aer fuderit, conglobate multe gutte in unicas grandines, tunc
grando excedit solitam quantitatem et fit pestis valida frugum et volucrum. Narrant annales et cronica
temporum multotiens grandines tante magnitudinis cecidisse, ut non solum volucres et minora animalia,
sed etiam bestias et homines extra tecta positos conquassarent. Grando turbida magis est quam in terra
glacies congelata; et hec ratio, quia de minima gutta primitus coagulata paulative adicitur descendenti
fitque de multis partibus, quod utique non sic de glacie, que ex continua aque materia concrescit per gelu.
Grando multum infrigidat aerem, unde quandocumque in vere et autumpno de celo grando ceciderit, tunc
periculum imminet pestis in frugibus dire gelideque pruine. Et hoc raro fallitur, nisi immediate post
grandinem sol calidior aerem terramque lustraverit. Grando si media estate circa solstitium estivale
ceciderit, signum est, in superiori aeris regione frigus esse permaximum et, nisi pars inferior aeris solis
radiis calefacta grandinem liquefaceret descendentem, in immensam quantitatem moles faceret monstruosas. At quoniam tunc simul et semel sunt opposita frigoris et caloris, morbos generari tunc facillime
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Von Plinius zu Isidor und Beda Venerabilis
65
Umfangreich ist auch das Kapitel zu Donner und Blitz: Als Autoritäten werden
dabei nicht nur die philosophi (also u. a. Aristoteles) angegeben, sondern insbesondere
auch Plinius, der allein in diesem Kapitel dreifach genannt ist. Ebenso wird aber auch
aus dem entsprechenden Kapitel bei Isidor zitiert und dieser explizit als Autor genannt. Was nach der Ankündigung des Zitats folgt, ist in unserem rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhang bemerkenswert: Thomas zitiert nicht wörtlich, sondern
gibt eine Paraphrasierung mit zum Teil eigenen Worten, die auf Inhalten sowohl aus
Isidors De natura rerum als auch aus den Etymologiae aufbaut – und ein Satz ist fast
wortwörtlich aus Bedas De natura rerum übernommen!⁶⁶
Vom Umfang her beginnt mit den Naturenzyklopädien des 13. Jahrhunderts ein
Gegentrend zur Verdichtung, gleichsam eine amplificatio, indem sowohl die Aristoteles- als auch die Plinius-Tradition referiert werden und mit zeitgenössischen Bezügen
verbunden werden.
Den Endpunkt dieses Ausblicks bildet schliesslich Konrad von Megenberg mit
seinem weit verbreiteten Buch der Natur (1349), der oft als „erste Naturgeschichte in
deutscher Sprache“ titulierten Adaption scholastisch orientierter Enzyklopädien. Mit
seiner fast volkstümlichen Sprache und durch viele Beispiele gelang es ihm, aristotelisch und plinianisch geprägtes Wissen einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln,
was sich auch in einer sehr grossen Zahl an Handschriften sowie Übersetzungen
niederschlug.⁶⁷ Inhaltlich orientierte sich Konrad von Megenberg in erster Linie an
Albertus Magnus⁶⁸ und Thomas von Cantimpré (in der Kurzversion Thomas III)⁶⁹,
verkürzte aber deren Darstellungen wieder, um die Lesbarkeit zu erleichtern. Sein
Kapitel über den Hagel ist daher nicht einmal halb so lang wie das bei Thomas von
Cantimpré – und Albertus Magnus widmet in seinen Meteora dem Thema Hagel gar
comprobantur. Remedium autem tunc precipuum est includi tectis et domibus et hominem tueri calidis
mutationemque fieri aeris circa se et focum accendi.
