DISSERTATION
Titel der Dissertation
„Nur wo du bist, entsteht ein Ort.“ Das Ereignis der
Begegnung in Liebe bei Ludwig Binswanger
Verfasser
Mag. Andreas Agreiter
angestrebter akademischer Grad
Doktor der Philosophie (Dr. phil.)
Wien, 2014
Studienkennzahl lt.
Studienblatt:
A 092 296
Dissertationsgebiet lt.
Studienblatt:
Philosophie
Betreuerin / Betreuer:
Univ.-Prof. i.R. Dr. h.c. Dr. Peter Kampits
Ein Wort des Dankes:
Die hier vorgelegte Dissertation verdankt sich zunächst einmal der Sache selbst, also der
Philosophie. Als Wissenschaft betrieben und an der Universität gelehrt ist sie damit bereits an
den Forscher und Lehrer gebunden. Als Student habe ich das Glück erfahren, bei einigen von
ihnen „in die Schule gehen zu dürfen“, namentlich möchte ich erwähnen Herrn Univ.-Prof.
Dr. Peter Kampits, der, Mut zusprechend, Anstoß und Ansporn zum Nachdenken gab und
dessen Seminare ein lebendiges, mitunter lebhaftes Philosophieren darstellen; weiters Herrn
Univ.-Prof. Dr. Josef Rhemann, der als Kenner der philosophischen Anthropologie in der
Rolle des Zweitgutachters tätig wurde. Schließlich Herr Univ.-Prof. Dr. Augustinus Karl
Wucherer-Huldenfeld, O.Praem., der mir in Gesprächen das Denken Heideggers und
Binswangers aufschloss. Ihnen danke ich herzlich.
Wissen und Erkenntnis – und seien sie noch so gesichert – sind wertlos, wenn sie nicht
im Gespräch überprüft, kritisiert und vertieft werden; dazu dienten die Seminare und das
anschließende gesellige Zusammensein der Teilnehmer, bei ihnen möchte ich mich ebenfalls
bedanken. Ich widme diese Arbeit meiner Mutter Elfriede Agreiter (1936-2005).
Und diese menschlichere Liebe (die unendlich rücksichtsvoll und leise, und gut und klar in
Binden und Lösen sich vollziehen wird) wird jener ähneln, die wir ringend und mühsam
vorbereiten, der Liebe, die darin besteht, daß zwei Einsamkeiten einander schützen, grenzen
und grüßen.
(Rainer Maria Rilke)
Liebe – lieben heißt: wollen daß das Geliebte sei, was es ist.
(Martin Heidegger)
Liebt euch, oder ihr geht zugrunde.
(Pierre Teilhard de Chardin)
Inhalt
Einleitung
3
1 Das Ereignis der Begegnung
10
2 Eine Standortbestimmung zur Phänomenologie der Liebe
31
2.1 Das Denken der Begegnung und die Medizin
31
2.2 Martin Bubers Philosophie des Dialogs – ein Hintergrund
37
2.3 Heideggers Analyse des Mitseins als Basis für Binswangers
45
Begegnungsdenken
2.4 Die Position Binswangers
53
3 Miteinandersein in Liebe
63
3.1 Liebe und Sprache
63
3.2 Aufbau und Struktur der Grundformen
73
4 Die Welt des Dualis (liebendes Miteinandersein)
82
4.1 Der Eros
82
4.2 Gemeinschaft und Selbständigkeit im Wir
85
4.3 Räumlichkeit und Zeitlichkeit des Miteinanderseins
97
4.3.1 Zur Einführung
97
4.3.2 Miteinandersein als räumliches
100
4.3.3 Miteinandersein als zeitliches
108
4.4 Freundschaftliches Miteinandersein
122
5 Mitsein als personal-soziales
128
6 Dasein als Vereinzeltes
139
6.1 Einleitendes
139
6.2 Das Problem in der Philosophiegeschichte
143
6.3 Singularität im Sinne Binswangers
148
6.4 Rückblick
159
1
7 Die Diskrepanz zwischen allgemeinem und singularem Du in der Begegnung 160
7.1 Vorbereitendes
160
7.2 Daseinserkenntnis in Bezug auf die Grundformen
163
7.3 Konsequenzen
174
8 Gabe des Daseins in liebender Begegnung
177
8.1 Die Gabe als Thema der Philosophie
177
8.2 Selbstheit als Geschenk des Anderen
180
8.3 Geburt als Gabe des Seins
187
8.4 Dankbarkeit als Art und Weise des Empfangens der Daseinsgabe
198
9 Die Einzigartigkeit von Ich und Du im Namen
210
9.1 Zur Hinführung
210
9.2 Zur Philosophie des Namens
212
9.2.1 Das Konzept Binswangers: „Das Nehmen beim Namen. Die Historizität“ 212
9.2.2 Sprachphilosophische Überlegungen zum Namen und zum Nennen
217
im Anschluss an Wucherer-Huldenfeld
Schlusswort
228
Literaturverzeichnis
236
Abstract (Deutsch)
249
Abstract (Englisch)
251
Lebenslauf
253
2
Einleitung
Eine Arbeit, die das Miteinandersein und damit den Anderen in den Mittelpunkt rückt, hat
sich nicht nur vor diesem Anderen (etwa einem Leser, Gesprächspartner oder einem geliebten
Menschen) zu verantworten; es gilt zugleich, den ins Auge gefassten Themenkreis von
Auslassungen der Tagesmode abzuzirkeln und ihn so zu schonen. Zweifellos ist die oder der
Andere (i.e. der andere Mensch) Objekt vielerlei Betrachtungen und Spekulationen; so wird er
in den Naturwissenschaften zu einem kalkulierbaren Gegenstand, Sozialwissenschaften
verfolgen seine äußeren Beziehungen, die Ökonomie betrachtet ihn unter dem Aspekt des
Wirtschaftens und des Geldes, was übrigens zu äußerst prekären Lehrmeinungen führen kann.
Die Heilkunst wiederum sieht im Anderen den homo patiens, den es zu kurieren gilt. Ein und
dasselbe Objekt – der Mensch – stellt sich unter verschiedenen Gesichtspunkten immer neu
und anders dar; dies geschieht mit vollem Recht, solange allerdings der Andere als „Zweck an
sich selbst“ geachtet wird.
Es scheint zunächst eine plumpe Tatsache zu sein, dass der Mensch nie alleine
existiert, wie Eugen Fink feststellt:
Der Mensch lebt in Gemeinschaft, in Gemeinschaften der verschiedensten und
mannigfaltigsten Art; keiner lebt „allein“ im Sinne von „unbezüglich“; sofern ein
Mensch überhaupt ist, ist er schon aufgetan und aufgebrochen für das Mitdasein der
Mitmenschen; er ist nie und niemals ein in sich verschlossenes, abgekapseltes
„Subjekt“ [...]. Jeder ist Mitmensch, ob er will oder nicht, und als Mitmensch ist er
der Andere des Anderen.1
Die Frage nach dem Menschen fächert sich also auf in die Frage nach dem Wesen des
Menschen (die quidditas, ἡ φύσις, die Washeit bzw. die essentia) und nach dem, wer er sei –
eben der Andere, der sich namentlich zu erkennen gibt.
Von der Begriffsfrage (Frage nach dem Wesen des Menschen) gilt es die Frage nach
der Person des Anderen (dieser Mensch da, der einmalig und unersetzbar über sich verfügt)
abzuheben; in einem weiteren Gang kann schließlich nach dem je eigenen Selbstsein gefragt
werden. Gesucht wird in diesem Zusammenhang ein solider Ausgangspunkt der
philosophischen Anthropologie. Das unthematisch gegebene Vorwissen bezüglich des
Menschen soll dabei ebensowenig zur Leitidee avancieren wie die Fokussierung auf ein
willkürlich privilegiertes Phänomen des Menschlichen, zu dessen Gunsten anderes notwendig
herabgewürdigt wird. Vielmehr wird versucht, das, was es mit dem Anderen und mit mir auf
1
Fink, Eugen: Existenz und Coexistenz : Grundprobleme der menschlichen Gemeinschaft. – Hrsg. von FranzAnton Schwarz. – Würzburg : Königshausen und Neumann, 1987, S. 21f
3
sich hat möglichst unverstellt zur Sprache kommen zu lassen. Dazu gehen wir am besten von
uns selbst – von dir und von mir – aus, wie wir gemeinsam in dieser Welt da sind. Die
Tatsache des gemeinsamen In-der-Welt-seins ist nicht zu dementieren, haben wir doch
permanent mit anderen zu tun. Das Umkehrphänomen ist uns ebenfalls vertraut: in Perioden
des Alleinseins oder gar der Einsamkeit erfahre ich die Abwesenheit anderer, die in dieser
Abwesenheit selbst noch da sind.2 All das trägt den Charakter der Natürlichkeit und
Selbstverständlichkeit, sodass es müßig scheint, dem solcherart Vertrauten Beachtung zu
schenken. Dennoch – ist das uns vermeintlich Vertraute so ohne weiteres klar und
einleuchtend, gestattet es uns mithin einen sorglosen Umgang? Womit und mit wem wir
tagtäglich Umgang pflegen, kann demnach zum Rätsel und Geheimnis werden, wenn wir z.B.
gewahren, dass wir miteinander da sind und nicht nicht sind.
Das sogenannte personal-dialogische Denken erblickt im Miteinandersein einen
unbestreitbaren
Ausgangsort
der
philosophischen
Anthropologie;
was
ist
unter
„Miteinandersein“ näher zu verstehen? Geht uns das Miteinander in der Teilnahme an einer
Massenveranstaltung (Großdemonstration, Rockkonzert, Fußballspiel) in seinem Wesen auf, in
der viele Einzelne einer großen Idee anhängen? Oder ist Miteinandersein vorrangig ein
Merkmal kleiner, überschaubarer Kreise, wozu man Familie und Freunde zu zählen pflegt?
Ausgerechnet in intimen und vertrauten Verhältnissen offenbart sich zuweilen Sprachlosigkeit,
die bis zum Desinteresse am Anderen reicht. Die Dialogphilosophie versucht nun, das Du (und
das Ich) diesseits der Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit zu fassen; in einer
authentischen Beziehung treffe ich kein privates, auch kein öffentliches Du, diese Scheidung
erfolgt erst „später“, ist sie doch gesellschaftlich und kulturell bedingt. Die Termini
Öffentlichkeit und Privatheit bezeichnen Kategorien, die das dialogische Denken bzw. die
2
Fink bemerkt dazu recht eindringlich: „Das Dasein ist nicht zuerst ‚einsam’ und dann in einer zusätzlichen
Weise auch noch gemeinschaftlich. Die Gemeinschaft geht jeder Vereinzelung vorauf. Die ‚Einsamkeit’ hat
bereits das Moment der Ausgrenzung aus der Gemeinschaft an sich. Die Grundphänomene sind
Strukturprinzipien der Gesellschaft, sind Lebensfelder der Co-Existenz, der Co-Existenz im Totenkult, in der
Wendung der Lebensnöte, in der Verteilung der Macht, im Zueinander der Geschlechter und in der
Spielgemeinschaft der Spielgemeinde. Der Mensch ist von Hause aus im Raum der mitmenschlichen Bezüge, sie
konstituieren gerade die Humanität als solche. Mit Absicht und Bedacht ist dieser gesellschaftliche Ansatzpunkt
für die anthropologische Frage genommen worden. Es bedeutet eine unzulässige Abstraktion, von ‚dem’
Menschen zu sprechen und dabei das Modell der Individualexistenz vorauszusetzen. ‚Der’ Mensch ist kein
geschlechtsloses Neutrum, das weder geboren und gezeugt wird, noch dem Tode geweiht ist, kein arbeitsloses
Subjekt außerhalb jeder politischen Kampflage, abseits vom Spiel. Er ist auch kein ‚reines Bewußtsein’, weder
im Sinne des Descartes als ‚res cogitans’, noch als ‚Erlebnisstrom’ im Sinne Husserls. Und noch problematischer
sind die Ansätze bei einer vorausgesetzten Einzelseele, bei einem isolierten intelligenten Willen und dgl. Denn
zu all dem gelangt man ja doch mittels einer Reduktion. Jeder Einzelne ist in eine gemeinsame Welt versetzt, in
der er nicht nur mit anderem Seienden, mit Materie, Pflanzen, Tieren und Mitmenschen zusammen vorkommt,
jeder Einzelne kann sich nur finden aus einem vorgängigen intersubjektiven Horizont her. Die Sozialität des
Daseins ist keine Folge der Individualexistenz, sie ist bereits die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß Einzelne
sich auf sich zurückziehen können.“, in: Fink, Eugen: Grundphänomene des menschlichen Daseins. – Hrsg. von
Egon Schütz und Franz-Anton Schwarz. – 2., unveränderte Aufl. – Freiburg [u.a.] : Alber, 1995, S. 431f
4
Begegnung nicht wesensmäßig erschließen, das Du ist keine Figur der Gesellschaft.3 Ein als
ursprünglich verstandenes Verhältnis zum Anderen sieht dieses vor der Unterscheidung
öffentlich-privat.
Das ursprünglichste Miteinandersein zeigt sich, wo und wann und insofern ein
Mensch die/den Andere(n) zu eigenem Sein freigibt. Solches Miteinandersein
ereignet sich in der Begegnung, d.h. in der Gegenwart des Gegenüberseins, wo ich
mich auf die Einmaligkeit, die Nichtauswechselbarkeit und Unvertauschbarkeit eines
Du einlasse oder schon eingelassen erfahre.4
Dialogisches Denken sieht den Sinn von Sein der Person in der Begegnung oder im Füreinander-dasein, welches gemeinhin Liebe genannt wird. Doch was will unter Liebe verstanden
werden? Gewiss ist vorerst nur, dass ihr Begriff für Verständnisprobleme unter den Menschen
Pate stehen muss – den einen ist sie größtes Gefühl und höchster Lebenszweck, den anderen
ein hehres Ideal, den dritten dient sie als Vorwand, um in ihrem Namen Eigeninteressen
durchzusetzen.
Ein Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, diese Begriffskonfusion etwas zu entwirren zu
versuchen; die Konzentration auf den Schweizer Psychiater Ludwig Binswanger (13.04.188105.02.1966) mag subjektiv erscheinen, willkürlich ist sie bestimmt nicht. Während andere
Denker des Dialogs (so etwa Martin Buber, Gabriel Marcel, Ferdinand Ebner, Franz
Rosenzweig, Eugen Rosenstock-Huessy, im Gefolge auch Emmanuel Lévinas) breitere
Rezeption und Widerhall gefunden haben, ist die Publikationslage zu Binswanger aus dieser
Perspektive eher bescheiden. Die Forschergemeinde, aber auch die Nachwelt beschäftigt sich
mit seinem Werk vor allem unter dem fachlichen Blickwinkel der Psychiatrie, der
Psychotherapie sowie der Medizingeschichte.5 Ein Ausgang von der medizinischen
Fachdisziplin der Psychiatrie wird in dieser Arbeit nicht unternommen, sie beschränkt sich auf
den philosophischen Gehalt des Werkes – namentlich auf das Miteinandersein in Liebe.
3
Dazu Peter Kampits, der mit Blick auf Gabriel Marcel, der wohl auch Binswanger gelten kann, konstatiert:
„Das Fragen nach dem Anderen als einer zweiten Person und damit das Erschließen der zwischenmenschlichen
Beziehung als einer personal-dialogischen bedeutet dann aber zugleich, daß nur in einer derartig gedachten
Beziehung menschliches Miteinander wahrhaft bestehen und aufgebaut sein kann. Wo Strukturen, Sozialgebilde,
Gesellschaft im ganzen als maßgebend und ursprünglich ausgegeben werden, kann die Beziehung zum Anderen
nicht mehr in ihrer Unverfälschtheit in den Blick kommen. Der Andere bleibt dann spezifischer ‚Fall’ einer
allgemeingültigen Struktur oder Verfassung.“, in: Kampits, Peter: Gabriel Marcels Philosophie der zweiten
Person. – Wien : Oldenbourg, 1975, S. 14
4
Wucherer-Huldenfeld, Augustinus Karl: Ursprünglichkeit und Weisen des Miteinanderseins : Philosophische
Vorüberlegungen zur Koinonia im Glauben, in: ders.: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein.
Ausgewählte philosophische Studien I. Anthropologie, Freud, Religionskritik. – Wien [u.a.]: Böhlau, 1994, S. 336, hier S. 14
5
Dazu zählen unter anderem Condrau, Gion: Daseinsanalyse : philosophische und anthropologische Grundlagen
; die Bedeutung der Sprache ; Psychotherapieforschung aus daseinsanalytischer Sicht. – 2., überarb. Aufl. –
Dettelbach : Röll , 1998 und Holzhey-Kunz, Alice: Leiden am Dasein : die Daseinsanalyse und die Aufgabe
einer Hermeneutik psychopathologischer Phänomene – 2., durchges. Aufl. . – Wien : Passagen-Verl., 2001. –
(Passagen Philosophie)
5
Nun ist Liebe im alltäglichen, durchschnittlichen Verständnis ein abgegriffenes Wort,
in dessen Namen viel Schindluder getrieben wird. Es gilt daher, sich auf Ursprünglichkeit und
Weise des Miteinanderseins zu besinnen und es von Verfallsformen und Deformationen
abzuscheiden. Binswanger versucht, die Begegnung als Grundmodus menschlicher Existenz
aufzuweisen; prägnant ist der Vorrang des Wir, das „vor“ dem Ich-selbst und Du-selbst
besteht, es bildet gleichsam den keimenden Grund für dich und mich. Diese vorrangige
Dualität im Wir entlässt Ich und Du, wobei präzise gesagt sein soll: das Ich ist offen für dich
als der, der nur du sein kannst und sonst niemand – ich erfahre meine Einzigkeit, weil nur ich
mich dir nähern kann wie sonst niemand. Diese radikale Idee des liebenden Miteinanderseins
wird konterkariert durch das In-der-Welt-sein, durch die Weltgebundenheit; das Wir muss
auch in der Welt „bestehen“, es muss diese aushalten können. Die Weltgebundenheit der
Liebe zeigt sich in der Sorgestruktur des Daseins, wie sie Heidegger herausgearbeitet hat,
Binswanger vermisst in diesem Konzept jedoch die Liebe, in der Ich und Du aneinander je
selbst werden: „Je größere Wirklichkeit der Wirheit, umso größere Möglichkeit der
Selbständigkeit von Mir und Dir.“6 Die Begegnung eröffnet der Existenz – deiner wie meiner
– einen Raum, die einem gründenden Grund entspringt (das Wir der Liebe); somit erweist
sich das Füreinander als Sinn und Aufgabe des Daseins schlechthin. Anzumerken bleibt, dass
die Beziehung ein Wechselspiel von Nähe und Distanz, von Raum-geben und Raum-lassen
für Eigenes ist.
Zum Aufbau der Arbeit:
Damit ist auch der Rahmen des vorliegenden Versuchs skizziert; auffällig ist der Primat der
Wirheit, welche die liebende Freigabe in Eigensein (als Du und Ich) zu übertönen droht, denn
es bietet sich das Paradoxon: wie ist Selbstsein möglich, ohne die liebende Wirheit aufgeben
zu müssen? Dem in die Problematik einführenden ersten Kapitel folgt eines, in welchem eine
Standortbestimmung zur Phänomenologie der Liebe unternommen wird. Dabei bildet das
Begegnungsdenken im Kontext der Medizin einen Aspekt, der durch Verweise auf Bubers
Dialogphilosophie und Heideggers Mitseinsanalyse ergänzt wird. Die Kapitel drei bis sechs
bringen eine Darstellung der drei Grundformen menschlichen Daseins in ihren Grundlagen
mitsamt deren möglichen Folgerungen. Die anschließenden Kapitel nehmen die – nun
6
Binswanger, Ludwig: Ausgewählte Werke 2. Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins. – Hrsg. von
Max Herzog und Hans-Jürg Braun. – Heidelberg : Asanger, 1993, S. 111. Die vierbändige Werkauswahl wird
zitiert als AW mit Bandangabe und jeweiliger Seitenzahl; im fortlaufenden Text als Grundformen abgekürzt
verwendet. Noch ein Wort zur Schreibweise des Begriffes „Anderer“: dieser wird groß geschrieben, wenn es
sich um den personalen Anderen, um das Du der Liebe handelt, während der oder die „anderen“ die Vielen oder
den Dritten meint.
6
verschärfte – Diskrepanz zwischen allgemeinem und singularem Du in der Begegnung wieder
auf.
Die Dualität ist die intimste Form zwischenmenschlichen Seins und vom Dasein als
sorgendes In-derWelt-sein abgeschieden. Gegenüber dem Dasein bringt Binswanger das Inder-Welt-über-die-Welt-hinaus-sein in Liebe in Anschlag; Dasein als sorgendes fördert nur
Teilerkenntnis, die etwas als etwas begreift, erst Liebe eröffnet umfassende Erkenntnis, da sie
von der Als-Struktur und von Verweisungszusammenhängen absieht. Liebe ereignet sich
zwischen zwei konkreten Individuen im Raum und in der Zeit. Leider übergeht Binswanger
das Eigene, Einzelne, je Deines und je Meines; er schwenkt vom konkreten zum allgemeinen
Du („Zusammenfallen von Du und Duhaftigkeit überhaupt“7). Der Einwand sei gestattet:
kann ich dich als „Duhaftigkeit“ lieben? Ist das nicht eine bloße Vorstellung des Du? Die
„Duhaftigkeit überhaupt“ mag ein erkenntnistheoretisches Fundament sein, um anderen
Akzeptanz und Aufmerksamkeit zu bieten, die „Duhaftigkeit“ soll – im Interesse Binswangers
– den Widerstreit von Sorge und Liebe überbrücken. Unter der Hand allerdings mutiert ihm
das konkrete Du zum absoluten – ich liebe dann das Allgemeine in dir. Je betonter Ich, Du,
Wir als Generelles gedacht werden, umso verschwindender ist unsere Liebe. Vom geliebten
Du bleibt im Extremfall nichts übrig. Paradoxerweise prägen Transmundanität und
Antiindividualismus mitunter Binswangers Denken, der doch für Selbständigkeit in und durch
Zweiheit plädiert. Im In-sich-stehen des Ich in fremdgegebener Selbständigkeit verdankt sich
das Ich dem Anderen, der es auffordert, Ich – und eben nur dieses Ich – zu sein; Dasein
erweist sich damit als Gabe.
Einmaligkeit und Einzigartigkeit von Ich und Du sind Thema des achten Kapitels –
Gabe des Daseins in liebender Begegnung, hierin erweist sich die Selbstheit als Geschenk des
Anderen. Im Wir werden Liebende aneinander Du und Ich; ich schenke mich dir als jener, der
unvertretbar ich bin und umgekehrt – du nimmst mich an, wie nur du dies zu tun vermagst.
Das Geschenk ist die Anwesenheit des einen für den anderen. Die Gabe hält nicht an sich: der
Schenkende will, dass der mit Dasein Beschenkte je er bzw. sie selbst sei – sei du und
ausschließlich nur du – in der Terminologie Binswangers: in „Einsamkeit“. Gabe im tiefsten
Sinn ist die Geburt eines Menschen, die als Geschenk erfahren wird. Das Kind ist wohl den
Eltern gegeben, vor allem aber ist es sich selbst geschenkt und berufen, eine freie und
selbstmächtige Person zu sein. Das Kapitel wird beschlossen mit einer Diskussion über den
Dank als angemessene Form des Empfangens der Daseinsgabe.
7
AW 2, 241
7
Das abschließende neunte Kapitel gilt der Einzigartigkeit von Ich und Du im Namen.
Binswanger wertet zuweilen das Besondere zugunsten des Allgemeinen ab, mit welchem
Grund? Ist denn in der Liebe nicht stets ein konkretes, einzigartiges und unverwechselbares
Du zugegen? Binswanger lässt das konkrete Du mit dem Wesen „Du-überhaupt“
zusammenfallen,
woraufhin
Michael
Theunissen
von
einem
„Rückfall
in
die
8
Transzendentalphilosophie“ sprach. Wer aber liebt ein Wesen, ein Allgemeines, in das sich
ein konkretes Du verflüchtigt haben soll? Der geliebte Andere ist als solcher namhaft, hat also
einen Namen, mit dem er gerufen wird. Einer Erörterung des Namenverständnisses bei
Binswanger werden Überlegungen zum Namen und zum Nennen gegenübergestellt, die ich
Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld verdanke. Der Name gibt keine Auskunft über seinen
Träger, er enthüllt keine Sachverhalte, sondern ermöglicht, dass jemand zu Wort kommen
kann, er meint die reale Gegenwart des Anderen, der Genannte weiß sich dann gerufen. Mit
dem Namen ist das Heißen verbunden, dieses bedeutet ein Zulassen (und Gutheißen) des
Seienden, das Seinlassen des namentlich Genannten. Der Name ist keine willkürliche
Kennzeichnung, sondern meint das ureigenste Sein des Anderen. Damit ist nun auch die
These der Arbeit umrissen: Liebe als Wille zum Sein des Anderen ereignet sich als Freigabe
in Eigensein durch 1) Dualität, 2) Natalität und 3) Namhaftigkeit, wobei die beiden letzteren
aus der Dualität erwachsen. Dem Konzept der Liebe, wie es von Binswanger entworfen
wurde, steht nun eine Bewährungsprobe entgegen:
1) Liebe als Begegnung mit dem Anderen muss heraustreten aus ihrem theoretischen
Rahmen, um dem konkreten, alltäglichen Leben standhalten zu können – hier werden wir auf
wesentliche Ereignisse wie eben Geburt, Curricularität, Sozialität, aber auch auf defiziente
Daseinsformen verwiesen. Kann das Konzept der Liebe dafür ein solides Fundament bilden?
2) Erweist sich die Begegnung in Liebe als ursprüngliche Form des Daseins, dann
müssen alle übrigen Daseinsformen (das Dasein mit den anderen, Singularität) aus dieser
ableitbar und daher begründbar sein. Das In-Beziehung-setzen dieser verschiedenen
Daseinsmodi wird nicht zu umgehen sein, Brüche und Konvergenzen werden damit offenbar.
Ziel der Arbeit ist es schließlich, zu sehen, ob Dissonanzen innerhalb des Binswangerschen
Denkens unvereinbar nebeneinander stehen oder ob nicht diverse andere Standpunkte und
Perspektiven seine Ansätze bereichern können. So bildet die Dissertation die Wiederaufnahme
seiner Bemühungen, um sie erneut für das zu öffnen, welches Binswangers Denken in Atem
gehalten hat.
8
Theunissen, Michael: Der Andere : Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. – Zweite, um eine Vorrede
vermehrte Aufl. – Berlin ; New York : de Gruyter, 1977, S. 466-474
8
Ein Wort zum methodischen Vorgehen und zur Literatur: lassen wir uns auf ein
Denken ein, so ist es geboten, jene Fragen, mit denen dieses Denken anhebt, interpretatorisch
möglichst vorurteilsfrei und unverstellt abermals zu Gehör zu bringen. Dann erst kann der
Fortgang eines Gedankenschrittes oder eines Problems verfolgt und mit anderen Positionen
oder Einwänden konfrontiert werden. So erhebt Schaeffler das Fragen zu einer „ars bene
interrogandi“:
Fragen gehen aus Erfahrungen hervor, in denen das Wirkliche uns so begegnet, daß
es uns zunächst, aufgrund seiner Befremdlichkeit, unserer Unwissenheit überführt.
Dann kommt es darauf an, sich dieser Unwissenheit bewußt zu werden, sodann aber
das sokratische Wissen von der eigenen Unwissenheit in gezielte Fragen zu
übersetzen. Für den Versuch, aus unseren eigenen Erfahrungen die angemessenen
Fragen zu entwickeln, kann es hilfreich sein, darauf zu achten, wie frühere
Philosophen aus ihren Erfahrungen ihre Fragen entwickelt haben. [...] Einen
vorgefundenen Satz verstehen heißt: ‚die Frage mitfragen, auf die er hat antworten
wollen’, und eine Frage verstehen heißt: ‚sich an die Erfahrungen erinnern lassen,
aus denen sie hervorgegangen ist’.9
Der Interpret muss sich mit dem zu Deutenden auf einem gemeinsamen Boden wissen, um
von diesem aus Phänomene, Fragen und Erfahrungen sachgerecht auslegen zu können. Von
Binswangers Schaffen trennt uns ein gutes halbes Jahrhundert, in dem kommentierende und
kritisierende Stimmen aufgetreten sind. Zum bereits Publizierten ist zu sagen, dass sich eine
Kluft zwischen den Naturwissenschaften und der Philosophie aufgetan hat. Forscher beider
Disziplinen
sind
zuweilen
zu
Grenzgängen
aufgefordert,
die
mancherorts
fixe
Positionierungen von Geistes- und Naturwissenschaft in Frage stellen bzw. diese
überschreiten. Dies spiegelt sich in der Fachliteratur wider, die freilich auch einer subjektiven
Auswahl unterliegt, zumal nicht alle denkerischen Bemühungen eingeholt werden können.
Die Dissertation kann daher nicht philosophiehistorisch referieren, allerdings muss ihr des
behandelten Themas wegen der Rückgriff auf die Tradition gestattet sein. Weder soll rezente
Fachliteratur die herkömmliche dominieren noch sollen klassische Publikationen zu einem
Kanon erhoben werden.
9
Schaeffler, Richard: Ontologie im nachmetaphysischen Zeitalter : Geschichte und neue Gestalt einer Frage. –
Freiburg/Breisgau ; München : Alber, 2008, S. 16. Dass Erfahrung kein rein passives Erleiden des Er- oder
Widerfahrenen, sondern in sich schon responsorischen Charakters ist, wird ebenfalls ausgeführt: „Was mich
meinen Selbstgesprächen überläßt, in denen ich mich nur immer selber bestätige, ist keine Erfahrung. Aber was
mich verwirrt und dadurch stumm macht, ist auch keine Erfahrung. Erfahrung ist, was mich entdecken läßt, was
ich mir nicht selber hätte ausdenken können, mich aber zugleich zu einer Antwort auf das Entdeckte ruft, die nur
ich selber geben kann.“, in: Schaeffler, Richard: Erfahrung als Dialog mit der Wirklichkeit : Eine Untersuchung
zur Logik der Erfahrung. – Freiburg/Breisgau ; München : Alber, 1995, S. 313
9
1 Das Ereignis der Begegnung
Die Frage nach Begegnung oder Beziehung ist eine alte und oftmals diskutierte. Ist sie damit
aber schon nach allen Seiten hin erschöpfend beantwortet oder auch erst erreicht worden? Die
Philosophie, die diesem Geschehnis nachgeht, beginnt demnach mit einer Frage. Eine Frage
stellen hat zur Voraussetzung, dass etwas fraglich geworden ist, dass etwas der Frage würdig
geworden ist. Die häufigsten Fragen lassen sich mühelos einer Antwort zuführen; die Frage
etwa nach der Uhrzeit wird durch den Blick auf die Uhr gleich beantwortet. Diese und andere
gängige Fragen – die mehr eine Auskunft als eine Antwort erfordern – sind durchaus geläufig
und gerechtfertigt.
Nach einem ähnlichen Schema verfahren wir, wenn wir nach intersubjektiven
Beziehungen fragen, die uns vertraut sind. So kann man sich erkundigen, ob der Nachbar
verreist ist, wann die Neuauflage eines Buches erscheinen wird usw. Auch die Befindlichkeit
eines Arbeitskollegen ist es wert zu erfahren, um gegebenenfalls geänderte Dienstzeiten
wahrnehmen zu können. In diesen Beispielen finden wir Beziehungen zwischen Subjekten,
die sich im Bereich des Gesellschaftlichen manifestieren und welcher Bereich ohne
wechselseitige Rede und Antwort nicht reibungslos ablaufen könnte. Der Kreis der
Intersubjektivität schließt sich, sobald sämtliche ausstehenden Auskünfte kompetent erteilt
worden sind. Frag-los bewegen wir uns in dem uns vertrauten Alltäglichen und daher
Unverbindlichen. Soweit das Verständnis der mitmenschlichen Begegnungen, wie sie jeder
von uns pflegt und kennt.
Wirft man einen Blick unter das uns sich von selbst Verstehende, so ergibt dasselbe
Phänomen, nämlich die Begegnung eben, ein anderes Bild. Nun zeigt sich das zunächst
Unverständliche; das, das dem gewohnten Blick auf die Dinge bislang verborgen war. Was ist
das, bzw. wer ist der, welchem ich in Anonymität und doch in unterschwelliger Bekanntschaft
begegnet bin? Diese sich im unpersönlichen „Man“ versteckende Begegnung äußert sich in
Bekanntschaft, oberflächlicher Freundschaft, zuweilen in schwelender Konkurrenz bis hin zur
offenen Feindschaft. Die genannte und uns schon bekannte Unterschwelligkeit tritt zutage als
ein Verwundertsein dem begegnenden anderen gegenüber: Derjenige, dem ich geglaubt und
vertraut habe, wird mir auf einmal fremd, die gegenseitige Verlässlichkeit ist erschüttert. Dass
diese Erschütterung sich plötzlich als negative Relation zum anderen herausstellt, ist nicht
immer bestimmt und definitiv. Die Verwunderung über einen anderen Menschen kann in
Gleichgültigkeit umschlagen, sie kann verschwinden, sie kann sich auch als Interesse am
10
anderen zeigen. Wieder steht die Frage nach der Qualität der Beziehung im Vordergrund, die
uns danach fragen lässt, wer dieser Mensch ist, der mich verwundern lässt.
Unter Beziehung oder Begegnung ist hier also nichts Statisches zu verstehen, welches
sich, ist es einmal fixiert, beständig als Permanentes durchhält, mit dem man „rechnen“,
welches man „zuordnen“ kann. Das käme einem Stillstand gleich, in dem in der Beziehung
„nichts mehr weitergeht“ und die dadurch zerbricht. Einer Begegnung inhäriert wesentlich ein
Wechselspiel,
eine
Dynamik,
um
ein
Geschehen
zu
eröffnen,
welches
den
Beziehungspartnern verschiedene Rollen anzunehmen ermöglicht. Die Dynamik der
Beziehung wie deren Wechselhaftigkeit erfordern damit immer eine Neudefinition der
Selbstkenntnis und auch der (Er)Kenntnis des anderen.
Die Frage „Wer bin ich und wer bist Du?“ hat zwei Angesprochene – Ich und Du.
Wiewohl das Ich die Frage nach dem anderen, dem Du stellt, ist es kein den anderen
konstituierendes; das Thema der Intersubjektivität und Konstitution des anderen ist hier noch
nicht spruchreif. Stattdessen soll vorweg gesagt sein, dass Ich und Du einander konstituieren,
d.h. bedingen, und zwar in einem Raum, den beide einander gewähren und darin Ich-selbst
und Du-selbst werden können. Dementsprechend bedeutet das folgende Problemkonstellation:
aus und in dem Bereich des „Zwischen“ (inter) stehen zwei Personen bzw. Subjekte, die
miteinander verbunden sind. Die Verbundenheit, also auch der Bereich des Zwischen stellen
ein tragfähiges Fundament dar, auf dem sich Ich wie Du wechselseitig bedingen – will heißen:
Einander-Gewähren aufgrund des gemeinsamen Bodens. Theoretisch lässt sich eine
Zweisamkeit wohl denken, in der Praxis oder in der Lebenswelt ist diese Verbundenheit eines
Ich mit einem Du keine exklusive, hier fordert – um mit Lévinas zu sprechen –, der „Dritte“
sein Recht ein. Bedenkenswert ist also dreierlei: der Bereich des die Intersubjektivität
stiftenden Zwischen, das daraus hervorgehende Ich und Du und diese abschließend das
Verhältnis von Ich bzw. Du zum Dritten oder, wie Binswanger sagt: zur Mitwelt.
Methodisch etwas in die Irre führend hebt Binswanger in seinem Hauptwerk
Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins sofort mit dem „Miteinandersein von Mir
und Dir“ (so der Titel des ersten Kapitels) an, ohne zuvor einen Gedankengang zum „Thema“
Ich und Du oder Intersubjektivität gelegt zu haben. Er schließt sein Vorwort zu den
Grundformen bloß lapidar: „Das Ziel der ‚Grundformen’ war nicht, eine Gegenschrift zu
‚Sein und Zeit’ sein zu wollen, sondern eine Phänomenologie der Liebe.“10 Will man
Binswangers Absichten recht verstehen, wird man nicht umhinkommen, die erwähnten
Begriffe näher zu besehen. Ein Begriff wie „Liebe“ enthält etliche Konnotationen, deren
10
AW 2, 9
11
geläufigste bestimmt die der Begegnung oder Beziehung darstellt, weshalb es hilfreich ist, das
Phänomen „Begegnung“ zu beleuchten.
Ist von Begegnung die Rede, meint man zunächst meistens die in ihr stehenden
Partner, das Ich und das Du also. Ein ursprünglicher Ansatz wäre jedoch die Frage nach dem
„Wir“ oder dem „Zwischen“, innerhalb dessen sich die Begegnung ereignet. Der Begriff der
Begegnung selbst ist allerdings ein unscharfer; klare Umrisse fehlen, daher ist es nicht
sachgerecht, von „der“ Begegnungsphilosophie zu sprechen, sondern besser von
vielgestaltigen Ausprägungen einer Philosophie der Begegnung. Von einer systematischen
Philosophie wird demnach nicht die Rede sein können. Des weiteren erweist sich Begegnung
als ein Grundmodus menschlicher Existenz, den der Mensch stets unthematisch – vor
jeglicher Reflexion – vollzieht. Es geht also darum, das Unthematische zu thematisieren, über
es Kenntnis zu erlangen. Josef Böckenhoff bemerkt dazu:
Als vor der Erkenntnis liegende Tatsache läßt sich die Begegnung nur schwer, im
strengen Sinn gar nicht beweisen, nur in etwa aufweisen, vielleicht nur vermuten.
Theunissen sagt ausdrücklich, es könne sich nur um eine Vermutung handeln, denn
er glaubt hier, an der Grenze der Philosophie angelangt zu sein.11
Während Dinge bzw. Objekte das reflexiv Ersterkannte sind, bildet die Beziehung das
Fundament der Realität zwischen Menschen, die als vorbewusste Einheit erst nachträglich
reflexiv erfasst werden kann. Die vorthematische Anfänglichkeit des Wir eröffnet den Raum
jeder Begegnung, wie auch immer sich diese später gestalten wird – sei sie dann Liebe,
Abneigung, Indifferenz oder Geschiedenheit. Wichtig ist zu sehen, dass das Wir nicht
lediglich psychologisch, soziologisch oder gefühlsmäßig zu verstehen ist, sondern dass es in
existentiellem Rang steht und einer dementsprechenden Logik folgt. Sich von Heidegger
absetzend schreibt Binswanger:
Wie zum existierenden Dasein die Jemeinigkeit gehört „als Bedingung der
Möglichkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit“, so gehört zum liebenden
Dasein die „Unsrigkeit“, und zwar als Bedingung der Möglichkeit von (dualer)
Wirheit. Dasein kann für uns also nicht primär Seiendes sein, „das je ich selbst bin“,
sondern nur Seiendes, das je Wir-selbst sind.12
Eine erste Ambivalenz kündigt sich bereits an, und zwar jene zwischen Individualität und
Wir-Raum: Zwar müssen Ich wie auch Du zuvor schon konstituiert sein, um eine Begegnung
stattfinden lassen zu können, erst in der Begegnung aber erlangen beide ihr volles Selbstsein:
11
Böckenhoff, Josef: Die Begegnungsphilosophie. Ihre Geschichte – ihre Aspekte. – Freiburg/München : Alber,
1970, S. 213. Richtungweisend und aufschlussreich: Theunissen, Der Andere
12
AW 2, 49f. Die hier deutlich werdenden Anspielungen an und Auseinandersetzungen mit Heidegger erklären
sich aus der intensiven Beschäftigung Binswangers mit Heideggers Sein und Zeit und dessen anderen Schriften,
die für Binswangers Werk maßgebend waren. Die Einflussnahme Heideggers auf Binswanger durchzieht das
Werk des letzteren, weshalb darauf gesondert im Kapitel 2.3 Heideggers Analyse des Mitseins als Basis für
Binswangers Begegnungsdenken eingegangen wird.
12
„Die Selbstheit dieses Ich und Du gründet also nicht im Dasein als je meinem und deinem,
sondern im Dasein als unserem, mit anderen Worten im Sein des Daseins als Wirheit. Erst aus
der Wirheit ‚entspringt’ hier die Selbstheit. Wir sind ‚früher’ als Ich-selbst und Du-selbst.“13
Das Wir bildet sich nicht als Summe der Addition von Ich plus Du plus deren
Interaktionen, das Wir stellt den Ermöglichungsgrund von Ich und Du als einander
Begegnende dar. Hier macht sich eine eigenartige Dialektik bemerkbar: Ich, Du, sowie das
wirhafte Zwischen bedingen einander, das eine ist nicht möglich ohne das andere. Eine
vorgängige Spaltung zwischen Ich und Du setzt das Objekt (das Du) und das Sprechen zum
Du (oder besser: das Sprechen zu und mit dir) als Dialogpartner schon voraus. Das Ich erlangt
genetisch später sein Selbstbewusstsein in der Reflexion am Du und durch das Du. Beide
müssen also zuvor aus der Wirheit ermöglicht worden sein, um ein gegenseitiges AneinanderWerden zulassen zu können.
Eine Binsenweisheit ist offensichtlich die Tatsache, dass der Mensch nicht (mit sich)
alleine ist, sondern von einer fundamentalen Du-Gerichtetheit geprägt ist. Gegen diese wohl
zweifellose Tatsache kann man nun einwerfen, dass es sehr wohl Menschen gibt, die sich in
Einsamkeit, Abneigung, auch Hochmut anderen gegenüber isolieren; zum anderen ist auch
das Bestreben nach Selbstbestimmung von einer Ablösung vom Du gekennzeichnet, diese
Suche nach Autonomie kann auch die Flucht aus einem Abhängigkeitsverhältnis bedeuten.
Dennoch wird ein absolutes, von allen anderen Sozialkontakten abgelöstes Ich nicht zu finden
sein. Das absolute, d.h. empirisch nicht existente Ich ist insofern ein bloßer „frommer
Wunsch“, der sich als Egozentrismus und damit als Asozialität herausstellt. Den
schlagendsten Beweis gegen die Alleinheit des Subjektes findet man in der Sprache, die durch
ihr Wesen wie durch ihre Phänomenalität per se auf einen anderen als Gesprächs- oder
Dialogpartner hinorientiert ist. Demzufolge ist ohne Sprache kein Denken möglich – gleich
wie und wohin sich das Denken näherhin entfalten mag.
Durch Reflexion erlangtes Selbstbewusstsein meint Objekterkenntnis, diese wiederum
ist durch personales Erkennen bedingt; am deutlichsten kommt dieser lebensgeschichtliche
Werdegang des Erkennens in der Beziehung zwischen der Mutter und ihrem Kind zum
Ausdruck: „Ich werde schon geboren von einem Anderen; ich weiß, daß ich mir nicht selbst
das Sein gegeben habe, d.h. ich existiere nur von und mit Anderen.“14 Weiters zieht
Böckenhoff Karl Barth heran, aus dessen Kirchlicher Dogmatik zitiert wird:
Was Menschlichkeit ist, ist überall da noch nicht oder nicht mehr gesehen, wo dem
Menschen eine abstrakte, d.h. eine von der Mitexistenz seines Mitmenschen
13
14
AW 2, 112
Böckenhoff, Die Begegnungsphilosophie, S. 218
13
abstrahierte, Existenz zugeschrieben wird. [...] Wer den Menschen für sich und also
ohne den Mitmenschen sieht, der sieht ihn gar nicht. Wer den Menschen im
Gegensatz oder auch nur in Neutralität zu seinen Mitmenschen sieht, der sieht ihn gar
nicht. Auch wer des Menschen Menschlichkeit erst nachträglich, nur sekundär, nur in
beiläufiger Ergänzung dadurch bestimmt sieht, daß er nicht allein, sondern mit
seinem Mitmenschen existiert, sieht ihn gar nicht.15
Wie hier negativ bemerkt wird, ist das Erkennen von Objekten (im Unterschied zum Subjekt,
zum Du) und das Verhalten zu oder Umgehen mit ihnen – also das, was Binswanger den
„umweltlichen Verkehr“ nennt – im Miteinandersein verwurzelt.16 Während das Erfassen
eines Objektes schematisierend-kategorisierend erfolgt, ist dem Ich die andere Person mit
diesen Methoden nicht erschließbar, weil der andere die Objekterkenntnis und Wahrnehmung
desselben seinerseits mir ermöglicht. Begegnung ist sachlichen Erkenntnisbezügen daher
logisch, genetisch, psychologisch vorgeordnet, Personen haben gegenüber Objekten
„Vorrang“, was nicht heißt, dass Personen nicht auch degradierend verdinglicht werden
können, sowie auch Objekten anthropomorphisierend begegnet werden kann – man denke an
Fetische oder Strömungen des Zeitgeistes, die suggerieren, Akzidentien als Substrate sehen zu
müssen. Statt sich solchen Moden anheimzugeben, mag sich die Einsicht öffnen, nach der der
Mitmensch ein Erstvertrauter ist.
Damit das Ereignis der Beziehung in reicherem Umfang zur Geltung kommen kann,
sind auf die verschiedentlichen Konkretionen derselben zu achten. Begegnung ist keine
weltlose, sich abstrakt gestaltende. Das wird deutlich in der Tatsache, in der ein individuelles
Ich auf ein ebensolches Du trifft – ein Faktum, dem von einigen Philosophen des Dialogs oft
nicht entsprechendes Augenmerk geschenkt wurde. Das kann ein Grund für die
Begegnungsphilosophie sein, ins Mythische, Pseudoreligiöse, nur mehr billig Poetische, daher
ins Phantastische, Schwärmerische wegzudriften. Gerade wenn eine Beziehung sich als Liebe
ereignet, ist sie durch Zeit, Raum und umweltliche Objekte vermittelt und mitkonstituiert.
Keinesfalls darf Miteinandersein in Liebe mit dem allseits bekannten Verliebtsein
gleichgesetzt werden, das sich in rauschhaft-euphorischen Zuständen äußert. Dennoch ist
damit nicht gemeint, dass Verliebtsein nicht in Liebe münden kann. Ausgerechnet in seinem
Antichrist schreibt Nietzsche: „Die Liebe ist der Zustand, wo der Mensch die Dinge am
meisten so sieht, wie sie nicht sind. [...] Man erträgt in der Liebe mehr als sonst, man duldet
alles.“17
15
Böckenhoff, Die Begegnungsphilosophie, S. 218
Siehe dazu AW 2, Erster Teil, zweites Kapitel, S. 239-270
17
Nietzsche, Friedrich: Der Antichrist, in: Ders.: Werke II. – Hrsg. von Karl Schlechta. – Darmstadt :
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1997, S. 1183
16
14
Zwei Interpretationen lässt dieses Zitat zu: 1) Im Verliebtsein ist man „blind vor
Liebe“, die Liebe verklärt mich wie den anderen auch; die Außenwelt verschwindet, wodurch
die Liebenden selbstgenügsam ihre spielerische Zuneigung pflegen. Das, was bisher wichtig
und bedeutend war, wird zugunsten der Geliebten vernachlässigt oder zumindest zweitrangig.
Die durchaus wichtige, weil prägende Erfahrung der „ersten Liebe“ endet meistens in der
ernüchternden und enttäuschenden Erkenntnis, dass die Geliebte bloß eine Vor-stellung war,
dass dadurch der jeweils andere ver-stellt wurde. Der Begriff Ent-täuschung ist so zu
verstehen: beide Verliebte sind sich ihrer Täuschungen bewusst geworden, wobei es hier
Selbsttäuschungen und Täuschungen seitens des anderen gibt. Die Charakteristik des
Verliebtseins ist nicht pejorativ zu sehen, zumal dieses ein wesentlicher Schritt in der
persönlichen Entwicklung jedes Menschen ist. 2) Obiges Nietzsche-Zitat kann in dem Sinne
ausgelegt werden, der sich dem Begriff der Liebe bei Binswanger annähert. Die Grundform
menschlichen Daseins bildet die Dualität, das liebende Wir mithin, die Begegnung von Du
und Ich, welches ein Wir eröffnet, aus dem Du und Ich heraustreten. Begegnung in Liebe
kann dann sein ein rückhaltloses Offensein und Sich-Geben für den jeweilig anderen; weder
Offensein noch Sich-Geben sind von einem Partikularinteresse am anderen geleitet. So bin ich
offen für dich als jemand, der eben du bist und sonst kein anderer an deiner Stelle. Du kannst
dich nicht in deinem Du-selbst-sein von anderen vertreten lassen – das ist deine
Einzigartigkeit. Genauso geschieht es in umgekehrter Richtung: ich werde meiner Einzigkeit
gewahr, weil nur ich mich dir nähern kann wie sonst niemand. Natürlich ist die Dualität – der
Begriff sagt es bereits aus – von Exklusivität geprägt, was jedoch nicht ausschließt, dass
selbst eine tiefe Liebesbeziehung zu Ende gehen kann.
In der Ich-Du-Beziehung sind Partikulares, Alltägliches, Zufälliges nebensächlich.
Relevant ist einzig das Wir, in dem Ich und Du einander begegnen; in dieser Hinsicht ist das
In-der-Welt-sein als Sein-bei-den-Dingen bestenfalls zweitrangig. Binswanger hat hier
Heideggers Begriff der Sorge im Hintergrund, in der die Jemeinigkeit des Daseins steht. Um
auf das Nietzsche-Zitat zurückzukommen: auch das liebende Miteinandersein sieht die Dinge,
die Welt nun mit anderen Augen, das ständig von Uneigentlichkeit im Man bedrohte Dasein
erfährt im Miteinander seine Eigentlichkeit, die sich nur da durchhalten kann, wo sie nicht
abgelenkt wird von Unwesentlichem, Störendem, das sich zwischen Ich und Du schiebt. So
stellt sich die Begegnung als eine eigene Sphäre dar, die sich von der gewohnten, uns
bekannten Welt abhebt. Problematisch ist an dieser Sicht der Liebe doch einiges: „Die Liebe
ist völlig unbestimmt, sie kennt nur die fraglose Wahrheit des Herzens. Wie aber läßt sich
15
ohne Eigenschaften, ohne Gegenstand, ohne faßbare Tatsachen etwas fassen, beschreiben,
beurteilen und sogar wissenschaftlich anwenden?“18
Binswanger muss seine radikale Idee einer liebenden Dualität zurücknehmen, um dem
mit- und umweltlichen Umgang und Verkehr Raum gewähren zu können, zumal das liebende
Miteinander nie gänzlich ohne Welt bestehen kann. Seine Konzessionen an die Weltlichkeit
und Weltgebundenheit fallen manchmal halbherzig aus, dennoch schreibt er:
Anderseits dürfen wir bei der phänomenologischen Aufhellung des liebenden
Miteinanderseins das Phänomen der Welt als solches nicht überspringen, wie
FEUERBACH es in seiner Philosophie der Zukunft getan hat, wo er – als Erster –
das Miteinandersein von Ich und Du anthropologisch in seiner Eigenart beschrieben
hat. Der Gruß, die Handschrift, die Stimme, das (welt-)räumliche Beisammen- oder
Getrenntsein sind auch (um-, mit-)weltliche Bewandtnisganzheiten, beruhend auf
ebensolchen Verweisungszusammenhängen oder Bedeutsamkeiten. Ja selbst die
Liebe zu Gott ist nicht möglich, wo Gott nicht „aus der Welt“ erfahren wird. Und was
von der weltlichen Erfahrung gilt, gilt erst recht von der weltlichen Bewährung der
Liebe. Liebe findet sich in der Welt und bewährt sich an der Welt (des Besorgens).19
Das Dilemma von Liebe (Dualität) und Pluralität (Mitsein von vielen) bzw. der Widerspruch
von der konkreten Welt und der Weltabgewandtheit in der Dualität wird dann erst
aufgehoben, wenn die Ganzheit des Daseins als Dualität, Pluralität und Singularität gefasst
wird.
Die Gebundenheit des Miteinanderseins als Dualis – als Zweiheit – an die Welt und
das sich in ihr Konkretisierende, d.h. Umstände, die nicht die Dualität begründen, aber auf die
sie angewiesen ist, kommt vornehmlich in der Leiblichkeit des Daseins zum Ausdruck. Von
Leiblichkeit ist Körperlichkeit zu unterscheiden. Ein Körper ist Untersuchungsgegenstand
empirischer Wissenschaften, der in einem System von Koordinaten einordenbar ist; dieses
System kann ferner physikalischer, mathematischer, soziologischer, juristischer, auch
ideologischer Natur sein. Der Körper ist ein Feststellbares, Fixierbares, welches einer
Untersuchung unterziehbar ist (wie es in der Medizin und in den Naturwissenschaften
stattfindet), welches verwendet werden kann (so wie Menschen als Arbeitskräfte verwendet
werden), und schließlich ist der Körper ein Etwas (man beachte das Neutrum, die
Geschlechtslosigkeit des Nomens!), das zu etwas dienlich ist20, um einen Zweck zu verfolgen
und diesen auch zu erreichen. Wie jedes belebte Wesen verfügt auch der Mensch über einen
Körper, der unerlässlich für das Dasein und das In-der-Welt-sein ist. Unser Körper unterhält
Vitalfunktionen, ohne die ein Leben gar nicht möglich wäre. Ist eine dieser Funktionen
18
Böckenhoff, Die Begegnungsphilosophie, S. 173
AW 2, 60
20
Die Dienlichkeit des Körpers, vornehmlich des Körpers des anderen erörtert Binswanger in den Grundformen
im Kapitel über den mit-weltlichen Umgang des Einen mit einem Anderen, dazu mehr in: AW 2, 239-343.
19
16
traumatisiert
(wie
etwa
eine
Knochenfraktur,
unzureichende
oder
übermäßige
Nahrungszufuhr, daraus resultierende Organschäden u.ä.), wird die Integrität des Körpers
bedroht. Fasst man den Begriff „Körper“ etwas weiter, dann erreicht man das
Gesellschaftliche wie etwa die Arbeitsumgebung und das damit verbundene soziale Umfeld.
So kann der Körper als Funktion verstanden werden, welche diversen Zwecken, Absichten
und Zielen dienen kann, wobei diese Funktion wohl auch zweckentfremdend eingesetzt
werden kann.
Anders steht es um den Leib des Menschen. Zwar ist jeder Mensch ein Körper, doch
niemand will sich durch seinen Körper vermittels dessen Funktionalität definiert wissen. Ein
Gerät z.B. wird daraufhin geprüft, ob es tauglich ist in dem Sinne, ob es „zu etwas gut“ ist. Es
geht hier um ein Ziel, das eingeholt werden soll. Bloße Körperlichkeit reicht jedoch nicht aus,
um den Begriff der Leiblichkeit zu erfüllen. Leib ist qualitativ – nicht quantitativ! – „mehr“
als der Körper. Was der Leib im Unterschied zum Körper bedeuten kann, illustriert Heidegger
in den Zollikoner Seminaren, die er gemeinsam mit Medard Boss21 gehalten hat. Dort ist u.a.
von Trauer und Tränen die Rede. Was Trauer heißt, weiß der, der eine geliebte und geschätzte
Person verloren hat, und doch verhält sich die Trauer nicht zu einem Gradmesser, der darüber
Auskunft gibt, wie traurig eine Person ist. Auch die Tränen lassen sich nicht messen, schon
gar nicht lässt sich das Weinen auf physiologische Zustände zurückführen, die wiederum nur
die Beschaffenheit der Tränenflüssigkeit erklären, wodurch die leidende Person im Ansatz
schon verkannt ist. „Bei der Tiefe einer Trauer fehlt vollends jeder Anhalt und Anlaß, sie
quantitativ zu schätzen oder gar zu messen. Bei einer Trauer läßt sich immer nur zeigen, wie
ein Mensch beansprucht und wie sein Welt- und Selbstbezug verwandelt wird.“22 Versteht
man den Tränenfluss als eine Abfolge von chemischen Prozessen, die übrigens vom Körper
vollzogen werden, dann kann man weder einen aus Trauer noch einen vor Freude Weinenden
verstehen.
Ein weiteres Beispiel zur Erhellung des Phänomens der Leiblichkeit ist das des
Fensterkreuzes – ebenfalls in den Zollikoner Seminaren diskutiert: Ich zeige auf das
Fensterkreuz, weil ich hinter (hier geometrisch-räumlich verstanden) dem Fenster etwas
wahrnehme, das mich interessiert, enttäuscht oder fasziniert. Mit meiner Handbewegung
möchte ich andere Anwesende auf diesen Vorgang aufmerksam machen. Die anderen werden
aber nicht meine Hand anstarren, sondern ihre Aufmerksamkeit dahin richten, was „hinter“
21
Heidegger, Martin: Zollikoner Seminare. Protokolle – Zwiegespräche – Briefe. – Herausgegeben von Medard
Boss. – Dritte, um ein Register ergänzte Auflage. – Frankfurt/Main : Klostermann, 2006. Hier besonders die
Seiten 105-115.
22
Heidegger, Zollikoner Seminare, S. 107
17
dem Fenster geschieht. Wäre diese Geste eine bloße Körpergeste, dann bekämen die anderen
nur meine Hand zu Gesicht und nicht das, worauf die Hand verweist. Mit der Hand endet
mein Körper, mein Leib hingegen erstreckt sich darauf, worauf die Hand verweist. Die Hand
– als Körperliches – ist ein Mittel des Verweisens in einem entsprechenden Rahmen oder
Zusammenhang, der mir aber nicht zugänglich ist, wenn ich leiblich nicht da bin, nicht in der
Welt bin.
Der Körper hört auf an der Haut. Wenn wir hier sind, sind wir immer in Beziehung
zu etwas. Also könnte man sagen, wir seien immer über den Körper hinaus. Allein,
diese Feststellung ist nur scheinbar richtig. Sie trifft doch nicht das Phänomen. Denn
ich kann das Leibphänomen nicht in der Relation zum Körper bestimmen. [...] Beim
Zeigen mit dem Finger auf das Fensterkreuz dort drüben höre ich nicht bei den
Fingerspitzen auf. Wo ist denn die Grenze des Leibes? [...] Grenze des Leibens (der
Leib ist nur insofern er leibt: Leib) ist der Seinshorizont, in dem ich mich aufhalte.
Deshalb wandelt sich die Grenze des Leibens ständig durch die Wandlung der
Reichweite meines Aufenthaltes.23
Wie Heidegger zeigt, bewege ich mich in der Zeit und im Raum, also in der Welt und in und
mit meinem Leib. Menschliche Grundvollzüge wie Erkennen, Handeln, Fühlen sind leibliche,
sie sind durch den Leib erst möglich. Der Leib fungiert also nicht als Schleier, hinter dem sich
ein Personkern versteckt hält, sondern die Person ist leiblich da. Interessant ist hier ein Blick
auf Rationalität, auf das Denken, durch das sich der Mensch erhaben wähnt. Der Vernunft
(ratio) wird Besonnenheit, Fähigkeit zur Reflexion zugesprochen – das allerdings erweist sich
als denkerischer Nachtrag zum Dasein als leibliches: als Dasein erweist sich unser Denken
und damit unser Begegnen anderen gegenüber als Verhalten; leibliches Dasein agiert bzw.
reagiert schneller, unvermittelter, treffender und unmittelbarer als Vernunft und Logik. So
wird der andere nicht primär und ursprünglich als Körper wahrgenommen, der eigengestaltige
Bewegungen ausführt, welche nachmalig nach Erkennen derselben interpretiert werden.
Kein Mensch käme auf den Gedanken, angesichts eines wütenden Tobsüchtigen
diesen
nach
den
gebotenen
Regeln
der
Wissenschaft
hin
zu
analysieren,
um
herauszubekommen, warum ein Mensch sich derart gebärdet. Der Leib, nicht die rechnende
Vernunft heißt mich die Flucht ergreifen. Ganz richtig zitiert Binswanger in diesem Sinn R.
A. Schröder:
Sehr gut und ohne alle philosophische Kunstausdrücke spricht dies R. A.
SCHRÖDER einmal im Beispiel der Zeugen- und Gehilfenschaft bei einem
unmittelbar geschehenden oder drohenden Unfall aus: „Wer kommt da schneller zu
Hilfe, unsere auf logischen Vergleichsschlüssen beruhende Kunde [...] oder die
Hand? Man könnte meinen und sagen, sie ‚denke’ schneller als unser umständlich
zusammenrechnender Verstand; aber sie ist in diesen wie in vielen anderen Fällen
nur das willigere Werkzeug unseres ursprünglichen Glaubens an die wirksamen
Zusammenhänge alles Geschehens, denen Verstand und Vernunft überall mühsam
23
Heidegger, Zollikoner Seminare, S. 112f
18
nachhinken, ohne ihnen jemals im vollen Sinne des Wortes auf die Spur zu
kommen.24
Im Hauptwerk Binswangers ist von der Leiblichkeit merkwürdigerweise selten die
Rede; er teilt seinen Begriff der Leiblichkeit jeweils den drei Grundformen des Daseins zu.25
Mehr ist diesbezüglich in seinen psychiatrischen Schriften zu erfahren26; festgehalten kann
dennoch werden, dass Binswanger das Phänomen Leib im Bereich der Mitweltlichkeit sowie
in dem der Eigenweltlichkeit erörtert. Was allerdings Leib in der ursprünglichen Weise des
Daseins (die Liebe) meint, kommt meistens versteckt zum Vorschein, größtenteils greift
Binswanger auf Lyrik zurück, die er für seine Absichten in Anspruch nimmt, hier wiederum
oftmals der Briefwechsel zwischen Elizabeth und Robert Browning mit Bezugnahme auf
beider Schrifttum.
Trotz der verhaltenen Ausführungen zum Thema Leib erkennt Binswanger den
Stellenwert desselben, auch der durch den Leib gestiftete und ermöglichte Bezug zum anderen
ist ihm klar: „Auch das Leib- und sogenannte Ich-Bewußtsein ist keineswegs ein monadisch
abgeschlossenes; auch in ihm ist sich Einer der Anderen nicht nur ‚bewußt’, sondern ist Einer
wesensmäßig Andere bedrängend und von ihnen bedrängt.“27 Die verwendeten Worte
„bedrängend“ und „bedrängt“ weisen bereits auf die Räumlichkeit des Phänomens, das der
Mensch selbst ist, hin: wer bedrängt mich und warum und wohin werde ich gedrängt? Die
hier erwähnte Bedrängnis ist nicht als violente aufzufassen – selbst dies hätte einen anderen
zur Voraussetzung, der bedrängt oder den man selber bedrängt.
Der Leib, den jeder Mensch hat und der jeder Mensch ist, ist zu einer
Selbstverständlichkeit heruntergekommen, sodass er gar nicht mehr als Leib erkannt wird;
Körper und Leib werden als Synonyma verwendet, d.h. weder Körper noch Leib sind des
Urteilens und Denkens fähig, wodurch beide, Leib wie Körper aus dem Menschsein
herausfallen. Welche Tragfähigkeit der Leib besitzen kann, wenn man ihm sie zugesteht, sagt
Nietzsche: „Leib bin ich ganz und gar, und nichts außerdem; und Seele ist nur ein Wort für
ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine große Vernunft, eine Vielheit mit einem Sinne [...].“28
Zum Leib gehören notwendig die Sinne, so etwa der Blick, er eröffnet die Präsenz des
anderen und meine Präsenz ihm gegenüber. Das Sehen bedeutet die Offenheit für die Welt
und leistet die Begegnung mit der Wirklichkeit des anderen. Wir kennen den liebenden,
24
AW 2, 249, Fußnote 3
Siehe dazu AW 2, 329-337, sowie 404-406
26
Diese finden sich in Band 1 (Über Ideenflucht sowie Drei Formen missglückten Daseins) und Band 4 (Der
Mensch in der Psychiatrie) der Ausgewählten Werke.
27
AW 2, 331
28
Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, in: Werke II, S. 300
25
19
flehenden, auch bittenden Blick; dagegen steht der verachtende Blick, auch das „SchöneAugen-machen“ ist bekannt. Wohl weniger bewusst ist man sich der Tatsache, dass ein Blick
Würde, Anerkennung und Achtung verleihen kann. Überhaupt ist hier mit Blick nicht der
Zustand des menschlichen Auges gemeint; die natürliche Eigenschaft des Sehens ist freilich
nicht unwesentlich, worum es aber tiefer geht, ist der Blick, das Sehenkönnen als
Gerichtetsein auf den anderen, in Folge davon dann das Geöffnetsein für die Welt:
In einzigartiger Weise kommt im Blick die Gegenseitigkeit der Begegnung zum
Ausdruck. Dem Anderen ins Auge schauen ist – von pathologischen und
medizinischen Fällen abgesehen – immer gleichzeitig, gegenseitig, ausschließend
zweiseitig. Drei Personen können sich nicht in die Augen schauen. [...] Man wird
sichtbar im sehenden Auge. Man öffnet sich darin. Anders den Andern anschauen ist
inhuman.29
Der mich vom anderen treffende Blick kann ein anerkennender sein, auf jeden Fall ist mein
Leib als erblickter ein objektivierter. Berühmt ist das Problem des Blickes, das Sartre
aufgeworfen hat und demzufolge der Blick des anderen das Sein in Begegnung als Konflikt
darstellt. Der Blick raubt dem Subjekt seine Leiblichkeit bzw. Ganzheit: „Erscheint also unter
den Gegenständen meines Universums ein Moment der Desintegration eben dieses
Universums, so nenne ich das das Erscheinen eines Menschen in meinem Universum.“30
Eine gegenteilige Ansicht vertritt Lévinas; bei ihm ist der Blick des anderen ein
rufender, fragender, der das Ich zu sich (d.h. das Sich des Anderen) zitiert. Die Gegenwart des
anderen stellt mein unbedarftes In-der-Welt-sein in Frage, indem es mich auffordert,
Rechenschaft abzulegen.31
Von zentraler Bedeutung für jede Begegnung sind Sprache und Hören, zumindest in
dieser Hinsicht sind die Philosophen des Dialogs einig: Für Ferdinand Ebner ist Sprache das
„Vehikel“ der Ich-Du-Beziehung, für Martin Buber sind „Ich“ und „Du“ sogar Grundworte,
die gesprochen einen Bestand stiften und Romano Guardini fasst Sprache als Sinnraum, in
dem jeder Mensch lebt. Das Wesentliche in der Sprache ist weniger ein Akt, ein vollzogener,
geäußerter Satz, obwohl Lautlichkeit und Artikulationsvermögen genauso wie die
entsprechenden Körperorgane (Lunge, Larynx, Mund, etc.) unabdingbar sind. Selbst bei
völliger physischer Intaktheit dieser Voraussetzungen kann ein Mensch viel reden, ohne
jedoch etwas gesagt zu haben. Binswanger hat solch leeres Gerede als „Schwatzhaftigkeit“,
29
Böckenhoff, Die Begegnungsphilosophie, S. 272
Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts : Versuch einer phänomenologischen Ontologie. – Herausgegeben
von Traugott König. Deutsch von Hans Schöneberg und Traugott König. – Reinbek : Rowohlt, 1993. –
(Philosophische Schriften ; 3), S. 461
31
Siehe dazu: Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit : Versuch über die Exteriorität. – Übersetzt von
Wolfgang Nikolaus Krewani. – 2. unveränderte Auflage 1993. – Freiburg/Breisgau ; München : Alber, S. 103109
30
20
„Großmäuligkeit“, „unechte Großzügigkeit“ benannt.32 Das Phänomen des Sich-mitteilens
wird damit ins Negative verkehrt (per-vertiert) – nicht der andere ist es, dem die
Aufmerksamkeit zukommt, sondern ich bin es, der anderen forsch und brüsk Gehör
abverlangt.
Bei Heidegger besitzt die Sprache den Rang eines Existenzials, also ein das Dasein
Konstituierendes. Eben dieses Konstituens stammt aus dem vorgängigen Mitsein. Sobald man
über Sprache nachdenkt, passiert es oft, bloß den Vollzug des Sprechens im Auge zu haben,
ohne sein Komplementärphänomen zu beachten – nämlich das Hören, das dem Sprechen
bereits vorgeordnet ist. Das Hören bestimmt die Rede:
Das Hören auf ... ist das existenziale Offensein des Daseins als Mitsein für den
Anderen. Das Hören konstituiert sogar die primäre und eigentliche Offenheit des
Daseins für sein eigenstes Seinkönnen, als Hören der Stimme des Freundes, den jedes
Dasein bei sich trägt. [...] Das Aufeinander-hören, in dem sich das Mitsein ausbildet,
hat die möglichen Weisen des Folgens, Mitgehens, die privativen Modi des NichtHörens, des Widersetzens, des Trotzens, der Abkehr.33
Auch wenn das Ich mit sich alleine ist, ist ein anderer gegenwärtig, so wenn sich das Ich
andere Personen vergegenwärtigt, deren Präsenz bereits schon gewesen ist, oder erst noch
kommen wird. Bereits das Selbstdenken trägt den Charakter des Dialogs, insofern das Denken
person- und objektbezogen ist.
Der allgemeine, alltägliche „Gebrauch“ der Sprache zielt auf deren Funktion; sie wird
rechtmäßig angewendet, um Informationen, das Befinden des anderen und ähnliches – meist
Unverbindliches – zu erfahren. Mit Buber kann man feststellen, dass Sprache als funktionale
die Es-Welt wiedergibt.34 Verharrt der Sprechende in diesem Sprachmodus, dann begibt er
sich in ein Gerede, wie es Heidegger ausdrückt, welches das Man erfüllt. Ein Gespräch
zwischen Ich und Du, in dem beide füreinander – jeder für sich zum anderen sprechend und
vice versa – da sind und einander Sprechen wie Hören gewähren und gelten lassen, ist im
anonymen Man nicht möglich, zumal das Man das jeweils einzige Ich und Du gleichmacht, zu
Unpersönlichem nivelliert.
32
Dies wird vor allem in AW 1 behandelt.
Heidegger, Martin: Sein und Zeit. – unveränderter Nachdruck d. 15. Aufl., an Hand der Gesamtausgabe
durchgesehene Aufl. mit den Randbemerkungen aus dem Handexemplar d. Autors im Anh. – Tübingen :
Niemeyer, 1986, S. 163. Siehe dazu auch: Pöltner, Günther: Was heißt Hören?, in: Daseinsanalyse 10 (1993), S.
149-161. Ferner interessant und aufschlussreich sind die Forschungen des französischen Otolaryngologen Alfred
A. Tomatis, Der Klang des Lebens : vorgeburtliche Kommunikation – die Anfänge der seelischen Entwicklung. –
Deutsch von Heiner Kober. Einf. und Bearb. von Sabina Manassi. – Reinbek : Rowohlt, 1998. – (rororo
transformation ; 18791)
34
Siehe dazu den ersten Teil von Bubers Ich und Du, in: Ders.: Das dialogische Prinzip. – Orig.-Ausg., 7. Aufl.
– Gerlingen : Schneider, 1994
33
21
Treffend bringt das Hölderlin auf den Punkt. Im Gedicht Mnemosyne (ύ zu
Deutsch: Erinnerung, Bedacht) erfasst er die in die Irre führende Funktionalität einer
bestimmten Auffassung von Sprache:
Ein Zeichen sind wir, deutungslos,
Schmerzlos sind wir und haben fast
Die Sprache in der Fremde verloren.
[…]
Lang ist
Die Zeit, es ereignet sich aber
Das Wahre.35
Der Titel des Gedichts ist nicht ohne Behutsamkeit gewählt; der Verlust von Erinnerung,
Bedacht (d.h. das absichtslose Gespräch) führt uns als deutungsloses Zeichen vor, das jedes
Sinnes und jeder Gerichtetheit (nämlich auf das Du) verlustig gegangen ist. Als Resultat
dieser den anderen verfehlende Sprachlosigkeit sind wir schmerzlos, weil sich Ansprache und
Zusprache nicht ohne Schmerz, das meint Angegangenwerden, Erleidnis, ereignen. Erleiden,
nicht bloß medizinisch interpretiert, schließt Getroffensein, Hören und Antwortgeben ein.36
Die in der Fremde verlorene Sprache meint dann weiter die Trennung von Ich und Du, eine
Zerrissenheit des Gesprächs, die zwar lange her ist und dementsprechend gedauert hat, die
aber keinen ursprünglichen Zustand mehr aufweist. Hölderlin sieht in der „wiedergefundenen
Sprache“ die Hoffnung, doch noch die Möglichkeit für das Ich und das Du, in Ehrlichkeit und
Aufrichtigkeit einander zu begegnen. In diesem Miteinander macht er das eigentliche,
authentische Menschliche aus: „Lang ist / Die Zeit, es ereignet sich aber / Das Wahre.“
Binswanger verfährt ähnlich, auch er unterscheidet Sprache als Mittel zur
Kommunikation von der Sprache in der und durch welche Ich und Du einander begegnen. Er
setzt an bei der „Schiedlichkeit des Sprechens“, die von einer einseitig konstituierenden
Intentionalität ausgeht.37 Unverbindliche Sprache wird hier in die Nähe der Sorge, des Man,
der Anonymität gerückt, von welcher Binswanger den Dialog der Liebe abhebt. Ex negativo
stellt sich die Sprache des liebenden Miteinander tatsächlich als Schweigen dar, insofern es ihr
nicht um Allgemeines, Unverbindliches, Unverpflichtendes zu tun ist, d.h. also, Sprache dient
nicht dem Informationsaustausch, in dem Fragender und Antwortender vertauschbar wären.
Nicht, dass Liebende einander nichts zu sagen hätten, das wäre die Auflösung jeder
35
Hölderlin, Friedrich: Gedichte. – Erste Aufl. 1984. – Herausgegeben und mit Erläuterungen versehen von
Jochen Schmidt. – Frankfurt/Main : Insel, S. 199f
36
Das Schmerzlose in Hölderlins Gedicht ist die ἀά – die Leidenschaftslosigkeit, Gelassenheit, die
Teilnahmslosigkeit, die a-passio. Das Gegenteil dazu ist die (nicht passivisch zu verstehende) Rezeptivität, die
Fähigkeit, aufzunehmen, am anderen teilzuhaben.
37
AW 2, 181
22
Beziehung; sie haben im Gegenteil sehr viel zu sagen, welches aber das noch Ungehörte,
Unerhörte einschließt. So ist
[...] die Wirheit im Lieben unartikulierte, undeterminierte, in einem Wort
ungeschiedene, nämlich rein überschwingende Fülle, also Sprachlosigkeit, sprach-, ja
atemlose Stille, eine Stille, die, als Daseinsbestimmung, keineswegs eine Negation
oder Privation (ein Fehlen von Laut, Lärm, Geräusch oder Ton) bedeutet, sondern die
höchst positive, „lautlose“ Erfüllung und Durchdringung des gesamten Daseins.38
Das Verständnis von Sprache zielt nicht auf die mediale Sprache oder Sprache als Instrument
ab, Binswanger spricht von einem unmittelbaren „Daseinsgespräch“. Das bedeutet, das
Dasein selbst steht im Gespräch, in diesem Sinn beschließt Hölderlin sein Gedicht
Friedensfeier: „Seit ein Gespräch wir sind / Und hören können voneinander.“39 Hölderlin sagt
nicht, wir führen ein Gespräch, sondern wir sind ein Gespräch. Sprache ist kein Akzidens, das
dem Menschen mehr oder weniger zufällt und ohne die er ebenso existieren könnte. Bereits
die Gerichtetheit eines Ich auf ein Du hat sprachlichen Charakter als Öffnung auf und Freisein
für ein Du, auch wenn de facto keine lautliche Äußerung stattfindet. Die Sprachbegabtheit ist
damit eine grundlegende, existenziale Kategorie.
Von der Existenz des Menschen als Sprache, als im Dialog Stehender unterscheidet
Binswanger zweckbestimmte Dialogformen und nennt deren drei: 1) der sokratische Dialog,
in dem es um Eruieren, Klären und Vertiefen eines Sachverhaltes geht; 2) der Dialog des
praktischen Verkehrs in Alltag und Gesellschaft, hier steht das Wort im Dienst der sozialen
Bindung; 3) der narrative Dialog, dem es um die Feststellung eines Tatbestandes geht, sei
dieser aus persönlicher Neugier oder aus sachlichem Interesse. Diese Weisen des Dialogs
haben mit der Sprache in der Begegnung nichts gemeinsam:
Der liebende Dialog ist an und für sich nicht nur ohne „sachliches“ Thema, sondern
auch ohne Zweck. Als zweck-freier oder zweck-loser untersteht er weder einem
sachhaltigen, noch einem eristisch-machtgierigen, noch einem gesellschaftlichen,
noch einem historischen Zweck.40
Stets betont Binswanger die Verflochtenheit von Liebe und Sorge, d.h. die Weltgebundenheit
der Liebe, die sich in den Sorgestrukturen des Daseins zeigt. Allerdings schwankt er ständig
zwischen Liebe, wie sie sich in der Welt zeigt und manifestiert und einer Idee von Liebe, die
das Ich bzw. das Du als in der Welt Auftretendes nicht thematisiert:
Das liebende Gespräch „dreht sich“ nicht um ein thematisiertes Sachgebiet; es ist
kein Etwas, kein „Gegenstand“, worüber die Liebenden „wahrhaft“ reden oder
„wahrhaft“ schweigen, sondern es ist das Dasein als Heimat, Du-Ich, Wir, wovon sie
wahrhaft redend und schweigend zeugen.41
38
AW 2, 179
Hölderlin, Gedichte, S. 163
40
AW 2, 191
41
AW 2, 192
39
23
In dieser Ambivalenz ist die Sprache der Liebe angesiedelt, und zwar in zweifacher Weise:
„[…] als Nennung der Geliebten und als liebendes Gespräch (wozu auch der Liebesbrief und
das Liebesgedicht gehören).“42 Nicht umsonst führt Binswanger sehr oft Liebesgedichte und
Textpassagen namhafter Dichter an, neben Elizabeth und Robert Browning Goethe, Valéry,
Shakespeare. So ist die Offenheit füreinander, in der die Begegnenden stehen, nicht deren
eigenes Gesprächsthema, sondern der Hintergrund jedes Gesprächs. Natürlich hat in der IchDu-Beziehung das Wort einen eigenen, besonderen Stellenwert. Selbst wenn das geliebte Du
über Alltägliches spricht, so ist dieses Sprechen von anderer Bedeutung als wenn jemand
Dritter genau denselben Sachverhalt schildert. Liebende Zwiesprache geht gerne so weit,
einen eigenen Sprachcode zu etablieren, dessen sich nur Ich und Du bedienen können: „Nicht
was das Wort bedeutet, entscheidet hier, sondern daß Du es bist, die es ausspricht.“43
Die bislang erwähnten Phänomene der Begegnung wie Leiblichkeit, Körper, Sprache,
Hören, die Beziehungsrelata Du und Ich, sowie die Liebe als solche erhellen das Ereignis der
Beziehung als ein dynamisches, das erstarrt, sobald es als statisches aufgefasst wird. Jede
Einmaligkeit von Ich und Du wäre damit preisgegeben, auch die Eigenart von Räumlichkeit
und Zeitlichkeit, die die Liebenden einander gewähren und eröffnen, ist dann verdeckt.44
Umgekehrt soll die Betonung der Dynamik und des Wandels der Begegnung nicht dazu
verleiten, anzunehmen, dass die Beziehungspartner sich in einem ständigen Umbruch
befinden, was dazu führen würde, dass dem Ich und dem Du ihre Substanzialität genommen
würde (vgl. sub-stare als jenes, das „darunter steht“, das das tragende Fundament bildet). In
eine Begegnung kann erst jemand eintreten, der bereits Subjekt ist, Du eines Ich allerdings
kann erst werden, der in der Beziehung steht. Das Paradox Selbstand des Ich (bzw. Du) versus
Selbstwerdung im und am Du stellt Karl Löwith etwa wie folgt dar:
Als „Du“ bist du mir gegenüber nicht dadurch selbständig, daß du dich auf dich selbst
zurückziehen und dich so für dich selbst als (anderes) Ich bestimmen kannst, sondern
deine Selbständigkeit kannst du mir positiv nur dadurch erweisen, daß du als zweite
Person dich zugleich in erster Person zur Geltung bringst, wie auch andererseits Ich –
die erste Person – zugleich als der Deine – in zweiter Person bestimmt bin. [...] indem
wir zueinander im Verhältnis stehen, entdeckt sich in dieser zweiten Person eine
selbständige „erste Person“, zeigst du dich mir als „Du selbst“. Dagegen bleiben wir
uns als je für sich selbständiges Ich, das nur in der Weise des singularen „bin“ sein
kann, unzugängliche, unmitteilbare Individuen.45
42
AW 2, 184
AW 2, 191
44
Siehe AW 2, 15-59
45
Löwith, Karl: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. – 2. unveränderter reprografischer Nachdruck
der Ausgabe München 1928. – Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1969, S. 128
43
24
Begegnung setzt zwar ein schon konstituiertes Ich und Du voraus, in der Begegnung dann
erlangen beide ihre Selbständigkeit, die sich am jeweiligen anderen bewährt oder
bewahrheitet. Binswanger schließt gewissermaßen programmatisch daraus: „Es ist also zu
zeigen, daß und wie Ich-selbst und Du-selbst – im Sinne der Liebe – sein können, ohne daß
Wir – im Sinne der Liebe – aufhören zu sein.“46
Binswanger ist sich der Problematik bewusst, dass Ich und Du in beidseitige
Abhängigkeit geraten können, womit ein gemeinsam gestiftetes Wir unmöglich wird.
Andererseits ist ihm klar, dass das selbständige Du seine eigene Personalität geltend machen
muss, ohne dabei jedoch die Wirheit zu gefährden. Dieses Paradoxon kommt wie folgt zum
Ausdruck: „Je größere Wirklichkeit der Wirheit, umso größere Möglichkeit der
Selbständigkeit von Mir und Dir, und je größere Wirklichkeit der Selbständigkeit von Mir und
Dir, desto größere Möglichkeit der Wirklichkeit.“47
Die bis jetzt dargelegten Grundcharakteristika der Philosophie der Begegnung führen
immer wieder zur Frage nach dem Konstitutionsverhältnis der Beziehungspartner. Eine
unbedachte, reflexartige Begegnung ist eine durchaus natürliche und allgemeinverständliche,
jedermann bekannt. Sie stellt somit kein Problem dar, das an oben genannte Themen rührt. Es
geht um Fragen wie die nach dem Vorrang des Ich vor dem Du oder umgekehrt, es geht um
Einheit als Wirheit gegenüber Vielheit in Singularität. Wohl gibt es für beide Positionen
Gründe und Gegengründe, die diskutiert werden. Grundlage dieser Diskussion bildet eben
aber die Tatsache, dass der Mensch mit anderen Menschen lebt – der Einwand, der Mensch
lebe gegen seinesgleichen, fußt genau auf dieser Tatsache, dass nämlich ein Gegeneinander
ein vorgängiges Miteinander zur Voraussetzung hat. Ein Alleinesein schließt Konflikte aus,
weil ein anderer gar nicht anwesend ist. Der zwischenmenschliche Dialog spricht seinerseits
gegen ein monadenartiges Dasein – der andere muss als einzigartiges Gegenüber da sein,
damit
eine
Begegnung
gestiftet
werden
kann.
Ein
wesentlicher
Gedanke
der
Dialogphilosophie – das Miteinander – hat bekanntlich Feuerbach formuliert. In seinen
Grundsätzen der Philosophie der Zukunft schreibt er in der Vorrede: „Die Philosophie der
Zukunft hat die Aufgabe, die Philosophie aus dem Reiche der ‚abgeschiedenen Seelen’ in das
Reich der bekörperten, der lebendigen Seelen wieder einzuführen [...].“48 Im weitern der
Paragraph 61 aus den Grundsätzen:
Der einzelne Mensch für sich hat das Wesen des Menschen nicht in sich, weder in
sich als moralischem, noch in sich als denkendem Wesen. Das Wesen des Menschen
46
AW 2, 110
AW 2, 111
48
Feuerbach, Ludwig: Gesammelte Werke Bd. 9. Kleinere Schriften (1839-1846) – Herausgegeben von Werner
Schuffenhauer. – 3., gegenüber der 2. durchgesehene Aufl. – Berlin : Akademie-Verlag, 1990, S. 264
47
25
ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen
enthalten – eine Einheit, die sich aber nur auf die Realität des Unterschieds von Ich
und Du stützt.49
Gemeinschaft, Sozietät, Binswanger würde sagen „Wirheit“, ist nicht gleichbedeutend mit
Nivellierung, wie sie in Interessengruppen, Parteien, Ideologien und missverstandenen
Religionen stattfindet. Eine gleichmachende Gemeinschaft (man denke an Heideggers Man)
ist ebensowenig eine Gemeinschaft wie eine, in der jedes Mitglied die eigenen Interessen
hervorkehrt. Hier haben wir es mit fehlgeleiteten Vorstellungen von Wirheit zu tun; eine
sinnvolle und sinnstiftende Gemeinschaft ist erst da konstituiert, wenn Ich und Du (eventuell
andere – Dritte) das jeweils Eigene mit- und einbringen, um so die Integrität des Einzelnen im
Gemeinsamen zu bewahren. Insofern in der Begegnung das Ich sein Eigenes, das nur das Ich
und sonst niemand anderer hat, mit-teilt, wird das Ich ein Ich-selbst; dasselbe – die Ich-selbstWerdung – erfährt dabei das Du. In der Offenbarung des Selbst geschieht Wahrheit in der
Begegnung; Lévinas nennt die Selbstoffenbarung des Ich „Antlitz“: „Das Von-Angesicht-zuAngesicht kündigt eine Gesellschaft an und gestattet gleichzeitig, am getrennten Ich
festzuhalten.“50
Beharrt man strikt auf der Selbständigkeit von Ich und Du, dann belastet dies die
Gemeinschaft; hebt man den Raum des „Zwischen“ als Absolutes hervor, so drohen Ich und
Du im Wir zu amalgamieren. Doch ist das eine Scheindialektik, weil das Verhältnis zwischen
Menschen die Logik verlässt und diese übersteigt. Der Mensch ist weder ein logisch
greifbares noch berechenbares Seiendes. Mittels der Logik oder naturwissenschaftlicher
Methoden an den Menschen herangehen, heißt, ihn zum Objekt, zur Sache zu machen und ihn
dadurch zu verfehlen. Vor allem und gerade die Philosophie der Begegnung neigt zu einer
Verbegrifflichung dessen, was sie aus den Begriffen heraustreten lassen will, welches
bedeutet, dass Phänomene wie Ich und Du, Beziehung, Wirheit, Liebe sich schwer aus einem
gedanklichen Schema herausholen lassen, in welches wir selbst sie gebracht haben.51 Eine
treffende Charakteristik des dialogischen Denkens gibt Böckenhoff wie folgt:
49
Feuerbach, Gesammelte Werke Bd. 9. Kleinere Schriften, S. 338f
Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 91
51
Dass sich das Ereignis des Einander-Begegnens im Nachhinein schwer in Worte fassen lässt, ist nicht zu
bezweifeln. Wie kann ich das mir Widerfahrende adäquat zur Sprache bringen? Das mag gelingen, indem ich
persönlich Erlebtes zu Objektivem abstrahiere und damit unter den Anspruch des Allgemeinen bringe, wozu ich
eine vergegenständlichende Wortwahl nutze. Dass aber damit das sich Ereignende – die Begegnung – oft
verfehlt wird und wir uns dessen bewusst sein müssen, dürfte in der Philosophie des Dialoges bekannt sein. Die
Intensität einer Begegnung, ob sie bereichernd oder enttäuschend war, erschließt sich uns erst nach dieser;
dennoch sind es wir, die dieses Resümee zu ziehen haben. Das Ereignis, das in der Begegnung erst möglich
geworden ist, muss sozusagen „festgemacht“ werden, ihr „Fließcharakter“ (der „Gedankenfluss“) muss in Worte
gefasst werden, die objektiv mitteilbar sein können. Mit Blick auf Ferdinand Ebner sagt Wucherer-Huldenfeld:
„Im Sichaussagen und Ansprechen der ‚aktuellen Existenz’ ist das Geschehen noch nicht vermittelt kon-statiert,
distanziert als etwas fest-gestellt. Das Geschehen als ‚bin’ und ‚bist’ hat irgendeinen Vorrang, eine
50
26
Der Ansatz dieses neuen Denkens, den wir in der Priorität des Wir vor dem Ich
sehen, ist zwar keine willkürliche, aber doch im allgemeinen eine rational
unbewiesene Behauptung. Von verschiedener Seite her konnte uns diese Grundthese
empirisch nahegebracht werden. Erkenntniskritisch ist sie weder beweisbar noch
eigentlich zugänglich. [...] Im Ganzen gesehen fehlt ein logisch klarer Beweis der
Begegnungsphilosphie – was von ihrem eigenen Standpunkt aus wohl zu verstehen
ist –, in vielen Punkten jedoch läßt sich ein Aufweis nicht bestreiten. Es gibt
vielleicht doch mehr, als beweisbar ist.52
Selbst wenn die Philosophie des Dialogs Gefahr läuft, unwissenschaftlich zu arbeiten, so wäre
gerade ihre Unwissenschaftlichkeit – was nicht mit Irrationalität oder Willkür zu verwechseln
ist –, ein Hinweis darauf, mit wem sich die Philosophie überhaupt einlässt – mit dem
Menschen. Will die Philosophie den Einzelwissenschaften (Teil)erkenntnisse des Phänomens
„Mensch“ zubilligen, dann ist es offensichtlich, dass sie selbst zu anderen Methoden greifen
muss, als es die Einzelwissenschaften tun. Darin etwas Arbiträres sehen zu wollen, ist selbst
bereits mit ungeklärten Vorurteilen beladen.
Der Versuch, im anderen den Menschen in den Blickpunkt zu bekommen, wird von
den Naturwissenschaften vielseitig belächelt. Die empirischen Wissenschaften – im
angloamerikanischen Sprachraum passend als hard sciences benannt – pflegen ein
mathematisches Verständnis der Welt, welches Vermessung und Berechnung des (dem
Forscher) Gegebenen im Visier hat, wodurch das Individuelle generalisiert wird, was nichts
anderes zur Folge hat, als dass das Einzelne, Unwägbare, letztlich das Persönliche außer
Betracht fällt. Diese Herangehensweise führt dazu, dass der Mensch als Mensch nicht erkannt
wird. Klar ist es möglich, etwas am Menschen festzustellen oder zu diagnostizieren, das
Diagnostizierte ist im ungünstigsten Fall eine Krankheit, nie jedoch ein Mensch. Binswanger
als Begründer der Daseinsanalyse gewährt dem Menschen einen breiteren Raum, wenn er
versucht, den psychisch Erkrankten nicht nur als solchen, sondern als Mitmensch zu
verstehen, woraus sich erst eine heilsame Beziehung zwischen Arzt und Patient bilden kann.