Thomas von Cantimpré, Liber de natura rerum (Anm. ), ,: De tonitruo quidem Ysidorus dicit:
Tonitrus interdum graviter concutit omnia, quia, cum procella vehementissimi venti nubibus se repente
miscuerit, turbine invalescente exitumque querente, nubem quam excavabat impetu magno rescindit ac
sic cum horrendo fragore defertur ad aures. Quod mirari quis non debet, cum vesica quamvis parva
magnum tamen sonitum displosa emittit. Der letzte Satz entspricht fast wörtlich Beda Venerabilis, De
natura rerum (Anm. ), : … vel vesicae quae licet parva, magnum tamen sonitum displosa emittit.
Zur handschriftlichen Verbreitung des Buchs der Natur vgl. ausführlich Gerold Hayer, Konrad von
Megenberg, „Das Buch der Natur“. Untersuchungen zu seiner Text- und Überlieferungsgeschichte,
Tübingen (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters ),
sowie für einen ersten Überblick Claudia Märtl, Gisela Drossbach und Martin Kintzinger (Hrsg.), Konrad
von Megenberg ( – ) und sein Werk. Das Wissen der Zeit, München (Zeitschrift für
bayerische Landesgeschichte, Beiheft ), XXIV-XXX.
Zu Konrads Albertus Magnus-Rezeption in Bezug auf das aristotelische Konzept der Luftregionen
und zur Meteorologie allgemein vgl. ausführlich Dagmar Gottschall, Konrad von Megenbergs Buch von
den natürlichen Dingen. Ein Dokument deutschprachiger Albertus-Magnus-Rezeption im . Jahrhundert, Leiden / Boston (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters ), – .
Zur Abhängigkeit Konrads von Megenberg von der gekürzten Fassung Thomas III vgl. im Detail
Vollmann, Thomas von Cantimpré und Konrad von Megenberg (Anm. ), – .
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fünf Kapitel⁷⁰. Konrad meint zum Ursprung des Hagels, dass es sich dabei um Regentropfen handle, die durch eine kalte Luftschicht dringen und dann gefrieren. Sie
hätten daher oft, wie der Schnee im Winter, die Form von Kristallen.⁷¹ Auf ähnliche
Weise baut auch das Kapitel Konrads über Donner und Blitz auf Albertus Magnus und
Thomas von Cantimpré auf, verkürzt diese Autoritäten aber ebenso radikal.⁷²
Fazit
Die Untersuchung von Berichten zu ausgewählten Witterungserscheinungen (Donner
und Hagel) hat gezeigt, dass die Rezeption der Naturalis historia des Plinius durchaus
komplex verlief und nicht rein unter dem Aspekt der Verdichtung betrachtet werden
kann. Da sich C. Iulius Solinus, so wie auch andere Kompilatoren der Spätantike,
jeweils nur auf bestimmte Aspekte konzentrierte – in diesem Fall auf merkwürdige
oder wunderbare Begebenheiten und Erscheinungen –, fanden so profane Inhalte wie
Erklärungen zu Witterungsphänomenen dort keine Aufnahme. Somit müssen sowohl
Isidor als auch Beda Venerabilis direkt Kenntnis von Buch 2 der Naturalis historia
gehabt haben.
Die Abschnitte in Isidors Etymologiae haben ein völlig anderes Erkenntnisinteresse als die naturkundlichen Werke vor und nach ihm, doch ist trotz einer auffallend
distanzierten Bezugnahme zu erkennen, dass sich Isidor vom Aufbau und teilweise
auch vom Inhalt her doch an Plinius orientierte. Näher ist der inhaltliche Bezug in
Isidors De natura rerum, doch auch hier werden zu nahe sprachliche Anklänge aus
„pastoraler Gegenwehr“ offenbar bewusst vermieden. Ein zusätzlich exegetisch-moralisierender Teil der einzelnen Kapitel zu Donner und Hagel steht in der Tradition des
Exameron des Ambrosius.
Albertus Magnus, Meteora, hrsg. von Paul Hossfeld, Münster (Alberti Magni Opera Omina
,), ,, – : De loco, ubi generatur grando / De tempore generationis grandinis, ex quo etiam scitur,
quare saepius fit in locis calidis quam frigidis / Et est digressio docens materiam grandinis / Et est digressio declarans de causa efficiente grandinis / De figura grandinis.