Vor allem die Seelenheilkunde soll sich bewusst sein, dass der Kranke – der andere – nur aus
der Begegnung verstanden werden kann. Begegnung, die das Wesen des anderen zulässt,
fordert keine Gegenständlichkeiten oder Objektivierungen; so schreibt der Schweizer
Psychiater Alois Hicklin:
Aus dieser Sicht wird nämlich der Mensch als derjenige verstanden, der Begegnung
ist. Das, was das Wesen des Menschen ausmacht, ist damit nicht einfach etwas
Gegenständliches – ein Körper, der an der Körperoberfläche endet und der dann mit
anderen Körpern und Dingen über irgendwelche physikalische Kräfte in einem
Energieaustausch steht und sich dann in seinem Innern aus diesen Aussensignalen
eine innere Welt abbildet. [...] Der Mensch ist gerade nicht ein isoliertes psychisches
Ursprünglichkeit vor allem beharrenden Sein [...].“, in: Ders.: Personales Sein und Wort. Einführung in den
Grundgedanken Ferdinand Ebners. – Wien [u.a.] : Böhlau, 1985, S. 43.
52
Böckenhoff, Die Begegnungsphilosophie, S. 423
27
oder physisches Subjekt, dem sich dann sekundär bei Auftauchen von
Aussenobjekten noch so etwas wie eine Beziehung hinzugesellt. Vielmehr ist der
Mensch gar nicht, es sein denn als ein „in-Beziehung-Stehender“.53
Der Begegnung wesentlich ist der Offenheitsraum, in dem die Beziehungspartner einander
begegnen. Hier kann nun sinnvoll von einer Existenz des Menschen gesprochen werden, wenn
die Herkunftsbedeutung des Begriffes Existenz klar wird: Existenz von ex(s)istere, das
„Herauskommen“, „zum Vorschein kommen“, „Aus-stehen“, „Offen-halten“ meint. Existenz
steht aus seinem eigenen Grund hervor, indem sie sich dessen besinnt und sich ihm gegenüber
offen verhält, um den Grund „empfangen“ zu können. In seinen Beiträgen zur Philosophie
betrachtet Heidegger den Grund und den Zugang zu ihm; der Grund gründet, er wird erreicht,
indem er als gründender Grund belassen wird. Sieht man mit Binswanger den Modus der
Dualität als ursprüngliche Weise des Miteinanderseins, dann ist der Ursprung jener Grund,
der gründet und der uns gründet und uns uns gibt.54 Darf man schon sagen, dass dieser Grund
das Du und das Ich trägt und beide in das entlässt, was sie sein, woraus sie existieren können?
Das Wissen um den Grund, der uns ins Offene trägt, versteht sich nicht von selbst, obwohl
wir uns in diesem Offenen aufhalten, vor dem wir uns allerdings auch verschließen können.
Ist dieser Grund ein schaffender, schöpferischer, der uns ruft, der zu sein, der wir (in
principio) schon sind – als In-Beziehung-Stehende? Schließlich könnte ein Grund auch ein
zerstörender sein, der letztlich an sich selbst zugrunde geht. Wohl auch Hicklin erblickt diesen
Grund als freigebend:
Dieses tiefe und existentielle Aufeinanderangewiesensein vom Begegnenden und
dem Menschen, [...] dieses Einssein und doch Anderssein umreißt das tiefste
Geheimnis dessen, was wir als Begegnung umschreiben. Es umreißt dermaßen die
gesamte Existenz des Menschen [...], es umfasst so sehr den Sinn und das Wesen
menschlichen Existierens, dass dessen Leben in solchem Masse sinn-los zu werden
droht, als es sich dieser seiner menschlichen Aufgabe zu entziehen versucht.55
Hicklin sieht im Füreinander Sinn und Aufgabe des Daseins schlechthin; beide Partner sind in
einer Beziehung sehr ungleichartig und doch gleichberechtigt und damit von selbem Rang.
Sobald einer den anderen dominieren will, ist der wechselseitige Raum des Offenseins
zerstört:
So beinhaltet Offensein und Begegnung immer sowohl eine Annäherung im
Hinzugehen auf etwas, ein Ent-gegen-gehen, als auch ein Sich-nicht-auffressen-
53
Hicklin, Alois: Begegnung und Beziehung. Ein Versuch, zu umschreiben, was Frei-sein in Beziehungen sein
könnte. – Bern : Benteli, 1982, S. 29f
54
Siehe dazu: Heidegger, Martin: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). – Herausgegeben von FriedrichWilhelm von Herrmann. – 3. unveränderte Aufl. 2003. – Frankfurt/Main : Klostermann, S. 307. Zum Thema
Dialog und Miteinander: Wucherer-Huldenfeld, Augustinus Karl: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein.
Ausgewählte philosophische Studien I, darin besonders der erste Teil.
55
Hicklin, Begegnung und Beziehung, S. 30
28
lassen vom Begegnenden, also ein Stück Abstand, Distanz, ein Stück – gegen – als
Entfernung. Begegnung als ein „Gegen“ im zweifachen Sinne.56
Will der Mensch dem Sinn und der Aufgabe seines Daseins gerecht werden – als Sein in
Beziehung –, müssen Selbstand und Freiheit von Ich und Du gewahrt sein, die sich in der
Begegnung entfalten können. Das Vermögen, eine Beziehung eingehen und diese pflegen zu
können, setzt die Freiheit und Eigenständigkeit der anderen Person voraus, alles andere wäre
eine zwanghafte oder willkürliche Form von Beziehung. Hier unterscheidet sich die echte von
einer nur scheinhaften Begegnung. Dem Mediziner Frederik Buytendijk zufolge ist eine
Begegnung echt, „[...] soweit sich in ihr ‚das unergründliche Geheimnis des Anderen, die
Verhülltheit seines Daseins, die Unbestimmtheit seiner in der Freiheit verwurzelten Existenz
offenbart.’“57 Das Geheimnis, das der andere birgt, ist keine irrationale Mystifikation, sondern
das Ich ist gerufen, den anderen in der Offenheit der Begegnung sein zu lassen.
Das Sein-lassen des anderen setzt eben bereits Selbständigkeit und einen bestimmten
Grad an Unabhängigkeit voraus, also eine schon vorher eingetretene „Selbstfindung“.
Selbständigkeit und dadurch Beziehungsfähigkeit setzt die Anerkennung des anderen als
Eigenständigen voraus. Auf der anderen Seite steht die Unfähigkeit, auch der Unwille zur
Begegnung, sofern das Ich oder das Du sich in Zerstreuung, Abwechslung, Diversität – kurz:
in Nichtverantwortung – verliert. Diese eben genannten Daseinsweisen erinnern wiederum an
das Man, aus und in dem sich die anonyme, zahllose Masse konstituiert. Eine Auflösung des
Man ist nicht durch Kontaktnahme mit jedem Anonymen aufhebbar, dennoch stellt es eine
Gefahr für Beziehung wie für Selbstwerdung dar: „Innerlich verarmt ist nur jener Mensch, der
nur
mehr
auf
der
Kontaktebene
und
gleichzeitig
auf
jener
der
weitgehenden
Beziehungslosigkeit existieren kann.“58
Beziehung in ihrer Eigentlichkeit ist nur als Wechselspiel von Nähe und Distanz
möglich, d.h. Inter-esse, emotionale Zuwendung bei gleichem Gegenübersein, Raum-geben
und Raum-lassen für das Eigene, Persönliche – dies gilt sowohl für das Ich wie für das Du. In
diesem Ineinander, wohl auch „Durch-ein-ander“ von Nähe und Distanz ist Selbstand
möglich. Wieder ist Binswanger am Wort, für den sich aus der Wirheit, der liebenden und der
freundschaftlichen, die Konstitution von Ich und Du ereignet, sei diese Wirheit eine
56
Hicklin, Begegnung und Beziehung, S. 34
Rencontre/Encounter/Begegnung. Contributions à une psychologie humaine dédiées au Professeur F.J.J.
Buytendijk. – Utrecht/Antwerpen : Uitgeverij het Spectrum, 1957 (mit einem Vorwort von M.J. Langeveld),
S.12
58
Hicklin, Begegnung und Beziehung, S. 58
57
29
schicksalhafte, oder, idealiter, eine liebende, wobei beide einander nicht ausschließen.59
Binswanger überreicht Nietzsche das Wort:
Liebe und Zweiheit. – Was ist denn Liebe anders als verstehen und sich darüber
freuen, daß ein andrer in andrer und entgegengesetzter Weise als wir lebt, wirkt und
empfindet? Damit die Liebe die Gegensätze durch Freude überbrücke, darf sie
dieselben nicht aufheben, nicht leugnen. – Sogar die Selbstliebe enthält die
unvermischbare Zweiheit (oder Vielheit) in einer Person als Voraussetzung.60
Aus der Abhebung vom Wir gewinnt das Ich sein Selbst, was ja nicht heißen muss, dass das
Ich vorher „ein Nichts“ oder ein verkümmertes Subjekt war. Das soll heißen, das Ich tritt in
jedem Fall aus der Beziehung als ein anderes Ich heraus, mag es dann geläutert, enttäuscht,
bereichert, geliebt und liebend oder auch den anderen okkupierend sein; die Beziehung wird
von nun an eine andere sein. Damit will gesagt sein, dass jede Beziehung die an ihr
Teilnehmenden als Neue, Veränderte entlässt. Dieser Dynamik, die eine Begegnung trägt, ist
zuzurechnen, dass Ich und Du immer neu einer Selbstfindung unterworfen sind; dieser
Selbstwerdungsprozess ist möglicherweise das schwerste und wichtigste, das dem Menschen
aufgetragen ist. Das Fortschreiten des Selbstwerdens kann sich nicht als Zirkularität
abspielen, welche Stillstand bedeuten würde, sondern – als Postulat formuliert –das Ich wird
am Du ein Selbst und umgekehrt, diesen Vorgang nennt Binswanger Liebe.
Bleibt man bei Binswangers Interpretation der Liebe als Prozess des Ich-Werdens,
welches zugleich ein Du-Werden heißt, kommt man nicht umhin, einen Blick auf jene zu
werfen, aus deren Gedanken Binswanger schöpft, dementsprechend muss Bedacht auf jene
Denker des Dialogs genommen werden, die ihn motivierten und ihn in seinem eigenen
Denkweg bestärkten. In einem Brief an Richard Hönigswald vom 06.02.1947 vermerkt er
dazu: „Bei der langen Arbeit an dem Buch [die Grundformen, Anm.] hat es mich doch sehr
überrascht, wie sehr das Problem der Liebe von den Philosophen vernachlässigt worden ist,
mit wenigen Ausnahmen.“61
59
AW 2, 212
Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, in: Werke I, S. 767
61
Briefe und Briefstellen, in: AW 3, 316
60
30
2 Eine Standortbestimmung zur Phänomenologie der Liebe
2.1 Das Denken der Begegnung und die Medizin
Das explizite Vorhaben, den Begriff der Liebe zu durchleuchten, nimmt Binswanger in den
1942 erschienenen Grundformen in Angriff. Die dafür notwendigen Denkbemühungen liegen
– wohl durch das Thema bedingt – nicht klar strukturiert und systematisch vor, wodurch eine
Interpretation gut beraten ist, bei dem nachzufragen, welches Spuren zum Komplex Liebe
aufdecken helfen kann. Dass dieses Unternehmen Umwege wie Irrtümer inkludiert, ist selbst
beinahe notwendig, denn manches Ziel lässt sich erst durch Aberrationen erreichen, welche
erneut Fragen eröffnen. Wenn auch darin ein Sinn der Philosophie zu sehen ist, so dürfte im
Suchen dieses Weges ein „wegweisender“ Anfang gefunden worden sein.
Es wird nach dem zu fragen sein, was Binswanger in seiner ärztlichen Tätigkeit
bewegt, den Patienten nicht nur als zu Behandelnden aufzufassen, denn gerade das wirft er
der damaligen zeitgenössischen Psychologie und Psychiatrie vor. Wissenschafts- und
Medizingeschichte belegen „Paradigmenwechsel“, „Methodendiskussionen“ bis hin zur
„kopernikanischen Wende“. Als das sich darin Durchhaltende ist der Mensch als der, der das
zu Beschreibende beobachtet und dokumentiert. Das sich in diesen Prozessen Ändernde sind
Zufälligkeiten, Zustände, nicht eingerechnete Umstände, aber auch unbeabsichtigte Irrtümer
der Wissenschaft, die wiederum vom Menschen betrieben wird. Im Falle der Medizin ist der
Mensch Subjekt wie Objekt, d.h. Arzt und Leidender.
Der Mediziner forscht nach Gründen, Ursachen, Erscheinungsweisen der Krankheit,
deren Prognose und Heilungsmöglichkeiten. Etliche – „geläufige“ – Erkrankungen sind durch
Aufdecken ihrer Ursachen kurierbar; anderen Krankheiten kommt man jedoch nicht dadurch
bei, wenn diese von einem bestimmten Sinn geleitet werden, der zugleich dessen Ziel
darstellt. Wird man dieses Sinnes der Krankheit nicht gewahr, so droht die ärztliche
Heilpraxis zu einer reinen Symptombehandlung zu verkommen. Die Psychiatrie betreffend –
und um sie ist es Binswanger zu tun –, äußert sich diese Version der Behandlung darin,
psychisch Erkrankten Psychopharmaka zu verabreichen, ohne einen unterschwelligen Sinn
verschiedener Krankheiten aufzuklären, der sich durch die Wahl der Medikation wohl eher
verdeckt als zeigt.62 Diese therapeutisch wichtige Tatsache hat Binswanger ernst genommen:
62
Die Sinnhaftigkeit der Verschreibung sofort- und hochwirksamer Remedia wie Neuroleptika, Anxiolytika,
Antidepressiva ist nicht zu bezweifeln und nicht mehr wegzudenken, dennoch sollte man nicht vergessen, dass
eine reine, isolierte Pharmakotherapie selten zu einer Heilung führt. Erstes und wichtigstes Prinzip, wenngleich
es stets hervorgehoben, allerdings selten tatsächlich betrieben wird, bildet das Gespräch zwischen Patient und
Arzt. So schreibt Medard Boss – ein Schüler Binswangers – knapp: „Jede Therapie, auch die geringfügigste, ist
31
Wenn mein Thema nun aber lautet „Der Mensch in der Psychiatrie“, so soll damit
von vornherein zum Ausdruck gebracht werden, daß der Grund und Boden, auf dem
die Psychiatrie als eigenständige Wissenschaft Wurzel zu schlagen vermag, weder die
Anatomie und Physiologie des Gehirns noch die Biologie ist, weder die Psychologie,
Charakterologie und Typologie überhaupt noch auch die Wissenschaft von der
„Person“, sondern – „der Mensch“. Das klingt sehr einfach, ist aber heutigen Ohren
noch schwer zugänglich.63
Der zitierte Aufsatz wurde im Jahr 1956 publiziert, in einer Zeit also, in der sich Binswanger
vermehrt klinischen Studien widmete. Den Sinn und damit das Ziel des Satzes erfassen wir,
wenn uns klar wird, dass das vermeintlich Selbstverständliche das zugleich am schwierigsten
Fassbare ist. Demnach ist das Differenzierteste und Komplexeste, dem der Mensch in seinen
Forschungen nachgeht, der Mensch selbst.
Der Orientierungsverlust, der sich in der Wissenschaft zeigt (Medizin, Anthropologie,
Natur- wie Geisteswissenschaften), führt naturgemäß zu einer Methodendiskussion, auch zu
Kompetenzstreitigkeiten und daraus resultierenden Grabenkämpfen, wie nun dem
Forschungsobjekt Mensch seitens des Forschungssubjekts, welches ebenfalls der Mensch ist,
beizukommen
sei.
Objektiv,
dem
Allgemeinen
verpflichtet
und
intersubjektiv
nachvollziehbar sind Konstanten, die am Menschen feststellbar sind; was den Menschen von
jedem anderen Menschen trennt und hervorhebt, ist das Individuelle, durch welches ein
Mensch der ist (oder werden könnte), der er und nur er sein kann. An letzteres reicht die
naturwissenschaftlich orientierte Psychologie für Binswanger nicht heran. In seiner ersten
großen Schrift Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie aus dem Jahre 1922
heißt es bereits im ersten Satz:
Im Fortgange unserer psychiatrischen Aufgabe nämlich entfernen wir uns immer
mehr von der anschaulichen Wirklichkeit, von der psychologischen Person also, und
dabei tritt unser Weg nach zwei Richtungen auseinander: der eine führt zu dem
Begriff der Seele, des seelischen Funktionszusammenhangs oder des seelischen
Organismus’, der andere zu dem Begriff des neurophysiologischen Zusammenhangs
und so zum Gehirn oder zur Gehirnrinde.64
Sicher ist es ein Verdienst Binswangers, darauf hingewiesen zu haben, seelische
Geschehnisse oder die Erlebnisse einer Versuchsperson nicht auf deren hirnphysiologische
Prozesse zurückzuführen, also elektrochemische Interaktionen als Grund und Ursache
menschlicher Verhaltensweisen anzugeben. Wäre dies der Fall, so ließe sich ohne Umstände
erklären, warum ein Ich ein Gefühl der Fremdheit, Erwartung, Gleichmut, auch
deshalb im Grunde immer schon Sozialmedizin.“, in: Ders.: Grundriß der Medizin und Psychologie. Ansätze zu
einer phänomenologischen Physiologie, Psychologie, Pathologie und Therapie und zu einer daseinsgemäßen
Präventiv-Medizin. – 3., gegenüber der zweiten unveränderte Aufl. – Bern [u.a.] : Huber, 1999, S. 570.
63
Der Mensch in der Psychiatrie, in: AW 4, 57
64
Binswanger, Ludwig: Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie. – Nachdruck der Ausgabe
Berlin 1922, S. 1 (unveränderter Lizenznachdruck Springer-Verlag o.J.)
32
Widerwärtigkeit angesichts eines anderen empfindet. Dieser Empfindung geht ein
naturwissenschaftlich nicht erklärbarer Vorgang voraus, denn dieser müsste wiederum auf
Sinneswahrnehmungen rekurrieren, die ja die Naturwissenschaft zu erklären sucht.
Auf solche Art und Weise wird das zu Erklärende bereits vorausgesetzt – eine petitio
principii, die auf einer falschen Methodenwahl fußt: Nicht mein Gehirn (welches ein
medizinischer Begriff ist und das ich nie zu Gesicht bekommen werde) bestimmt mein
Verhalten zu denen, die mir begegnen; die Gebärde meines Verhaltens wie überhaupt jedes
Verhalten trägt in sich schon den Charakter einer Antwort dem mir Gegenübertretenden, ist
geprägt von bereits geschehenen Begegnungen, Erwartungen, Enttäuschungen, Hoffnungen,
sowie von meiner wie des anderen Gestimmtheit.
Diese täglichen Erfahrungen, die darum nicht schon selbstverständlich sind, werden
in einer mathematischen Gleichung nicht zu fassen sein. Um ein Beispiel zu nennen: eine
Umarmung, ein Kuss oder der Händedruck sind bekannte Phänomene, die räumliche Nähe
(oder Distanz) der Umarmung ist messbar, die Kraft der Hand, die eine andere drückt, ist
ebenso messbar, weil physikalischen Gesetzen gehorchend, selbst der leibliche Ort, den der
Kuss trifft, ist geometrisch darstellbar. So ist die Naturwissenschaft mittels ihrer Methoden
dahin gelangt, obige Phänomene für sie ausreichend zu erklären. Was allerdings nicht erklärt
wird, ist das, wonach gar nicht gefragt worden ist: ist die Umarmung eine Geste des
Abschieds oder der Ankunft? Ist der Kuss ein sich im Leib öffnendes Sein des einen mit dem
anderen oder ein Judaskuss, der mittels unterschobener bzw. verleugneter Leiblichkeit den
Geküssten anderen ausliefert? Äußert sich in der Kraft des Händeschüttelns eine gönnerhafte
Geste oder ist sie der Ausdruck des Dankes, des Respekts dem anderen gegenüber?
Als Vorergebnis kann damit gelten: die Anwendung verschiedener, mitunter einander
ausschließender Methoden führt zu divergierenden Resultaten bezüglich ein und desselben
Phänomens – hier eben der Mensch. Im Aufsatz Lebensfunktion und innere Lebensgeschichte
kommt Binswanger darauf zu sprechen.65 Der Begriff „Lebensfunktion“ ist ein
bezeichnender, zumal „Leben“ und „Funktion“ auf eine durch die Technik bestimmte Sicht
des Lebens hinweisen. Zum einen ist Leben quantitativ-funktional bestimmt, zum anderen
bedeutet „Lebensfunktion“ den Lebenszusammenhang als ein Ganzes und Umfassendes des
Lebens. Einen unscharfen Kontrapunkt dazu bildet die „innere Lebensgeschichte“, die den
Kern der Person bildet: „Den Quellpunkt oder das Zentrum solcher Erlebnisse [i.e. der
65
Dieser Vortrag wurde im Erscheinungsjahr von Sein und Zeit (1927) in der Gesellschaft „Die Hirnrinde“ (sic!)
gehalten, nun publiziert in AW 3, S. 71-94.
33
Lebensfunktionen, Anm.] nennen wir die (geistige) Person, den inneren geistigen
Zusammenhang ihrer Erlebnisgehalte aber ihre innere Lebensgeschichte.“66
Zwar zeigt sich hier eine Korrelation von biologischen Mechanismen, sich äußernd
als Lebensfunktionen und deren Aufhebung und Verarbeitung in der Lebensgeschichte,
dennoch relativiert Binswanger seine Behauptung zugunsten der inneren Lebensgeschichte,
die normierend auf die naturwissenschaftlich zu sehende Lebensfunktion wirkt. Seine
Ausführungen zeigen, dass die Bandbreite der Methoden, die am selben Objekt angewendet
werden, eine ebensolche Breite an Ergebnissen zutage fördert. Wie aber steht es dann um den
Menschen als solchen, will heißen, um den Menschen, der ein Ich zu sein beanspruchen darf
und gleichwohl um jenen, der als ein Du selbiges Recht hat? Welchen Rang nimmt die
Intersubjektivität vor allem in der Wissenschaft ein und mit welchen Mitteln lässt sie sich
erschließen?
Nun darf man Binswanger selbst ohne Zweifel als Arzt betrachten; in der Zeit seiner
Tätigkeit im Sanatorium Bellevue war es Brauch, dass Ärzte mit ihren Patienten in dem
Sinne zusammen „wohnten“, indem beide auch abseits der üblichen Visite und Therapien
einander begegneten und Umgang pflegten. Somit entstanden neben den rein ärztlichen
Kontakten durchaus auch private: Ärzte, Pfleger und Patienten thematisierten nicht nur die
jeweiligen Krankheitsbilder, abseits davon wurden kulturelle Diskussionen geführt.
Entsprechend nobel und vornehm wurde diese Heilanstalt ausgestattet und geführt, zu deren
Klienten Adlige, entsprechend Betuchte oder auch Künstler wie Gustaf Gründgens oder
Ernst Ludwig Kirchner zählten. Eine weitere Patientin war Bertha Pappenheim, die als Anna
O. in die Medizingeschichte einging.67
Zu diesem medizinischen Milieu, aus dem das Problem der Intersubjektivität
entsprang und das Binswanger weiter erschließen wollte und das ein wesentlich geistig
geprägtes war, gesellte sich ein intellektuelles Niveau, dessen Wirkung in seinen
Publikationen Niederschlag gefunden hat. Meist sind es Bezüge zur und Anspielungen auf
Literatur, während dagegen Zeitgenössisches, Politisches etwa, im Hintergrund steht, selbst
Briefe verraten darüber nur Weniges.68 Mag Binswangers Schrifttum einen gewissen
66
Lebensfunktion und innere Lebensgeschichte, in: AW 3, 73f
Einen kleinen Überblick diesbezüglich gibt der Herausgeber des ersten Bandes der Ausgewählten Werke im
Vorwort.
68
Treffend merkt Friedrich Heer dazu an: „Der deutsche Psychiater Bumke erinnert uns: ‚Ein echter Dichter
bereichert die Psychologie und Psychopathologie mehr als 100 Laboratorien und 1000 Gelehrte. [...] Der savant
bête: das ist der zur ‚Bestie’ werdende amusische, unerotische ‚reine’ Wissenschaftler, der die Dichtung verpönt,
sie nicht anerkennt als erste und letzte schöpferische Selbstfindung des Menschen.’“, in: Heer, Friedrich: Das
Wagnis der schöpferischen Vernunft. – 1. Aufl. – Stuttgart [u.a.] : Kohlhammer, 1977, S. 353. Der Briefwechsel
Binswangers ist teilweise in AW 3, S. 301-356 abgedruckt. Einer eigenen Publikation ist der Briefwechsel mit
Freud vorbehalten: Freud, Sigmund ; Binswanger, Ludwig: Briefwechsel 1908-1938. – Herausgegeben von
67
34
hermetischen Charakter zeigen, ist es angeraten, dieses auf eventuelle Verweise hin
durchzusehen. Sein Berufsethos legt er u.a. im Vortrag Über Psychotherapie aus dem Jahre
1934 dar; darin geht es weniger um analytische Deutungen oder Fachspezifisches, vielmehr
hat er das Handeln des Arztes zum Thema. Was Binswanger hier schreibt, scheint zunächst
simpel, dieses wird sich alsbald jedoch in der Psychotherapie wie in jedem authentischen
Gespräch als Bewährungsprobe erweisen:
Die Möglichkeit der Psychotherapie beruht also nicht auf einem Geheimnis oder
Mysterium, wie Sie hörten, überhaupt auf nichts Neuem oder Ungewöhnlichem,
sondern auf einem Grundzug der Struktur des Menschseins als dem In-der-Welt-sein
(HEIDEGGER) überhaupt, eben dem Mit- und Füreinandersein.69
Hier formuliert Binswanger die Bedingung der Möglichkeit nicht nur der Psychotherapie,
sondern jedes Gesprächs, das von einer Selbstaussage der Gesprächspartner getragen ist.
Sonach gilt der Satz, den er seinen Kollegen in die Hand gibt, für alle anderen ebenso. Soll
Psychotherapie also nichts Neues, Wesensfremdes sein, sondern im Miteinandersein
gründen, so ist es bezeichnend und fragwürdig, warum Menschen überhaupt der Therapie
bedürftig sind. Mit pädagogischem Sinn fährt er fort: das gemeinsame Mitsein als In-derWelt-sein geht auch den Arzt an – er hat zur Welt keinen anderen Zugang als der Patient
selbst,
[...] denn was uns existenziell das Nächste ist, wir selbst und unser Verhältnis zu den
Mitmenschen, kommt uns theoretisch immer erst zuletzt in den Blick; theoretische
Schau und theoretisches Fragen nämlich brauchen Distanz, Abstand, brauchen ein
festes, „ruhiges“ Auge, das sich über unser „zerstreutes“, „unruhiges“ alltägliches
Sein erhebt.70
Gilt dieser Aufsatz zwar als fachinterner, ist er gerade umso nutzvoller, insofern wir aus der
Wissenschaft vom und über den Menschen etwas extrahieren, das Binswanger in den
Grundformen forcieren wird. Dort wird denn vom Miteinander in Liebe die Rede sein; was
dieserart später dargestellt wird, liegt bereits keimhaft in der Beschreibung des Verhältnisses
von Arzt und Patient vor. Das Wesen des Dialoges bildet das Vertrauen, mit dem der Kranke
an den Arzt herantritt. Auf dieses Vertrauen soll und darf der Arzt bauen und hoffen.
Voraussetzung dafür wiederum ist die Krankheitseinsicht, die selbst jedoch noch keine
Heilung darstellt. Das Wesen der Begegnung ist hier vorgezeichnet:
Dieses Vertrauen ist das Geschenk, das der Kranke dem Arzt als unerlässliche
Bedingung jedes psychotherapeutischen Aktes macht und das Sie um so weniger
erhalten, je mehr Sie darum werben; denn es liegt, wie das Geschenk aller echten
Gerhard Fichtner. – Frankfurt/Main : Fischer, 1992. Die Korrespondenz wird kommentiert in: Binswanger,
Ludwig: Erinnerungen an Sigmund Freud. – Bern : Francke, 1956. Intimitäten oder für die Publikation
ursprünglich nicht Vorgesehenes darf man hier freilich nicht erwarten.
69
Über Psychotherapie, in: AW 3, 207
70
Über Psychotherapie, in: AW 3, 207
35
Kommunikation, jenseits von Absicht, von Mittel und Zweck, von Ursache und
Wirkung. [...] Dazu kommt ein Weiteres: Der Arzt muß das Vertrauen des Kranken
erwidern können, ihm auch seinerseits das Geschenk menschlichen Vertrauens
entgegenbringen [...].71
Binswanger verlangt von seiner eigenen Wissenschaft sehr viel, die Medizin soll dem
Leidenden Achtung und Respekt gewähren, ohne die eine Heilung gar nicht statthaben
könnte und die damit das Fundament der ärztlichen Wissenschaft bilden. Alles andere wäre
ein Abweichen von der Sphäre des Menschlichen. Der Arzt selbst hat zu bedenken, dass er es
nicht mit einer Krankheit, sondern mit einem Kranken zu tun hat. Wird auch der Kranke
dessen gewahr, ist es ihm möglich, das heilende Vertrauen zulassen zu können. Wohl sind
diese Forderungen bzw. Empfehlungen angesichts des Zeitmangels in heutigen Arztpraxen in
der Tat schwer umsetzbar, viele Ärzte (und auch Patienten!) wehren sich gegen
tiefschürfende Anamnesen oder Gespräche, welches zur Folge hat, dass die Person des
Kranken erst recht nicht erkannt wird oder zur Rede steht. Der Charakter der Begegnung
reduziert sich auf das bloße Wahrnehmen dessen, das „fehlt“ bzw. krankhaft ist.72 Doch ist
Begegnung und erst recht eine tiefere Beziehung zum anderen der Raum, in dem erst zur
Sprache kommen kann, wie es um meine und deine Stimmung steht, wie es um dich steht,
was unser Miteinander für uns bedeutet. Das beschränkt sich nicht auf Krankengeschichten,
die Mitleid heischend erzählt und gehört werden, sondern umfasst uns als jene, die zur Gänze
miteinander in einer gemeinsamen Welt da sind. Gemeinsames In-der-Welt-sein heißt auch
gemeinsame Sinngebung für mich und den anderen, gerade auch, wenn das Leid, genauso
wie die Freude oder das Wohlgestimmtsein zugelassen und für den anderen geöffnet wird.
In dem Vortrag Über Phänomenologie aus dem Jahre 1922 bahnt sich dieser
personale Grundzug der Beziehung an. Betrachtet man – wenn auch unbeteiligt – eine
Beziehung oder einen anderen selbst, so sind deren Ausdrücke, Akte, Gesten, Kundgaben
immer auf den Hintergrund der jeweiligen Person bezogen. Eine Handlung wird nicht als
solche aufgefasst, sondern ich beziehe mich in der Handlung auf den, der sie vollzieht, d.h.
auf den anderen, auf die durchführende Person. Im Phänomen des Tuns und Lassens des
anderen eröffnet sich mir der Einblick in seine Person, das umgekehrt meine Antwort, sei sie
71
Über Psychotherapie, in: AW 3, 211
Sinn und Ziel vorliegender Arbeit besteht nicht darin, etwaige Kommunikationsmängel zwischen Arzt und
Patient aufzudecken, diese gibt es gewiss, doch wird deren Erörterung hier nicht angestrebt. Worum es geht –
das den Weg Weisende –, ist das Ich-Du-Verhältnis überhaupt, hier exemplarisch geschildert. Diese Arbeit ist
darum auch keine medizinhistorische, allerdings muss in ihr auf Binswangers Beruf und Beweggründe Bedacht
genommen werden. Daraus sich ergebende Akzentuierungen oder teilweise Einseitigkeiten und Wiederholungen
werden dabei in Kauf genommen.
72
36
Rede oder Tat, einfordert.73 Mit jedem einzelnen Erlebnis, das ein anderer schildert, gibt
dieser seinen eigenen persönlichen Hintergrund preis, vor dem es sich ereignet. Freilich
schließt das nicht aus, dass der andere bzw. ein Patient nicht die Wahrheit sagt, weil er dann
seinen
persönlichen
Hintergrund
in
anderer,
verstellender
(„verlogener“)
Weise
uminterpretiert. So ist niemand der Wahrheit näher als der, der sie leugnet, der eben lügt.
In der Person offenbart sich ein Grund, ohne dessen Achtung oder Beachtung der
andere in seinem Wesen (Wesen als So-sein gefasst) verfehlt wird; bezogen auf einen
Kranken kann das eine Beeinträchtigung seiner Heilung zur Folge haben. Z.B. wird ein
Unfallchirurg eine Knochenfraktur behandeln, ohne notwendig nach deren Ursache fragen zu
müssen. Anders aber wird er sich zu einem Verunfallten verhalten müssen, wenn dieser
Verletzungen aufweist, die auf Fremd- oder Autoaggression hinweisen. Dann wird er einen
anderen Fachkollegen zurate ziehen, zumal nun die ganze Person des Patienten zutage tritt
mit ihrer Geschichte, ihren Entwicklungen, sozialen Kontakten und ähnlichem. Dieses
schlichte Beispiel zeigt, welchen Stellenwert Achtung vor und Ernstnahme des anderen
gerade im heiklen Bereich der Psychiatrie einnimmt.
2.2 Martin Bubers Philosophie des Dialogs – ein Hintergrund
Zumal Binswangers Werk auch Wirkung außerhalb der Medizin ausgeübt hat, ist nun
Gelegenheit, jene zu Wort kommen zu lassen, die Binswangers Gedankengang begleitet
haben; wenig verwunderlich ist, dass das dialogische Denken Pate gestanden hat, überdies
Heidegger. Zwar liegt seitens Binswangers keine Selbstanzeige vor, in der er den Werdegang
seiner Gedanken dokumentiert und entwickelt hätte, so lassen sich doch Briefstellen, Zitate,
Verweise und Bezüge ausmachen, aus denen die ihn prägenden Zeitgenossen hervorgehen.74
Sind Äußerungen bezüglich der Ich-Du-Beziehung und den daraus resultierenden
Konsequenzen in der Zeit vor dem Erscheinen der Grundformen eher verstreut, implizit in
Fachartikeln zu finden, so lassen diese keine systematischen Rückschlüsse zu; ausdrückliche
Stellungnahmen sind erst den Grundformen zu entnehmen. Der damals wegweisende Eugen
Bleuler schreibt eingangs in seinem Lehrbuch der Psychiatrie:
73
„Das Wesentliche nun bei der phänomenologischen Betrachtung solcher psychopathologischer Phänomene ist
das, daß Sie niemals ein isoliertes Phänomen erblicken, sondern immer spielt sich das Phänomen ab auf dem
Hintergrund eines Ich, einer Person, anders ausgedrückt, immer sehen wir es als Ausdruck oder Kundgabe einer
so und so gearteten Person. In dem speziellen Phänomen gibt die betreffende Person von sich Kunde, und
umgekehrt sehen wir durch das Phänomen in die Person hinein.“, in: Über Phänomenologie, in: AW 3, 58
74
Anspielungen auf Buber, Husserl, Heidegger, Psychologen wie Philosophen und Literaten finden sich allesamt
in der vierbändigen Werkauswahl. Die äußerste Belesenheit, die man ihm getrost zusprechen muss, bedingt zum
Teil auch seine oftmals unsystematischen Gedankengänge. Weiters muss sich jede Interpretation bewusst sein,
dass Binswanger mehr Aufsätze denn Monografien veröffentlicht hat, was ebenfalls dazu führt, bestimmte
Themenkreise in engerem Umfeld abzustecken.
37
Die größte Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung haben nicht die materiellen
Lebenserfahrungen und Lebensnöte, sondern diejenigen, die sich aus unseren
Beziehungen mit den Mitmenschen ergeben: Nach unserem heutigen Wissen ist es
nicht das Erdulden von Schmerz, Hunger, Kälte, Hitze oder von anderen materiellen
Entbehrungen und auch nicht körperliche Überanstrengung, ja nicht einmal das
Ausstehen von unmittelbarer Lebensbedrohung oder umgekehrt das Genießen von
materiellem Wohlbehagen, was in erster Linie unsere Persönlichkeit formt. Viel
nachdrücklicher und folgenschwerer wirkt es sich aus, wie wir im Kreise der
Mitmenschen eingegliedert sind, ob wir uns geschützt und geborgen fühlen, ob wir
umgekehrt das Glück empfinden dürfen, das im Schenken von Schutz und
Geborgenheit an andere liegt, ob wir lieben und achten und geliebt und geachtet
werden [...].75
Der Bleuler-Schüler Binswanger bleibt bei dieser Feststellung nicht stehen, vielmehr nimmt
er sie zum Anlass, sie zu erweitern. Im Vorwort zu den Grundformen legt er dar, warum
diese kein Fortsetzungsband zur Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie
sein können: letztere rezipierte Husserl, Heideggers Sein und Zeit eröffnete zudem neue
Perspektiven. Erstens ist es Löwith, der das Mitsein von Einem und einem Anderen
thematisiert, hier fehlt Binswanger das liebende Miteinandersein von Mir und Dir; zur
Grundform menschlichen Daseins als Liebe gelangt er durch die Lektüre Bubers.76 Das Ziel
der Grundformen bildet die Analyse des liebenden und freundschaftlichen Miteinanderseins
in Abhebung vom lediglich unverbindlichen Umgang mit und Kontakt zu anderen. Auf diese
Stufenordnung des menschlichen Miteinander verweist vorab das Inhaltsverzeichnis des
Buches.
Mit dem Namen Martin Buber ist zugleich ein wichtiger Abschnitt in der
europäischen Geistesgeschichte gemeint. Seine Philosophie des Dialoges wurzelt in einer
Sensibilität für diverse Sprachen, deren „Inhalte“ und vor allem in jenen, die sich sprachlich
kundgeben.77 Bekanntheit erlangte er mit seiner Schrift Ich und Du (erschienen 1923), in der
er seinen Grundgedanken dargelegt hat: der Dialog. Mag die Lektüre der Schriften Bubers
den Eindruck hervorrufen, der Autor bediene sich eines suggestiven, literarischen oder
deskriptiven Sprachstils, welches durchaus zutrifft, dann darf nicht außer Acht gelassen
werden, dass die Dialogphilosophie den Rezipienten an-spricht, also doch appellativen
Charakter trägt. Dies ist durch ihre Methode vorgegeben, zum anderen ist es ihr „Inhalt“,
demzufolge der Angesprochene (der Leser, der Mitphilosophierende) eben nicht zum Thema
gemacht werden kann, ansonsten er nicht mehr der Angesprochene ist, sondern der, über den
75
Bleuler, Eugen: Lehrbuch der Psychiatrie. – Neubearbeitung von Manfred Bleuler. Unter Mitwirkung von
Jules Angst [...] – 15. Aufl. – Berlin ; Heidelberg ; New York : Springer, 1983, S. 7
76
Vgl. AW 2, 2f
77
Aus der reichhaltigen Sekundärliteratur zu Buber sei hier vor allem verwiesen auf Casper, Bernhard : Das
Dialogische Denken : Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner und Martin Buber. 2. Auflage. – Freiburg/Breisgau ;
München : Alber, 2002. – (Alber-Reihe-Philosophie)
38
gesprochen wird. Diesen Unterschied fasst Buber in die zwei Wortpaare Ich-Du und Ich-Es;
nach Buber sind beide Wortpaare Grundworte, die den Grund des Menschen (Ich und Du)
offenbaren. Menschliches Sein ist dergestalt als Beziehung angelegt, die erst durch ein Du
stattfindet, das einem Ich entgegentritt.
Die beiden Wortpaare bilden dem Menschen die Welt; dieselbe Welt, in der sich der
Mensch aufhält und bewegt, gerät in zwei völlig verschiedene Deutungskategorien –
abhängig davon, ob er sich dem anderen zuwendet („Du spricht“) oder ob er eine Aussage
über ein Es bzw. Etwas tätigt.78 Der Vorrang der Frage nach dem Du ist bereits von Beginn
an herausgestellt, daher ist es folgerichtig, die Begegnung hervor- und abzuheben von
Vorkommnissen, Begebenheiten, Erfahrungen, die sich zwar in der Welt ereignen, aber
dennoch nicht an Gehalt und Reichtum heranreichen, die in der Begegnung mit dem Du
eröffnet sind, wobei der Gehalt, der in einer Begegnung aufgehoben ist, nicht mit
Informationsfülle oder Ereignishaftigkeit zu verwechseln ist: „Wer Du spricht, hat kein
Etwas, hat nichts. Aber er steht in der Beziehung.“79 In-der-Welt-sein wird als Sein-inBeziehung gedeutet, sodass „[...] die Wirklichkeit nie für sich, sondern immer nur als die
Wirklichkeit der Beziehung denkbar sei.“80
Zwar begegnet mir in der Es-Welt das andere – eben als Objekt, Zustand, Konstanten
und Variablen, allen ist mehr oder minder gemein, dass sich dieses andere messen lässt und
es sich meinen Berechnungen fügt, weiters steht dem Ich auch die Möglichkeit zu, sich all
dem gelassen-gleichgültig gegenüber zu verhalten. Indifferent kann sich zum Du jedoch nie
ein Ich verhalten – es gibt keine Wahlmöglichkeit zwischen Verhalten und Nicht-Verhalten,
zwischen Teilnahme und Gleichgültigkeit, hier verlieren Wollen und Absichten ihre
Gültigkeit.
[So ist] die Welt [des] Grundwortes Ich-Du, gerade dadurch gekennzeichnet, daß
Sein in ihr den Charakter der Anderheit, eben den Charakter des durch das „gegen“ in
„Begegnung“ angedeuteten Gegenüber gewinnt. Diese ursprüngliche Anderheit des
Anderen, dem ich begegne, ist unableitbar.81
Begegnen Ich und Du einander, ohne den jeweils anderen unter den Aspekt der Es-Welt zu
bringen, so ist diese Beziehung eine unmittelbare und unableitbare, alles andere wäre eine
Form der Relation, die von einem der zwei Beziehungsrelata hergeleitet worden sein müsste.
Insofern lässt sich die Beziehung gar nicht ableiten oder bewirken. „Das Du begegnet mir
78
Buber, Das dialogische Prinzip, S. 7
Buber, Das dialogische Prinzip, S. 8
80
Casper, Das dialogische Denken, S. 266
81
Casper, Das dialogische Denken, S. 268
79
39
von Gnaden – durch Suchen wird es nicht gefunden. Aber daß ich zu ihm das Grundwort
spreche, ist Tat meines Wesens, meine Wesenstat.“82
Der Begriff Gnade – ein der Theologie entnommener – soll das Unverfügbare der
Beziehung und der einander Begegnenden anzeigen, weder die Begegnung noch das in ihr
hervortretende Du lassen sich seitens des Ich bewerkstelligen, herbeiführen; ein Du
untersteht nicht der Befehlsgewalt des Ich. Ist dies der Fall, welches ja tatsächlich
beobachtbar ist, kippt die Struktur der Beziehung so um, sodass das Du verdinglicht wird,
womit aus dem Du ein Es wird. Meint eine rückhaltlose Beziehung von einem Menschen zu
einem anderen die vollzogene Fülle der Begegnung, so kann das als äußerster Sinnhorizont
menschlichen Daseins gelten. Dieser Breite des Wirklichkeitsbegriffs werden die
Begegnenden in ihrem gemeinsamen In-der-Welt-sein wohl kaum entsprechen können;
Buber spannt das Dasein zwischen zwei Achsen, die Welt des Du und die des Es, die als Pole
fungieren, zwischen denen das Dasein pendelt. Du-Welt und Es-Welt widersprechen
einander in einer Weise, die es nicht erlaubt, in beiden Welten verortet sein zu können.
Polemisch könnte man umdeuten: wer nur in der Beziehung steht, hat ebenfalls nichts.
Einem permanenten In-Beziehung-sein droht unweigerlich der Verfall ins Anonyme,
Statische, Interessenlose, ins Gleichgültige, folglich ebnen sich Du und Ich gleicherweise in
ein Es, in ein Etwas ein, das damit ein Nichts wird. Wer nur an das Du glaubt, glaubt letztlich
nichts, weder dem Du noch anderen Menschen.83
Das Dilemma, das sich zwischen der Welt des Ich-Du und des Ich-Es entwickelt,
bleibt Buber nicht verborgen, recht bald sagt er konzedierend: „Das aber ist die erhabene
Schwermut unseres Loses, daß jedes Du in unsrer Welt zum Es werden muß.“84 Sind Du und
Es nach Belieben austauschbar, dann wäre diese Grundentscheidung sinnlos und brüchig, es
geht auch nicht um ein „Absinken“ des Du in ein Es, sondern darum, das Du nicht als
isoliertes, absolutes und damit unerreichbares wahrzunehmen.85 Sieht man von einer sich
82
Buber, Das dialogische Prinzip, S. 15
Im Allgemeingermanischen bedeutet Gnade „Gunst“, „Wohlwollen“, das auch im Bittsatz „Du mögest
unterstützen!“ formuliert werden kann. In der hebräischen Bibel kommt Gott diesem Anruf zuvor, indem er von
sich sagt, er sei da: „Ich bin der ‚Ich bin da’.“. (Ex 3,14) Auf den ersten Blick ist dies eine für den anderen
unverbindliche Tautologie, gemeint ist aber nicht die Existenzbehauptung Gottes, der sein Volk durch seine
Präsenz knechtet, sondern weil er da ist, soll auch der Mensch da sein – nicht in Abhängigkeit und Hörigkeit,
sondern als Dasein, dem es gegeben (geschenkt) ist, zu sein. Insofern ist das Dasein begnadet, es steht in der
Gunst Gottes. Ähnlich auch die Aufforderung Gottes: „Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine
Nachkommen.“ (Dtn 30,19) So versteht Binswanger ebenso das Dasein als Gabe, Geschenk, Gnade, freilich in
Bezogenheit auf das Du: „[...] von wem es [das Dasein, Anm.] be-gabt, beschenkt, begnadet wird, von wem aus
es sich also versteht, [...] ist das Dasein oder ‚Leben’ selbst als das heimatliche Du – bist Du.“, in: AW 2, 136f.
84
Buber, Das dialogische Prinzip, S. 20
85
Michael Schmidt übersieht, dass nur ein Du zu einem Objekt werden kann; in den wenigsten Begegnungen
haben wir ausdrücklich ein Du vor uns. Zwar setzt jede Beziehung – sei sie auch noch so oberflächlich und
flüchtig –, ein Du voraus, doch können gemeinsame (!) Ziele und Unternehmungen nicht realisiert werden,
83
40
exklusiv gebenden Zweiheit, die gerade deshalb dem Anspruch des Daseins als In-der-Weltsein – und das heißt auch: der Es-Welt – nicht gerecht werden kann, ab, ist es nur redlich, die
Welt der Dinge, derer der Mensch bedürftig ist und mit denen er umzugehen hat, in ihrer
Bedeutung wahr- und ernst zu nehmen. „Und in allem Ernst der Wahrheit, du: ohne Es kann
der Mensch nicht leben. Aber wer mit ihm allein lebt, ist nicht der Mensch.“86
Die Auffächerung des Daseins als In-der-Welt-sein und Sein-in-Beziehung durchzieht
auch das Werk Binswangers, doch sind die Unterscheidungen der Begegnungen mit anderen
(bei Buber fallen sie allesamt unter den Bereich des Du oder des Es) wesentlich feiner
herausgearbeitet. Mag die Begegnung auch eine marginale sein, so verbleibt sie vor dem
Hintergrund des Dialogs, der das wie immer geartete und wohin auch gerichtete Handeln
sowohl des Ich wie des Du allererst ermöglicht. Bubers gedankliche Intentionen zielen auf
die ausschließliche, „reine“ Du-Begegnung. Schmidt pflichtet Buber bei:
Bubers Auffassung von Eigentlichkeit impliziert eine Öffnung des Selbst, indem die
Beziehung zum Anderen ermöglicht wird. Eigentlichkeit vollzieht sich hier als
unmittelbare ganzheitliche Beziehung von Mensch zu Mensch, als eigentliche
Wesensbeziehung. [...] In beiden Sphären [Ich-Du und Ich-Es, Anm.] ist die Haltung
des Ich ausschlaggebend, durch welche der Bezug aufgebaut wird, da das Es
durchaus eine Person sein kann, ein Etwas, das allerdings nicht als Du begegnet. [...]
Das Verbindende in diesen beiden Sphären bleibt hier das Ich [...].87
Was Schmidt zugleich an Heidegger kritisiert – Solipsismus, Isolation des Ich (und damit
auch des Du!), Konstitution des Daseins seitens des Ich – soll von Buber vorab schon
korrigiert worden sein, allerdings ist Schmidt etwas entgangen: Öffnung des Selbst ist zwar
nur in Beziehung möglich, was aber geschieht, wenn sich mir der andere verweigert oder
entzieht? Ein eigentliches Dasein rückt vom Man ab und spricht sich einem anderen zu, der
zu ebensolchem eigentlichen Dasein gerufen ist. Die Heidegger unterstellte A-Dialogizität,
nach der das Man alles und jeden nivelliert, kommt erst da zustande, wo Heideggers
Bemühung um das Dasein als In-der-Welt-sein übergangen wird. Letztlich wird dann dem
Subjekt eingeräumt, Begegnendes als Du oder als Es konstituieren zu können, womit die
Philosophie des Dialoges beendet wäre.
indem beide Beziehungspartner in ihrem jeweiligen Ich-sein verharren (d.h. wechselseitiges Du bleiben), ganz
gleich, ob es sich um Geschäftsbeziehungen, Arbeitsverhältnisse, selbst Partnerschaften (gerade bei diesen)
handelt. Schmidt: „Buber grenzt das Es, die Objektsphäre, scharf vom Du der dialogischen Sphäre ab; das
Verbindende in diesen beiden Sphären bleibt hier das Ich, aus anthropologischer Perspektive betrachtet letztlich
der Mensch, der durch seine Haltung Seiendes in der Welt als Du oder Es konstituiert.“, in: Schmidt, Michael:
Ekstatische Transzendenz. Ludwig Binswangers Phänomenologie der Liebe und die Aufdeckung der
sozialontologischen Defizite in Heideggers „Sein und Zeit“. – Würzburg: Königshausen und Neumann, 2005. –
(Epistemata ; Würzburger wissenschaftliche Schriften ; Reihe Philosophie , Band 367), S. 108.
86
Buber, Das dialogische Prinzip, S. 38
87
Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 102-108
41
In der Tat lässt sich eine strikte Separation von Begegnung (Du-Welt) und Erfahrung
(Es-Welt) nicht durchhalten, wie ist eine Begegnung dann überhaupt möglich, wenn sie
redlich diesen Titel tragen kann? „Ich“ und „Du“ müssen ein Selbst sein – das bedeutet noch
keine Begegnung, erst sie befähigt beide Subjekte, einander Begegnende zu sein. Für Ich und
Du stellt sich Begegnung als etwas Unverfügbares dar, das somit auch eine Machtposition
nicht erlaubt. Dass jedoch ein Machthaber per se eigenorientiert ist und damit die Beziehung
zu einer Selbstbereicherung verkommen lässt, ist damit nicht ausgeschlossen – vorausgesetzt
man betrachtet die Begegnung als Mittel zu eigenen Zwecken. Im Anschluss an Theunissen88
schreibt Casper:
Das sich ereignende Ereignis der Begegnung konstituiert so durch sein Sich-Ereignen
überhaupt erst die beiden einander Begegnenden als einander Begegnende. Und sie
konnten dies auch beide aus eigener Macht nicht werden. Das heißt aber, das
Zwischen der Begegnung, die reine Gegenwärtigkeit der sich ereignenden
Begegnung, zeigt sich gegenüber den einander Begegnenden als das seinsmäßig
Frühere.89
Dieses sich ereignende Ereignis blieb Buber nicht verborgen; so ist es in der Es-Welt das
jeweilige Ich, welches sich diese aneignen, zunutze machen kann, sofern dazu das Ich
mächtig und befähigt ist. – Anders das Ereignis der Beziehung:
Die Welt, die dir so erscheint, ist unzuverlässig, denn sie erscheint dir stets neu und
du darfst sie nicht beim Wort nehmen; sie ist undicht, denn alles durchdringt alles.
[...] willst du sie übersehbar machen, verlierst du sie. Sie kommt und kommt dich
hervorlangen; erreicht sie dich nicht, begegnet sie dir nicht, so entschwindet sie; aber
sie kommt wieder, verwandelt.90
Zum Unverfügbaren – hier die Begegnung – kann ich mich nicht nicht verhalten; zwar kann
ich tiefer in den Dialog treten, ihn aber auch übergehen oder abbrechen, doch das setzt schon
Beziehung voraus. Öfters ist in diesem Zusammenhang von „Gegenwart“, „Gnade“, „Gabe“
die Rede, welches noch kein Abgleiten in Religiöses oder gar Irrationales und daher
Unverständliches meinen muss. Das Reden über uns Unverständliches, d.h. sich begrifflich
Entziehendes macht folglich unsere Sprache unsicher. Im Sein in der Begegnung würde sich
so Wahrheit ereignen, die wir – obwohl der Logik verpflichtet – nicht einholen können. Dazu
meint Casper spröde und sicher: „Über die Wahrheit selbst kann man nicht verfügen. Sie
entzieht sich dem besitzenwollenden Zugriff.“91
88
Theunissen, Der Andere, S. 273
Casper, Das dialogische Denken, S. 272
90
Buber, Das dialogische Prinzip, S. 36. Zur Unverfügbarkeit der mich treffenden und mich betroffen
machenden Erfahrung siehe: Wiplinger, Fridolin: Der personal verstandene Tod. Todeserfahrung als
Selbsterfahrung. – 3. Auflage – Freiburg/Breisgau [u.a.] : Alber, 1985, S. 16-22.
91
Casper, Das dialogische Denken, S. 274
89
42
Bubers Philosophie des Ich und Du führt konsequent in eine der Welt abgewandten
Exklusivität, denn das Du tritt nur mittels der Ausblendung der Es-Welt hervor, insofern ist
die Negation des Es das Nichts, welches sich einer verdinglichenden Erfahrung entzieht:
„Wer Du spricht, hat kein Etwas, hat nichts. Aber er steht in der Beziehung.“92 Mit Erfahrung
ist die Erfahrung eines Gegenstandes gemeint, der in seiner Passivität dem Erfahrenden
zugeschlagen wird, wodurch das Ich Verfügungsgewalt besitzt, die jedoch vor einem
unerreichbaren Du versagen muss. Erfahrung ist darum fernab von einem Du, weil stets
gerichtet auf den Gegenstand, auf ein Es. Vor dieser begrifflichen Strenge und Engführung
verblassen das Du, das Ich sowie die Erfahrung selbst, die nicht immer nur auf einen
Gegenstand bezogen ist. Das Reduzieren des Erfahrungsbegriffes wird umgangen, sobald
sich Beziehung „unmittelbar“ ereignet, d.h. ohne Zweck oder Vorwegnahme eines nur
vorgestellten oder gewünschten Du.93
Die scharfe Trennung von Begegnung mit dem Anderen und Erfahren der
Gegenstände der Es-Welt hat Buber die Problematik der „Alternativik“ bereitet94, nach
welcher beide Sphären – und damit die Gerichtetheit des Ich – in einem kontradiktorischen
Verhältnis zueinander stehen. In-der-Welt-sein gestaltet sich demnach als In-Beziehung-sein
oder als subjektives Erfahren der Es-Welt; ein Mittleres ist nicht gestattet, da das Du nie
zugleich ein Es sein kann. Daraufhin gesteht Buber doch „[...] die erhabene Schwermut
unseres Loses, daß jedes Du in unsrer Welt zum Es werden muß.“95 Nun kann man
einwenden, das Du werde abgewertet zugunsten des Es, womit eine unversöhnliche Polarität
entsteht; dieses Doppelverhältnis ist Buber bekannt, ohne es allerdings zu problematisieren.
Wie und in welcher Weise tritt Buber als „Gewährsmann“ Binswangers auf? Beider
Grundgedanken kreisen um das Problem des Anderen und den Bezug zu ihm. Während
Buber zuweilen religionsphilosophisch argumentiert (was auch Binswanger nicht fremd ist),
sind die Zugänge Binswangers an dieses Thema insofern lebensweltlich relevant, als er durch
seine berufliche und wissenschaftliche Tätigkeit den Mitmenschen doch konkreter, d.h.
angemessener vor Augen hat. Ein Blick in sein Werk legt dies nahe, in diesem erläutert er
92
Buber, Das dialogische Prinzip, S. 8
Wiplinger hingegen hat eindringlich darauf hingewiesen, was er ursprüngliche Erfahrung nennt: eine
Erfahrung, die wir nicht machen, sondern die wir durchmachen, erleiden – in diesem Sinne „positiv“ erdulden;
in seinem Buch geht es gerade um die Erfahrung, die mich zurückverweist auf mich selbst, die mir das offenbart,
das ich durch mich selbst nicht hätte erblicken können. Hier zählt die Erfahrung des Todes eines geliebten
Menschen zu den radikalsten.
94
Casper, Das dialogische Denken, S. 283: “Entweder ich begegne oder ich erfahre. Ein Übergang von der einen
Weise des In-der-Welt-Seins in die andere kann, jedenfalls wenn ich von dem begegnenden und erfahrenden Ich
ausgehe, nicht angegeben werden. Dieses Entweder-oder hat dann die Meinung aufkommen lassen, Buber wolle
das Es, die Welt des Erfahrens und Gebrauchens, abwerten zugunsten des Eigentlichen, das ja die Ich-DuBeziehung sei.”
95
Buber, Das dialogische Prinzip, S. 20
93
43
Fallbeispiele seiner Patienten, deren Beziehungen sich nicht in eine Du-Welt fügen wollen
bzw. können, ohne sich darum schon im Es-Bereich zu bewegen. Zwar gleiten die Patienten
mitsamt ihren Krankheiten nicht in das Es ab, das wäre für Binswanger unvorstellbar und
entmenschlichend, trotz allem legt er eine Palette an menschlichen Schicksalen und
Zeugnissen offen, die auf profunde Menschenkenntnis schließen lässt.
Beiden gemein ist der Fokus auf das Subjekt als Ich und auf das Subjekt des Anderen
als Du, die man als dialogische Grundkonstanten benennen kann. Erst aus Übereinkunft im
Grundgedanken, im Konsens, können sich Differenzen, Ergänzungen und Entwicklungen
herausbilden. So entwirft Binswanger eine breite Auffächerung von Intersubjektivität, die
Buber unter das Grundwort Ich-Es stellen würde; spricht Binswanger etwa vom „Mitsein von
Einem und einem Anderen“, ist dieses keine exkludierende Zweierbeziehung mehr. Hier
finden sich Ich und Du im „mitweltlichen Nehmen-bei-etwas“; jener, der „bei etwas
genommen wird“, dient zu etwas zugunsten des Ich:
Die Anderen, das sind jetzt nicht mehr Diejenigen, auf die alle Umwelt als die stets
Auch- und Mitdaseienden verweist, sondern Diejenigen, die aus diesem Hintergrund
des Auch- und Mitdaseins hervorgezogen und ihrerseits bei etwas genommen
werden. [...] Der Andere, das bist längst nicht mehr Du, das ist aber auch nicht mehr
eine andere Existenz, sondern das ist Er, „jene Person“, „Jemand“, der diesen
bestimmten Namen trägt oder so „heißt“, der sich an diesem bestimmten Ort befindet,
und der von dieser bestimmten Beschaffenheit („Griffigkeit“) ist oder sich so
„verhält“.96
Der andere ist hier „greifbar“, von „Beschaffenheit“, was heißen will, er ist zu etwas
„zunutze“, er kann Absichten erfüllen, die ich hege, er steht in der Struktur des Um-zu, in der
er sein zweckfreies Dasein und zugleich die Würde als Du eines anderen Ich einbüßt. Das ist
das gängige, weil oft wiederholte Argument jener Philosophie des Dialogs, welche das
brauchend-gebrauchende In-der-Welt-sein ignoriert. Mehr noch: ein totales Sein-lassen des
anderen, in dem sich seine Zweckfreiheit bewähren soll, drängt nicht nur mich ab, sondern
vielmehr den, um den es mir geht – das Du. Setzt man Bubers Sphäre der Ich-Du-Welt mit
Binswangers Begriff der Liebe gleich, erreicht man weder den einen Denker noch den
anderen. Bubers Überlegungen unternehmen den Versuch, der Frage nach dem Anderen den
Boden zu bereiten, Binswanger – von Heidegger kommend – muss dieselbe Frage neuerlich
stellen, weil er sich vor dem Konzept Heideggers zu verantworten hat. Der Bestimmung des
Menschen als Dasein, das in der Welt ist, wird die wegweisende Trennung von Du- und EsWelt in deren Komplexität und Vielstimmigkeit schwer gerecht.
96
AW 2, 271
44
2.3 Heideggers Analyse des Mitseins als Basis für Binswangers Begegnungsdenken
Binswanger modifiziert, variiert und korrigiert die Ansätze Bubers. Liebe als Ereignis der
Begegnung eines Ich mit einem anderen ist kein akosmisches Prozedere; die Gedanken
Heideggers, die Binswanger aufnimmt, fordern den Willen zur Differenzierung,
dementsprechend klar heißt es in folgendem Zitat, dass Liebe (bzw. das Grundwort Ich-Du)
und Sorge bzw. der Wechsel vom Du in ein (zu besorgendes) Es notwendig und deshalb
nicht widersprüchlich ist:
Liebe ist nicht eine aus der Sorge „stammende“ Illusion oder Phantasmagorie [...].
Liebe an und für sich nämlich könnte weder das Sein überhaupt, noch sich selbst
verstehen, noch auch sich betätigen und bewähren; denn was sowohl das
Seinsverständnis als die Betätigung und Bewährung „im Sein“ erst ermöglicht, ist
die Endlichkeit, die „Sorge“.97
Bevor jene Grundbegriffe Heideggers erörtert werden, die in Binswangers Denken Eingang
gefunden haben, kann man mit Helmuth Vetter fragen: „Hat Heidegger mit einigen
Philosophen, die zur dialogischen Philosophie gezählt werden, einen Dialog gepflegt? Man
wird diese Frage wohl verneinen müssen.“98 Je wirkmächtiger sich ein Denken entfaltet,
desto breitere Kreise zieht es, demzufolge wird Heidegger aufgenommen und fortentwickelt;
Aufnahme, Weiterführung bis hin zu Skepsis oder Ablehnung tun dem Denken jedoch keinen
Abbruch. Dass Heidegger die Frage nach dem anderen verworfen oder ignoriert hätte, sollte
man füglich nicht behaupten. In einem Brief Heideggers vom 24.02.1947 an Binswanger
heißt es:
Die tatsachensüchtige Wissenschaft sieht weder die Sache (den unscheinbaren
Bereich des nächsten und eigentlichen menschlichen Begegnens), noch die Tat, dass
Sie den Schritt aus der Subjekt-Objekt-Beziehung zum In-der-Welt-sein getan
haben.99
Fünfzehn Jahre später, am 10.11.1962, teilt Binswanger ihm mit, dass das Verhältnis
zwischen Daseinsanalyse und Phänomenologie kein „Entweder-Oder“, sondern ein „Sowohlals-Auch“ darstellt.100 Damit soll die strikte Abhebung der Du-Welt von der Es-Welt
relativiert werden. Die strenge Trennung beider Bereiche ist allerdings erst dann
durchzuhalten, wenn man das menschliche Wesen bloß einem der beiden Bereiche zuordnet,
wodurch man dem Menschen selbst wiederum nicht gerecht werden kann.
Binswanger gibt in den Grundformen Punkte an, die sein Denken tragen, sie sollen
nun umrissen werden, der Fokus liegt vornehmlich auf dem ersten Teil von Sein und Zeit.
97
AW 2, 240. Auf die Wechselseitigkeit von Sorge und Liebe hat Binswanger bereits im Vorwort zu den
Grundformen aufmerksam gemacht.
98
Vetter, Helmuth: Heidegger im Kontext der dialogischen Philosophie – mit Blick auf Eberhard Grisebach, in:
http://sammelpunkt.philo.at, Abrufdatum: 01.01.2012
99
Briefe und Briefstellen, in: AW 3, 340
100
Briefe und Briefstellen, in: AW 3, 347
45
Mit dem In-der-Welt-sein ist zunächst kein räumliches Sich-befinden gemeint, das
dementsprechend „geortet“ werden könnte – es ist keine Sache. Gleichsam unvermittelt stellt
Heidegger das Sein in der Welt (Dasein) als Existenzial vor, es ist kein weltloses Subjekt,
dem die Welt fremd wäre. Das In-Sein deutet Heidegger als Sein-bei, Sich-aufhalten bei den
Dingen; Dasein ist vor allem mit anderen. „Es ist nicht ein Ich, das erst noch die Beziehung
zu anderen Menschen aufnehmen müsste, sondern primär im Mitsein mit anderen.“101
Wenngleich Heidegger beteuert, keine Anthropologie schreiben zu wollen, zeigen seine
Erörterungen doch eine Wendung zu dieser.102
Der Begriff „Welt“ ist ein belasteter und vielseitig interpretierbarer, in Sein und Zeit
wird „Welt“ für jenes reserviert, das sich als Horizont des jeweiligen Seienden zeigt. Als
Folge wird von der „Welt des Technikers, Mathematikers“ (die ihrerseits schon Welt in
gewisser Weise voraussetzen als „Welt in der Welt“, die wissenschaftlich auswertbar ist)
abstrahiert, um sie als Weltlichkeit vorzustellen. Dieses durch ein Adjektiv gebildete
Substantiv bezeichnet die Seinsart des Daseins – die sich freilich auch ändern kann –, d.h. die
Weise, wie sich Dasein in seiner Welt verhält. Den befremdlich anmutenden Begriff
„Weltlichkeit“ verdeutlicht Heidegger anhand der Analyse der Umwelt, in der verschiedene
Seiende begegnen, mit denen wir Umgang pflegen. Diese Dinge sind nicht nur „da“,
vielmehr bedienen wir uns ihrer, um Zwecke oder Absichten zu erreichen. Seiendes steht
nicht isoliert in meiner Welt, das In-der-Welt-sein heisst ja bereits Sein-bei-innerweltlichBegegnendem. Diesem steht das Dasein nicht indifferent gegenüber, im Anschluss an die
griechische Philosophie spricht er von den Seienden als Dingen (ὰά), in welchem
Terminus sich der „besorgende Umgang“ (ἡᾶ) mit ihnen ankündigt.103
Zunächst hat Heidegger das im Auge, was im alltäglichen Leben begegnet, womit das
Dasein bereits bekannt und vertraut ist und womit es Tätigkeiten verrichtet, um etwas zu
machen – dieses im Alltag Begegnende ist das Zeug, das auf anderes verweist, oder aber auch
auf den, der mit ihm umgeht, der es benutzt.104 Ein Zeug steht nie alleine für sich, denn dann
wäre es ein bloßes Vorhandenes, das es sensu stricto gar nicht gibt, denn:
101
Pöggeler, Otto: Der Denkweg Martin Heideggers. – 4. Aufl. 1994 – Stuttgart : Neske, S. 53. Pöggeler bezieht
sich hier auf Sein und Zeit, S. 55.
102
Das bezeugen etwa die Zollikoner Seminare, Vom Wesen des Grundes, Über den Humanismus, weiters seine
Schriften über die Technik und über die Dichtung.
103
Heidegger, Sein und Zeit, S. 68. Der besorgende Umgang ist nicht zu verwechseln mit Machbarkeit im
Verständnis neuzeitlicher Technik, die Sorge verweist nächstens auf das Mitsein.
104
Heidegger, Sein und Zeit, S. 68
46
[...] jedes Zeug ist immer etwas, das man braucht, um etwas anderes damit zu
machen. Dieses „Um-zu“ ist der Verweisungscharakter des Zeuges: ohne den
Zeugzusammenhang, das „Zeugganze“, gibt es auch das einzelne Zeug nicht.105
Da Zeug nicht als Isoliertes fungieren kann, daher in einem Zeugzusammenhang steht, fällt
es
zunächst
nicht
auf
im
Sinne
einer
Sonderstellung,
die
es
innehat.
Der
Funktionszusammenhang des Zeugs wird sichtbar, sobald dieser gestört wird und gemeinsam
mit ihm die Welt.106 Nun kann mit Recht gefragt werden, was die Zeug-Analyse überhaupt
mit dem Verständnis von Mitsein zu tun hat, um das es hier geht; fürs erste soll gelten, dass
das In-der-Welt-sein mit seiner Umwelt in vertrautem Umgang steht. „Worin Dasein in
dieser Weise sich je schon versteht, damit ist es ursprünglich vertraut.“107 Das erstlich
Vertraute ist dem Dasein nicht fremd, es braucht sich dessen nicht zu bemächtigen, um es
sich aneignen und so verstehen zu können. Das Vertrautsein mit der Welt und dem in ihr
Begegnenden offenbart ein vorthematisches Wissen um sich und die Welt; in einem Vorgriff
kann man sagen, dass die Vertrautheit – oder besser: das Vertrauen – auf anderes Dasein
trifft. Ist es verfehlt, zu behaupten, die Zeug-Analyse habe vorbereitenden Charakter, um die
Analyse des Mitseins einzuleiten und zu erhellen? „[...] wird die Welt erfahren vom
Verweisungs- und Bedeutsamkeitszusammenhang her, wie er für die Existenz ist, dann kann
sie gedacht werden als der Bereich eines Sinngeschehens.“108 Diesem Sinngeschehen gilt die
Analyse des Mitseins.
Der Fortschritt der Gedanken folgt in Sein und Zeit einer phänomenologischen
Methode, die jenes in den Blick bekommen will, das von sich her, unabhängig vom
Betrachter, Kunde gibt, deshalb scheint es angezeigt, nicht bloß die Phänomene zu
untersuchen, die offenkundig zutage treten, sondern ebenfalls deren Begleitphänomene.
Nichts anderes ist mit der zeughaften Struktur des Um-zu gemeint: wäre Zeug nur darin
verstanden, dass es zu etwas taugt, ohne dabei jenen mitzubedenken, der dieses Zeug bedient,
es verwendet, mit ihm umgeht, so wäre die Betrachtung der Um-zu-Struktur des Zeugs wenig
zielführend. Will man den Verweisungszusammenhang des als Zeug Begegnenden nicht ins
Unendliche treiben, so muss eine Instanz erkannt werden, die den Relationen des Seienden
gegenüber offen ist und diese sich selbst begegnen lässt.
105
Luckner, Andreas: Martin Heidegger: „Sein und Zeit“: Ein einführender Kommentar. – 2. korrigierte Auflage
– Paderborn ; Wien [u.a.] : Schöningh, 2001. – (UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher; 1975:
Studienkommentare zur Philosophie), S. 41
106
Luckner, Martin Heidegger: „Sein und Zeit“, S. 44: „Für die Analyse des In-der-Welt-seins ist damit
festzuhalten: Nur weil das In-der-Welt-sein im Besorgen mit der Welt schon vertraut ist, ist die Störung möglich,
durch die allererst deren Verweisungszusammenhang phänomenal zugänglich wird.“
107
Heidegger, Sein und Zeit, S. 86
108
Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, S. 54
47
Die Verschränkung von umweltlich Begegnendem (Zeug, zu bearbeitendes Material,
Utensil, ...) und jenem, der dieses ins Werk setzt, zeigt Heidegger anhand eines bekannten
Beispiels: der Acker, wird von jemandem bestellt (der Bauer), um Früchte ernten zu können,
ein Buch wird von einem Autor geschrieben, um seine Leserschaft zu unterhalten u.ä. Immer
steht ein Ding (Acker, Buch) mit jemandem (Bauer, Autor) im Verbund, um das Geschöpfte
(die Frucht, das Buch) jemandem (dem Käufer bzw. Leser) geben zu können.
Die so im zuhandenen, umweltlichen Zeugzusammenhang „begegnenden“ Anderen
werden nicht etwa zu einem zunächst nur vorhandenen Ding hinzugedacht, sondern
diese „Dinge“ begegnen aus der Welt her, in der sie für die Anderen zuhanden sind,
welche Welt im vorhinein auch schon immer die meine ist.109
Das meint, dass ich – verweisungsbedingt – den anderen in seiner Welt antreffe, die er mir
überantwortet, mit mir teilt oder die er mir entzieht. Das uns, dir und mir Zuhandene steht so
im Zeichen des anderen, sodass wir füreinander offen sind und deine und meine Welt in einer
nunmehr gemeinsamen aufeinander treffen.
Im Entwurf des Miteinander schließt sich Binswanger an die Ursprünglichkeit von
Mitsein, wie es Heidegger versteht, an, indem er zwar den Verweisungszusammenhang
wahrnimmt, in ihm aber den Bezug zum anderen stärker akzentuiert:
Ja schon die Rede von der Jemeinigkeit des Daseins bekommt ihren vollen Sinn erst
aus der gleichursprünglichen Jedeinigkeit, d.h. aus der ursprünglichen
Daseinsverfassung des Daseins „in erster und zweiter Person“. HEIDEGGER spricht
nur von Mitsein mit Anderen als der Mit-Welt und vom Mitdasein Anderer als
anderer Existenzen oder anderer Selbst, das weder aus dem einen noch aus dem
anderen ableitbare Du der Liebe wird übergangen.110
Begegnung
mit
dem
anderen
wäre
durch
das
Zeugganze
und
den
Verweisungszusammenhang bei Heidegger vermittelt, und zwar so, dass das Geschehen der
Begegnung in seiner Ursprünglichkeit nicht zutage treten kann. Diesem Einwand kommt
Heidegger insofern zuvor, als er das Dasein des anderen nicht als Zuhandenes (Verfügbares,
Berechenbares) fasst, sondern als Dasein, welches in Eigensein freigegeben werden soll;
diesen Akt nennt er Fürsorge. „Das Seiende, zu dem sich das Dasein als Mitsein verhält, hat
aber nicht die Seinsart des zuhandenen Zeugs, es ist selbst Dasein. Dieses Seiende wird nicht
besorgt, sondern steht in der Fürsorge.“111 Mit diesem Satz stehen wir schon im Zentrum der
Gedanken Binswangers; dieser sieht in der Analyse des Mitseins, wie sie Heidegger gegeben
hat, das Fundament des eigenen Denkens. Welcher Gestalt ist das Fundament nun genauer?
Dasein ist als solches mit anderen, gerade in der Einsamkeit ist Mitsein erfahrbar,
insofern andere als Abwesende anwesend sind; hier ist nicht von Isolation bzw. Solipsismus
109
Heidegger, Sein und Zeit, S. 118
AW 2, 56
111
Heidegger, Sein und Zeit, S. 121
110
48
die Rede – dies ist erst aufgrund eines vorgängigen unthematischen Mitseins möglich: erst
weil ich mit anderen da bin, kann ich mich von diesen absentieren. Die Frage nach dem
anderen schließt jedoch die Frage nach dem Dasein, das je ich selbst bin, mit ein, der eine ist
so nicht ohne andere, was Heidegger zuerst negativ definiert. So bestimmt er das Selbst als
Man-selbst, das sich in der Anonymität verliert, d.h. weder zu sich selbst, noch gar zu
anderen gelangt. Dasein wird negativ als ein im Man zerstreutes bestimmt, aus dem heraus es
sich „sammeln“ kann zur Eigentlichkeit seines Selbst mit seinen Möglichkeiten, oder in dem
es verbleiben kann. Leider bleibt unerwähnt, dass die Sammlung in die Eigentlichkeit bzw.
das Verharren im Man bereits eine Entscheidungsfreiheit voraussetzt, die im Man nicht
möglich ist, sondern die sich erst in der Eigentlichkeit vollziehen kann. Wohl ist zu
bedenken, dass die zwei Modi nie isoliert für sich erscheinen, der Verfall in das Man ist kein
(rein) psychisch und ethisch zu interpretierender.
Mit dem durchaus stimmigen Begriff des Man bezeichnet Heidegger das allen
vertraute alltägliche Miteinandersein, welches allzu oft einem Nebeneinander gleicht. „Man“
ist ein nebuloser, opaker Begriff, der trotzdem jedem geläufig ist – gerade diese Tatsache
bildet den Inhalt des Begriffes. Das Man zeigt sich als Durchschnittlichkeit, als Nivellierung
der Eigentlichkeit des Daseins, kurzum als „öffentliches Leben“, das das Miteinandersein
von Ich und Du nicht zulässt. Ein Dasein geht im anderen Dasein auf, das selbst kein anderer
mehr ist. So wird aus allen ein Niemand.112 Die Kapitel über das Man vermögen auch
deshalb zu faszinieren, weil sich jeder darin erkennt, auch und weil jeder einen Teil dieses
Man darstellt.
Der solcherart weit gefasste Begriff des Man beraubt das Dasein seines Eigenstandes,
sodass sich Dasein nicht als Eigensein durchhalten kann, das Man offenbart „[...] eine
wesenhafte Tendenz des Daseins, die wir die Einebnung aller Seinsmöglichkeiten
nennen.“113 Will philosophische Anthropologie das Wesen des Menschen in seinem So-sein
aufschließen, will sie ihn als ῶό fassen, dann wäre Heideggers Befund ein
fataler, sieht er doch im Man ein Existenzial, das ursprünglich zur Verfassung des Daseins
gehört. So ist zu vermuten, dass das Man einen – wesentlichen – Aspekt des Daseins (meines
wie deines) bildet, ohne aber dieses Dasein rein und ausdrücklich bestimmen oder
beherrschen zu können. Dagegen zeigt sich im Man-selbst das uneigentliche Selbst, damit
eine Gespaltenheit des Daseins in Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit. Das eigentliche Selbst
112
Von hier aus gelangen die Erläuterungen der Um-zu-Struktur und des Zeugzusammenhangs zu ihrer
Bedeutung. Dem Dasein begegnet Seiendes von der Struktur der Zeughaftigkeit im Sinne der Dinge
(τὰά), die im besorgenden Umgang stehen. Das wiederum setzt eine Form von Eigentlichkeit, d.h. sich
orientieren könnendes In-der-Welt-sein voraus. Gerade die Fähigkeit, sich zu orientieren, geht im Man verloren.
113
Heidegger, Sein und Zeit, S. 127
49
ist laut Heidegger das „eigens ergriffene Selbst“114, welches sich aus der Zerstreuung aus
dem Man zurücknimmt und sich sammelt. Theunissen weist darauf hin, dass diese
Vereinzelung in das je Eigentliche erst das Miteinandersein ermöglicht und fragt zugleich,
„[...] wie Vereinzelung und eigentliche Vergemeinschaftung sich konkret zusammendenken
lassen.“115
Vereinzelung bedeutet das Ergreifen des eigenen Selbst, das aus dem Man oder der
Unwahrheit bzw. der Verborgenheit (ἀ-ή) gerettete Dasein, allerdings setzt die Gefahr
des Verfallens an das Man – der Verlust des Selbst also – voraus, dass sich das Dasein
vorgängig als ein Ganzes begriffen haben muss. Bekanntlich mündet diese Gefahr bei
Heidegger in die Angst des Daseins (genitivus subiectivus), die das Dasein auf sich selbst
verweist. Von einem Mitdasein, das mir in meiner Angst beistehen könnte, ist hier übrigens
nie die Rede, soll doch gerade die Angst das Dasein vor sich selbst stellen, um es zu sich
selbst zu bringen; Angst soll so als principium individuationis fungieren, damit sich Dasein
als ganzes, ungeteiltes erfährt, sie „[...] wirft das Dasein auf das zurück, worum es sich
ängstet, sein eigentliches In-der-Welt-sein.“116 Merkwürdig wird man diese Ausführung
wahrnehmen, in der von einer Angst die Rede ist, in der das Dasein „zu sich“ gebracht
werden soll. Angst kann wohl kein Wegweiser in mein eigentliches Dasein sein, noch kann
mir ein anderer in ihr beistehen, sobald sie so gedeutet wird, als die wir sie alle schon
erfahren haben und dies auch weiterhin tun werden – als eine Art der Stimmung, die
Unwohlsein, Abneigung bestimmten Situationen gegenüber hervorruft.
Wenn das In-der-Welt-sein gleichbedeutend mit einem „In-der-Angst-sein“ ist, wäre
ersteres lediglich negativ gezeichnet; ins Positive gewendet würde Angst dasjenige
bezeichnen, worum es dem Dasein geht – eben um nichts geringeres als sein Dasein selbst in
Eigentlichkeit und Freiheit.
Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt das
Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens. Die Angst bringt
das Dasein vor sein Freisein für [ ...] die Eigentlichkeit seines Seins als Möglichkeit,
die es immer schon ist. Dieses Sein aber ist es zugleich, dem das Dasein als In-derWelt-sein überantwortet ist.117
114
Heidegger, Sein und Zeit, S. 129
Theunissen, Der Andere, S. 178
116
Heidegger, Sein und Zeit, S. 187
117
Heidegger, Sein und Zeit, S. 188. Vgl. dazu Luckner, Martin Heidegger: „Sein und Zeit“, S. 83; sehr
differenziert Pöggeler, der die Eigentlichkeit des Daseins in der Übernahme der Geworfenheit (Faktizität) sieht,
für die das Dasein nicht zur Verantwortung gezogen werden kann, weil es sich nicht selbst ins Dasein gebracht
hat. Biologisch-anthropologisch schulde ich meinen Eltern Dank, dass sie mir mein Dasein geschenkt haben, es
mir zu sein gegeben haben. „Das Dasein muß als es selbst durch die Übernahme seiner Geworfenheit jener
Grund sein, den es doch nicht selbst gelegt hat, als den es sich vielmehr immer schon vorgeben lassen muß.“, in:
Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, S. 60.
115
50
Doch nicht nur Angst vermag das Dasein in sein Eigensein zu bringen, Heidegger treibt sein
denkerisches Unternehmen ins Extreme – er sieht im „Vorlaufen zum Tode“ die Vereinzelung
und damit auch die Einmaligkeit, Unwiederbringlichkeit, Einzigkeit der Existenz, die
Unvertretbarkeit des Daseins. Wohl kann ich für den anderen „in den Tod gehen“, doch kann
ich ihm den seinen nicht abnehmen, seinen Tod sterben.
Warum diese Paradoxie Tod versus Dasein? Beide schließen gemeinhin einander aus;
doch lässt die Frage die Erweiterung zu, wenn man das Mitsein gleichsam in die Frage stellt.
Aus dem bisher Gesagten folgt, dass ich in Betracht des Todes mich als einzig wahrnehme,
sub specie mortis bin ich dessen gewiss. Das biographisch Letzte (der Tod) wandelt sich so
zu dem, das mich von Anfang an in Anspruch genommen hat. Dieses (vermeintlich) Letzte
weist mich in die Möglichkeit dessen, die zu ergreifen ich fähig bin, um die Eigentlichkeit
meines Daseins zu erreichen.118 Indem das Dasein sein Eigenstes, d.h. sich selbst ergreift,
belässt es anderem Dasein die Möglichkeit, sich selbst in Eigentlichkeit wahrzunehmen;
Zurücknahme des Selbst gewährt dem anderen Raum, um in sein eigenes Dasein gelangen zu
können. Das Gewahren des Eigenen soll dafür bürgen, „[...] daß das Ergreifen des Eigensten
allererst den Blick freigibt für das Fremdeste des Fremden – als das Eigenste des
Anderen.“119 Meinen Blick freigeben bedeutet das Aufgeben meiner Position des
indifferenten Beobachters, weshalb ich – mich zurücknehmend – dem, der mit mir da ist,
Eigensein zubillige. Wie steht es um das Dasein, das sich selbst und ebenso dem anderen
gerecht werden will? Mitsein – so Heidegger – steht in der „Fürsorge“, wobei „Sorge“ gerade
das Sein mit anderen kennzeichnet. Wie ist Sorge näherhin zu verstehen?
Während Objekte bzw. Sachen, mit denen das Dasein umgeht, von mir besorgt
werden, stehe ich im Verhältnis zu anderen im Modus der Fürsorge; auch dieser Begriff ist
weit gefasst: erstens die einspringende (und damit die uneigentliche) Fürsorge, durch die
dem anderen dessen Sorge abgenommen wird, sie „auf sich nimmt“, um für ihn Aufgaben
des Daseins zu übernehmen. Das ist kein missverstandener Altruismus, als der er interpretiert
werden könnte, vielmehr scheint es, dass die vormals einspringende Fürsorge zu einer
beherrschenden wird, wodurch der andere entmündigt und in seinem Eigensein behindert
wird: „Dieser [der andere, Anm.] wird dabei aus seiner Stelle geworfen, er tritt zurück, um
118
Aufschlussreich wäre eine Erörterung griechischer bzw. neutestamentlicher Auffassungen des Begriffes der
Zeit. So meinen die apokalyptischen „letzten Dinge“ (ὰἔnicht die Dinge, die üblicherweise damit
konnotiert werden, sondern die sich uns zeitlebens bereits zutragen. Hingegen meint der ό den Zeitpunkt,
um eine Entscheidung zu treffen, dem eine Zeit des Überlegens und Abwägens vorangegangen sein sollte;
wieder anderes bedeutet die ἀή, die „reife“, „fruchtbare“ Lebenszeit des Menschen. Eine überaus detaillierte
Analyse der diversen Formen der Zeit gibt Theunissen in seiner Studie über Pindar: Pindar : Menschenlos und
Wende der Zeit. – Zweite, durchgesehene Aufl. – München : Beck, 2002
119
Theunissen, Der Andere, S. 179
51
nachträglich das Besorgte als fertig Verfügbares zu übernehmen, bzw. sich ganz davon zu
entlasten.“120 Meistens ist diese Form der Fürsorge im Alltäglichen zu beobachten, wenn z.B.
berufliche Tätigkeiten delegiert werden oder unverbindliche Hilfeleistungen beansprucht
werden. In dieser Folge wäre es durchaus denkbar, dass das Dasein ein anderes gänzlich
unter seine Macht stellt und in ihr behält, wie es in wirtschaftlichen oder sozialen
Verhältnissen der Fall ist.
Gerade das Gegenteil zur einspringend-beherrschenden stellt die vorspringendbefreiende Fürsorge dar. In dieser ist es dem Dasein darum zu tun, den anderen in dessen
Möglichkeiten zu sich selbst zu bringen, ihn für sich zu befreien: das Dasein „[...] verhilft
dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden.“121
Selbstsein des einen wie des anderen Daseins bedeutet, das Eigene tun und nicht dem
anderen Möglichkeiten nehmen, die er ergreifen kann, bzw. mich an seine Stelle setzen, um
ihn zwecks Steigerung oder Erhöhung des eigenen Seins zu entmachten.122 Hier ist Selbstsein
derart verstanden, dass sich ein Ich zum anderen als bloßer Gegenstand verhält, um den
anderen dem Ich zuschlagen zu können. Vermittels dieser Assimilation vermag das Ich
seinen Selbstand aufrecht zu erhalten und ihn auszudehnen. Zwar konzediert Heidegger diese
pervertierte, in ihr Gegenteil verkehrte Form der Fürsorge, gut kann er sie jedoch nicht
geheißen haben. Das eigentliche Selbstsein erblickt Heidegger in dessen Erschlossenheit
durch Übernahme der eigenen Möglichkeiten innerhalb der Faktizität des Daseins; er redet
hierbei nicht dem Solipsismus das Wort, weil die Erschlossenheit (die „Bedeutsamkeit“)
meiner Welt und des mir Begegnenden – die Offenheit der anderen und Offenheit für andere
– mein Dasein zur eigentlichen Existenz führt, oder, wie Kampits in Bezug auf das Mitsein
sagt:
Nur dann aber, wenn ich eben im Ergreifen der äußersten Möglichkeit des Daseins
zum eigentlichen Seinkönnen gelange, wird jener Horizont erschlossen, aus dem ich
„eigentlich“ erst zum Anderen gelangen kann, indem ich ihn „sein“ lasse.123
Ebendiese Gedankengänge stehen in der Literatur zu Heidegger bisweilen im Hintergrund,
dennoch nimmt es nicht wunder, wenn der Philosophie angrenzende Fachwissenschaften
diese Thematik näher untersuchen. Bestimmt findet man in Heideggers Werk keine direkte,
systematische Ausarbeitung des Phänomens des Menschen als Wesen des Dialogs, als Ich
120
Heidegger, Sein und Zeit, S. 122
Heidegger, Sein und Zeit, S. 122
122
Johannes Vorlaufer bringt einen interessanten Beitrag zum Verhältnis von Eigentlichkeit des Daseins und der
vorspringenden Fürsorge, die den anderen in seinem Sein be-lässt: Vorlaufer, Johannes: Das Sein-Lassen als
Grundvollzug des Daseins : eine Annäherung an Heideggers Begriff der Gelassenheit. – Dt. Erstausgabe. – Wien
: Passagen-Verl., 1994. – (Passagen Philosophie), S. 138 ff.
123
Kampits, Peter: Sartre und die Frage nach dem Anderen : Eine sozialontologische Untersuchung. – Wien ;
München : Oldenbourg, 1975, S. 80
121
52
und Du, wenn diese mehr oder minder beiläufig als zufällig begegnende Mitmenschen
gesehen werden. An dieser Stelle nun kommt Binswanger zu Wort; ist er tatsächlich dem
dialogischen Kreis zuzurechnen, nimmt er ferner Heideggers Denken ernst, muss er dies
ausweisen.124
2.4 Die Position Binswangers
Ein erstes Zeichen der Rezeption Heideggers besteht in der Übernahme des Schemas des Inder-Welt-seins, in dem sich Dasein auf sein Selbstsein hin übersteigt.125 Sodann erweitert er
den Begriff der Sorge unter Bezugnahme auf seine „positive Kritik“ an Heidegger, um den
Begriff des Daseins „umwillen Unserer“, das er, ebenfalls breit interpretierbar, mit Liebe
umschreibt. Grundlage der noch nicht näher definierten Liebe bildet das In-der-Welt-sein,
das „[...] gleichursprünglich die eigenweltliche, mit- und umweltliche Verfassung des
Menschseins in sich begreift.“126 Liebe trägt hier den Charakter eines Postulats, mit ihr erst
erfährt sich Dasein und Sein mit anderen in seiner Ganzheit; das bedeutet seinerseits einen
Mangel im bloßen In-der-Welt-sein. Der Inhalt der Forderung erfüllt sich, sobald die Struktur
der Sorge überschritten wird auf einen Daseinsboden, auf dem Partner einander begegnen
können ohne in eine Objektivierung des anderen zu geraten. In diesem Sinn wird Liebe als
eigentliche Daseinsform genannt, was wiederum voraussetzt, dass Mitsein in der Fürsorge
ausgeschöpft ist, ohne einer Ergänzung durch die Liebe bedürftig zu sein. Die Termini
Dasein, In-der-Welt-sein, Mitsein – die übrigens konvertibel sind –, müssen daher in den
Begriff der Liebe eingespannt werden.