Konrad von Megenberg, Buch der Natur, hrsg.von Robert Luff und Georg Steer, Bd. : Kritischer Text
nach den Handschriften, Tübingen (Texte und Textgeschichte ), , : Von dem schawr: Der
schaur haizzt in anderr daͤutsch der hagel, vnd chuͤmt da von, daz der wazzrig dunst dez ersten sich
entsliuzt in regentropfen ain ainer niht vͤbrig chalter stat in dem luft, da der regen wirt, und die tropfen
darnach vallent durch ain gar chalt stat, da die hitz in dem sumer die chelten ze samen hat getriben, wan
die selb vͤbrig chelten verchert die tropfen in eys, reht als sie daz wazzer tuͦt hie in den winter zeiten. Dar
umb sint des schaurn choͤrner gestalt sam die christallen vnd sint sinbel darvmb, daz sie sich sleifent durch
den luft her ab zuͦ allen enden.
Konrad von Megenberg, Buch der Natur (Anm. ), , (Von dem doner vnd von dem plitzen) nach
Albertus Magnus, Meteora (Anm. ), ,, (De causa tonitrui et fulguris secundum sententiam Aristotelis et de diversitate sonorum tonitrui) sowie ,, – bzw. Thomas von Cantimpré, De natura
rerum (Anm. ), , (De tonitruo).
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Von Plinius zu Isidor und Beda Venerabilis
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Beda bedient sich in seinem Werk De natura rerum sowohl bei Plinius selbst als
auch bei Isidors De natura rerum, wobei die Bezugnahme in die eine oder andere
Richtung je nach Kapitel variiert. Die moralisierenden Teile Isidors werden aber
konsequent weggelassen. Vom Umfang her ist Beda um Kürze bemüht und verdichtet
somit seine Vorlagen.
Auch für die Blütezeit naturkundlicher Enzyklopädien und Kompendien blieben
Plinius, Isidor und Beda Autoritäten, auf die explizit oder sprachlich Bezug genommen
wurde, obwohl mit der Scholastik die Werke des Aristoteles im Westen wiederentdeckt
wurden. Autoren wie Honorius von Autun oder Thomas von Cantimpré hatten mit
Sicherheit direkten Zugriff auf alle drei Autoren, ja Letzterer führte sie prominent in
seinem Prolog zu De rerum natura als Hauptquellen neben Aristoteles an. Durch die
Heranziehung sowohl der Aristoteles- als auch der Plinius-Tradition wurde die allmähliche Verdichtung der Inhalte, wie dies noch bei Beda zu konstatieren war, in eine
gegenteilige Richtung geführt: die Naturkundebücher des Spätmittelalters, ob Thomas
von Cantimpré oder das mittelhochdeutsche Buch der Natur Konrads von Megenberg,
übertreffen die spätantiken und frühmittelalterlichen Werke deutlich an Umfang. Die
Naturalis historia selbst blieb aber auch als Gesamtwerk im Mittelalter in zahlreichen
Abschriften erhalten, sodass im Gegensatz zum immer noch weit verbreiteten Klischee,
das antike Wissen sei im Mittelalter verloren gegangen, zumindest auf Plinius bezogen,
das Gegenteil der Fall ist.⁷³
Zum Mythos des Verlusts naturkundlichen Wissens vgl. zuletzt am Beispiel der Kenntnis von der
Kugelgestalt der Erde Christian Rohr, Die Welt als Scheibe oder Kugel? Zum Wissen von der Kugelgestalt
der Erde im Mittelalter, in: Welterfahrung und Welterschließung in Mittelalter und Früher Neuzeit, hrsg.
von Anna Kathrin Bleuler, Heidelberg (Interdisziplinäre Beiträge zu Mittelalter und Früher
Neuzeit ), – .
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