Der erste Teil der Grundformen bemüht sich, ein Konzept dessen vorzulegen, was
Liebe heißen mag: eine über die Grenzen der Sorge hinausreichende Grundform des Daseins,
wobei Sorge auf Alltäglichkeit, Unabhängigkeit, Unverbindlichkeit reduziert wird.
Entsprechend radikal und unvermittelt wird die Liebe ins Spiel geführt. Geht bei Heidegger
das Mitsein aus dem eigenen Ganzseinkönnen hervor, so setzt Binswanger anstelle des
eigentlichen Selbst „[...] das duale Wir-selbst im Sinne des Miteinanderseins von Mir und
124
Interessant ist, dass die nachfolgende Daseinsanalyse Heidegger ein größeres Augenmerk schenkt, als es
Binswanger selbst getan hat, ohne sich explizit von der Daseinsanalytik getrennt zu haben. Zu nennen ist hier vor
allem Medard Boss.
125
„Zum Überstieg gehört einerseits das, woraufzu der Überstieg erfolgt, anderseits das, was im Überstieg
überstiegen oder transzendiert wird; das erstere nun, das woraufzu der Überstieg erfolgt, nennen wir Welt, das
letztere, das, was jeweils überstiegen wird, ist das Seiende selbst, und zwar gerade als dasjenige Seiende, als
welches das Dasein selbst ‚existiert’! Mit anderen Worten: Als Transzendieren, als Überstieg, konstituiert sich
nicht nur ‚Welt’ – sei es als bloßer Weltdämmer, sei es als objektivierende Erkenntnis –, sondern auch das
Selbst.“, in: Über die daseinsanalytische Forschungsrichtung in der Psychiatrie, in: AW 3, 233. Binswanger
übernimmt hier zentrale Stellen aus Heideggers Vom Wesen des Grundes.
126
Über die daseinsanalytische Forschungsrichtung in der Psychiatrie, in: AW 3, 259
53
Dir, das Wir der Liebe.“127 Freilich ist die Interpretation der Wechselseitigkeit des sorgenden
Daseins und des liebenden Miteinander hier unzureichend, zumal beide ineinander spielen,
wie es im zweiten Teil der Grundformen dargelegt ist. In diesem nämlich wird die
Radikalität der Liebe, die sich der Gebundenheit an die Welt enthoben meint (Liebe als Inder-Welt-über-die-Welt-hinaus-sein), der unausweichlichen Realität der Sorge gegenüber
gestellt. In aller Abgeschiedenheit, in der sich liebendes Miteinander ereignet, geschieht
dieses doch in der Welt, ist es also auch sorgendes In-der-Welt-sein. Diesem Verständnis
bleibt Binswanger treu, nicht ohne es zu modifizieren.
Wollen wir diese Wahrheit der Liebe denkend erfassen, was immer nur heißen kann,
uns ihr von der Sorgestruktur aus nähern, so können wir uns [...] nur stützen auf das
vom Sorgestandpunkt der ratio aus nicht nur „irrationale“, sondern durchaus
überrationale oder metalogische „Verhältnis“ von Ich und Du im Wir.128
Der oftmals eingebrachte Vorwurf gegen die Philosophie des Dialogs, sie sei
unwissenschaftlich oder verrate ihren eigenen Standpunkt – mithin sich selbst –, ist da
unangemessen, wo die Bezugnahme Binswangers auf Heideggers Denken außer Acht
gelassen wird. Etwas umständlich gelangt Binswanger dahin, liebendes Miteinander und in
Fürsorge stehendes Dasein in Einklang zu bringen. Dazu bedient er sich des Begriffes der
Daseinserkenntnis.
In der Daseinserkenntnis endlich bin Ich nie nur mich dem Gegenstand gegenüber
behauptendes, erkennendes „Subjekt“, sondern vor allem Teilglied liebender Wirheit,
[...] müssen Seinsteilnahme und Seinsurteil in eine höhere Einheit eingehen, müssen
Liebe und Urteil sich einigen in der Seinsidee, dem „Logos“ des Seins oder dem
Seinsverständnis. Erst dann ist der Widerspruch zwischen Liebe und Sorge
überwunden oder versöhnt.129
Ein weiterer Gedanke Heideggers ist der des Sein-lassens oder der „Gelassenheit“. Das Seinlassen kündigt sich in Sein und Zeit im Phänomen der Sorge an, hat dort jedoch noch die
Doppeldeutigkeit von einspringend-beherrschend und vorspringend-befreiend im Rahmen
des Mitseins. Sein-lassen erinnert in der allgemeinen Auffassung an ein negativ behaftetes
„Bleiben-lassen“, an etwas, mit dem man „nichts zu tun haben will“. Gerade das Gegenteil
will Heidegger aber ausdrücken: es geht um das Lassen des Seienden als solches, das es ist.
Im Vortrag Zeit und Sein, gehalten 1962, heißt es: „Im Hinblick auf das Anwesende gedacht,
zeigt sich Anwesen als Anwesenlassen. [...] Anwesen lassen heißt: Entbergen, ins Offene
bringen.“130 Seinlassen fordert weiter, das Sein zuzulassen, wobei hier das Sein vor allem das
127
AW 2, 59
AW 2, 500
129
AW 2, 506
130
Heidegger: Zeit und Sein, in: Ders.: Zur Sache des Denkens. – Gesamtausgabe. – 1. Abteilung:
Veröffentlichte Schriften 1910-1976. – Band 14: Zur Sache des Denkens. – Herausgegeben von FriedrichWilhelm von Herrmann – Frankfurt/Main : Klostermann, 2007, S. 9. Bemerkenswert ist der Bezug zu antiker
128
54
Eigensein wie das des anderen in den Mittelpunkt rückt, ihm Raum und Zeit zu gewähren (zu
schenken).
Das Sein des anderen zulassen ist nichts anderes, als ihn in seinem Eigensein, das nur
ihm, sonst niemandem zukommt, zu würdigen und ihn darin zu fördern. Kann hier nicht eine
Verallgemeinerung bei gleichzeitiger Konkretion der vorspringend-befreienden Fürsorge
gesehen werden? Vorsicht ist geboten vor dem Verständnis von Sein; es geht nicht um etwas
greifbar Vorhandenes, das neben dem Dasein eben auch anzutreffen ist wie Zufälliges, nicht
zum Dasein Gehörendes. Das Sein ist kein Seiendes, sondern das, das sich Seiendem
zuspricht, sich ihm (dem Seienden) gibt. Das übernimmt Binswanger, in seiner Wahn-Studie
bezieht er sich expressis verbis auf Heideggers Vom Wesen der Wahrheit, Dasein verhält sich
zum Mitsein in dreierlei Weise: 1) als Seinlassen des Seienden, 2) als Sich-den-Seiendenüberlassen, 3) als Sich-einlassen-auf-das-Seiende.131 Das Sein-lassen des anderen verweist
seinerseits auf Freiheit, der sich das Dasein verweigern kann, die es missachten kann, der
sich das Dasein aber auch überantworten kann im Verhältnis zu sich und zu Mitseienden.
Interpretiert man Freiheit als Eigenmächtigkeit, Verfügungsgewalt über sich oder andere,
gerät man unversehens in die Willkür, die das Seinlassen in ein Sein-müssen, in Apathie dem
Ganzen des Daseins gegenüber, oder in ein Nicht-sein-dürfen pervertiert. In der Studie über
Schizophrenie ist es ähnlich formuliert: „Dieses Seinlassen ist aber keineswegs das
Selbstverständliche und Bequeme, vielmehr stellt es, wie gerade unsere Fälle, und zwar auf
defiziente Weise, die allerpositivste Tätigkeit dar.“132
Was hier von an Schizophrenie Erkrankten ausgesagt wird, gilt ebenso jenen, die
nicht unter Gemüts- oder Geisteskrankheiten leiden; Seinlassen bildet die Grundform meines
wie deines Daseins, also unser gemeinsames Sein. Darum bezeichnet Binswanger das Lassen
als „allerpositivste Tätigkeit“ – es ist kein passiver Zustand, in dem zwei Subjekte verharren,
das wäre kein gemeinsames Sein, sondern erinnert an ein dem Man verfallendes Dasein.
„Positiv“ bedeutet wörtlich das lateinische ponere – setzen, legen, stellen: Dasein verhilft
dem Dasein zum Eigensein, sich zu „setzen“, sich als Sein in Eigenstand zu stellen. Dasselbe
widerfährt dem Dasein durch den Anderen – er gewährt mir (seinen) Raum, der so der
unsrige wird. Zwar spricht Binswanger hier vom Wir der Liebe, vom Eros, der sich als
Philosophie und Theologie; die lateinische revelatio (Entbergen, Offenbaren) bedeutet, den Schleier (velum)
wegziehen, also die Sache als solche zum Vorschein bringen lassen, als die, die sie ist. Damit geht ein Entbergen
dessen einher, was zuweilen verborgen war. Heidegger erinnert an die ἀ-ή Wahrheit –, das, was aus dem
Fluss des Vergessens (ή gerettet und geborgen wurde.
131
Wahn, in: AW 4, 433
132
Wahn, in: AW 4, 335
55
Mehrung des Habens durch das Geben ereignet133, trotz dieses Vorgriffes wird deutlich,
worauf das Seinlassen hinaus will: als Grundform menschlichen Daseins ist es reziprokes
Miteinandersein, welches Seinspartnern verhilft, in eigenes Sein zu gelangen, in das es ohne
den anderen nicht gelangen könnte. Mein mir vom Anderen ermöglichtes Dasein,
Selbstverantwortung und Autonomie erweitern meinen Daseinshorizont, geben mir bislang
unbekannte Möglichkeiten preis, öffnen mein Dasein erneut zu einer jetzt gemeinsamen
Welt. In freier Anlehnung an Heraklit bezeichnet Binswanger dieses Verhältnis von Ich und
Du als Eros, der sich selbst mehrt, indem Daseinspartner einander mit-teilen. Diese Selbstmehrung der Liebe geschieht, wenn sich Daseinspartner füreinander öffnen, um einander zu
beschenken.
Das Miteinander in Liebe, die sich selbst steigert, umfasst allerdings mindestens zwei
Menschen, die jeder für sich genommen ein Selbst bilden. Wie und als welches ist dieses
Selbst zu verstehen? Es geht um das „[...] Sich-Selbst des Einander, des Daseins als unserem,
als Deinem und Meinem, dieses Und natürlich nicht in additivem Sinne, sondern
phänomenologisch verstanden.“134 Voraussetzung der Beziehung im Einander von Ich-selbst
und Du-selbst ist das Seinlassen, das den ursprünglichen Sinn der Liebe offenbart. Weder hat
hier Liebe mit unbändiger Leidenschaft noch mit kritikloser Vergötterung oder submissiver,
selbstentmündigender Abhängigkeit zu tun, sondern um das Worumwillen menschlichen
Daseins, das je eigentlich ist auf dem Grund des Wir,
[...] daß wir das In-der-Welt-sein zwar auch als ein Sein verstehen, darin es dem
Dasein um es selbst geht, daß wir dieses Selbst aber nicht nur in dem faktischen IchSelbst des Daseins als je meinem, deinem, seinem zu erblicken vermögen, sondern
auch in den jenem Selbst ontologisch vorgelagerten Möglichkeiten des Wir-selbst,
des Daseins als „unserem“, als Ur-Begegnung.135
Erweist Heidegger das Dasein als Mitsein, so folgt und übertrifft ihn Binswanger in der
Definition des Daseins, das in einer „Ur-Begegnung“ steht, d.h. vor aller Einzelerkenntnis in
der Begegnung den anderen erkannt hat. Eine Beziehung – soll sie im und durch den
Ursprung geschehen – weist jede Deutung ab, die die Ursprünglichkeit bereits voraussetzt.
Wo und wie zeigt sich der Ursprung einer Beziehung? Zunächst als Seinlassen des Seienden,
des Du, das ohne vorgängige Interpretation, ohne Vorurteil einem Ich begegnet. Bei einem
konkreten Zusammentreffen von Ich und Du bedeutet das mitunter das Fallenlassen von
Vorstellungen, Erwartungen oder Wünschen, die der Andere meinerseits erfüllen mag,
eventuell hegt der Andere ähnliche Absichten mir gegenüber. Auf dieser Stufe ist Seinlassen
133
AW 2, 18; mehr zu dem Thema im Kapitel 4.1 Der Eros
AW 2, 65
135
AW 2, 88
134
56
ein passives – es nimmt sich zurück, sodass der Andere in möglichst unverstellter Form da
sein kann. So überlässt sich das Dasein Anderen, genauer: dem Du. Das Abblenden von
Einstellungen, die das Sichtfeld einengen, eröffnet dem Ich eine neue Welt, die meine Welt
in einem anderen Licht erscheinen lässt, wobei es vom Geschehen der Begegnung her gleich
ist, welche Richtung sie einschlägt – vom Ich oder vom Du aus. Mag eine Begegnung fehl
gehen oder sich als indifferente herausstellen – Grundlage dafür ist, sich dem Anderen
überlassen zu haben.
Als dritten Schritt in der Begegnung führt Binswanger das Sich-einlassen-auf-dasSeiende an, welches eigentlich dem Sich-überlassen vorangeht. Hier ist endlich das Ich
gefordert, das eigene Sein ins Spiel zu bringen, die Beziehung mitzutragen; wurde zuvor dem
anderen Raum zugesprochen und gebilligt, ist jetzt in umgekehrter Weise das Ich jenes, dem
widerfährt, was vorher dem anderen gegolten hat. Lasse ich mich auf dich ein bedeutet: ein
mündiges, konstituiertes Subjekt geht bewusst und tatwirkend in die Beziehung, der sie sich
zuvor schon überlassen hat. Wohlgemerkt: ein Dasein, laut Heidegger In-der-Welt-sein, tritt
in eine Begegnung, die darin den anderen lässt, damit er derjenige werden kann, der er im
Keim bereits ist, den ich dazu bringen kann, der er (für mich) ist.
Reserviert Binswanger den Begriff der Liebe als exklusives Miteinander, so führt er
in seinen fachspezifischen Schriften Bemerkungen an, die diesem Begriff breiteren Raum
geben. Der Schwierigkeiten, Brüche und Disparitäten, die das Miteinandersein durchkreuzen,
ist er sich bewusst, wenn er feststellt: „Obwohl oder gerade weil der eigentliche Modus des
Menschseins, ist der duale Modus der versteckteste, ja erdrückteste.“136 Ungeachtet dessen,
dass die Grundform des liebenden, einander Wert schenkenden Daseins uns oft verborgen
bleibt, notiert Binswanger, dass „[...] es ja kaum einen Menschen geben wird, in dem kein
Keim von Liebe zu entdecken ist.“137
Bestimmt ist es irreführend und verfehlend, in Heidegger einen Dialogiker sehen zu
wollen, damit würde er missverstanden werden; dennoch führt er uns zu einem Denken, in
dem der Andere Platz hat. Niedergelegt hat er diese Gedanken in Vom Wesen des Grundes,
aber auch in den Zollikoner Seminaren, die er mit dem Schweizer Psychiater Medard Boss
gehalten hat. Darin zeigt sich der Einfluss, die seine Daseinsanalytik auf diverse
Wissenschaften ausübt. Insbesondere medizinische Begriffe und Problemkreise werden in
ihnen entfaltet, so etwa die Bestimmung der Zeit, die Leiblichkeit, psychologische Themen
(Ich, Bewusstsein, Es, etc.), pathologische Phänomene, aber auch das östliche Denken.
136
137
Der Fall Ellen West, in: AW 4, 152
Der Fall Ellen West, in: AW 4, 152
57
An einigen Stellen der Seminare wird auf Binswanger verwiesen, aus denen jedoch
wenig Neues im Verhältnis Heideggers zu Binswanger zu gewinnen ist. Heidegger betont das
ursprüngliche Mitsein des Daseins, darin pflichtet ihm Binswanger schließlich bei, letzterer
will der Sorge die Liebe zugesellen – hierin sieht Heidegger kein Problem, sondern vielmehr
darin, dass Binswanger
[...] nicht sieht, daß die Sorge einen existenzialen, das heißt ontologischen Sinn hat,
daß mithin die Analytik des Daseins nach dessen ontologischer (existenzialer)
Grundverfassung frägt und keine bloße Beschreibung ontischer Daseinsphänomene
geben will.138
Worum es in Sein und Zeit geht, sind die Bestimmungen des Daseins hinsichtlich seines
Seins; im Unterschied dazu verfolgt Binswanger das Beschreiben von Phänomenen
(vorrangig das der Liebe) am bestimmten, konkreten Dasein – er bewegt sich demnach im
Bereich des Ontischen bzw. in der philosophischen Anthropologie. Laut Heidegger
konzentriert sich Binswanger allzu sehr auf Dasein als Sorge, die er durch die Liebe ergänzt,
dagegen erweitert Heidegger den Begriff der Sorge auf die Offenheit des Daseins: „Es [das
Dasein, Anm.] ist als Sein des ‚Da’ die Ortschaft alles Begegnenden.“139 Um den Charakter
der Wechselseitigkeit der Begegnung zu betonen, spricht Heidegger gar von einer „Du-DuBeziehung“, zumal ein Ich-Du immer bloß von mir gesprochen werden kann, sodass das Du
nicht „zur Sprache“ kommen kann.140
Bei allen Differenzen und gegenseitiger Kritik kann gesagt werden, Binswanger
bemühe sich um eine eigenständige Bewältigung des Problems des Mitseins. Dieses wird
insofern ergänzt, als er das Phänomen der Liebe als Ereignis zweier konkreter Existenzen
auffasst, die sich als Liebende bestimmt nicht als Dasein bzw. als In-der-Welt-sein verstehen,
sondern als solche, die in Liebe füreinander da sind. Diese „weltliche“ Liebe, die sich sehr
wohl im Alltäglichen, Unscheinbaren zeigt und bewährt, sucht man bei Heidegger vergebens.
Nochmals sei darauf hingewiesen, dass Binswangers Forschung ihren Standpunkt in der
Psychiatrie und er sich selbst nie für einen Philosophen gehalten hat, wie er Heidegger
schriftlich mitgeteilt hat.141 Wie aus den Fallstudien hervorgeht, hat er die vielfältigsten
Weisen des Miteinanderseins kennengelernt, so verwundert es nicht, dass er die akademische
Philosophie aus einer gewissen Distanz betrachtete.
138
Heidegger, Zollikoner Seminare, S. 151
Heidegger, Zollikoner Seminare, S. 240
140
Heidegger, Zollikoner Seminare, S. 263. Verkannt werden die Ausführungen Heideggers von M. Schmidt, der
im Dasein einen egoistischen Zirkel zu sehen meint: „So zeigt sich auch für das eigentliche Miteinander die
Unbezüglichkeit des Daseins, seine eigentliche Einsamkeit in seiner Stellung als solus ipse in der Welt.
Heideggers Analyse des Mitseins, in dem der Bezug zu Anderen geklärt werden sollte, entpuppt sich bei näherer
Betrachtung als ein existenzialer Solipsismus, dem die Vereinzelung eines um sich selbst bekümmerten Daseins
als inhärente Setzung eingeschrieben ist.“, in: Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 87.
141
Brief an Martin Heidegger vom 17.06.1954, in: Briefe und Briefstellen, in: AW 3, 345
139
58
Bilden die Struktur der Sorge und das Miteinander in Liebe ein Dilemma, so versucht
Binswanger, dieses im zweiten Teil der Grundformen zu lösen, indem er beiden einen
berechtigten Rang zuteilt. Scheint Liebe sich akosmisch – weltflüchtig – zu absolutieren, ist
sie dennoch, will sie sich redlich bezeugen, an die Sorge gebunden. Das Seinsverständnis
Heideggers und die Idee des Miteinanderseins müssen nicht unbedingt einander
ausschließen. Nicht zuletzt spricht auch Heidegger von einer ontischen Bestimmung des
Daseins als ein faktisches Ideal desselben, welche Tatsache eine „positive Notwendigkeit“
bildet.142
Stellt Binswanger dem In-der-Welt-sein als besorgendes das Miteinandersein in Liebe
entgegen, so bezieht er sich auf Löwiths Schrift Das Individuum in der Rolle des
Mitmenschen; in diesem Werk sei eine „feinsinnige Analyse“ des Mitseins gegeben, „[...] das
liebende Miteinandersein von Mir und Dir aber noch nicht gewürdigt [...].“143 Welcher Art ist
die Analyse, in der die Liebe nicht aufscheint? Im Gang seiner Untersuchung legt Löwith
seine Bezüge zu Heidegger offen, er geht von einer allgemein gehaltenen Strukturanalyse
über das Miteinandersein als solches bis zur gegenseitigen Selbständigkeit.
Wie Heidegger geht auch er von der Umwelt aus, die sodann der Mitwelt
untergeordnet wird, diese wiederum offenbart sich dem, der sein Verhältnis zu ihr reflektiert.
Zu sich selbst zurück kehrt der Mensch aber zumeist nicht von „Objekten“, sondern
von Subjekten, d.h. von Seinesgleichen [...]. Durch das Dasein Anderer ist das eigene
schon allein dadurch von Grund aus und ohne sein Zutun ein für allemal bestimmt,
daß es ohne das Dagewesensein bestimmter Anderer überhaupt nicht da und nicht so
wäre wie es ist [...].144
Welt, vornehmlich die Welt mit anderen, ist nicht nur vom Du geprägt, sondern das Sein der
Person bestimmt sich durch sämtliche Verhältnisse zu den anderen, so bin ich etwa Schüler
meines Lehrers, Bruder meiner Schwester, Kreditgeber eines Schuldners. In diesen
intersubjektiven Bezügen fungiere ich als Person, ich übe demnach eine Funktion aus, die
über mein Eigensein bzw. meine Individualität noch nichts aussagt; so wäre es z.B. völlig
gleich, wem ich Kredit gewähre oder wessen Schwester ich Bruder bin, die
Beziehungspartner sind im Grunde austauschbar und damit als Mitmenschen variabel. Was
zählt, ist lediglich das Verhältnis zu ihnen.
Das die Beziehung tragende Verhältnis wandelt sich, insofern menschliche
Begegnungen Veränderungen unterworfen sind – so kann etwa der Schüler zum Lehrer
seines Lehrers werden, wie auch das Kind die Pflegschaft seiner Eltern übernehmen und
142
Heidegger, Sein und Zeit, S. 310
AW 2, 3
144
Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 1
143
59
dadurch das Verhältnis umdrehen kann. Löwith – hier stimmt er mit Heidegger überein –
stellt sich die Mitwelt als Strukturzusammenhang dar, die daher auch vermittelt sein muss.145
Der Begriff Mitwelt umfasst zahlreiche Phänomene, von denen besonders eines Beachtung
findet: das des Zwischen von Ich und Du, ihr Verhältnis zueinander, welches auch von
Binswanger in Anschlag gebracht wird. Löwith übernimmt die Grundgedanken des Dialogs,
wenn er das Verhältnis von Ich und Du in Exklusivität, also unter Ausschluss der Mitwelt
ansiedelt, die die Dualität stört,
[...] weil nur eine Person in zweiter Person sich mit der von allen anderen
unterschiedenen ersten Person vereinigen kann. [...] Mit Dir kann ich daher auch nie
„allgemein“ zusammensein, denn Du bestimmst mich stets als Ich.146
Will sich Gemeinsamkeit durchsetzen, muss sie sich der Gesellschaft der anderen
entschlagen; um die Dualität zu wahren, bilden Ich und Du ihre „eigene“ Welt, die sich
privativ-apolitisch der Welt des gemein-alltäglichen Mitseins enthält. Isoliert sich die Welt
des Ich-Du, so lässt sie die Welt der anderen neben sich nicht zu, sie tritt „in Konkurrenz“ zur
umweltlich besorgten Mitwelt. An dieser Stelle aber korrigiert sich Löwith selbst: der
konsequente Ausschluss der anderen kommt dem Ausschluss der gesamten Welt gleich,
deren Untergang mit dem Aufgang der exkludierenden Welt des Ich-Du einhergeht.147 Seine
Konzession geht dahin, dass Ich und Du auch in der Welt der Alltäglichkeit begegnen
können – wo, wenn nicht in der Welt soll eine Begegnung stattfinden? Wie es scheint, ist das
In-der-Welt-sein mit der Zweckhaftigkeit des umweltlich Begegnenden deckungsgleich.148
Zurecht deutet Gadamer darauf hin, dass in der alleinigen Konzentration auf die Sache oder
den Zweck das Verhältnis zum Anderen verloren geht, er spricht von einer „[unmenschlichen]
Abstraktion
aus
der
ursprünglichen
Menschlichkeit
mitweltlicher
Verhältnisse.“149 Dem zweckgebundenen Einander-gebrauchen stellt Löwith das zweckfreie
Füreinanderdasein entgegen.
Der Trennung von zweckhaftem Miteinander, in dem Menschen gemeinsam ein Ziel
verfolgen, und mitweltlicher Begegnung von Ich und Du trägt Löwith darin Rechnung, wenn
er zwischen „Individuum“ und „Person“ differenziert: ersteres ist unteilbare, sich nicht
mitteilbare Substanz, im Verhältnis zum anderen ist der Mensch Person150; er verhält sich zu
145
Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 48
Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 55
147
Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 57
148
Siehe dazu das unter 2.3 Heideggers Analyse des Mitseins als Basis für Binswangers Begegnungsdenken
Gesagte.
149
Gadamer, Hans-Georg: Ich und Du (K. Löwith), in: Gesammelte Werke 4 : Neuere Philosophie ; 2. –
Unveränderte Taschenbuchausgabe. – Tübingen : Mohr, 1999. – (Uni-Taschenbücher ; 2115), S. 234-239, hier S.
236
150
Siehe Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 51, sowie Theunissen, Der Andere, S. 424
146
60
anderen als persona, als Rolle oder Maske, die sich dem Du öffnet, wobei hier
entgegengehalten werden kann, dass sich das Ich vom Du her definieren lässt: „[...] denn Du
bestimmst mich stets als Ich.“151 Das Verhältnis allerdings zum das Ich definierenden Du ist
keineswegs klar, demgemäß ist auch von „Zweideutigkeit“ die Rede, die daraus hervorgeht,
dass Ich und Du wechselseitig einander bedingen. Ungeklärt bleibt hier jedoch die Frage
nach der Stabilität dieser Beziehung und die Frage, welcher Art die Substanz (als das sich
Durchhaltende) einer Person ist, die durch den Anderen jeweils neu bestimmt wird –
obendrein noch: wer bestimmt das Verhältnis selbst? Nimmt das Dasein nur mehr seine
Personalität als Rolle wahr, die sich als Verhältnis ausdrückt, wie steht es dann um das
Dasein selbst? Demnach würde die Personalität die Individualität (beide Begriffe hier auf ein
und denselben Menschen bezogen) verdrängen: „Je mehr aber die Verhältnismäßigkeit
wächst, desto mehr schwindet die Individualität.“152
Ist der Begriff der Person ein relationaler, so ist er durch intersubjektive Verhältnisse
bestimmt; wenn Löwith den Menschen als „Für-sich“ (Individuum) und zugleich auch als
Person im Sinne von „Für-den-Anderen“ versteht, so ist die Möglichkeit und die Gefahr
gegeben, dass das Ich-Du-Verhältnis eine ungewollte Eigenbewegung verfolgt, er nennt dies
die „Verselbständigung des Verhältnisses“.153 Was geschieht in ihm und wohin führt es? Das
Ich wird sich in seiner Beziehung zum Du auf dieses vorbereiten, sich auf es „einlassen“; nun
kann es durchaus geschehen, dass der eine in seiner Rollenhaftigkeit dem anderen
zuvorkommen will, d.h. Möglichkeiten unterbreiten will, die eigentlich der andere ergreifen
möchte oder die ihm mindestens zustehen. Was Heidegger einspringend-beherrschende
Fürsorge nennt, wäre bei Löwith eine Weise des Herrschens über den anderen, wenn er sich
selbiger Methode bedient. Dann geht es weder um mich noch um dich, sondern um unser
Verhältnis, das sich als zweideutiges zeigt, zumal ich mich zu dir verhalte und zu diesem
Verhältnis:
Die primäre Zweideutigkeit des eigenen Verhaltens zum anderen ist also reflektiert,
indem sich einer in seinem Verhalten (zum anderen) zum Verhältnis verhält. Sich im
Verhalten zum Verhältnis verhalten, das besagt: ich verhalte mich zu einem anderen
von vornherein im Hinblick auf sein mögliches Verhalten zu mir.154
Sehr einleuchtend führt Löwith vor, was geschieht, wenn sich intersubjektives Verhalten
nicht auf den anderen bezieht, sondern lediglich auf sich selbst bzw. auf den, der sich zum
anderen verhält. Dass dadurch jeglicher Dialog von Anfang an unterdrückt wird, ist
151
Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 55
Theunissen, Der Andere, S. 431f
153
Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 82
154
Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 79
152
61
offensichtlich, Löwith stellt diese reflexive Zweideutigkeit auch treffend dar: „Am Ende der
Diskussion wird dann ein jeder gerade von den Argumenten getroffen, mit denen er zuvor
seinen Partner schlagen wollte.“155
Nennt Binswanger Löwith einen Philosophen, der ihm wichtig ist, stellt sich die Frage
nach Löwiths Bedeutsamkeit; Böckenhoff stellt Löwiths Denken – trotz aller Unterschiede –
in die Nähe Heideggers156, ähnlich urteilt Theunissen, der in seinem Denken einen
„vermeintlich originären Beitrag zur Dialogik“157 ausmacht. Den „vermeintlichen Beitrag“
sucht Binswanger mit der Phänomenologie der Liebe zu ergänzen. Mit Bezugnahme auf
obige Ausführungen kann mit Gadamer resümiert werden:
Daß die Orientierung an der Verhältnisbestimmtheit des Ich für Löwith ein Motiv von
grundsätzlicher, philosophischer Tragweite darstellt, wurde schon eingangs betont. Die
durchgeführten Analysen lassen aber weniger die positive philosophische Absicht der
Untersuchung hervortreten, als daß sie in begrifflicher Präzision die
Reflexionsproblematik der mitweltlichen Verhältnisse ausarbeiten [...].158
Die kurzen Darstellungen Bubers, Heideggers und Löwiths sollen dazu dienen, den
Gedankenkreis Binswangers zu verdeutlichen; ist Binswanger ein wissenschaftshistorischer
Status in der Medizin zugewiesen, so mag sich zeigen, welchen Beitrag er zum Bedenken des
Dialogs beisteuert. Seine Leistungen in der Wissenschaft sind mittlerweile anerkannt, auch
wenn sie heute nicht immer an erster Stelle genannt werden; in seinem Denken tritt das eine
oder andere Motiv stärker hervor, jeweils neue Akzente betonend. Stets nur über ein Thema
nachzudenken kann ein Zeichen der Unbedarftheit sein, es kann aber auch Zeugnis für
unbeirrbares und beharrliches Eingehen auf ein Phänomen sein – in diesem Fall der Andere.
155
Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 79
Böckenhoff, Die Begegnungsphilosophie, S. 141
157
Theunissen, Der Andere, S. 413
158
Gadamer, Ich und Du (K. Löwith), S. 239
156
62
3 Miteinandersein in Liebe
3.1 Liebe und Sprache
Bedenkt Binswanger die Philosophie des Dialogs, liegt es nahe, sein Verständnis von Sprache
zu besehen. Dass Menschen miteinander sprechen, ist ein Gemeinplatz; die so verstandene
Sprache bildet ein Kommunikationsmittel, dessen wir uns bedienen, um vorwiegend
Informationen zu geben und zu erlangen. Das erfordert heutigentags moderne Technik, die
den Informationsaustausch allererst möglich macht – erinnert sei hier nur an elektronische
Datenträger, die eine schier unüberblickbare Menge an Informationen, Nachrichten aus
diversen Wissensgebieten zur Verfügung stellen. Ob all das noch von profundem Wissen
zeugt, kann bezweifelt werden, stammen doch die meisten Unterweisungen aus zweiter Hand
und damit aus nicht ausgewiesener Quelle. Damit ist das Wissen kein gesichertes, daher
möglicherweise manipulativ bzw. suggestiv, also unseriös. Diese Auffassung von Wissen und
Sprache kann Binswanger nicht im Sinn gehabt haben.159
Das Sprechen ist keine Abfolge von Lautäußerungen, die zwischen Denken und Welt
vermitteln. Binswanger erinnert an den Prolog des Johannesevangeliums, demzufolge im
Anfang das Wort war, ohne das nichts hätte werden können.
Wo Sprache ist, ist Welt, und gleichwohl ist auch die menschliche Sprache in einem
seit NIETZSCHE und HEIDEGGER genau bestimmbaren Sinne des Wortes
weltschöpferisch. [...] Nun ist es ein Grundzug des menschlichen Seins, daß alle diese
schier unübersehbaren Weisen, in denen ihm das Seiende zugänglich wird, zu Worte
kommen, daß ihnen Worte zuwachsen.160
Analog zum Schöpfungsakt Gottes stiftet menschliche Sprache die menschliche Welt.
Gemeinhin ist die Sprache – vielleicht sogar jede als solche definierte – die lautliche
Darstellung von Gedanken, in weiterem, daraus folgendem Sinne auch die Äußerung eigener
Stimmungen, Absichten, Gefühle. Die Sprache ist nie nur ein Reden über etwas, also
objektbezogen, sondern umfasst wesentlich den Sprechenden und den hörend Antwortenden.
Während für die analytische Philosophie Sprache geradezu im Zentrum ihrer Bemühungen
159
Hat Sprache ihrem Wesen nach das Ziel, etwas über etwas in Erfahrung zu bringen, so stellt sie sich als
System dar, in dem das zu Wissende im Vordergrund steht, nicht aber der, der gefragt wird, also der, mit dem ein
Gespräch geführt wird. Dieser rückt in die Rolle dessen, der Informationen, Auskünfte weitergibt, in dieser
Funktion ist er prinzipiell auswechselbar. Von Sprache, die sich in Liebe und von Liebe, die sich sprachlich
kundgibt und darin hält, ist in diesem Verständnis nicht die Rede. Sprache wäre nichts anderes als eine
Auskunftei.
160
Über Sprache und Denken, in: AW 3, 275f
63
steht, geht es der Dialogphilosophie darum, den Menschen als sprachlich verfasstes Wesen zu
sehen.161
In der Sprache, die wir sind, ereignet sich die uns gemeinsame Welt – gemeinsam, weil
wir auf demselben Boden stehen, einander ebenbürtig –, different, weil uns erst im Gespräch
das uns Unterscheidende klar wird. Die Welt bildet damit das Gesamte des sprachlich
verfassten Seins, wie sich Seiendes im Ganzen offenbart. Nicht erdabgewandte Seelen sind es,
die untereinander kommunizieren, diese hätten einander nichts zu sagen, vielmehr spricht der
Mensch als leiblicher, er gestikuliert, er führt seine Argumente ins Feld, er gesteht seine
Schwächen ein und behauptet seine Stärke. Die vollständige Ausprägung findet sich im
vollzogenen Gespräch.
Der Mensch ist nur „Mensch“ im Miteinander-Sprechen, in der Verständigung von
Ich und Du als Wir auf dem Grunde einer gemeinsamen sprachlichen Welt oder, wie
wir mit HEIDEGGER sagen, eines gemeinsamen sprachlichen Weltentwurfs.
Sprache ist kein bloßes „Austauschmittel“, sondern Miteinandersein in einer Welt
möglicher Verständigung. [...] Wenn der Mensch nur Mensch ist durch Sprache, so
bedeutet Mensch jetzt also sowohl den Einzelnen als die Gemeinschaft, sowohl Leib
als Seele, sowohl lebendige Gegenwart als geschichtliche Vergangenheit, sowohl
Dialog als Monolog, also sprachliche Verständigung sowohl mit andern als mit sich
selbst.162
In und durch Sprache sind Menschen miteinander da; wiederholt jedoch betont Binswanger
den Stellenwert, den das Schweigen im Gespräch einnimmt. Er fasst es als Zuhören auf, das
bereitwillig das Aufnehmen und Akzeptieren des Gesprächspartners anzeigt und dadurch schon
eine Weise der Antwort ist. Schließlich ist hier auch der Ort, Widerspruch zulassen zu können;
die rechte Pflege von Schweigen und Reden müsste dahin leiten, den Raum des Dialoges vom
Dreinreden, Drauflosreden, Nieder- und Überreden, vor Geschwätz zu bewahren. Sprache ist
mithin kein Medium, mittels dessen ich Daten über Sachverhalte einer (mir fremden) Welt
einhole, sondern nährt sich vom Zuhören, Schweigen und Reden: „Glaube aber nicht, daß es
161
Neben dem berühmten Diktum Aristoteles’, nach dem der Mensch das Wesen ist, das das Wort hat (wobei
erst recht gefragt werden kann, ob nicht das Wort den Menschen „hat“), ist noch einmal Hölderlin in Erinnerung
zu rufen: „Seit ein Gespräch wir sind und hören können voneinander.“ Nicht führen wir ein Gespräch, wir sind
das Gespräch selbst, indem (und in welchem) wir im Raum des Dialogs den Anderen zulassen und vernehmen.
Öffne ich mich dir, gebe ich dir Raum, Aufmerksamkeit und die Bereitschaft, dich selbst zu öffnen, nicht nur um
etwas von dir preiszugeben, sondern damit du dich ins Gespräch bringst.
162
Über Sprache und Denken, in: AW 3, 279. Der Monolog, vor allem der im Drama auftretende, ist kein
Gespräch, weil die Ansprechperson gerade nicht anwesend ist, oder weil der Monologisierende Unbedeutsames
herspricht. Monolog als dramatische Form fordert den Zuschauer heraus, sich dem Monologisierenden zu
„stellen“. Der Monolog, also die Rede eines Einzelnen, zieht die ungestörte Aufmerksamkeit des Publikums auf
sich, darin kommt er einer Konfession, einer Brandrede, einem verborgenen Unsinnigen gleich, die ein Einzelner
sich selbst nicht gestattet. Ein Selbstgespräch gilt nicht mir, wenn ich es nicht zugleich anderen eröffnen kann,
wodurch sich Redekunst in Dialog wandelt und sich gerade dann als Kunst erweist.
64
genügt, daß du dich verständlich ausdrückst; du musst auch lernen, dir oder andern zuhören zu
können; denn ‚Redenkönnen und Zuhörenkönnen sind gleichursprünglich’.“163
Für jede Begegnung, erst recht für das Miteinandersein in Liebe, ist Sprache
unabdingbar. In den Grundformen verortet Binswanger die tatsächlich gesprochene Sprache in
der Struktur der Sorge bei Heidegger, anders aber die Liebe, die von Schweigen geprägt ist,
worunter naturgemäß gerade nicht das Schweigen als Gesprächsverweigerung, als hartnäckiges
Verharren im Eigenen oder apathische Interesselosigkeit verstanden wird. Als konkrete ist die
Liebe auch auf die lautliche Sprache angewiesen, sie bezeugt sich im Nennen des Namens der
Geliebten.
„Nicht daß jeder Mensch nun einmal diesen Namen führt“, sagt POS, „sondern daß er
eben diesen Namen führt und der Name als ein Moment seines Wesens entgegentritt,
ist die eigentliche ‚Leistung’; nicht negative Abhebung von einem Hintergrund von
Personen, die ich ohne Namen verwechseln würde, sondern unmittelbare positive
164
Beziehung zu seinem eigenen Wesen ist die ursprüngliche ‚Leistung’.“
Zwar steht der Mensch nicht nur in der Liebe, sondern auch in der Welt als zu besorgende, die
Sprache der Liebe und die des In-der-Welt-seins müssen demnach verschiedene Konturen
tragen; um nicht die eine Sprache gegen die andere auszuspielen, warnt Binswanger vor der
„Verpfändung des Wortes“165 zum Schaden der Liebe: „Nicht was das Wort bedeutet,
163
Über Sprache und Denken, in: AW 3, 289
AW 2, 298. Die durch das Nennen des Namens akzeptierte Präsenz des Anderen schildert Heimito von
Doderer in gelungener Weise: gegen Schluss der Strudlhofstiege begegnet der Protagonist Melzer endlich seiner
Liebe Thea Rokitzer: „Wie sagte sie also? Wir wissen Melzers Vornamen nicht. Nein, der Autor weiß den
Vornamen seiner Figur nicht, er weiß ihn wirklich nicht [...]. Jener war einfach ‚der Melzer’, immer. Was
brauchte der einen Vornamen? Aber jetzt benötigt er ihn, damit die Thea Rokitzer den Namen aussprechen kann,
so daß diese Membrane von zwei oder drei Silben sich baucht, ja fast zum Platzen spannt unter dem Andrang
eines ganzen zweiten Lebens, das da hineinwill. Sie wird diesen Namen aussprechen, wie ihn von da an nie mehr
ein anderer Mensch aussprechen kann, denn sie wird in diesen Namen münden. So wird Melzer endlichen seinen
Namen zu Recht bekommen, denselben, der am Taufschein gestanden hat, dem Autor unbekannt. So wird
Melzer gewissermaßen erst zur Person, ja, zum Menschen.“, in: Doderer, Heimito von: Die Strudlhofstiege oder
Melzer und die Tiefe der Jahre. – 12. Auflage. – Deutscher Taschenbuch Verlag : München, 1993, S. 892f.
(Kursivschrift im Zitat vom Verfasser A.A.)
Die Nennung eines Namens ist keinesfalls eine beiläufige Äußerung. Wer sich auf einen Namen beruft, erkennt
den Genannten als Autorität an und kann in „seinem Namen“ handeln, der Benannte ist in bestimmter Weise für
dieses Handeln haftbar und verantwortlich. Der Name belegt den persönlichen Kontakt, die Identität dessen, auf
den man sich bezieht, daher kann ein Name – damit der Namensträger, also die entsprechende Person –
„veruntreut“ werden. Der Name, der die Person ist, tritt als Bürge auf, der dem Nennenden seinen Ruf gewährt.
Nicht umsonst kennt die Rechtsprechung das Delikt des Rufmordes, falls der Name „unachtsam“, unter falschem
Vorwand ins Spiel gebracht wird. Höchste Prägnanz erlangt der Name im Exodus, wenn Moses Gott nach dessen
Namen fragt. Der Unbenennbare antwortet lapidar und bezeichnend: „Ich bin der ‚Ich-bin-da’.“ (Ex 3,14) Die
reine Anwesenheit ist bereits der Name dessen, der dadurch gar nicht mehr genannt werden muss, weil er
ohnehin da ist. In weltlichem Zusammenhang begegnen Adjektive wie „namenlos“, „namhaft“, „anonym“, im
Kriegsgrab findet der „namenlose Soldat“ seine letzte Ruhe. In Betracht der philosophischen Theologie sind zu
erwähnen Casper, Bernhard: Das Ereignis des Betens. Grundlinien einer Hermeneutik des religiösen
Geschehens. – Freiburg/Breisgau ; München : Alber, 1998. – (Phänomenologie : 1 ; Bd. 3), und Schaeffler,
Richard: Das Gebet und das Argument : Zwei Weisen des Sprechens von Gott; eine Einführung in die Theorie
der religiösen Sprache. – 1. Aufl. – Düsseldorf : Patmos, 1989. – (Beiträge zur Theologie und
Religionswissenschaft). Vorliegende Arbeit widmet das Kapitel 9 der Einzigartigkeit von Ich und Du im Namen.
165
AW 2, 190
164
65
entscheidet hier, sondern daß Du es bist, die es ausspricht.“166 Er sieht im Wort der Liebe
Geschenk und Gnade, die er in der Sorgestruktur des Daseins vermisst. „Die sprachliche
Urform dieses Geschenks aber ist die Poesie. Nur sie wagt das ewige Wagnis, die Artikulation
der Welt als Sorge auch sprachlich zu überschwingen [...].“167 Die Poesie, wie jede
Ausgestaltung der Kunst, ist der dem Alltag verhafteten Sprache enthoben, stattdessen bietet
sie dem Wir-sein im Miteinander die Möglichkeit des Ausdrucks. Deutet man Sprache nicht
primär als lautliche Kundgabe, dehnt sich ihr Begriff aus, sodass Sprache unter mehreren
Aspekten betrachtet werden kann, so als linguistisches, psychologisches, logisches,
pädagogisches Phänomen. Von dieser Vieldeutigkeit abgesehen, soll hier einem Gedicht
Baudelaires nachgegangen werden, in dem der Dichter den Moment der Liebe in ein
Dauerhaftes zu verwandeln sucht.
Das Gedicht, erschienen 1860, gehört dem Zyklus „Pariser Bilder“ innerhalb der
Blumen des Bösen an:
Der Straßenlärm betäubend zu mir drang.
In großer Trauer, schlank, von Schmerz gestrafft,
Schritt eine Frau vorbei, die mit der Hand gerafft
Den Saum des Kleides hob, der glockig schwang;
Anmutig, wie gemeißelt war das Bein.
Und ich, erstarrt, wie außer mich gebracht,
Vom Himmel ihrer Augen, wo ein Sturm erwacht,
Sog Süße, die betört und Lust, die tötet, ein.
Ein Blitz ... dann Nacht! – Du Schöne, mir verloren,
Durch deren Blick ich jählings neu geboren,
Werd in der Ewigkeit ich dich erst wieder sehn?
Woanders, weit von hier! zu spät! soll’s nie geschehn?
Dein Ziel ist mir und dir das meine unbekannt,
Dich hätte ich geliebt, und du hast es geahnt!168
Die grammatikalische Zeitform, in der das Gedicht gehalten ist, das Präteritum, weist als
Formgestalt auf den Gedichtinhalt. Das Geschehen des Vorübergehens ist abgeschlossen und
damit beendet. Was der Leser als ein Vergangenes, Abgeschlossenes erfährt, wird sich beim
Lesen als durchaus Aktuelles herausstellen. Der erste Absatz stellt dem Leser die Szenerie
vor: es geht laut bis zur Betäubnis zu, recht unvermittelt findet sich der Leser in den Pariser
166
AW 2, 191
AW 2, 193
168
Baudelaire, Charles: Les fleurs du mal : französisch/deutsch = Die Blumen des Bösen. – Übers. von Monika
Fahrenbach-Wachendorff. Anm. von Horst Nina. Nachw. und Zeittafel von Kurt Kloocke. – Stuttgart : Reclam,
1998, S. 193. Die Ausführungen zu Baudelaire sind einer Hausarbeit des Verfassers entnommen: „Leben und
Lesen ohne Poesie?“ – Bedeutung und Nutzung von Lyrik in den Öffentlichen Büchereien Wien, Projektarbeit
im Rahmen der hauptamtlichen Ausbildung für Bibliothekare, 2008, S. 18-20, abrufbar unter http://
www.bvoe.at/aus-_und_fortbildung/projektarbeiten_suche, Abrufdatum: 05.04.2014
167
66
Straßen des 19. Jahrhunderts wieder, in denen Baudelaires Gedicht angesiedelt ist. Wie in der
Sekundärliteratur169 erwähnt, macht Baudelaire oft die Großstadt und die in ihr lebenden
Menschen zum Inhalt seines Schreibens. Der „Straßenlärm“ ist in der Stadt allgegenwärtig. In
diesem Trubel verliert sich der Einzelne, er kann hin- oder auch wegsehen, er bleibt Teil der
nicht definierbaren Masse. Unvermittelt kommt eine Frau die Straße entlang, die diesem
anonymen Aneinander-vorbei-gehen durch ihre nicht näher definierte Präsenz entgegensteht.
Das unverbindliche Vorbeigehen wird von Baudelaire nun herausgenommen, um einer
alltäglichen Geste etwas zu geben, das Individuelles zeigt.
Im Vorübergehen der Passanten, in dem sich versteckt auch Freude, Fröhlichkeit oder
Desinteresse äußert, nimmt der Erzähler eine Hand wahr, die das Bein „entblößt“. Jetzt
erleben wir die Annäherung an die fremde Frau, die sich dennoch in einer etwas zaghaften
Beschreibung erschöpft. In vier Zeilen beschreibt der Dichter den Zustand der unbekannten
Gestalt, der eine ebenso anonyme Frau begegnet. Allein die Annäherung, das Heraustreten
und die Überwindung des betriebsamen Hintergrundes ist Thema des ersten Absatzes. Der
vage
Moment
der
Begegnung
mit
der
Vorübergehenden
wird
keineswegs
als
„Augenzwinkern“ abgetan.
Indem Baudelaire einen (anonymen) Sprecher zu Wort kommen lässt, lädt er den
Leser ein, die Verse auf sich selbst zu beziehen, handelt es sich im Verlauf des
Gedichtes doch um ein sehr intensives Verhältnis. Der dadurch angesprochene Leser wird
seinerseits mit Erfahrungen mit bisherigen Begegnungen, Liebschaften, mit dem, was „sein
hätte können“ konfrontiert. Wenn die Frau den Saum hebt, der „glockig schwingt“, zeigt sie
Offenheit bis hin zu Zärtlichkeit und Erotik.
Im nächsten Quartett stellt der Dichter die Dame vor. Das ihr zugesprochene
„gemeißelte Bein“ verweist auf die Beständigkeit einer Statue, die permanent in dieser Pose
verbleibt – die Schönheit der Dame ist nicht zeitlich begrenzt, sondern gehört wesentlich zu
ihr. Der Betrachter ist beeindruckt von der Schönheit, die er zunächst an ihrem Bein
ausmacht. Das Bein gehört einerseits zum Bestehenden, in dem Alltägliches sich verliert, zum
anderen offenbart die Schönheit der Dame eine Sphäre außerhalb der Anonymität. Dem Leser
mag scheinen, er selbst erstarre, wenn das Ich die betreffende Strophe vorträgt. In eine
Gleichmacherei kommt keine Persönlichkeit, damit auch keine Schönheit. Durch diese
Beschreibung der Frau fällt auch der Betrachter aus der unbekannten Masse der Großstadt
heraus.
169
So z. B. Friedrich, Hugo: Struktur der modernen Lyrik : Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des
zwanzigsten Jahrhunderts. – Mit einem Nachwort von Jürgen von Stackelberg. – Reinbek bei Hamburg :
Rowohlt, 2006. – (rowohlts enzyklopädie ; 55683), S. 35-58
67
Mitten in dem Wirbel der Stadt erstarrt der Betrachter, eine fixierende, auch sexuelle
Konnotation können wir hier mitdenken. In der Vorübergehenden öffnet sich in den Augen
ein Himmel, in dem „ein Sturm erwacht“. Ein Himmel kann wolkenlos, heiter, bewölkt,
strahlend, aber eben auch unheilschwanger und stürmisch sein. Die Kombination von Himmel
mit Sturm kann mehreres meinen: Belebung, Wasser, Fruchtbarkeit, dann auch Zerstörung,
Vernichtung, Bedrohung, Katastrophe. Die Alternative von Heil und Unheil drängt sich dem
Ich auf, das Ungewisse und Unbestimmbare in der Begegnung der beiden lässt zweierlei
offen: „Süße, die betört und Lust, die tötet“. Das Ich schwankt zwischen „Süße“, Liebe und
Vertrautheit und potentieller Tödlichkeit der Beziehung. Das Tödliche wird nicht wörtlich zu
nehmen sein; eine Beziehung ist auch dann tödlich, wenn sie leer ist, wenn die Partner
einander nichts zu sagen haben, oder wenn sie nur gegen den Anderen sprechen. Es ist also in
dieser zweiten Strophe über die Qualität der Beziehung noch nichts entschieden.
Im dritten Absatz geschieht die Zäsur: der Sturm am Himmel wandelt sich zum Blitz,
der eine kurze Nacht unterbricht – das verweist auf eine kurze Helle, die die Nacht durchfährt
und in der die Schöne hervortritt. Vermittels ihres Blickes empfindet sich der Passant „neu
geboren“, die Begegnung scheint also grundlegend und fruchtbar sein zu können. Diese
„Neugeburt“ wird in der nächsten Zeile allerdings wieder zurückgenommen, die zugleich
Wunsch und Frage ist: „Werd in der Ewigkeit ich dich erst wieder sehn?“ Ewigkeit bedeutet
hier auch Endlichkeit, es ist ein Wechselspiel von „jetzt nicht“ und „vielleicht später“.
Die Begegnung, die später statthaben soll, wird durch die Flüchtigkeit der Gesten
wiederum nivelliert, die Schnellebigkeit verbietet die Hoffnung auf ein „später“. Baudelaire
betont das, indem er durchwegs die Mitvergangenheit verwendet. Der dritte Absatz ist
insgesamt ein einziger Fragesatz; eine Frage, die zugleich ein Begehren ist. Hier heißt es,
aufmerksam zu sein: die Kommunikation zwischen dem Ich und der Vorübergehenden ist
einseitig – sie kommt nicht zu Wort. Es findet in dem Gedicht kein mündlicher Dialog statt,
es gibt keine Schilderung dessen, was die Passantin empfindet, sie gibt keine Antworten auf
die an sie gerichteten Fragen. Bleibt sie deshalb der städtischen Anonymität verhaftet? Ist das
„Raffen des Saumes“ unbewusst und daher bloßer Zufall? Oder „zupft“ sie sich für ihren
Gatten zurecht, wobei das einem zufällig Begegnenden nolens volens auffällt?
Im letzten Absatz wird der Gedanke an eine Begegnung verworfen. Sie wird in einen
anderen, fiktiven Ort zu einer unbestimmten Zeit projiziert. Das Auflehnen gegen den
unbefriedigenden Zustand mit der schroffen Forderung „soll’s nie geschehn?“ geht einher mit
der Verweigerung des Aktuellen. Zugleich erleben wir einen Rückgang in den status quo: die
68
divergierende Zielgerichtetheit ist nicht nur örtlich gemeint, sondern vor allem emotional,
soweit das in der herrschenden Anonymität zum Ausdruck gebracht werden kann.
In der Schlusszeile zeigt sich die Wendung und Auflösung der Situation des Ich.
Dieses Ich gibt gleichsam ein Geständnis ab, damit aber auch einen Ausdruck des Wollens.
Der letzte Vers „Dich hätte ich geliebt und du hast es geahnt!“ ist ein irrealer Wunschsatz; ein
Ahnen von Liebe vonseiten der Vorübergehenden wird im gesamten Gedicht nur ein einziges
mal erwähnt, und das im abschließenden Satz. Baudelaire äußert mit keinem Wort das
Erleben und Befinden der Frau, die Gefühle des Ich erfahren keine Antwort. Zuletzt bleibt nur
mehr die – wenn auch vergebliche – Forderung „Liebe mich!“, imperativisch durch ein
Rufzeichen betont.
Baudelaires Verse stellen den Versuch dar, aus der Masse der in Paris
Vorüberziehenden einen Menschen ausmachen zu können, mit dem man eine Beziehung
aufnehmen möchte. Da aber im Man jedes Dasein – das heißt: alle – niemand ist, ist über die
Verwirklichung einer Begegnung noch nichts entschieden, obwohl die Schlussverse in
Resignation münden. Die Anonymität des vortragenden Ich schließt den Leser mit ein, der
sich damit alsbald selbst mit diesem Ich identifizieren kann – auch die, die „vorüberging“ ist
eine uns vertraute Figur. Der Leser nimmt an, dass das Ich die Vorübergehende nicht direkt,
lautlich vernehmbar „anspricht“, dennoch bleibt er in der Sprache, ohne die er sein Erlebnis
gar nicht wahrnehmen oder denken könnte. Auch das Schweigen der Frau bezeugt noch kein
Desinteresse oder herablassendes Gehabe, möglicherweise empfindet sie dem Mann
gegenüber Ähnliches. Just in dieser Situation stellt sich dar, dass auch eine noch so flüchtige,
vage Begegnung immer noch eine Begegnung ist – ganz gleich, ob sie kurz oder lange währt,
intensiv ist oder an der Oberfläche verbleibt.
Literatur unternimmt mit der Liebe den Versuch, Undefinierbares zu umschreiben.
Scheut man nicht, von abgeschmackter Liebespoesie auszuscheren, so gerät man in ein kaum
zu überblickendes Feld von Lyrik, aber auch zu anderen Literaturgattungen, die sich mit dem
liebenden Miteinander auseinandersetzen. In den Grundformen wird der Dichtung der Platz
zugewiesen, die Liebe und deren Verstehen zu wahren. Aus diesem Grund erwähnt und zitiert
Binswanger die großen Dichter, die „[...] eine Ordnung und ein Verständnis im Rückgang auf
das phänomenologische Wesen der Liebe, auf den reinen Überschwang [...]“170 ausdrücken.
Der Stellenwert der Literatur bezeugt weniger eine kulturhistorische Legitimation, sondern
eher den Grundwert, aus dem Dasein existiert. Max Herzog sieht im wiederholten Zitieren
von Literatur eine Form des Zwischenmenschlichen selbst: „Wir finden in der Form des Zitats
170
AW 2, 175
69
bereits die Anfänge einer Phänomenologie der Intersubjektivität vorgezeichnet [...].“171
Herzog ist zuzustimmen, insofern jede Interpretation – sei sie die von Lyrik oder von
Philosophie – sich auf dem Boden dessen wissen muss, das sie interpretierend verstehen will.
Erst vom gemeinsamen Standpunkt aus ist Kritik (in der Bedeutung des ί, cernere –
scheiden, trennen, sichten, hervorheben) redlich und zulässig. In ebensolchem Sinn gilt dies
für das Miteinander im Wir, aus dessen Raum sich Ich und Du herausdifferenzieren.
Neben Baudelaires Gedicht, das die „scheiternde“ Begegnung zeichnet, steht Rilkes
Lied aus dem Malte Laurids Brigge172, in diesem gewinnt der Bezug des Ich zum Du deutlich
konkretere Züge:
Du, der ichs nicht sage, daß ich bei Nacht
weinend liege,
deren Wesen mich müde macht
wie eine Wiege.
Du, die mir nicht sagt, wenn sie wacht
meinetwillen:
wie, wenn wir diese Pracht –
ohne zu stillen
in uns ertrügen?
[...]
Sieh dir die Liebenden an,
wenn erst das Bekennen begann,
wie bald sie lügen.
[...]
Du machst mich allein. Dich einzig kann ich vertauschen.
Eine Weile bist dus, dann wieder ist es das Rauschen,
oder es ist ein Duft ohne Rest.
Ach, in den Armen hab ich sie alle verloren,
du nur, du wirst immer wieder geboren:
weil ich niemals dich anhielt, halt ich dich fest.
Zum Zusammenhang: das Lied wird in Gesellschaft solo gegeben. In einem Augenblick der
Stille hebt die junge Sängerin mit starker und voller Stimme an. Dem Schweigen der
Zuhörenden geht die erste Strophe voran und nimmt dieses vorweg. Es ist ein Schweigen, das
kein Nichtsagen kundgibt – es ist ein behutsames Schweigen, es ist Nacht –, sondern den
Schlafenden in seiner Ruhe belassen will. Einerseits ist die Nacht finster, sie verneint den
hellen Tag, Zweifel und Angst finden in ihr einen fruchtbaren Raum.
Das in der Nacht sich findende Ich weint, nicht nur um seinetwillen, auch um die, die
es schützend bewacht. Das Weinen deutet auf eine Begegnung mit etwas Neuem, mit einem
Anderen. So weinen wir, wenn wir Geschätztes und Geliebtes verlieren, auch dann, wenn uns
171
Herzog, Max: Weltentwürfe : Ludwig Binswangers phänomenologische Psychologie. – Berlin ; New York :
de Gruyter, 1994. – (Phänomenologische Forschungen ; 17), S. 98
172
Rilke, Rainer Maria: Werke in drei Bänden. Dritter Band. – Ausgewählt und herausgegeben vom Insel
Verlag. – Frankfurt/Main ; Leipzig : Insel Verlag, 1991 S. 336
70
Überraschendes überkommt – mithin das, das wir nicht geplant und einstudiert haben. Die
Wiege, die mich „müde macht“, kann die Erfahrung des Anderen sein, der mich „erschöpft“,
dessen Begegnung derart „lähmt“, dass ich keinen Selbstschutz aufbringen kann. Zudem
macht die Wiege müde, wodurch sie im Schlaf eine Herberge bietet.
Die folgende Strophe widmet sich dem Du, das vom Ich wahrgenommen und erfahren
wird. Schweigen bleibt das leitende Motiv – „sie“ sagt mir nicht, dass sie wacht, sie bezeugt
im Stillen, in Verschwiegenheit ihre Präsenz für mich. „Sie“ sagt zwar nichts, aber sie sagt
nicht nichts, d.h. sie verneint mich nicht, stellt mich nicht ins Nichts, sondern akzeptiert mich.
Rilke sieht in dieser Beziehung die Pracht, die, ohne zu „stillen“, nicht ertragbar ist. Die Frage
lässt wieder Zweifel und Hoffnung zu: was heißt „Pracht“, „Stillen“, „Ertragen“?
Das „Stillen der Pracht“ erinnert an das Stillen des Säuglings, der durch Stillung
zugleich beruhigt und genährt wird; das Stillen bedeutet also vor allem Pflege, Obhut und
Fördern des Heranwachsenden. Im Gedicht ist das Wachsende, das nur auf fruchtbarem
Boden reift, die Beziehung der Liebenden. Befriedigung durch Stillen wiederum verweist auf
den Anderen, der Sorge zu tragen hat. Die dritte Strophe setzt abrupt mit einer resignierenden
Diagnose an, so würden die Liebenden nach ihrem Geständnis zu lügen beginnen, was
offensichtlich einen Widerspruch bildet. Etymologisch ist „lügen“ mit „leugnen“ verwandt,
beide Worte haben ihren Hintergrund in der Sprache, wodurch sie sich vom eingangs
dargestellten Schweigen der Liebe unterscheiden. Ein Bekennen, das die Lüge zum Grund hat,
wird sich alsbald als Gerede, Unaufrichtigkeit und Uneigentlichkeit erweisen, somit
verkommt das Bekenntnis zum Anderen zu einem Verkennen des Anderen, zur bloßen
Illusion oder falschen Vorstellung, die in beidseitigem Betrug mündet.
Die Interpretation des Gedichtes wird von Rilke selbst unterstützt – so pausiert die
Sängerin nach dieser Strophe, und Stille umfängt das Publikum. Diesem ist der Gedichtinhalt
offenkundig unangenehm: sie stoßen aneinander, entschuldigen sich dabei unverbindlich und
schicken sich an, die Abendgesellschaft weiterhin wie gewohnt zu pflegen. Da setzt allerdings
die Sängerin wieder ein, um die Schlussstrophe vorzutragen: „Du machst mich allein, dich
einzig kann ich vertauschen.“ – Eine Beziehung stellt man sich so wohl nicht vor. Gemeint ist
die Individuation, die Einzigartigkeit der Liebenden, die in wechselseitiger Achtung und
Seinlassen geschieht. Das Seinlassen des Anderen zeigt sich im „Vertauschen“ des Du: es
werden je neue Seiten des Du in verschiedenen Blickwinkeln sichtbar, die zuvor nicht da
waren. Soll eine Begegnung Bestand haben, dann wird sie sich auf diese wechselnden
Perspektiven hin prüfen lassen müssen. Dieses Wechselspiel von Stabilität und Variabilität
drückt sich in der folgenden Zeile aus: konstantes Miteinandersein ist der Grund für die
71
Vielfältigkeit der Begegnung mit der selben Person, die ein „vergehendes Rauschen“ oder
einen „flüchtigen Duft“ darstellt.
Die letzten drei Zeilen wiederholen das Gesagte und bringen es zum Abschluss. Die,
die ich „in den Armen verloren“ habe, verweist auf vorangegangene Beziehungen, die keinen
Bestand hatten. Dann aber die Beziehung, wie sie der Leser kennengelernt hat: „du wirst
immer wieder geboren“ – Du bleibst nicht in dem von mir definierten Rahmen, sondern wirst
geboren aus dem Raum, den wir einander schenken und gewähren und damit für wahr halten.
Rilke wählt einen Begriff, der nie folgenlos ist: „geboren werden“ bedeutet durch Andere in
eine neue Welt hineingetragen werden.173 Zwar ist diese neue Welt verletzbar und brüchig,
deswegen aber nicht schon ohne Bestand, wie aus der Schlusszeile klar wird: „weil ich
niemals dich anhielt, halt ich dich fest“. Anhalten kann meinen: 1) ich halte mich an dir an aus
Uneigenständigkeit, Unmündigkeit oder durch Inbesitznahme seitens irgendeines andern, oder
2) Anhalten als Stoppen, Festhalten, Hindern, In-Gewahrsam-nehmen. Beide Punkte können
ausgeschlossen werden, zumal Rilke sie ja verneint. Der Schlussvers kann als Freigabe des
Anderen gelten, der Andere ist eben nicht in seinem Eigensein angehalten und gehindert. Weil
ich dich in deiner Entfaltung nicht störend beeinflusst habe, darf ich dir so begegnen, wie
eben nur du bist bzw. sein kannst. Umgekehrt werde auch ich meiner Einzigkeit gewahr,
indem ich dir zu deinem Eigensein verhelfe.
Poesie bildet die „sprachliche Urform“174 der Begegnung, wenn sie auch der
alltäglichen Sprache der Liebe enthoben ist, bleibt sie dennoch Sprache, Binswanger sieht in
der Poesie sogar die „Schwester der Liebe“175. Wenn Binswanger so häufig die Lyrik
heranzieht, um dem Phänomen Liebe auf den Grund zu gehen, stellt er auch den
außerordentlichen Charakter des liebenden Miteinanderseins in den Vordergrund. Doch läuft
er dabei Gefahr, Liebe als überweltliches, akosmisches Geschehen zu begreifen, das
mystisch-religiöse Züge trägt. Heinz Vetter bemerkt dazu:
Sein [Binswangers, Anm.] Anliegen, in einer phänomenologisch-ontologischen
Betrachtung die reine Form der Liebe zu beschreiben, lässt ihn ein idealistisches Bild
der Liebe zeichnen. Die so beschriebene reine Form der Liebe kommt im konkreten
menschlichen Zusammenleben kaum vor, oder dann höchstens in ganz seltenen
Augenblicken des Lebens. Sie ist als ein Pol des dialektischen Widerspiels von Liebe
und Sorge zu verstehen.176
173
Nochmals ein Blick auf die Etymologie von „gebären“: wir finden das Wort im althochdeutschen giberan, im
altiranischen bharati, im Lateinischen (ferre), zuvor im Griechischen (φέ in der Bedeutung „streuen,
ausschütten“; im Altkirchenslawischen hat es die Bedeutung von „sammeln, lesen, wählen“. Gebären ist also
austragen, zu Ende tragen, damit ein neuer Anfang freigegeben wird.
174
AW 2, 193
175
AW 2, 140
176
Vetter, Heinz: Die Konzeption des Psychischen im Werk Ludwig Binswangers. – Bern ; Frankfurt/Main ;
New York ; Paris: Lang, 1990. – (Europäische Hochschulschriften : Reihe 6, Psychologie ; 313), S. 91f
72
Handelt es sich in der Liebe um etwas Ephemeres und damit vielleicht um etwas
Unverbindliches, das uns doch allen zuteil werden kann, oder ist sie das Fundament des
Daseins, oder, um mit Binswanger zu sprechen: „Nur wenn Dasein an sich schon den
Charakter der Begegnung hat, anders ausgedrückt, nur wenn ‚Ich und Du’ schon zu seiner
Seinsverfassung gehören, ist Liebe von Dir und Mir überhaupt möglich.“177
3.2 Aufbau und Struktur der Grundformen
Die Lektüre des Hauptwerkes Binswangers ist keine leichte. Er selbst bezeichnet es in einem
Brief als „dicken Wälzer“178 und stellt die Frage: „Warum halst sich der Mensch so etwas
auf?“179 Der Leser mag den Eindruck haben, Binswanger wage es, die Protagonisten der
Dialogphilosophie unter sich zu versammeln, um aus ihrem Denken eine Summe extrahieren
zu können.
Demgemäß sind seine Überlegungen zum Teil fragil, weitschweifig, nicht immer
konsistent, auf der anderen Seite ist sein Schaffen dem Menschen gewidmet, aus dessen
Kenntnis der Autor zu schöpfen weiß. Diese Menschenkenntnis erwächst ihm aus der
ärztlichen Tätigkeit wie aus seinen Kontakten zu Künstlern, Philosophen und
Wissenschaftern. Man sollte Binswanger nicht als Kompilator abtun, der das zuvor bereits
Gedachte bloß referiert und dadurch die Sekundärliteratur bereichert; vielmehr führt die
Auseinandersetzung mit anderen dazu, Eigenes von Fremdem zu scheiden. Die Rede von
Adepten- oder Epigonentum ist also fehl am Platz.180
Binswanger selbst weist den Grundformen einen großen Stellenwert für seine eigene
weitere Entwicklung zu – das belegt schon deren zwanzigjährige Entstehungszeit, zudem hat
er sie seinem verstorbenen Sohn Robert gewidmet; auch das belegt, dass das Werk keine
Gelegenheitsarbeit ist. Zum Einstieg in die Grundformen ist daher ein Aufriss der
Problematik hilfreich. Die erste oder ursprüngliche Form des Daseins bildet die dialogische,
er nennt sie Dualität, Miteinandersein, Wirheit im Lieben. Sie nimmt die Vorrangstellung
ein, die nicht psychologische Gestimmtheit oder Verhalten meint – diese haben erst im
liebenden Miteinander ihre Wurzeln. Diese, sozusagen „reine“ Form der Liebe ist nicht
weltlich fundiert, obwohl sie sich als „weltliche Liebe“ ereignen und bewähren muss, um
177
AW 2, 73
Mitteilung an Rudolf Alexander Schröder vom 08.01.1942, in: Einleitung der Herausgeber, in: AW 2, XV
179
Brief an Erwin Straus vom 20.01.1939, in: Einleitung der Herausgeber, in: AW 2, XV
180
Das Kreisen um das als ungefragt bekannt Vorausgesetzte ermöglicht erst das Entdecken des Neuen am
Alten. So ist auch das Studium der Geschichte der Philosophie nicht nur das Betreiben von Geistesgeschichte,
sondern Voraussetzung, die eigenen Positionen und Lehrmeinungen kennen zu lernen. Mit Recht schreibt
Wilhelm Windelband, selbst ein Philosophiehistoriker: „Darum ist die Geschichte der Philosophie das wahre
Organon der Philosophie, aber nicht die Philosophie selbst.“, in: Windelband, Wilhelm: Lehrbuch der
Geschichte der Philosophie. – 18. Aufl., unveränd. Nachdr. der 6. Aufl. – Tübingen : Mohr, 1993, S. 567
178
73
überhaupt Liebe sein zu können. In diesem Sinn spricht Binswanger vom Miteinander als
„In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-Sein“181. Nun liegt die Vermutung nahe, es handle sich
hier um irrationale, schwärmerisch-naive Liebesmystik; Binswanger unterstreicht mit dem
„Über“, dass Liebe die besorgende Welt übersteigt. Sie hat nichts mit einem transzendenten
Jenseits gemein, sondern baut auf der Welt der Sorge auf, wiewohl beide voneinander
unterschieden sind.
Stehen Ich und Du einander in Liebe gegenüber, so tun sie das in der Welt, ganz
gleich, ob man Welt mit Heidegger als Verweisungszusammenhang interpretiert, sie als
zufälligen
Ort
des
Aufeinandertreffens
zweier
Seienden
sieht
oder
schlicht
naturwissenschaftlich als Planet wahrnimmt. Liebe hat sprichwörtlich ihren Ort und ihre Zeit:
in der Begegnung eröffnet sich die Welt des Wir, dieses ist nicht nur allenthalben empirisch
bemerkbar, Binswanger bezeichnet sie als grenzenlose, die dennoch Nähe und Heimat
bedeutet. Grenzenlos verweist auf die Freiheit für und zur Geliebten hin, sie ist also keine
räumliche – auch keine psychisch-gedankliche – Einengung, der „unbeschränkte Raum“ des
Wir konzentriert sich auf ein Du. Nur „wo du bist, entsteht ein Ort“182. Der Ort symbolisiert
Leben, in ihm hat die Gemeinschaft ihren Platz, der Raum wird mit der Geliebten
identifiziert: sie ist der Ort, zu dem das Ich strebt. Binswanger fügt hier gleich eine Präzision
an: „[...] da Du nicht bist, ohne daß Ich bin, sind das oberste Raumprinzip Wir.“183
Das oberste Raumprinzip realisiert sich, sobald Ich wie Du gleichermaßen einander
Raum – im Sinne von Aufmerksamkeit, Gegenwart, Geduld – schenken und gewähren. Um
dem Einwand einer einseitig konstituierenden Intentionalität zu entgehen, bemüht
Binswanger das (geometrische) Beispiel der Ellipse, deren Brennpunkte Du und Ich
bilden.184 In der Ellipse sind die Brennpunkte nie deckungsgleich, ansonsten sie ein Kreis
würde, sie definieren erst die Ellipse. Bleibt man bei diesem Bild, fällt auf, dass Ich und Du
als Brennpunkte nicht deckungsgleich sein können, dass Distanz zwischen beiden besteht.
Und das ist es, was hervorgestrichen wird und in weiterer Folge interpretatorische
Schwierigkeiten mit sich bringt. Das Feld, bzw. der Raum, in dem Ich und Du angesiedelt
sind, stellt sich als Zwischen dar und soll gleichermaßen einen Wir-Raum bilden. Ob das Wir
den jeweiligen Beziehungspartner bedingt und konstituiert oder ob umgekehrt ein
selbständiges Ich und Du in Gemeinschaft treten, ist unentschieden. Im ersten Teil der
181
AW 2, 452
Binswanger entnimmt dies den Portugiesischen Sonetten Elizabeth Barrett-Brownings: Barrett-Browning,
Elizabeth: Liebesgedichte. – Englisch und deutsch. – Übertragen von Rainer Maria Rilke. – Mit einem Nachwort
von Felicitas von Lovenberg. – Frankfurt/Main : Insel, 2006, S. 21.
183
AW 2, 20f
184
AW 2, 21
182
74
Grundformen plädiert Binswanger für ersteres, der zweite Teil legt die konstituierende
Instanz des Ich nahe.185
Insofern liebende Begegnung Offenheit und Freiheit für den Anderen bedeutet, so
muss dieser Offenheit Raum zugestanden werden – vom Ich wie vom Du –, ohne den
Begegnung nicht aufgebaut werden kann. In Abhebung von der naturwissenschaftlichen
Vorstellung des Raumes führt Binswanger den Begriff des Wir ein und verdeutlicht ihn mit
zwischenmenschlichen Gesten, die allesamt nichts mit dem geläufigen Begriff des Raumes
zu tun haben: so zeigt sich erst in der Räumlichkeit des Einander die Bedeutsamkeit des
Grußes, des Händedruckes, des dankbaren Blickes.186 Die Neigung Binswangers, Liebe wie
sämtliche Formen des Miteinander ex negativo zu umschreiben, hat die Konsequenz,
Vergleiche in Anschlag bringen zu müssen, die das unklar Definierte (und das ist Liebe
zumal) erläutern sollen. So äußert sich der gemeinsame Raum als „gemeinsames Wir“ oder
„Heimat des Einander“. Der Abkehr von der herkömmlichen Interpretation des Raumes
entsprechend, ist der Wir-Raum grenzenlos, weil das Wir die Welt des Besorgens, der
Intentionalität, auch die Sphäre des Man hinter sich lässt. An deren Stelle und Bedeutung
rücken Vertrautheit, Nähe, Heimat.187 Dem Verfall an das Man wird durch den Wir-Raum
Einhalt geboten, und zwar so, dass Grenze und Beschränkung seitens des Uneigentlichen
aufgehoben werden. Heimat ist in diesem Sinn ein „unendlicher Raum“: so ist die geliebte
Person geometrisch (d.h. messbar) weit entfernt, in meiner Liebe und Verbundenheit
allerdings bin ich bei ihr und mit ihr. Trotz physischer Distanz, trotz des Daseins beim zu
Besorgenden sind Ich und Du in ihrem gemeinsamen Raum.
Wenn Liebende einander Raum gewähren, schenken sie einander auch Zeit. Die
liebende Begegnung im Wir ist nicht mit einer objektivierenden oder berechnenden
Vorstellung von Zeit konstatierbar. Zwar feiern Ehepaare ihren Hochzeitstag, man erinnert
185
Diese Interpretation vertreten Heinz Vetter, Max Herzog, Friederike Rothe (Probleme pastoraler und
psychologischer Theorienbildung aufgezeigt am Beispiel der Daseinsanalyse Ludwig Binswangers. – Innsbruck,
Univ., Diss., 1990). Dem liegt ein Vorstoß Karl Peter Kiskers zugrunde, in dem von einer „phänomenologischen
Wende Ludwig Binswangers“ die Rede ist. Dieser Kategorisierung widerspricht Binswanger nicht, wie er in
seinem letzten Buch Wahn einräumt (siehe AW 4, 429). Populär wurde diese Deutung durch Theunissen, der von
einem „Rückfall in die Transzendentalphilosophie“ spricht (Theunissen, Der Andere, S. 466). Um Licht in diese
Diskussion bringen zu können, bedürfte es der Klärung der Frage, ob Binswanger je Transzendentalphilosoph
war, oder ob die lange Entstehungszeit der Grundformen für solche „Wende“ verantwortlich zu machen ist.
Zuzüglich dazu ist nicht zu vergessen, dass die Schrift über Wahn im Jahre 1965 publiziert wurde und eine klar
berufsbezogene Arbeit darstellt. Zuletzt: besagt ein Widerspruch oder „Rückfall“ die gänzliche Vernichtung des
zuvor Geschriebenen oder ist es ein Erweis dafür, die Frage an das Phänomen stets neu zu stellen, immer
verbunden mit dem Risiko, es aus einem anderen Blickwinkel zu sehen? Keine Interpretation ersetzt schließlich
das Erfahren dessen, das gedeutet wird, weil selbst das zu Deutende verschiedentlich widerfährt.
186
AW 2, 72
187
Binswanger hat hier das Konzept Heideggers vor Augen, in welchem das Gewissen dem Dasein seine
Unheimlichkeit in der selbst-losen Verlorenheit und Uneigentlichkeit vorführt, siehe dazu Heidegger, Sein und
Zeit, S. 274-277.
75
sich an den Abend des ersten Rendezvous, das heißt jedoch nicht, dass die Liebe mit jenem
Tag begonnen hat – das wäre Willkür oder reiner Zufall. Wie der Raum ein unendlicher ist,
also einer, der nicht durchmessen werden kann, so ist die Zeitform der Liebe der
„präsenzerfüllte, ewige Augenblick der Liebe“188. Wie kann ein Augenblick von ewiger
Dauer sein? Was beabsichtigt Binswanger, wenn er der Zeit und dem Raum Unendlichkeit
attestiert? Kann hier noch von zwischenmenschlicher Liebe gesprochen werden, die mit
Recht ihr „hier und jetzt“ einfordert? Zum einen soll Liebe das „Alltägliche“ in seiner
flüchtigen Gegenwart überdauern, zum andern muss sie ein konstitutives Moment des
Miteinander sein. Es lässt sich nicht leugnen, dass Binswanger ein romantisiertes Ideal der
Liebe pflegt, das belegt vor allem sein Rückgriff auf die Liebesdichtung, die wohlgemerkt
keine verkitschte ist. Doch will er damit die Eigenzeitlichkeit der Liebe hervorheben: die Zeit
der Liebe verläuft nicht chronologisch, sie ist so nicht messbar – weder ihre Dauer noch ihr
Sinn, ihr Gehalt. Aufgrund dieser Achronizität spricht Binswanger von „ewiger Dauer“,
Liebe unterwirft sich nicht der messbaren Zeit. Darum betont er ihre Unwiederholbarkeit –
die Liebe ist als solche einmalig, sie wird nicht herbeigeführt oder bewerkstelligt, daher sie
sich auch der Verfügungsgewalt von Du und Ich entzieht. Die Formulierung ewiger
Augenblick der Liebe ist irreführend, Michael Schmidt macht auf Kierkegaard aufmerksam,
der an die Übersetzung aus dem Lateinischen erinnert: „Auf lateinisch heißt es [der
Augenblick] momentum, und die Ableitung des Wortes (von movere) drückt nur das bloße
Verschwinden aus.“189 Unserer Ansicht nach zählt Liebe aber zu etwas Standhaftem, zu
etwas, das dem Menschen einen Boden bereitet und damit Konstanz und Vertrauen
ausdrückt. Binswangers doppeldeutige und unsichere Begriffswahl tritt hier offen zutage.
Eine genauere Kenntnis des von ihm Gemeinten wird in der weiteren Entwicklung der
Grundformen deutlich.
Die Beschlagwortung des Phänomens Liebe mittels der Begriffe Wir, Zeit, Raum,
ewiger Augenblick ist vom Standpunkt des Beschreibenden ein Hilfsmittel, um
Nichtsprachliches oder Unaussprechbares zu verstehen zu geben. Ist das liebende
Miteinandersein begrifflich schwer fassbar, so gibt Binswanger Beispiele für jenes
Miteinander, das er das „freundschaftliche Miteinandersein“ nennt. Dieses ist ein Sein mit
Anderen, das sich als „abgemilderte“ Form der Ich-Du-Beziehung zeigt. Die andere
ausschließende Begegnung des Ich mit dem Du wird in der Freundschaft erweitert, in ihr
188
AW 2, 38
Kierkegaard, Sören: Der Begriff Angst. – Aus dem Dänischen übersetzt von Gisela Perlet. – Mit einem
Nachwort herausgegeben von Uta Eichler. – Stuttgart : Reclam, 1992. – (RUB ; 8792), S. 103, dazu Schmidt,
Ekstatische Transzendenz, S. 163
189
76
zeigt sich eine Form der Liebe, die nicht den ewigen Augenblick bzw. die Grenzenlosigkeit
der Welt beansprucht, sondern ein schlichtes „Geben und Nehmen“ anzeigt. Darunter
versteht Binswanger die Weise, „[...] in der das Dasein sowohl an der Selbstheit Rückhalt
hat, als auch an der Wirheit Halt findet.“190 Die Selbstheit, die der Liebe entspringt, ist in der
Freundschaft schon vorausgesetzt, ebenso die Wirheit, hinzu kommt das „Halt-finden“, das
Amikalität ausdrücken soll.
Freundschaftliches Miteinander ist uns als „Teilen“ geläufig – wir stehen unter einem
gemeinsamen Anspruch, dem wir uns aus freien Stücken unterwerfen, sei es die Arbeit, das
Schicksal oder der gemeinsame Geburtsjahrgang. Genauer besehen kann dieses Teilen den
Gestus der Zuwendung, der Empathie annehmen, so teile ich mit Dir Deinen Schmerz, Deine
Sorge, Dein Wohlsein; das heißt natürlich nicht, dass mir meine Sorge abgenommen wird –
das käme einer Entmündigung gleich –, sondern dass ein Du anwesend ist, in dessen
Gegenwart sich das Ich getraut, ein Ich zu sein und entsprechend verantwortlich zu handeln.
Genauso ist mein Wohlsein erst dann eines, wenn Du dabei bist; Freude, Angst oder Ärger
gibt es nicht, wenn diese kein Gegenüber treffen. Binswanger meint nicht das billige Wort,
demzufolge nur geteiltes Leid ein halbes sei. Teilen bedeutet das Teilen und Mehren des Inder-Welt-seins.
Was hier geteilt wird, ist das jeweilige gemeinsame Sein(-in-der-Welt), das
hantierende Sein-zu-etwas, das genießende, verzehrende, blickende, sehende,
hoffende, erkennende Sein-in-der-Welt oder Sein-zu-Welt.191
Die Form des Miteinanderseins als „Teilen-mit“ hat vor dem Partikularinteresse die Ich-DuRelation zur Grundlage. Doch das Du des Freundes ist eines, das nicht meinesgleichen ist,
das nicht im Sonderstatus des Geliebten steht. Das Motto des einander freundschaftlich
freigebenden Miteinander findet sich bei Nietzsche: „Was ist denn Liebe anders als verstehen
und sich darüber freuen, daß ein andrer in andrer und entgegengesetzter Weise als wir lebt,
wirkt und empfindet?“192
Das zweite Kapitel der Grundformen bleibt dem Satz Nietzsches treu, insofern es sich
in diesem um den mitweltlichen Umgang mit anderen handelt; wohl treffen wir hier den
anderen an, allerdings um ihm eine Rolle zuzuweisen. Diese Form der Koexistenz nennt
Binswanger den pluralen oder personalen Modus bzw. das „Nehmen-bei-etwas“. In diesem
etwas künstlichen Begriff drücken sich intersubjektive Distanz, Absichtlichkeit und
Bezweckung aus: der andere ist „greifbar“, „in Griffweite“, er fügt sich in den
Handlungsspielraum des Ich. Während liebendes Miteinandersein von Exklusivität,
190
AW 2, 202
AW 2, 206
192
Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, in: Ders., Werke I, S. 767
191
77
Separation und von eigener Räumlichkeit und Zeitlichkeit gekennzeichnet ist, so stellt sich
der plurale Modus als einer dar, der uns vertrauter und geläufiger zu sein scheint als die
Dualität der Liebe.193
Was Binswanger mit dem Umgang mit den anderen meint, ist schlicht der alltägliche
Verkehr mit Menschen, der in engerem Sinn keine Beziehung darstellt, sondern das
Zusammentreffen; diese ist nicht gänzlich unverbindlich: dem subjektiven Nehmen-bei liegt
ein Erkenntnisinteresse zugrunde. Der andere wird zum Gegenstand des von mir zu
Besorgenden; ich bediene mich seiner Fähigkeiten, Kenntnisse und Erfahrungen, um das von
mir Beabsichtigte von ihm verwirklichen zu lassen. Insofern fungiert er als Objekt, das unter
meiner Handhabe steht – ich fixiere oder determiniere ihn. Binswanger spricht von der
[...] Vergegenständlichung Deiner, Deiner Verwandlung in ein Er (Sie) oder gar Es,
in ein gegenständliches Individuum oder „Objekt“, womit natürlich auch Ich nicht
mehr Ich bleibe – da Ich in der Liebe ja nur von Gnade Deiner bin –, sondern womit
Ich Subjekt einer Rolle werde, Subjekt des Nehmens-bei-etwas, etwa der Rolle des
Besitzers, Beherrschers, Ge- und Verbrauchers, des Genießers und Beobachters
usw.194
Dass hier keine Begegnung in liebender Dualität stattfindet, verrät die Wortwahl Er, Sie, Es;
ein personaler Bezug ist nicht zu entdecken. Das Gegenüber, wie auch das Ich, nimmt die
Gestalt einer Rolle an, in der wir aufgehen. Rollenhaftigkeit impliziert Maskierung,
beinhaltet die Möglichkeit des Rückzugs oder des Scheinens. Die Situation trägt Züge der
intersubjektiven Unverbindlichkeit, auch wenn der andere zur Rechenschaft gezogen werden
kann (wenn er etwa einer Vereinbarung nicht nachkommt).
Die bisher genannten Grundformen bilden die Dualität (liebendes Wir) und die
Pluralität bzw. Personalität (Mitsein von einem und einem oder den anderen); in beiden
Beziehungskonstellationen geht es vorrangig um das Du bzw. den anderen. Das Subjekt oder
Ich-selbst ist Thema des dritten Kapitels der Grundformen, Das Zu-sich-selbst-sein und das
eigentliche Selbstsein. Darin werden Beispiele angegeben, die das singulare Dasein
verdeutlichen. So setzt sich Binswanger mit der aristotelischen und der christlichen
Selbstliebe auseinander, erstere ist von ethischer, letztere von theologischer Relevanz. In
193
Der Grund dafür liegt im Ausgang vom Alltäglichen. In ihm begegnet das bloß Durchschnittliche, das
Herkömmliche, welches leicht durchschaubar und erfahrbar ist. Anders die Dualität, in der uns Ungewöhnliches,
nahezu Weltabgeschiedenes oder Akosmisches widerfährt. Die Abseitsposition des liebenden Miteinanderseins
ergibt sich auch aus dem programmhaften Charakter der Binswangerschen Darstellung der Liebe.
194
AW 2, 145. In dieser Textstelle tritt der Bezug zu Bubers Es-Welt, wie auch Löwiths Betonung der Rolle, die
das Subjekt innehat, deutlich hervor. Die vielfältigen Auffassungen, die sich den Begriff Person zueigen
machen, zeichnet Michael Theunissen nach: Skeptische Betrachtungen über den anthropologischen
Personbegriff, in: Rombach, Heinrich (Hrsg.): Die Frage nach dem Menschen : Aufriss einer philosophischen
Anthropologie ; Festschrift für Max Müller zum 60. Geburtstag. – Freiburg/Breisgau [u.a.] : Alber, 1966, S. 461490.
78
jedem Fall ist die Singularität, die Einzigkeit und Einmaligkeit ausdrückt195, eine besondere,
zumal es nicht um Miteinandersein in Liebe oder Mitwelt geht, sondern um die Eigenwelt,
die man bei der Lektüre bislang vermisst hat.
Indes ist die Eigenwelt keine gänzlich von der Mitwelt abgekappte: ich werde mir im
Verhältnis zu mir selbst der Rollen und Positionen bewusst, die das Mitsein prägen und die
umgekehrt wieder das Mitsein bestimmen. Im Abstreifen diverser Rollen aus deren
Situationsgebundenheit ist ein Vordringen zum eigentlichen Selbstsein, das „Sein zum
Grunde (als meinem)“196 möglich. Diesem meinem Sein auf „den Grund gehen“ zu können,
bedarf es nicht nur des Absehens der eigenen Rollen (personae), sondern auch einer beinahe
monastischen Selbsteinkehr, die sich jeden Standpunktes und der Diskursivität entledigt hat.
Nach dieser Abkehr von Mit- und Umwelt sieht sich das Individuum (vom Ich kann ohne ein
Du wohl nicht mehr die Rede sein) auf sich selbst und damit auf seinen Grund verwiesen, der
offenbar wird, selbst wenn er ein verdeckter, „versteckter“ Grund ist. Hier spricht wieder
Heideggers Vom Wesen des Grundes, es handelt sich um eine „[...] ‚gegründete’ Seinsweise,
d.h. um eine solche, die von einem Grund ihres Seins ‚weiß’, und sei es auch nur, daß sie
nach einem solchen frägt.“197
Gerade doch oder wegen der Frage zeigt sich der Grund als Geheimnis, er liegt „im
Sein überhaupt“ und soll gleichwohl das Unergründliche sein. Binswanger erinnert an Max
Stirner, dessen Einziger die Urheberschaft über sich selbst proklamiert. Stirners Beharren auf
Autarkie leugnet die Tatsache, „[...] daß Selbstsein nur möglich ist als ‚Sein zum Grunde’,
das heißt immer, als Sein zu einem das Selbstsein erst gründenden und begründenden
Sein.“198 Das Fragen nach dem Grund als Geheimnis meiner, der sich der Bemächtigung
entzieht, gewährt das Ergreifen der mir zugeeigneten Möglichkeiten. Diese sind keinesfalls
als Wirkungen einer Ursache zu sehen: der Grund ist als entzogener keine reale Ursache, wie
sie im mechanistischen Weltbild fungiert. Der Fehler liegt nahe, mittels einer (ziellosen)
Frage eine wohlwollende Antwort zu erzwingen; das Fragen bedeutet in der Absicht
Binswangers, sich für die eigenen Möglichkeiten, für das Eigensein offen zu halten. Dass das
Dasein nicht seinen eigenen Grund gelegt hat, sagt der Geschenkcharakter des Grundes:
akzeptiere ich meinen Grund, bin ich durch ihn bereichert, bin ich mir selbst gegeben.199
195
AW 2, 345
AW 2, 406
197
AW 2, 407
198
AW 2, 417. Das Gegründetsein von oder in einem Anderen – sei es das Du oder Gott – lässt Binswanger
offen; indem er hier beide als Gründer ausschließt, bleibt ihm eben nur das „Sein überhaupt“, womit nichts
Konkretes eingeholt werden kann. Mit Heidegger ist nur zu sagen, dass der Grund sich uns „zuspricht“, weil er
uns aus sich heraus sein lässt, und zwar dich und mich.
199
Vgl. Theunissen, Der Andere, S. 464
196
79
Die im ersten Teil behandelten Weisen des Daseins kehren im zweiten Teil wieder,
allerdings nicht als voneinander gesonderte, sondern in deren Verflechtung, dazu dient der
Terminus „psychologische Erkenntnis“200. Mit diesem Begriff will Binswanger liebende
Begegnung und mitweltliches Nehmen-bei-etwas, also Liebe und Sorge, in Einklang bringen.
Er stellt der liebenden Erkenntnis, die sozusagen unvermittelt ihr Du in Akzeptanz und
Anerkennung im Wir-Raum erkannt hat, die diskursive Erkenntnis zur Seite, die auf
Einzelnes oder Bestimmtes am Du gerichtet ist. Bislang Konträres – Liebe und Sorge –
werden in eins gesetzt: psychologische Erkenntnis bedeutet
[...] Einheit von Ich-Duhaftigkeit und Bestimmtheit (Determiniertheit), von
Begegnung und mitweltlichem Nehmen-bei-etwas. Demnach bedeutet die
Daseinserkenntnis eine völlig neue Seinsweise, eine völlig eigenartige Verwurzelung
im Sein. Diese Seinsweise läßt sich nicht verstehen als Abdankung der Liebe
zugunsten der Nichtigkeit der Sorge und als bloßer Umschlag vom praktischen ins
theoretische Entdecken, sondern nur als „Emporhebung“ der Nichtigkeit der Sorge
überhaupt in die „Positivität“ der Begegnung.201
Die „völlig neue Seinsweise“, die Binswanger proklamiert, ist jedoch so neu nicht, sie wurde
uns schon im ersten Teil der Grundformen vorgestellt. Dort spielte sie die Opponentin der
Sorge, die das Miteinandersein vor dem Verfall an das Man und vor dem Verbleib bei
innerweltlich Seienden bewahren soll. Dementsprechend harsch fällt dort auch die Kritik an
Heidegger aus, die gegen das In-der-Welt-sein als Sorge polemisiert. An gleicher Stelle
konzediert Binswanger, auch liebendes Dasein müsse der Welt der Sorge verpflichtet
bleiben. Nun, im zweiten Teil, gelangt Binswanger dorthin, wo er schon einmal war, nämlich
zu dem Standpunkt, dass Liebe und Sorge einander bedingen, wobei die Mundanität, die
Geworfenheit der Existenz zu ihrem Recht kommen. Unversehens kommt der Begriff der
Negation ins Spiel, der beiden Seinsweisen gerecht wird, wenn sie nur einen „dialektischen
Wechselprozeß“202 einführt.
Im Zuge des Wechselprozesses ist liebendes Erkennen kein irrationales, gar naives
Akzeptieren des mir Begegnenden – hier kann ansonsten von ausweisbarer Erkenntnis nicht
gesprochen werden; Liebendes In-der-Welt-sein gewahren wir im geduldigen Verweilen bei
Dir, welches Du mir gegenüber in Anspruch nimmst, als meine vermögende Bereitschaft,
mich Dir auszusetzen und dieses zuzulassen und auszuhalten. So muss ich redlich dem Du in
angemessener Weise entgegentreten: die so gefasste psychologische Erkenntnis
200
AW 2, 453
AW 2, 453
202
AW 2, 536
201
80
[...] lehrt, daß Ich nur erkennen kann, wo Ich liebe, woran Ich teilnehme und womit
Ich im Einvernehmen bin. Wer am Sein als Ganzem teilzunehmen vermag, vermag –
der Möglichkeit nach – alles zu erkennen.203
Der Umschlag des psychologischen Erkennens in ihr Gegenteil – das Verkennen, das NichtAnerkennen – geschieht dann, wenn der Andere als dinghafter Gegenstand wahrgenommen
und „behandelt“ wird. Binswanger hält dafür den Begriff „diskursive Erkenntnis“ bereit.204
Wie man das Du wohl nie in seiner Losgelöstheit von der Welt und deren Bezügen wird
wahrnehmen können, so ist auch der Verfall von einem Du zum bloßen Es nicht denkbar.
Beide Formen sind wahrlich unangepasste Weisen, die im Zusammenleben wohl selten
anzutreffen sind, und wenn, dann tragen sie Züge des Pathologischen. Menschliches Dasein
muss die Spannweite der liebenden und diskursiven Erkenntnis aushalten, muss in ihr lieben
und erkennen können, d.h. sich als Bürger zweier Welten verstehen.
203
204
AW 2, 458f
Siehe AW 2, 309 und 391
81
4 Die Welt des Dualis (liebendes Miteinandersein)
4.1 Der Eros
Binswanger bemüht sich, eine Phänomenologie der Liebe darzustellen, es verwundert daher
nicht, dass er den Begriff „Eros“ verwendet. Beide Begriffe – Liebe wie Eros – sind im
wahrsten Sinn “zweideutig“, der Leser der Grundformen wird aber das, was wir oberflächlich
unter „Eros“ verstehen, in ihnen vergeblich suchen. Binswanger bezieht sich auf den
altgriechischen Eros (ὉἜ), der nicht nur die sinnliche Liebe, Lust, das Verlangen ist,
sondern auch deren Urheber, der Liebesgott, Sohn der Aphrodite. In beiderlei Gestalt ist Eros
aus dem Symposion Platons bekannt, in ihm entwickelt Sokrates das Wesen des Eros.205 Er ist
weder schön noch hässlich, nimmt also im Geschlechterbegehren eine Mittelstellung ein, auch
weil er kein Gott, aber auch kein Mensch ist – also eine doppelte Zwitternatur. Des Eros
Aufgabe liegt im Hervorbringen des körperlich und geistig Schönen, welches wiederum auf
das Gute verweist, das sinnlich wahrnehmbare, daher begehrenswerte Schöne ist nicht das
Endziel, vielmehr der Ausgangspunkt, das Gute in Gestalt der Idee zu erkennen.
Laut Mythos ist Eros der Nachkomme des Ponos (ὁ όArbeit, Mühsal, Not, Pein
und der Penia (ἡ ί Armut, Dürftigkeit); er verkörpert also gleicherweise Arbeit und
Armut, die damit eine wechselseitige Bereicherung bilden: Armut kann erst durch Arbeit
wettgemacht werden. Diese beiden – Armut und Arbeit, Mühsal – kennzeichnen denn auch
das Wesen des Menschen; dem Mythos zufolge war die ursprüngliche Konstitution des
Menschen die des Mannweibs, der (die) den Göttern konkurrent zu werden drohte, woraufhin
das doppelgeschlechtliche Wesen in Mann und Frau getrennt wurde. Die nunmehr getrennten
Hälften streben jedoch zueinander, um sich so wieder vereinigen zu können. Gelingt dies
nicht, so ist mindestens noch eine „platonische Beziehung“ möglich, also freundschaftliches
Miteinandersein.
Binswanger illustriert mit dem Beispiel des Eros das menschliche Zusammensein, dies
zeigt sich im Aufbau der Grundformen: so bildet das Wir – Binswanger nennt es die
„unerschöpfliche Fülle“206 – die ursprüngliche, erste Weise des Daseins, die Ich und Du
wieder zu erreichen suchen. Dieses Bild widerspricht der Tendenz, das eigene Ich im Anderen
zu finden, was zur Selbstliebe im und durch den Anderen führen und damit eine Fehlform der
205
Platon: Sämtliche Dialoge. – In Verbindung mit Kurt Hildebrandt [u.a.] hrsg. und mit Einl.,
Literaturübersichten, Anmerkungen und Register versehen von Otto Apelt. – Band III. – Hamburg : Meiner,
1993, 201D-212C
206
AW 2, 63
82
Liebe darstellen würde, die de facto jedoch vorkommt und von Binswanger nicht als
unmoralisch verworfen wird. Auch ist es unangemessen, die „ungeschiedene Fülle“ in einem
konkreten Du zu finden, denn das bedeutete den Ausschluss sämtlicher anderer. Die
Konkretion und Konzentration auf ein einziges empirisches Du umgeht Binswanger, indem er
das freundschaftliche Miteinandersein als ebenso legitime Ausdrucksform der Liebe ausweist.
Umschreibt der Eros die Sehnsucht von Ich und Du, zueinander zu gelangen, so
verbleibt er doch nicht in diesem Bestreben, Ich und Du genügen einander nicht wie etwa
Funktionsteile eines größeren, dominierenden Ganzen, das als solches die Liebenden in seine
Anonymität absorbiert. So bleibt es nicht bei einem Zu-einander, sondern dieses steigert sich,
die Beziehung intensiviert sich, sodass deren Partner einander schenken und bereichern.
Binswanger
spricht
vom
„sich
selbst
mehrenden“
oder
„steigernden“
Eros
(ἒἑὸὔDas Reflexivpronomen führt hier in die Irre, denn es bezieht sich
auf den Eros als solchen, alleinigen – indes widerfährt meinem und deinem Dasein die
Steigerung, der die Sehnsucht den Boden bereitet hat.208
Ist von Selbstmehrung des Eros im Wir die Rede, liegt das Fehlverständnis einer
gemeinsamen, Ich-Du-haften Selbstaufblähung, der Wille zur Beherrschung der Mitwelt nahe,
gerade darauf macht Binswanger aufmerksam: das Wir ist kein „leeres Ganzes“ – dieses wäre
ein Nichts, sondern: „[...] vielmehr müssen wir uns immer klar machen, daß ‚das Ich der
Liebe’, richtiger gesprochen, daß Ich als Liebender nur Ich bin als Gegenpol Deiner, des Du
bist.“209 Die Betonung liegt auf dem Wir, das aus sich dich und mich als Einzigartiges,
Unverwechselbares entlässt. Sensu stricto verbietet sich eigentlich die Rede vom Dasein als je
meinem und je deinem, angemessen spricht man vom Dasein als unserem, eben als Wir. Das
will auch der Mythos vom Eros ausdrücken, er stellt das Fundierungsverhältnis des
Miteinanderseins
dar,
wodurch
jene
Neigungen
abgelehnt
werden,
die
isolierte
Einzelexistenzen in einem nachträglichen Wir verbinden wollen.210
Liebe kann ontologisch nicht verstanden werden als etwas, das zwei für sich
seiende Individuen aneinander bindet oder zwei Subjekte, Aktzentren, Existenzen
207
AW 2, 65
Im Alten wie auch im Neuen Testament finden sich ähnliche Aussagen: „Seid fruchtbar, und vermehret
euch[...]. (Gen 1,28), „Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen.“ (Dtn 30,19), „[...] ich
bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“ (Joh 10, 10) Sieht man von populären
Interpretationen der Vermehrung und Nachkommenschaft als Resultat geschlechtlicher Handlungen ab, die auf
biologische Fortpflanzung gerichtet sind, dann eröffnet sich die Sicht, die die „Selbstbereicherung“ des Wir und
zugleich die Bereicherung der anderen offenbart; Nachkommenschaft ist nicht biologisch-genetisch, daher auch
nicht zeitlich gemeint. Fruchtbarkeit und damit Nachkommenschaft ist die Frucht des Seins-für-Andere.
209
AW 2, 67
210
Ein solcherart konstruiertes Wir hätte dann Gültigkeit und Bedeutung, wenn es eine Interessengemeinschaft
bildet. Diese ist vermutlich die am häufigsten anzutreffende Form von Gemeinschaft oder Vereinigung. Auf sie
wird im zweiten Kapitel des ersten Teils der Grundformen eingegangen (Das Mitsein von Einem und einem
(oder den) Anderen).
208
83
an ihren je einseitig konstituierten Welten teilnehmen (kommunizieren) läßt,
sondern nur als „Erschlossenheit“ oder Offenheit des Daseins für sein Einssein,
sein Ganzsein, wenn man will, in der Urform der Wirheit.211
Wirheit verweist so auf Ich- und Duheit; hier ist wieder an das Wir als Ellipse zu erinnern,
deren Brennpunkte Ich und Du bilden. Binswanger beginnt deshalb seine Abhandlung über die
Liebe mit dem Phänomen der Wirheit, dementsprechend liegt der Schwerpunkt zunächst auf
dem „Einssein im liebenden Miteinander, im Wir der Liebe.“212
Noch ein Wort zur Bedeutung des Mythos: Binswanger greift immer wieder auf
Literatur, Kunst und Mythen zurück, um seine Gedanken zu veranschaulichen und sie auf die
Tradition zu beziehen; er führt andere Philosophen und Schriftsteller – so Franz von Baader,
Jakob Böhme, Jean Paul, Schelling – an, die dies ebenfalls tun. Damit setzt er sich bewusst
dem Verdacht der Unwissenschaftlichkeit aus, dem er jedoch zuvorkommt. Zwar bewertet er
Mythen (wie auch Mystik) prinzipiell positiv, warnt aber vor einem Abgleiten in Irrationales,
Illusorisches: „So sehr alle diese mystischen Tendenzen [...] zur Gesamtstruktur der Liebe
gehören, so sehr bedeuten sie doch Abfall von ihr (Verfall derselben), wenn sie verabsolutiert
werden.“213 In diesen Fehlformen der Liebe würden sich Ich und Du im „Lebensstrom“, in
einen Gott oder simpel in kosmischer Energie auflösen. Der Mensch des Mythos ist für
Binswanger
ein
„synthetischer“214,
schließlich
entdeckt
Binswanger
auch
im
naturwissenschaftlichen Weltbild den Mythos vom Menschen als „homme-machine“ oder
„homme-nature“215, der tatsächlich-konkret nie anzutreffen ist.
Die Erwähnung des Mythos vom Eros ist keine beiläufige oder eine, die den
Gedankengang Binswangers legitimieren soll. Er nimmt ihn insofern „wörtlich“, als der Eros
das zur Sprache bringt, worum es Binswanger zu tun ist. Im Mythos selbst geht es um die
Dreiheit von Ich-Du-Wir bzw. um die ursprüngliche Einheit von Mann und Frau, diese formale
Dreigliedrigkeit wird übernommen und auseinanderdifferenziert, doch ohne die Konstellation
zu zerstören, d.h. die relative Selbständigkeit soll aufgezeigt werden, um sie so bewahren zu
können. Den Kern der Begegnungsphilosophie bilden die Beziehungspartner, deren Boden
indes legt das Wir, welches im Raum des Zwischen Ich und Du entlässt. Die Situation ist diese:
das Wir als Raum, in dem 1) Ich und Du aufgehoben bzw. beheimatet sind und in dem 2) beide
aneinander werden und einander freigeben.
211
AW 2, 22
AW 2, 79
213
AW 2, 145
214
AW 2, 568
215
AW 2, 569
212
84
Einerseits konstituieren Ich und Du ein Wir, zum anderen gelangen Ich wie Du erst in
der Wirheit zur Selbständigkeit. Die hier zum Vorschein kommende Widersprüchlichkeit
offenbart eine wechselseitige Bedingtheit, ja Abhängigkeit, die sich erst durch einen
Perspektivenwechsel erklären lässt: vom Umfassenden (vom Wir) gesehen, gründen Ich und
Du im Wir, während die Beziehungspartner ihre jeweilige Selbständigkeit aus dem anderen
beziehen, wobei sie das Gemeinschaft stiftende Wir nicht ausdrücklich berücksichtigen.
Binswanger setzt in seinen Grundformen den Schwerpunkt auf das Miteinandersein von mir
und dir, das Wir der Liebe ist ihm eine ursprüngliche Weise menschlicher Existenz, das nun
näher zu befragen ist, um über es und das Ich und das Du Auskunft zu bekommen.
4.2 Gemeinschaft und Selbständigkeit im Wir
Das Primat des Wir der Liebe gründet im Eros, diesen entfaltet Binswanger nun weiter. Sobald
von Eros die Rede ist, meint man damit vor allem Sexualität und Geschlechterliebe. Das liegt
nahe, ist aber seitens Binswangers gar nicht intendiert; er unterscheidet die Geschlechterliebe
vom „Abfall in pure Sexualität“216, der zwecks sexuellen Genusses geschieht und der Ich wie
Du in eine äußerste Kümmerform mitmenschlichen Daseins führt. Als Gegenphänomen zur
Liebe wird hier auch der „grauenvolle Sexualhass“ genannt, gerade der Hass auf Sexualität wie
auch deren Über- oder Unterbewertung – diese kann sich in ängstlichem, fugitivem,
oberflächlichem und okkupierendem Verhalten dem Du gegenüber äußern – zeigen den
Stellenwert der Sexualität an.217
Liebe bleibt im engeren Sinn dem Zwischen als Ursprung von Ich und Du vorbehalten,
Wirheit ist demnach ausnahmslos Zweiheit. Der Einwand, die Dualität von Ich und Du als
vorrangige Weise des Miteinanderseins gehe ausschließlich diese beiden an und wäre daher für
216
AW 2, 144
Verwunderlich ist, dass in den Grundformen, in denen doch das Miteinandersein in Liebe als die Grundform
auszuweisen versucht wird, nicht einmal annähernd Sexualität erwähnt wird. Für Binswanger ist Sexualität dann
ein Thema, wenn sie wirklich zum Problem geworden ist, das ist als Defizienzerscheinung (Sexualität hier
wiederum negativ gefasst!) natürlich in der Psychiatrie der Fall – siehe dazu Bd. 4 der Ausgewählten Werke,
sowie Boss, Medard: Sinn und Gehalt der sexuellen Perversionen. Ein daseinsanalytischer Beitrag zur
Psychopathologie des Phänomens der Liebe. – 3. Auflage. – München : Kindler, 1966. Wird Sexualliebe als
Form des Abfallens von normgerechtem Miteinandersein gedeutet, ist die Frage zu stellen, was Sexualität denn
überhaupt ist – ist sie Macht, die über dich und mich kommt (so als der sich selbst mehrende Eros,
ἔἑὸὔ) und uns füreinander sein lässt, ist sie eine uns unterdrückende Gewalt, die uns zu ihren
Handlangern macht, ist Sexualität eine Kundgabe der Reproduktion oder – als bloße Handlung – ein Zeichen
menschlicher Fallibilität, ist sie ein Akt der Freiheit oder der Erweis eigener Unmündigkeit? Dann wieder wäre
Sexualität die Eliminierung eigenverantwortlichen Umgangs mit anderen. Sobald Sexualität ein „Abfall“ – von
was auch immer – ist, wird sie dem Menschen, also dir und mir, abgesprochen. Die Folge davon ist Tabuisierung
und pejorative Deklaration als Symptom einer Erkrankung, die zu heilen Aufgabe der Medizin ist. „Das Problem
des Verfalls [der Liebe, Anm.] ist damit einer der wenigen Bereiche innerhalb von Binswangers
Phänomenologie der Liebe, in dem das Phänomen der Sexualität überhaupt thematisiert wird.“, in: Schmidt,
Ekstatische Transzendenz, S. 204. Allein diese knappe Randnotiz belegt den gravierenden Unterschied, den
Binswanger zwischen Liebe und Sexualität macht. Auf eine Erhellung des versteckten oder offenkundigen
Wesens der Sexualität wartet man hier vergebens.
217
85
alle anderen ohne Belang, vergisst den daraus folgenden Gedanken, dass Ich und Du einander
ermächtigen, jeweils sie selbst zu sein, um in Folge auch den mitweltlichen anderen begegnen
zu können.
Das als Eros vorgestellte Wir entlässt die Beziehungspartner in die Begegnung, doch
ist das nur dann möglich, wenn das Wir die eigentliche Einheit bildet. So begibt sich
Binswanger geradewegs in das Problem der Fundierung von Ich-Du-Wir, welches sich nur als
Zirkelbewegung, somit logisch inkonsequent, darstellen kann. Reine Wirheit ist ontologisch als
Einheit, unio zu verstehen218; in ebendiesem Satz beansprucht Binswanger die Ontologie ohne
jedwede Differenzierung für die Anthropologie, in der die unio als communio auftritt, die eine
Zweiheit (Ich und Du als voneinander Getrenntes) impliziert. Ungeschiedene Einheit als
„Fülle“ ist anthropologisch nicht denkbar, will man nicht ein solus ipse intendieren. Fasst man
die „ontologische Einheit“ (unio) als Arbeitsbehelf, bleibt Binswanger noch diese Reduktion:
Wir sind in der Einheit des Seins anthropologisch nur als Erfülltsein Meiner von Dir
und Deiner von Mir, oder, nur mit anderen Worten, wir sind in dieser Einheit nur im
Mich-Dir-Schenken und Von-Dir-Empfangen-Werden, und Mich-von-DirGeschenktbekommen und Dich-Empfangen. Aus der ungeschiedenen Fülle dieser
Einheit werden Wir „Ich und Du“, je Ich-selbst und Du-selbst, insofern das wirhafte
Geschenk der Daseinsfülle sich an Mir und Dir erfüllt, nämlich mich zu Deinem und
Dich zu meinem Geschenk werden läßt.219
Liegt es im Sinne der Philosophie des Dialogs, Ich und den Anderen zur Sprache zu bringen,
warum dann der Ausgang bzw. Anfang vom Wir her? Dem Autorenzeugnis nach ist der
Vorrang der Partner in der Begegnung als Wir klar; Ich und Du bilden die Fixpunkte, die sich
in der Welt – dies wird sich zeigen – über diese hinaus bewähren. Fasst man das Wir als
„Einheit des Seins“, so bedeutet das das „Herausfallen“ der anderen Menschen aus der Einheit,
die man ebenso als Partner in Betracht hätte ziehen können. Stimmt man dem Prinzip des
Dialogs zu, nach dem ein Dialog nur zweiseitig geführt wird, wird offenkundig, dass jene, die
weder ein Du noch ein Ich sind, außen vor bleiben.
Hält man sich weiter bei der Frage auf, ob Ich und Du bereits voll konstituiert eine
Gemeinschaft bilden, oder ob umgekehrt das Wir die Beziehung fundiert, läuft man Gefahr,
218
AW 2, 166
AW 2, 166. Ein Wort zur Terminologie: im Vorwort zu den Grundformen konzediert Binswanger,
Heideggers Fundamentalontologie „anthropologisch“ missverstanden zu haben und so der Liebe eine
ontologische Relevanz zusprechen zu wollen. Sicher bestimmen und bedingen Ontologie und Anthropologie
einander, eine eindeutige Grenzlinie zwischen beiden zu ziehen, bedeutet den Abbruch des Gesprächs zwischen
zwei philosophischen Fundamentaldisziplinen. Die Offenheit des Seins, dargestellt in der Ontologie, die
Seiendes als Dasein zu solchem ermächtigt (nun die philosophische Anthropologie), hat Heidegger – so
Binswanger – festgehalten. Nicht nur die Wahl der Begriffe, die Binswanger trifft, erschwert eine Interpretation,
oft liegen wissenschaftliche Grenzen bzw. Kompetenzen nicht im Klaren. Die Selbstanzeige Binswangers in
einem Brief vom 17.06.1954 an Heidegger, sich nicht für einen Philosophen zu halten, ist ehrlich. Im selben
Brief versichert Binswanger Heidegger gegenüber: „[...] dass jede Lehre vom Sein in sich schon Lehre vom
Wesen des Menschen ist und dass in dieser Frage eine abgründige Schwierigkeit ist.“, in: Briefe und Briefstellen,
in: AW 3, 346.
219
86
weder das Wir noch das Ich und recht nicht das Du in den Blick zu bekommen. Folgt man
Binswanger, dann ist die Priorität des Wir anzuerkennen. Dieser Priorität kommt gleichsam der
Rang eines Axioms zu, von dem das daraus Abzuleitende zu verstehen ist.220 Theunissen, in
Anschluss an ihn auch Schmidt221 sehen im Vorrang des Wir das Bestreben Binswangers, Ich
und Du nicht a posteriori über die Welt und deren durch die von Sorge geprägten Strukturen zu
erfassen. Damit reiht sich Binswanger in die Überlieferung einer Philosophie des Dialogs ein,
die das Begegnen zweier Menschen allzu isoliert von der Begegnung mit Dritten in der real
erfahrenen Welt bewerten mag. Ausgang dieser Überlegung wäre demnach das Widerfahrnis
der Begegnung mit einem anderen Menschen in dessen tiefer, nicht überwindbarer Alleinheit.
Binswanger verwirft dieses beinahe asketische Alleinesein mit dem Postulat der
ungeschiedenen Einheit, diese „[...] richtet sich gegen alle, die von getrennten Existenzen
ausgehen und über den Abgrund der Getrenntheit hinweg im Miteinandersein eine
nachträgliche Verbindung suchen.“222
Die dezidierte Betonung des Wir, welches sich doch wiederum auf Ich und Du stützen
muss, vermeidet eine nachträgliche Verbindung beider, die das Selbstsein als Boden für die
Erfahrung der Liebe voraussetzt. Das Fundierungsverhältnis ist dann nämlich umgekehrt: Nicht
das Wir bestimmt dich und mich, sondern Ich und Du treffen einander im Wir. Dahinter steht
der Gedanke, das Wir sei ein von gemeinsamen Zielen oder Absichten gegründetes, wie dies
von der Soziologie oder Psychologie beschrieben wird. Das ein kollektives Ziel zu erarbeiten
suchende Wir ist im Gegensatz zum liebenden Wir keine Beziehung zwischen zwei Menschen,
deshalb also prinzipiell schrankenlos erweiterbar. An Grenzen stößt dieses Wir erst dann, wenn
das überwunden ist, von dem sich das Wir zuvor definitorisch-konstitutiv abgegrenzt hat und
das zu Überwindende in sich integriert hat. Das so in sich undifferenzierte Wir weist sich
gleichsam selbst „in die Schranken“, weil Unterschiedloses weder definier- noch erkennbar ist.
Es bildet dann eine bloß quantitativ bestimmbare Menge, deren Glieder einzig dazu dienen, die
Menge zu steigern – das Wir ist in dieser Bedeutung die Summe seiner Glieder, die
untereinander beliebig vertauschbar sind.
Ein Blick auf die Etymologie ist in diesem Zusammenhang interessant: „Axiom“ leitet sich ab von ἄ,
würdig, gleichwertig, wertvoll. Ein Würdiges ist ein Unhintergehbares; liegt im Wir die Priorität, so zeigt sich
die Würde des in der Begegnung Begegnenden.
221
Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 183-198
222
Theunissen, Der Andere, S. 446. Das liebende Wir ist ein eigenständiger, also nicht ableitbarer Modus des
Menschseins, in dem Ich und Du erst „geboren“ werden – siehe AW 2, 434. Wieder ist die Etymologie hilfreich:
„gebären“ heisst „tragen“, „aushalten“, „in ein neues Licht setzen“. Freigebende Liebe ist der Ort, an dem Ich
und Du „geboren“ werden, an dem eine – für dich und für mich – neue Welt aufgeht.
220
87
Gegen all diese Argumente, wiewohl sie ihr Recht haben, besteht Binswanger auf der
Genese von Ich und Du aus dem Wir; wie ernst es ihm darum ist, kommt zum Vorschein, wenn
er von der Wirheit als ontologische Einheit spricht:
Liebe kann ontologisch nicht verstanden werden als etwas, das zwei für sich seiende
Individuen aneinander bindet oder zwei Subjekte, Aktzentren, Existenzen an ihren je
einseitig konstituierten Welten teilnehmen (kommunizieren) läßt, sondern nur als
„Erschlossenheit“ oder Offensein des Daseins für sein Einssein, sein Ganzsein, wenn
man will, in der Urform der Wirheit.223
Folgen wir Binswanger: das Wir, das Zwischen bildet und bleibt Grundlage der Dualität, ja
ermöglicht sie erst. Hier tritt nun das Problem zutage: die einander Begegnenden bilden das
Wir, aus dem allererst Ich und Du hervortreten sollen, die Frage nach der Konstitution bleibt
unbeantwortet. Das Wir legt den Grund für das autonome Ich bzw. Du, sodass „[...] hier die
paradoxe Situation sich ausschließender Gleichzeitigkeit und Ursprünglichkeit von liebender
Einheit im Wir und personaler Selbstheit entsteht.“224 Wie bzw. wann sind Ich-selbst und Duselbst möglich, ohne dass das liebende Wir zu existieren aufhört? Aus dem Paradox wird so ein
Postulat.225 Wie kann Selbstsein verwirklicht und aufrechterhalten werden, ohne dadurch in
Vereinzelung zu geraten? Einzelsein tritt in zweierlei Gestalt auf: es kann sich dem Du
entziehen, wodurch das liebende Wir negiert wird, oder ich gehe in toto in dir auf – hier wird
das Selbstsein beider mit deren wechselseitiger Bereicherung in ein nunmehr anonymes Wir
aufgelöst.
Gerade weil das Wir das Fundament des Intersubjektiven ist, kann dieses Fundament
dem Anderen entzogen werden, man denkt hier zuerst an alle möglichen Spielarten des
Egoismus. In den Grundformen ist von dessen vermeintlichem Gegenteil die Rede – vom
Altruismus zumal. Liebendes, den Anderen schätzendes Wir ist weder logisch noch ethisch (im
Sinne einer Abfolge von Handlungsanweisungen) erfassbar; Altruismus bezeichnet das bloße
und ausschließliche „Leben für andere“, dessen Denken der Rücksichtnahme auf sämtliche
andere Menschen verpflichtet ist. Wie der Egoismus erweist sich der Altruismus als Widersinn
der Liebe, zumal beide den einen zuungunsten des jeweils anderen favorisieren und damit die
Gleichursprünglichkeit beider (also Ich und Du) missachten. „Liebe, in der sich ‚alles nur um
Dich dreht’, ist ebensowenig sich-selbst mehrend und zehrt sich ebenso an ihrem eigenen
Feuer auf, wie Liebe, in der sich ‚alles nur um Mich dreht’.“226 Beide Formen verneinen die
Differenz von Ich und Du im Wir. Im Anschluss an Fritz Perls bezeichnet Schmidt die
223
AW 2, 22
Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 183
225
Siehe AW 2, 109f
226
AW 2, 107
224
88
Beziehung, die das Selbstsein der Partner nivellierend übergeht, als „konfluentes Wir“.227 Das
Ich oder Du, welches Assimilation anstrebt oder gar fordert, akzeptiert die Selbständigkeit des
Anderen, dadurch auch seine eigene, nicht. Die annehmende Würdigung des eigenen und des
Selbstandes des Anderen ist erst durch das liebende Wir möglich, das nicht zusammenfließen
lässt (con-fluere). So ist dieses Wir nicht eines, das Partner in je eigenes Sein schickt, oder sie
zu Eigensein ermächtigt, vielmehr hält es beide in gegenseitiger Abhängigkeit. Fehlt die Ichund die Du-Grenze, will heißen meine Grenze, die ich an dir erfahre und vice versa, so löse ich
meine wie deine Selbstheit, letztlich das Wir der Liebe, auf.
Binswanger will diese defizienten Modi des Miteinanderseins überwinden, indem er
mittels der Analogie den Mittelweg zwischen Isolation und Aufgehen ineinander wählt: „Je
größere Wirklichkeit der Wirheit, umso größere Möglichkeit der Selbständigkeit von Mir und
Dir [...].“228 Die Begegnungspartner sollen – als Liebende – selbst sein, ohne vom Wir
absorbiert zu werden und zugleich ohne das Wir abzulegen. Will man weder dem Einzelnen
noch dem Wir absolute (besser: verabsolutierende) Geltung zusprechen, so gerät man in die
wechselseitige Bedingung von Selbstsein und Wir. Binswanger gibt dafür das Beispiel der
Gabe: Im Schenken überreicht der Schenker nicht nur das Geschenk, etwa als Botschafter oder
Diener, der dem Geschenk neutral gegenübersteht. Vielmehr ist es das Ich, das sich einem Du
zuspricht, sich an es wendet und ihm sich selbst schenkt, und zwar so, dass nur du mich als
Geschenk in Empfang nehmen kannst. Die Begriffe Gabe, Geschenk tragen doppeldeutigen
Charakter; erstens schenke ich mich dir als der, der ich als Unvertretbarer bin – kein anderer
kann mir mein Sein, kann „mich mir selbst“ abnehmen. Aber: das Ich kann dir nicht geschenkt
werden, weil der Akt des Mich-Dir-schenkens von mir selbst geleistet werden muss. Hierin
liegt meine Einzigkeit, in der ich eigenständig Ich-selbst bin. Zweitens bin ich erst dann Ichselbst, wie du mich (als Geschenk) annimmst. In deiner Akzeptanz meiner Person selbst
schenkst du mich mir gleichsam „zurück“, d.h. ich trete aus unserer Begegnung als neues,
zuvor so nicht da gewesenes Ich heraus. Schenkst umgekehrt du dich mir als jemand, der
ausschließlich du sein kannst und akzeptiere ich dich als solchen, gehst auch du „verwandelt“ –
und hoffentlich bereichert – aus der Beziehung hervor.
Die Idee der Begegnung ist keine statische, in sich ruhende Befindlichkeit, in der sich
zwei Menschen „gefunden“ haben, ohne sich anderweitig zu affizieren. Die Prägung des Ich
am und durch das Du und umgekehrt ist das, worum es hier geht. Setzt man bereits zuvor voll
konstituierte Partner zueinander in Beziehung, ergäbe sich daraus nie ein liebendes Wir, denn
das Wir leistet die Selbständigkeit beider, die aus eigener Kraft nicht erreichbar ist: „Die
227
228
Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 185
AW 2, 111
89
Selbstheit dieses Ich und Du gründet also nicht im Dasein als je meinem und deinem, sondern
im Dasein als unserem, mit anderen Worten im Sein des Daseins als Wirheit.“229 Schmidt sieht
darin einen gangbaren Mittelweg zwischen Vereinzelung (Dasein als je meines versus Dasein
als je deines) und Verschmelzen ineinander (Konfluenz von indifferenten Beziehungspartnern
in eine Gemeinschaft, die als solche nicht einmal mehr über Teile verfügt). Dieser Mittelweg
229
AW 2, 112. Die Spannung zwischen Einzelnem und Allgemeinem ist immer wieder verschieden angegangen
und behandelt worden. In allen Interpretationen zeigt sich, dass mitmenschliches Verhalten die Frage und
Besorgnis um ein sinnerfülltes, glückliches Menschenleben darstellt, gerade weil das Zusammenleben fraglos als
selbstverständliches genommen wird. Gemeinschaft ist Boden und Raum jedes Einzelnen – vor der Koexistenz
machen auch Streit oder Auseinandersetzung nicht halt, zumal sie diese voraussetzen. Ein Mensch lebt nie
alleine ohne Selbst- und Fremdbezug. In einer Vorlesung schreibt Eugen Fink: „Jeder ist Mitmensch, ob er will
oder nicht, und als Mitmensch ist er der Andere des Anderen. Aber es bleibt eine erst noch zu erörternde Sache,
ob die Gemeinschaft begriffen werden kann im Ausgang von der Mitmenschlichkeit, also im Ausgang von
einem Wesenszug des Einzelmenschen. Geht nicht eher die Gemeinschaft den einzelnen Mitgliedern vorauf,
derart, daß sie jene in ihre Einzelheit und Gliedschaft entläßt? Oder ist auch diese ganze beliebte Antithetik, die
bald den Vorrang des Einzelnen, bald den Vorrang der Gemeinschaft behauptet, unangemessen, weil sie mit
Vorstellungen von ‚Ganzem’ und ‚Teil’ operiert, die ihre Ausweisung und ihre Gültigkeit bei solchem Seienden
haben, dessen Seinsart prinzipiell von der des Menschen verschieden ist? [...] Ist die ‚Liebe’ ein romantisches
Thema, das nicht einer ernsthaften philosophischen Frage zugänglich ist? Sie ist vielleicht ernster, als die
frivolen Witzlinge glauben; man darf sie allerdings nicht verwechseln mit den kleinen Gefühlchen, die einen ab
und zu im Spielfeld des Reizes anwandeln; sie steht immer in der Nachbarschaft des Todes, ja ist am Ende die
innigste Weise, wie der Mensch um seine Sterblichkeit und zugleich Unsterblichkeit weiß.“, in: Fink, Existenz
und Coexistenz, S. 21f. Fink führt Beispiele an, die das Beieinander verdeutlichen, so liegen z.B. Steine nebenund übereinander, wodurch sich ein Berg auftürmt. Oder mehrere Bäume, die einen Wald bilden. Hier wird es
schon wegweisender: Bäume schlagen im selben Erdreich Wurzeln, sind alle auf dasselbe Wasser und
Nährstoffe angewiesen, sie „konkurrieren“ miteinander. Der Wald schützt sich in seiner Dichte vor Sturm, bietet
anderen Lebewesen Nahrung und Schutz, der Mensch kann Holz schlagen oder aufforsten. Siehe Fink, Existenz
und Coexistenz, S. 49-57. Wälder, Berge, Tiere, schließlich der Mensch sind allesamt auf etwas verwiesen, das
sie sein lässt. Fink zielt darauf ab, Mitmenschlichkeit als Gelichtetsein (im Sinne von Wahrheit) und Offenheit
für das Sein der anderen zu verstehen, in dem sich der gemeinsame, wirhafte Seinsgrund kundgibt. Das Sein des
Seienden ist jenes, das Ich und Du zu Selbstsein führt; sind Ich und Du des seinlassenden Seins gewahr, so
stehen sie gewissermaßen im gemeinsamen Ursprung, der sich als Wir erweist.
Priorität und Ursprünglichkeit des Wir betont in ähnlicher Weise Fridolin Wiplinger. Karl Baier weist
allerdings darauf hin, dass in einer intensiven zwischenmenschlichen Beziehung ein umfassendes Wir gar nicht
wahrgenommen wird, weil Ich und Du wechselweise dem anderen entspringen. Sein, Sprache und damit Liebe
ereignen sich zwischen mir und dir, ohne auf einen Dritten, der uns auf uns selbst verweist, angewiesen zu sein.
Doch: „Ich werde und bin ich selbst, indem ich von einem konkreten Du angeredet, gerufen, geliebt werde und
darauf in Liebe antworte. Mein personales Sein hat seinen Ursprung in dir, wie auch deines in mir. Müssen wir
nicht die Situation des von Angesicht zu Angesicht einander Zugekehrtseins verlassen, um, statt immer nur Du,
Du zu sagen, uns beide als ein Wir zu konstituieren? Ist dazu nicht notwendig, daß uns ein Drittes oder ein
Dritter in irgendeiner Weise anspricht und ein gemeinsames Verhalten zu ihm hervorruft, worauf hin wir uns
nicht mehr im strengen Sinn zueinander, sondern sozusagen nebeneinander zu dem uns gemeinsam Angehenden
verhalten?“, in: Baier, Karl: Fridolin Wiplingers personaldialogische Ontologie und die Frage nach der Materie,
in: Vetter, Helmuth (Hrsg.): Heidegger und das Mittelalter : Wiener Tagungen zur Phänomenologie 1997. –
Frankfurt/Main [u.a.] : Lang, 1999. – (Reihe der Österreichischen Gesellschaft für Phänomenologie ; 2), S. 103131, hier S. 113f. Das führt vielleicht zu der Annahme, ein außerhalb der Beziehung Stehender müsste Ich und
Du daran erinnern, dass sie Ich und Du im Wir sind. Wiplinger wehrt diesen Einwand ab, im liebenden
Miteinander „[...] erfahren wir uns freilich dann auch schon immer eben als wir-selbst, unser Selbst-sein, deines
und meines, als gleichursprünglich im Sein mit dem Wir-sind.“, in: Wiplinger, Der personal verstandene Tod, S.
33. Das Wir-sind wird explizit als Grund und Möglichkeit für das Ich-selbst und Du-selbst genannt, folglich
stellt das Wir etwas Absolutes dar, dessen Glieder zwar umwillen des Einander sind, sich aber unter das Wir
stellen. So „[...] heißt Selbst-sein hier eigentlich ganz und gar nur noch Mit-sein als Wir-sind, gibt es das ‚ich
selbst bin’ wie das ‚du selbst bist’ nur aus und in diesem, und zwar in allen Abwandlungen, Weisen und
Modifikationen dieses Seins, so daß alle Prädikate, grammatikalisch ausgedrückt, hier nur noch den Sinn der
‚ersten Person des Plurals’ haben: wir möchten, wollen, tun, sehen, fühlen, erleben usw.“, in: Wiplinger, Der
personal verstandene Tod, S. 65.
90
soll nicht unsicher durch zwei Extrempositionen führen, der in der Gefahr steht, von beiden
Seiten vereinnahmt zu werden, will der doch die je einseitige Gefahr vermeiden. Die von
Binswanger verwendete Analogieformel – je größere Wirheit, desto intensiveres Ich- bzw. Dusein – zeigt den Zirkel wechselseitigen Bedingens von Selbstheit und Wir an, welches logisch
gefasster Kausalität nicht folgt. Begründendes und das daraus Folgende wird meistens einer
mechanistischen Weltsicht zugeordnet, die ihrerseits eines unendlichen Regresses bedarf, der
dann aber vor der Metaphysik versagt, der sie den Begriff der Kausalität verdankt.230
Statt vom Zirkel wechselseitigen Bedingens kann man treffender von einer
Spiralbewegung sprechen, die ein dynamisches Geschehen (vgl. ἡ ύKraft, Vermögen,
Talent, Wert) zwischen Ich, Du und Wir zum Ausdruck bringt. Bewegung zeigt sich als
Leiblichkeit, gibt sich sprachlich kund, vernimmt den Anderen hörend, kurz: die Begegnung
richtet sich zum Anderen, wendet sich ihm zu, bewegt sich auf ihn hin. Versteht man die
Ausrichtung auf das Du als bleibende, statische, dann erstarrt sie und die Einmaligkeit von Ich
und Du ist preisgegeben. Wird im Gegensatz dazu das Augenmerk nur auf die fortschreitende
Begegnung beider zueinander gelegt, nimmt man nur den Wandel in ihr wahr. Dann befänden
sich die Beziehungspartner in einem sich durchhaltenden Umbruch, der, einem Wirbel gleich,
Ich und Du ihrer Konstanz beraubt. In Beziehung kann erst treten, der bereits Subjekt ist, Du
eines Ich kann nur werden, wer bereits in der Begegnung steht. Bleibe ich in der Offenheit
deines In-der-Welt-seins, vernehme ich hörend (nicht hörig!) dein Wort und stehe ich deiner
Rede Antwort, dann wird mir meine Selbständigkeit bewusst und in ihr meine Verantwortung
in Redlichkeit dir gegenüber. Das Ich-selbst dieser Art kann gar kein anderes sein als eine
Gabe des Du – ich bin „von Deinen Gnaden“.
Kann eine Relation zwischen zwei mündigen, vernunftfähigen Personen eine hörige
sein? Positiv verstanden ist Hörig-sein ein „Zugehörig-sein“, ein Hören, daher Offensein für
den, der etwas zu sagen hat. In meiner Fähigkeit und Bereitschaft, hören zu wollen, schaffe ich
dir einen Raum, in dem du gehört wirst. Hören verlangt Antwort, in welcher Form auch immer.
Erschöpft sich meine Antwort in unüberlegtem Bejahen oder risikolosem Verneinen,
unterwerfe ich mich nicht dir, sondern zuvor dem, das ich kritiklos übernommen und erfüllt
habe; ich höre nicht dich selbst, meine Aufmerksamkeit geht darauf, was ich gehört zu haben
vermeine. Mit Hörigkeit geht Selbst- und Fremdverschlossenheit einher – ich bin mir selbst
230
Darüber hinaus stellt sich das mechanistische Weltbild Kausalität als Realzusammenhang in notwendiger
zeitlicher Folge dar, die sich messen und festlegen lässt. Dass mithilfe dieser Kategorie die Begegnung zweier
Menschen beschrieben werden kann, darf füglich bezweifelt werden: ordnet sich menschliche Begegnung –
zumal eine als tatsächlich humane verstandene – einer Zeitfolge unter, dann ist sie nur als Zufälligkeit zu werten.
Zufall des Begegnens entpuppt sich meistens als Unverbindliches; tritt doch Verbindlichkeit (Ernstnahme,
Offenheit von Du und Ich) zutage, so kommt sie nicht in der zeitlichen Abfolge als dessen Nebenprodukt
zustande.
91
und damit auch dir verschlossen. Verschlossenheit ist in einer personalen Beziehung erst
möglich, sofern die Begegnung als grundlegende erfahren worden ist; nach Hinwendung zum
Du ist Abwendung von ihm realisierbar.231 Das Gegenteil von Verschlossenheit ist die
Entschlossenheit zum Du, das Aufgeschlossensein für dich. Worte wie Ent- bzw.
Verschlossensein, Öffnung, „Hingabe“ an dich, Vereinnahmung durch den Anderen oder des
Anderen sind, wenn man so sagen möchte, semantische Problemzonen: ihre Bedeutung
gewinnen sie durch die Erfahrungen derer, die Beziehungen hinter sich haben, die in
Beziehungen stehen und die, die auf solche hoffen.
Selbstwerdung im Wir erfordert die Offenheit des jeweiligen Selbst für den Anderen,
Offenheit wieder verlangt einen Wir-Raum, der sie zulässt. Denn Öffnung für das Du – das
darf gesagt werden – ist als intimer Akt zu verstehen, d.h. ich öffne mich nicht dem
„Nächstbesten“. Öffne ich mich dir, lasse ich uns Zeit und Raum, um die werden zu können,
die nur wir in unserer Begegnung sind. Die Beziehung individualisiert derart, dass Ich und Du
je neu und anders aus ihr hervorgehen. Wie bereits zuvor erwähnt, empfängt sich das Selbst als
Gabe des Anderen. Die Konstituierung des Wir ist kein unbedingter Widerspruch zum
Selbstsein, in Selbst-Hingabe und Selbst-Empfängnis ist dem Anderen dessen Selbst
durchsichtig und ihm zugehörig. Abermals weist Binswanger auf die Rolle des Wir hin,
diesmal in der Form der Treue. Wie den Begriff der Liebe, entlehnt er auch den der Treue
einem ethischen bzw. allgemeinen Verständnis, nicht ohne ihn zu präzisieren. Treue meint das
Selbst, das sich im Sich-Schenken durchhält, um sich so zu gewinnen. Treue schließt
Beliebigkeit, Willkür, Unverbindlichkeit aus, der Empfang des eigenen Selbst durch dich
bestätigt das Wir der Liebe. „Die Selbstheit Meiner-selbst und Deiner-selbst zeigt sich sowohl
in der Treue des Sich-Schenkens (oder in der Treue im Sich-Schenken) als in der Treue zu sich
selbst.“232 Treue stellt einen dreifachen Bezug her: 1) Bezug zum eigenen Selbst, 2) Bezug
zum Anderen, als dessen Geschenk sich das Ich weiß, 3) Bezug zum Du in Verwirklichung
dieser Treue. Treue – nicht empirisch oder ethisch gesehen – verbürgt innerhalb des DuBezugs die Akzeptanz seiner selbst: die Annahme meines Selbst, das ich von dir bekommen
habe. Freilich ist umgekehrt auch die Verweigerung des eigenen Selbst möglich, in der ich
mich wie dich verleugne. Die folgende Flucht vor sich selbst scheut ebenso das Du und zerstört
das Gemeinsame.
231
Sympathie, Abneigung, Gleichgültigkeit anderen gegenüber finden hier den Grund, der sich uns als uns selbst
gebender erweist, wie Heidegger sagt und auf den sich Binswanger hier bezieht. Siehe dazu: Wahn, in: AW 4,
433f, sowie Heidegger, Vom Wesen des Grundes.
232
AW 2, 112
92
Die wechselseitige geschenkhafte Annahme des Selbst führt bei aller und trotz aller
Reziprozität zu Einsamkeit – es sei denn, man begreift das Wir als differenzloses
Verschmelzen von Ich und Du.233 Die Betonung liegt auf dem Geschenkcharakter des Daseins,
das ja schon eine Einsamkeit – Schenker und Beschenkter – impliziert. Als einsames geht das
Selbst „mit sich selbst beschenkt“ aus der Dualität hervor. Mit dem Begriff Einsamkeit ist der
mitunter vagen, unscharfen Terminologie ein weiteres Stück hinzugefügt, wird dieser Begriff
doch vorrangig mit Verlassenheit, Isolation, Kontaktunfähigkeit oder -unwilligkeit konnotiert;
Zustände also, die uns missgestimmt machen, die wir allzu gerne scheuen, aber dennoch
erleben. Einsamkeit ist schlicht als Selbstheit zu sehen, an dieser Stelle wird in den
Grundformen explizit Heidegger angeführt: „Nur weil Dasein als solches durch Selbstheit
bestimmt ist, kann sich ein Ich-selbst zu einem Du-selbst verhalten. Selbstheit ist die
Voraussetzung für die Möglichkeit der Ichheit, die immer nur im Du sich erschließt.“234
Die Wahl des Terminus „Einsamkeit“ hat demnach nichts mit Abgrenzung von der
Mitwelt zu tun, die Binswanger als Verfallsmöglichkeit der Liebe sieht. Die auf die Spitze
getriebene Einsamkeit, die ein Mensch für sich beanspruchen will, ist als solche nur als
pathologische auszumachen. Binswanger grenzt Selbstheit von rücksichtslosem Verhalten ab,
die sich gar nicht als von dir geschenkte erfahren kann, oder sich als eigenständige durchsetzen
will, sodass „[...] diese Selbstheit sich nicht gründen kann auf so etwas wie
Selbstbemächtigung; vermag doch keine ‚Macht der Welt’ Bemächtigung zu wandeln in
Geschenk!“235 Gerade weil sie sich auf das Wir bezieht und von ihr abhängt, ist Einsamkeit
nicht mit Alleinesein gleichzusetzen, wie aus der Wortwahl geschlossen werden könnte. In der
erwähnten Zirkelbewegung streben das individuierte Ich und Du die Sehnsucht (vgl. das
Phänomen des Eros) als Stätte der Selbst- und Wirwerdung an236, die sich im Zeichen der Gabe
und des Empfangens realisieren.
Die Wandelbarkeit einer Beziehung wird man nicht bestreiten, wenn man sie ernst
nimmt. Dieser Satz zeigt lediglich wieder das Ausgangsproblem an, das Verhältnisgefüge von
Ich-Du-Wir bzw.
dessen
Begründungszusammenhang.
Die privativ
missverstandene
Einsamkeit opponiert und gefährdet die Zweisamkeit des Wir. Dagegen ist die durch das Wir
individuierte Einsamkeit „[...] die im Wesen der Liebe gründende lebendig-dialektische
233
Siehe AW 2, 116-123
Heidegger, Martin: Vom Wesen des Grundes – 8., unveränderte Aufl. – Frankfurt/Main : Klostermann, 1995,
S. 38. Kann man Heidegger auch nicht den Philosophen des Dialoges zuschlagen, so ignoriert er diese doch
nicht; die Zollikoner Seminare und Vom Wesen des Grundes geben davon Zeugnis. In dessen letztem Absatz
lesen wir: „Und nur das Hörenkönnen in die Ferne zeitigt dem Dasein als Selbst das Erwachen der Antwort des
Mitdaseins, im Mitsein mit dem es die Ichheit darangeben kann, um sich als eigentliches Selbst zu gewinnen.“
235
AW 2, 116
236
Siehe AW 2, 118
234
93
Gegenbewegung im Sinne der geschenkhaften Selbstmehrung des Eros [...].“237 Wir finden da
weniger die Erklärung des Problems als vielmehr die nachhaltige Berufung auf den Mythos des
Eros, der sich – in der Begegnung steigernd – als Raum des Wir herausbildet. Schmidt bemerkt
dazu sehr aufmerksam:
Die „lebendig-dialektische“ Bewegung, die sich zwischen der Selbstheit und der
Wirheit vollzieht, bildet auch in der idealsten Form eine fragile Balance, die durch
eine extreme Dynamik aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann. Zieht man
zudem in Betracht, daß durch die ekstatische Entgrenzung die „lebendigdialektische“ Bewegung als ein Transzendenzprozeß verwirklicht wird, so stellt sich
angesichts der forcierten Dynamisierung der Prozesse die Frage, wie diese Balance
überhaupt möglich ist.238
Binswanger hält dagegen, die „empirische“, „weltliche“ Liebe, die de facto erfahren wird, sage
nichts „[...] gegen die immanente Wesenszugehörigkeit von Einsamkeit und Zweisamkeit.“239
Solche „Wesensimmanenz der Liebe“ ist dem Ich und Du bereits eingeschrieben, mittels derer
das Gleichgewicht von Selbst und Wir garantiert sein soll. Wer jedoch bestimmt definierend
dieses Gleichgewicht? Weder Ich noch das Du noch das Wir kommen dafür in Frage – hieße
das ja das Voraussetzen des zu Bestimmenden. Ungeachtet dessen reklamiert Binswanger eine
„strukturbedingte, ich-duhafte Norm- oder Gestalthaftigkeit“240, die als Richtschnur der
Begegnung eingesetzt wird. Woher und mit welchem Recht diese Norm kommt, wird
verschwiegen. In gewohnter Manier bedient er sich des Begriffes, der nicht klar umrissen
worden ist.241 Vermutlich ist von Maßgabe oder Norm die Rede, die die Beziehung nicht
einengen will (im Sinne eines Liebesrausches oder -mystik) und die andererseits keine
grenzenlose und so falsch verstandene Freiheit erlaubt, die die Beziehung in unkonkretes
Allgemeines aufhebt.
Die Treue als Wegbahn zum Du unterbindet eine nivellierende Totalität, zugleich ist in
ihr die Selbstheit an das Du gebunden. Bildet die Dualität die Grundform menschlichen
Daseins, so darf diese auch als Messlatte an den mitmenschlichen Umgang angelegt werden.
Eine Norm wie sie in den Naturwissenschaften verwendet wird, ist sie deshalb nicht.
Landläufig ist der Begriff der Norm – und damit auch der der Normalität – deckungsgleich mit
dem, worin die Mehrheit der Menschen, Völker, Staaten, Gruppen übereinkommen. Damit ist
237
AW 2, 118
Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 192f
239
AW 2, 121
240
AW 2, 122
241
An sich ist so eine Methode oder Handhabe eine wissenschaftlich unlautere, die einen konfusen Umgang mit
dem zu erörternden Thema verrät. Entweder deklariert man sich vor seiner Argumentation, oder man lässt sie
eben bleiben. Unschärfe des Begriffes wird gerechtfertigt mit der Mehrdeutigkeit dessen, das erhellt werden soll
– hier der Mensch. Die Philosophie, die das Menschsein in dessen Bezügen zu anderen sieht, hat eventuell sogar
diese unabschließbare Mehrdeutigkeit als Voraussetzung ihres Unternehmens. Letztlich verlangt sie auch vom
Interpreten das Sich-einlassen auf das, was zur Debatte steht, ohne in Begriffsverwirrung oder
Argumentationsabbruch zu enden, ehe ein Dialog überhaupt erst angefangen hat.
238
94
das Durchschnittliche das Maßgebende.242 Durchschnittliches will Binswanger gar nicht
erklären, es sei denn, man empfindet Liebe als solches, d.h. als Alltägliches, welches „einfach
passiert“, oder man liebt das Durchschnittliche und nivelliert sich dabei selbst.243 In keinem der
beiden Fälle hat man es mit Liebe zu tun – wie kann etwas oder jemand geliebt werden, das
dem Verdikt des Mittelmaßes unterliegt? Der geliebte andere Mensch ist dann ein Du
(einzigartig, unverwechselbar), wenn es aus der gleichmachenden Mediokrität heraustritt; das
geschieht nur mit dem Ich, mit dem es das Wir bildet. Die Außergewöhnlichkeit des
Miteinander, die sich letztlich auch zeitlich-räumlich manifestiert, kommt trotz allem nicht
ohne einen Begriff von Norm aus. Außergewöhnliches entzieht sich leichthin und unversehens
der Kategorisierung. Den Zug des Normativen führt Binswanger mit dem Begriff der
„normativen Gestalthaftigkeit“244 ein; die Wortwahl „Gestalt“ deutet darauf hin, die Ich-DuBeziehung unter ein Ideal zu stellen, das sich im Konkreten kaum realisieren lässt.
Lässt man die normative Gestalt so gelten, werden Grenzfälle oder Abweichungen von
selbiger erklärbar. Normdevianzen führen zum Zerfall des Wir, das seinerseits nur als
Selbstheit und Zweiheit denkbar ist. Die Überbetonung von Selbstsein zuungunsten der
Dualität stellt Binswanger anhand zweier der Kulturgeschichte entnommenen Beispiele dar.245
Die erste Figur ist der hinlänglich bekannte Don Juan. In der Oper bejubelt, in der Literatur
eine unverzichtbare Größe, ist er jemand, dem Einsamkeit fremd zu sein scheint. Er sucht
rastlos Zweisamkeit, mit welcher Frau auch immer, seine Umtriebigkeit verwehrt ihm das
Verweilen-bei, das Sich-einlassen auf ein Du. Eine Heimat im liebenden Wir ist ihm
verschlossen, ebenso die Ich-Werdung am Du, weil er sich und dem Anderen die
wechselseitige Selbstwerdung versagt. Die Hingabe des Eigenen und das Geschenk des durch
den Anderen gewandelte Selbst gehen fehl, Don Juan fordert gleichsam Fremdkapital, ohne
sein eigenes offengelegt zu haben.
Der Don Juan provoziert die Hingabe des Anderen, ohne jedoch den gleichen Einsatz
(sein Selbst) in der Hingabe zu geben. Die Hingabe des Anderen ist für ihn das Ziel
der Zweisamkeit, in der aufgrund der Defizienz der Reziprozität die Selbstheit in der
Liebe verfehlt wird. Der Don Juan bleibt der unerlöst Zweisame, weil er trotz der
angestrebten Beziehung zum Du keine Erlösung in der Heimat der Liebe finden kann.
Seine Selbst-Verwirklichung erschöpft sich in der beständigen Suche nach dem
Du.246
242
Zum Begriff der Norm bzw. Normalität in der Diskussion zwischen Philosophie und Medizin siehe den
Artikel Normalität von Hubertus Tellenbach in: Peters, Uwe Henrik (Hrsg.): Psychiatrie. – Weinheim ; Basel :
Beltz, 1983. – (Kindlers „Psychologie des 20. Jahrhunderts“ ; 1), S. 68-79.
243
Wie schnell und lange anhaltend man in diese vermeintliche Liebe gerät und wohin sie führen kann, nämlich
in die Falschheit und Uneigentlichkeit, zeigt Ibsens Stück Nora: „Wenn Sie einem Durchschnittsmenschen seine
Lebenslüge nehmen, so bringen Sie ihn gleichzeitig um sein Glück.“, in: Ibsen, Henrik: Dramen. – In den von
Ibsen autorisierten Übersetzungen von Christian Morgenstern [u.a.] – München : Winkler, 2001, S. 456.
244
AW 2, 122
245
AW 2, 120f
246
Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 195
95
Weigere ich mich, mich dem Anderen zu geben und meine Gabe (mein Ich) zu empfangen, so
„überlasse“ ich mich weder dir, noch lasse ich mich auf meine Einsamkeit ein, das hat zur
Folge, dass ich mich selbst nicht als dein Geschenk entgegennehme. Der Andere mag sich mir
willig hingeben, nur versage ich, mich zu geben und damit den Anderen als Anderen
wahrzunehmen. Die mangelnde Wechselseitigkeit verfehlt also das Selbstwerden von Ich und
Du. Don Juan, auch seine Geliebten versagen vor dem Anspruch, Zweisamkeit in Einsamkeit
zu leben und diese auszuhalten.
Ein anderes, auch dem Extremen, eher Unwahrscheinlichen zuzurechnendes
Existenzmuster ist das des „unerlöst Einsamen“. Verdeckt Don Juan sein unstetes Alleinesein
(nicht Einsamkeit!) unter seinem Streben nach zweisamer Existenz, ist der unerlöst Einsame
tatsächlich der umstandslos vor der Welt Kapitulierende. Ihn zeichnet jeglicher Verzicht auf
Kontaktnahme mit anderen aus, ebensowenig wie unser Don Juan schafft er es, Einsamkeit als
geschenktes Selbst in Zweisamkeit (gegenseitiges Schenken und Empfangen) zu gründen,
wodurch dem Ich und dem Du der eigene Selbstand verwehrt bleibt. Als Reaktion sieht sich
der abgeschottete Alleinige als bezugslosen Mittelpunkt seiner selbst in einer mit niemandem
geteilten Eigenwelt. Von Eigenwelt kann da keine Rede mehr sein, Welt ist nicht meine, nicht
deine, sondern als Welt-Habende sind wir unsere Welt.247
Ein Rückblick: das Kapitel stellt dreierlei vor: das Ich, das Du und das beide
Umfangende. Durch die thematische Dreiheit bedingt, werden in ihm mehr Fragen gestellt als
Antworten gegeben. Dennoch: Ich und Du sind reife, verantwortliche, eigenständige Subjekte;
warum sind sie trotz ihrer Konstituiertheit dem Anderen verpflichtet? Konstituiertheit bei
Binswanger korreliert mit der Jemeinigkeit des Daseins in Heideggers Entwurf. Deren Vollsinn
erfüllt sich in Anbetracht der Jedeinigkeit, die das Meine fordert.248 Die Wechselwirkung –
also gegenseitige Bereicherung – steht unter dem Wir. Zwischen die Eigentlichkeit des Daseins
und seiner Verfallsform im Man setzt Binswanger das Wir der Liebe. Die Grundformen sind
durch zahlreiche Anläufe geprägt, die Rettung der Eigentlichkeit aus dem Verfall an das Man
zu versuchen. Eigentlichkeit – mit Binswanger: Einsamkeit des Daseins – verdankt sich der
Antwort dir gegenüber, einer Verpflichtung (Treue), die dich wie mich dem Unpersönlichen
247
Diesbezüglich trifft Binswanger ein Phänomen unserer Zeit; Gedanken über Dialog und Gemeinschaft sind
kein Vorrecht abendländischer Kultur, sie durchziehen und prägen jegliches, das Menschen miteinander
aufbauen und pflegen. Beschränkt man sich auf Europa, liegt die Kunst klarerweise näher. Exemplarisch
Bedeutsames finden wir in den Schriften Emmanuel Boves, Thomas Bernhards, E.M. Ciorans, in den Gedichten
Trakls, in Dramen Ibsens, die die Scheingemeinschaft bloßlegen. Bei Alberto Giacometti wird die Einsamkeit
paradoxerweise plastisch, zum Greifen nahe.
248
Siehe AW 2, 56
96
enthebt. Sind Ich und Du im Wir getrennt und doch geeint, so muss sich dieses Wir trotz aller
Abgehobenheit ausweisen können. Wie manifestiert sich das Eigentliche, das liebende
Miteinandersein in der Welt, die vorzüglich als unpersönliche, anonyme wahrgenommen wird?
Ist Miteinandersein in solcher Sicht der Welt überhaupt erfahrbar, oder stört sie dieses? Ist das
der Fall, so ist Liebe tatsächlich etwas Außergewöhnliches, mit dem nicht zu rechnen ist. Wir
gehen mit Binswanger konform, dass es Dasein in Liebe und Respekt gibt und dieses auch
dargelegt werden kann.
Fragt man nach der Art und Weise dieses Daseins, kann als allgemeine Form seiner
Erscheinung die in Zeit und Raum genannt werden. Jede Beziehung, jede Begegnung – das
Wort sagt es bereits – hat ihren „Ort“ zu einer „bestimmten Zeit“. Es geht nicht darum, Ort und
Zeitpunkt des menschlichen Miteinanderseins errechnen zu wollen, genauso gut könnte man
einen Standort fixieren, den zwei Menschen zufällig unabhängig voneinander passieren. Das
geläufige Verständnis von Raum und Zeit, so gerechtfertigt und sinnvoll es ist, greift hier zu
kurz.
4.3 Räumlichkeit und Zeitlichkeit des Miteinanderseins
4.3.1 Zur Einführung
Diskussionen über Raum und Zeit beanspruchen nicht nur allein Fachpublikationen, die Künste
oder das Allgemeininteresse, sondern sind seit je prägend für den Menschen, der sich selbst zu
verstehen sucht. Dass dabei immer wieder Missverständnisse und Vulgärinterpretationen
entstehen, tut diesem Versuch keinen Abbruch, unter Umständen kann dieses ihn sogar
bestärken. Im vorigen Kapitel wurde das Wir (Zwischen) thematisiert, darin sich Ich und Du
zueinander verhalten. Das Wir deutet einen Raum an, in dem die Begegnung stattfindet und in
dem die Begegnenden einander Zeit schenken, weil sie diese gemeinsam erwirken.
Binswangers Verständnis von Räumlichkeit und Zeitlichkeit weist uns – dich und mich
– dorthin, wo wir selbst dieser Raum in unserer Zeit sind. Jeder von uns befindet sich im
Raum, wir sind demnach ein raumhaftes Miteinandersein. Gemeinsam einen Raum eröffnen
bedeutet, dass du in meiner Nähe bist, in der du mir aber auch fremd werden kannst. Ob dieser
Raum ein „einladender“ ist oder die in ihm Anwesenden Aversionen hervorrufen, der Raum ist
es, in dem Beziehungen stattfinden. Klar ist, dass in einem so verstandenen Raum Menschen
einander begegnen, Kontakte pflegen oder diese vermeiden; weniger klar ist, dass an diesen
Raum
kein
Zollstab
angelegt
werden
kann.
Nähe,
Ferne,
Gleichmut
sind
formalwissenschaftlich schlicht nicht erreichbar. Der Raum ist kein fixer, in dem Objekte
vorhanden sind, sondern einer, den Ich und Du miteinander „schaffen“. Er ist ebensowenig ein
97
Zimmer, das man betreten kann, er zeigt sich im Miteinandersein: „[Wir sehen, Anm.] den Zugebenden oder räumend Ein-räumenden die Gebärde der Überlassung machen, auf diese Weise
‚aus seinem Raum’ heraustretend und die Übergabe an den Raum des Andern vollziehend,
während der Andere, ihm zugeneigt, die ‚Zu-gabe’ in Empfang nimmt.“249
Raum – nun ein zwischenmenschlicher – ist da, wenn man ihn betritt, er ist erschlossen,
wenn er frei ist, d.h. nicht die Anwesenheit behindert.250 So ist er frei und damit offen; der
Raum ist dann offen, wenn jene offen sind, die diesen Raum – d.h. unsere Existenz –
begründen. In dieser Bedeutung scheint der zwischenmenschliche Raum „aufgeräumt“, indem
er nicht den Blick verstellt, sondern freigibt für den Anderen. Der Raum, den ich dir gewähre,
verdankt sich nicht einer gönnerhaften Geste meinerseits, die bis auf Widerruf Geltung hat.
Dieser Raum bin ich, ich kann dir meinen Raum (und damit mich) eröffnen, ihn dir doch auch
verwehren. Das deutet keineswegs Willkürakte an: verschließe ich meinen Raum und ineins
meinen Leib vor anderen, so bin ich selbst verschlossen. Damit entsteht die paradoxe Situation,
dass sich der Raum, den ich dir „anbiete“, um in ihm Du-selbst sein zu können, von
vorneherein zerstört bzw. gar nicht etabliert wird. Ein vermeintlich schuldbewusstes
nachträgliches Konzedieren des Raumes wird dem Anderen zu Recht suspekt anmuten.
Bestimmt ist das Zurückschreiten aus dem gemeinsamen Raum häufig, sodass dieser nicht
mehr wahrgenommen wird, auch diese Dialogverweigerung ist negativ noch an das
Miteinander von Ich und Du gebunden.
Der Räumlichkeit korreliert das Zeitlichsein. Hier geht es ebenso um den Grundvollzug
des Menschen in Dasein als Offenheit, in der sich Zeit vollzieht. Parallel zur unhinterfragten
Raumauffassung wird Zeit als Form der Ordnung und des Maßes – also als äußere Norm –
genommen. Als Folge davon erscheint die Zeit als beständige Abfolge von Punkten, die jeweils
ein „Jetzt“ darstellen. Dieses Zeitempfinden ist das lineare chronometrische, das mit dem Blick
249
AW 2, 16
Ob der Raum unser Dasein behindert, einengt, hemmt, d.h., ob wir uns selber in der Begegnung „klein
machen“ oder einen Raum der Hoffnung eröffnen, zeigt Hölderlins Gedicht Der Gang aufs Land:
250
Komm! ins Offene, Freund! zwar glänzt ein Weniges heute
Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein.
Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes
Gipfel nach Wunsch und leer ruht von Gesange die Luft.
Trüb ists heut, es schlummern die Gäng und die Gassen
und fast will
Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.
Dennoch gelinget der Wunsch, Rechtglaubige
zweifeln an Einer
Stunde nicht und der Lust bleibe geweihet der Tag.
In: Hölderlin, Gedichte, S. 109. Zumindest den „Rechtglaubigen“, jene, die einander ehrlich begegnen, ist eine
Stunde in der Fülle des Tages gewährt.
98
auf die Uhr bestätigt wird. Die sichere, alltäglich durchaus brauchbare Zeit ist ein Moment des
„noch nicht jetzt“ und des „jetzt nicht mehr“. Im wahrsten Sinn ist Zeit damit Vergänglichkeit.
Der solcherart geübte Umgang mit Zeitlichkeit wie Räumlichkeit ist nicht nur
angemessen und legitim, sondern nahezu geboten, will man sozialen, beruflichen, familiären
Pflichten nachkommen. Trotzdem bekommen wir damit nicht das Eigentümliche der Zeit in
den Blick. Zeit in dieser Fassung ereignet sich als ein Kommen und Gehen von Objekten,
Begegnungen, Erfahrungen, die allesamt verdrängt werden, weil die Zeit eben fließend
vorbeizieht. Binswanger versucht, die Gegenwart zu akzentuieren, in der andere präsent sind.
Unter Berufung auf Buber weist er der Gegenwart „Wesenheiten“ (das Du) zu, die in dieser
„gelebt“ werden, während hingegen die Welt der Dinge bereits in der Vergangenheit
angesiedelt ist:
[...] insofern der Mensch sich an den Dingen genügen läßt, die er erfährt und
gebraucht, lebt er in der Vergangenheit, und sein Augenblick ist ohne Präsenz. Er hat
nichts als Gegenstände; Gegenstände aber bestehen im Gewesensein. Gegenwart ist
nicht das Flüchtige und Vorübergleitende, sondern das Gegenwartende und
Gegenwährende.251
Miteinandersein in Liebe will doch Gegenwart, wenn nicht gar Unendlichkeit. Gerade in
diesem Zusammenhang spricht Binswanger allerdings vom „Augenblick“ der Liebe, ein Wort,
welches er übrigens Sein und Zeit entnommen hat252, dort trennt Heidegger die uneigentliche
Gegenwart (Aufenthaltslosigkeit im Verfallen an das Man) von der eigentlichen Gegenwart des
Augenblicks, in dem sich das Dasein aus dem Man im Entschluss zur Eigentlichkeit
zurückgeholt hat. Wenn auch irreführend definiert, hat der Augenblick keinen temporalen
Charakter im umgangssprachlichen Sinn. Augenblick, und das ist für das Verständnis
Binswangers relevant, bedeutet
[...] Entrückung des Daseins an das, was in der Situation an besorgbaren
Möglichkeiten, Umständen begegnet. Das Phänomen des Augenblicks kann
grundsätzlich nicht aus dem Jetzt aufgeklärt werden. Das Jetzt ist ein zeitliches
Phänomen, das der Zeit als Innerzeitigkeit zugehört: das Jetzt, „in dem“ etwas
entsteht, vergeht oder vorhanden ist. „Im Augenblick“ kann nichts vorkommen,
sondern als eigentliche Gegen-wart läßt er erst begegnen, was als Zuhandenes oder
Vorhandenes „in einer Zeit“ sein kann.253
Bedeutsam ist dieser Passus für jede Philosophie der Begegnung, zumal im Augenblick
„besorgbare Möglichkeiten und Umstände“ begegnen – mit anderen Worten: es begegnet mir
der Andere – jetzt natürlich nicht als etwas zu Besorgendes (Innerweltliches), sondern als einer,
251
Buber, Das dialogische Prinzip, S. 16f. Buber stimmt hier mit Heidegger überein, der uneigentliches
Gewärtigen vom eigentlichen Zeitigen als das Sich-zurückholen des Daseins aus der Verfallenheit scheidet.
252
Siehe AW 2, 36-40 und Heidegger, Sein und Zeit, S. 328: „Entschlossen hat sich das Dasein gerade
zurückgeholt aus dem Verfallen, um desto eigentlicher im ‚Augenblick’ auf die erschlossene Situation ‚da’ zu
sein.“
253
Heidegger, Sein und Zeit, S. 338
99
den ich in sein Eigensein freigebe und damit sein zu lassen habe.254 Dem Augenblick wird die
Qualität
einer
Über-
bzw.
Außerzeitlichkeit
zugesprochen,
überdies
ist
er
kein
„innerweltlicher“, auf den man warten kann, bis er „endlich da ist“:
Dieses Angekommensein [des Augenblicks, Anm.] ist nun aber ebensosehr ein Nieweg- oder Immer-schon-da-gewesen-sein. Beide Modi der (Über-)Zeitigung
zusammen, das Angekommen-sein und das Immer-schon-da-gewesen-sein,
konstituieren erst den ewigen Augenblick, die Heimatlichkeit der Liebe.255
Formulierungen von Räumlichkeit und Zeitlichkeit kann sich Binswanger in dieser Art nur
leisten, weil er sie der Sorgestruktur des Daseins bei Heidegger enthebt, diese aber noch
voraussetzt – er spricht dann vom „In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-Sein“.256
Das In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-Sein verrät jene drei Zeitformen, die in der
Grammatik definiert sind, die wir verwenden, die wir vor allem aber leben und die uns prägen:
1) Dasein als Sein bei den Dingen, beim Anderen, 2) Dasein dessen, der wir gewesen sind und
uns als solche durchhalten, 3) Dasein als Gewärtigen des Kommenden. Diese Dreiheit ist keine
Abfolge von jeweils als Jetzt erfahrenen, linear verlaufenden Punkten, die noch dazu
umkehrbar wäre; sie offenbaren sich mir als ein „Zugleich“, die im Gegenwärtigen
zusammentreffen.257 Das Gewesene wie das Kommende sind einerseits verborgen, entzogen,
teils versteckt oder verdrängt, fern und unberechenbar, doch in all diesem gleichwohl
anwesend. Die moderne Daseinsanalyse versteht darunter: „Wir können nur erwartend,
behaltend, erinnernd usw. in das Kommende und das Gewesene hineinreichen, weil das
Menschsein in sich selbst zukünftig ist und dabei in der Gegenwart auf sein Gewesenes
zurückkommt und es in die Zukunft hineinnimmt.“258
4.3.2 Miteinandersein als räumliches
Dasein selbst bestimmt sich und findet sich als räumliches und zeitliches, als Sein bei den
Dingen (Umwelt) und bei anderen (Mitwelt). Die Dichotomie von Ding und anderer führt zu
einem differenzierenden Verständnis von Räumlichkeit und Zeitlichkeit, wenn man der
Beziehung zwischen Ich und Du gerecht werden will. Binswanger spricht mit Heidegger, um
gleichzeitig gegen ihn zu argumentieren. Räumlichkeit wird stets mit der Vorstellung
assoziiert, etwas befinde sich in etwas Größerem, Tragendem, Umfangendem. Diese Idee ist
keineswegs irrig, solange sie auf den geometrisch messbaren Raum bezogen bleibt. Was aber
254
Genaueres dazu in der Studie über den Wahn, in: AW 4, 433
AW 2, 83
256
AW 2, 452
257
Näheres in den Zollikoner Seminaren, S. 84-86
258
In: Österreichisches Daseinsanalytisches Institut (Hrsg.): Existentialien im Überblick, S. 5, abrufbar unter:
www.daseinsanalyse.at/joomla/images/DOKUMENTE/Existentialien.pdf, Abrufdatum: 25.03.2014
255
100
meint Heidegger und mit ihm Binswanger? „Das Sein des Daseins besagt: Sich-vorweg-schonsein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)“.259 Das Dasein ist
nicht in der naturwissenschaftlich verstandenen Welt, etwa als tierhaftes Lebewesen oder Ding,
im Gegenteil: das In-sein ist nicht Attribut, sondern ist die Seinsverfassung des Daseins, das
„In“ bezeichnet ursprünglich „wohnen bei...“, „vertraut sein mit...“ der Welt.260
Obschon Heidegger das Mitsein hervorhebt, ist er Binswanger nicht konsequent genug.
Heidegger bleibt sozusagen auf halbem Wege stehen, weil er unter „Welt“ die Welt der Sorge
versteht, in der innerweltlich Begegnendes besorgt wird, während anderen die (vorspringendbefreiende bzw. einspringend-beherrschende) Fürsorge gilt. Beide Denker kommen in der
Ablehnung
des
Raumverständnisses
Descartes’
überein,
das
auf
mathematischer
Berechenbarkeit fußt. Die Ausdehnung (extensio) der körperlichen Substanzen ist die
Seinsverfassung schlechthin, die als bloß vorhandene gedacht wird. Die Relation zwischen
Körperdingen ist das Vorhandensein nebeneinander, die sich durch Ortsveränderungen
gegenseitig verdrängen. Dieser mathematisch zu verstehende Gedanke Descartes’ bringt
Binswanger auf die populär-vulgäre Idee des „einseitig imperativischen“ Wegdrängens des
anderen, um die eigene Machtposition (im geometrischen Raum) zu bestärken.261
Bleiben wir vorerst noch bei Heideggers Raumverständnis. Durch die „Weltlichkeit der
Welt“ ist Raum „gegeben“, Dasein steht in räumlichen Beziehungen – in denen der Ferne und
der Nähe –, „[...] wobei sich diese Nähe und Ferne aus ihrer je eigenen Weise des In-der-Weltseins ergeben, dadurch also, daß sie sich auf diese Dinge als auf nähere und fernere beziehen,
daß sie die Nähe und die Ferne in ihrer eigenen Leiblichkeit austragen.“262 Inwieweit In-derWelt-sein ein „In-die-Welt-sein“ ist, zeigt Heidegger anhand der Entfernung in aktiver und
transitiver Bedeutung:
Entfernen besagt ein Verschwindenmachen der Ferne, das heißt der Entferntheit von
etwas, Näherung. Dasein ist wesenhaft ent-fernend, es läßt als das Seiende, das es ist,
je Seiendes in die Nähe begegnen. [...] Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf
Nähe.263
259
Heidegger, Sein und Zeit, S. 192
Heidegger, Sein und Zeit, S. 54. So auch Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, S. 53: „Das Dasein ist
als In-der-Welt-sein vielmehr immer schon bei den Dingen. Wie es immer schon bei den Dingen ist, so ist es
auch immer schon mit anderen. Es ist nicht ein Ich, das erst noch die Beziehung zu anderen Menschen
aufnehmen müßte, sondern primär im Mitsein mit anderen.“
261
AW 2, 16
262
Guzzoni, Ute: Das Verhältnis von Raum und Kunst beim späteren Heidegger, in: Vetter, Helmuth (Hrsg.):
Siebzig Jahre Sein und Zeit : Wiener Tagungen zur Phänomenologie 1997. – Frankfurt/Main [u.a.] : Lang, 1999.
– (Reihe der Österreichischen Gesellschaft für Phänomenologie ; 3), S. 189-204, hier S. 190. Was den Raum
betrifft, bringt Heidegger die Leiblichkeit des Menschen ins Treffen, Räumlichkeit und Leib stehen in einem
Verhältnis, das bei Binswangers Erörterungen von defizienten Daseinsmodi eine tragende Rolle spielt; vgl. dazu
AW 1 und AW 4 sowie die Zollikoner Seminare.
263
Heidegger, Sein und Zeit, S. 105
260
101
Das Präfix „ent-“ in der Ent-fernung zeigt das Gegenteil von Ferne, Distanz an, wird
ein Objekt entfernt, dann zeigt sich die Nähe dessen, welches durch das Objekt „ver-stellt“
wurde. Ist das Dasein auf Nähe hingeordnet, in der Seiendes begegnet, bekommt Räumlichkeit
den Wert des „Raum-gebens“ oder „Einräumens“. Der substantivierte Infinitiv – wie ihn
Heidegger so oft verwendet – lenkt unser Verständnis auf den verbalen, den
Geschehenscharakter des Raumes; Raum ist so auf den Menschen „angewiesen“ bzw. sie
bedingen einander – kein Dasein ohne Räumlichkeit und umgekehrt. Das In-der-Welt-sein
zeigt sich als Offenheit, in der Seiendes sich zeigt und begegnet. Dasein als Raumgebendes
räumt ein, gibt frei, behält, entlässt ins Offene des Daseins und stellt es dem Anderen frei, in
der Offenheit hervorzukommen: „[...] ein Auf-uns-zukommen, Ankommen, Sich-geben,
Zusprechen und zwar des Bereichs sowohl wie des in ihm Begegnenden –, dem wir durch ein
aktives Seinlassen, Aufnehmen, Erwarten entsprechen.“264
Die Bestimmung menschlichen Daseins als welt-offenes, einräumendes, welches
anderes sein lässt und in diesem ihrem Sein bewahrt („belässt“), hat sich in der Gefolgschaft
Binswangers durchgehalten.265 Liegt der Sinn menschlichen Existierens im Offensein für das
in der Welt Begegnende – vornehmlich personales Sein –, kann das zunächst verwunderlich
anmuten. Von Geburt an sind wir mit anderen Menschen, sind offen für sie und orientieren uns
an ihnen.266 Das geht uns als Selbstverständliches auf, bedarf daher keiner weiteren
Erläuterung. Erst wenn das Dasein selbst infrage steht, wird es sich seines bislang fraglos
übernommenen Grundes bewusst. Ich und Du gründen in der Grundweise der Dualität:
„Obwohl oder gerade weil der eigentliche Modus des Menschseins, ist der duale Modus der
versteckteste, ja erdrückteste.“267
Die Grundform des Daseins als Ich und als Du hat Heidegger – zumindest in Sein und
Zeit – nicht herausgestellt, es „[...] bleibt im sozialen Kontext bis auf das strukturelle Mitsein
mit Anderen, das im In-der-Welt-Sein implizit eingewoben ist, relativ isoliert.“268 Binswanger
begreift Liebe sehr unspektakulär, er gibt keinen leitenden Begriff an, sondern erfährt sich
selbst als Fragenden: „[...] das Fragen nach dem Dasein [empfängt, Anm.] gerade aus diesem
Sein die eigentlichen Direktiven.“269 Das Fragen wird demnach wegweisend bleiben.
264
Guzzoni, Das Verhältnis von Raum und Kunst beim späten Heidegger, S. 195
So bei Boss, Grundriß der Medizin und Psychologie, S. 243 und S. 247
266
Bedeutsam der Ursprung des Wortes „orientieren“: orior, oriri wird übersetzt als: sich erheben, aufgehen,
sichtbar werden, sich zeigen, entstehen, wachsen. Der Orient ist jener Erdteil, in dem die Sonne – nach unserer
Zeitmessung – früher aufgeht. Es mag angehen, dass „Orientierung“ kein blindes Nachahmen dessen ist, was
andere tun oder sagen, sondern dass wir auch an ihnen wachsen, uns mit ihnen messen, sofern sie sich uns
zeigen.
267
Der Fall Ellen West, in: AW 4, 152
268
Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 138
269
AW 2, 13
265
102
Wie oben angedeutet, ist das Einräumen, Raum-geben, das Gewähren für das
Miteinandersein wesentlich. Binswanger insistiert, dass Einräumen des Einander keine je
einseitig konstituierende Intentionalität ist, die sozialphilosophisch etwa vertraglich
ausbedungen werden kann – dieses wäre dann der Willkür des jeweiligen „Daseinspartners“
unterworfen, der sich öffnet oder verschließt. Quasi als Forderung schreibt Binswanger, „[...]
daß Dasein ursprünglich, d.h. ohne den ‚Umweg’ über Welt und Selbst, das Da des Miteinander einräumt.“270 Die dialogische Rauminterpretation wird durch die Verszeile E. BarrettBrownings, von Rilke übertragen, präzisiert: „nur wo du bist, entsteht ein Ort“271. Ein-räumen
führt vom Anderen, dem ich Platz gewähre, Aufmerksamkeit schenke, zurück zu mir, der ich
dir Ort, Heimat, Nähe biete – die Gabe von eigenem Raum und von eigenem Selbst vermehrt
und steigert unseren Raum (der sich selbst mehrende Eros, oder auch Gnade, Gabe des
Selbstseins im liebenden Wir). Auffallend an der Gedichtstelle ist der Ort, der deiner und
meiner ist, wir bilden miteinander unsere gemeinsame Welt. So sehr diese Welt exklusiv nur
uns beide umspannt, so sehr verlässt sie das In-der-Welt-sein. Tatsächlich ist dieser
Gedankengang befremdlich, auch schon deshalb, weil diese Form des Miteinanderseins eine
Räumlichkeit zum Ausdruck bringt, die keineswegs alltäglich anzutreffen noch empirisch
herleitbar ist. Indes ist dies kein Einwand gegen die Erfahrung liebenden Miteinanderseins,
denn Liebe kann ebensowenig wie Indifferenz oder Abneigung logisch aufgewiesen werden.
Das Wir, das im Anwesen von Ich und Du wächst, führt zum Verlassen und Hintersich-lassen des von der Sorge bestimmten Raumes, also das In-der-Welt-sein. Der
zwischenmenschliche Raum ist kein eingeengter, bedingter, hier haben Ich und Du keinen
„Spielraum“, d.h., will ich einer Begegnung standhalten, so muss ich im gemeinsamen Raum
verbleiben. In einem uneingeschränkten Raum gibt es so etwas wie einen fixen Punkt nicht,
weshalb Binswanger behauptet, dass Liebende „überall und nirgends zuhause“ sind: „Der
Raum, den sie sich gegenseitig erzeugen, ist ihre Heimat.“272 Diese Räumlichkeit ist nicht die
des In-der-Welt-seins, in der Zuhandenes im Rahmen des Verweisungszusammenhanges
besorgt wird – der andere zeigt sich ja nicht als Um-zu-Struktur, wenngleich ich so an ihn
herangehen kann. Tue ich das, verfehle ich den anderen als anderen und gebrauche ihn
eventuell als Werkzeug oder als Arbeitskraft. Aber: jedes wie auch immer geartete oder
vollzogene Miteinander ist vom Fundament des Dialoges getragen.
Das Dasein im Wir als Heimat bedeutet das Erschlossensein des Da für uns selbst,
wobei „Heimat“, „Ort“ nicht als Amalgam zweier unabhängiger Subjekte zu verstehen ist.
270
AW 2, 21
Barrett-Browning, Liebesgedichte, S. 21
272
AW 2, 62
271
103
Zugunsten des Wir wird von der Jemeinigkeit abgesehen: „Ja schon die Rede von der
Jemeinigkeit des Daseins bekommt ihren vollen Sinn erst aus der gleichursprünglichen
Jedeinigkeit, d.h. aus der ursprünglichen Daseinsverfassung des Daseins ‚in erster und zweiter
Person’.“273 Begegnen einander Ich und Du in der Welt und nehmen sie ihre Beziehung wahr,
derzufolge sie jene sein können, die nur sie sind, dann muss sich diese Beziehung als solche
zeigen, die vom In-der-Welt-sein als Mitsein verschieden ist. Dem Anschein nach ist Existenz
zweierlei: erstens ein Dasein als individuelles Einzelnes, das koexistiert, dessen Mitsein doch
zur Isolation tendiert. Zweitens bedeutet Existenz das Dasein, dem im Offenheitsbereich des
Wir liebendes Miteinandersein mit dem Anderen widerfährt, in dem wir in die Seinsweise –
durch wechselseitige Förderung, Anerkennung und Würdigung – gelangen, die alleine uns
angemessen ist. Das Bewahren und Schätzen des je Eigentlichen ist dann erst realisierbar,
wenn ich dem geliebten Du auf entsprechendem Niveau Antwort zu geben vermag.
Jemeinigkeit finde ich nicht da, wo ich mich beneiden oder bestaunen lasse, um andere für
mich zu gewinnen.
Jemeinigkeit als Ganzheit, als Eigentliches steht kontradiktorisch zur Auflösung in ein
undifferenziertes Wir, hier würde der sich entfaltende gemeinsame Raum eingeengt,
geschwächt, letztlich eine isolierte Kapsel, in der Ich und Du nicht als Einzelne erkennbar sind.
Leichtfertige Auffassungen sehen im Ganzen, in der Einheit, in Totalität und Absolutem den
unversöhnlichen Gegensatz zu Individualität, Einzelheit, Teil und Isolation. Abseits der
Kontroverse „Allgemeines-Einzelnes“ soll darauf hingewiesen werden, dass das liebende Wir
keinen Widerspruch bildet, solange es sich der Mehrung seiner selbst verpflichtet weiß.
Fruchtbarkeit, Wachstum, Ausdifferenzierung, Originarität ist das Wesen der Liebe. Das
Gewachsene, also Frucht, Ertrag, Sinngewinn durch Auseinandersetzung mit dem Du bleibt
mit dem Stamm, in der Quelle verwurzelt und ist dennoch eigenständig.
Aber nicht die Tatsache, daß die Geliebte sät und daß es im Liebenden keimt (und
umgekehrt), ist das Entscheidende für uns, sondern die Bedingung, die diese
Tatsache, das Säen und Keimen, möglich macht, die Liebe (als apriorische
Seinsbedingung). Wir haben noch lange nicht alle tatsächlichen Einzelzüge dieser
Selbstmehrung oder Fruchtbarkeit der Liebe beschrieben und können sie auch nicht
beschreiben, denn sie sind „unbeschreibbar“.274
Liebe als – eingestandenermaßen unausgewiesene – „apriorische Seinsbedingung“ muss so
eine Doppelfunktion erfüllen: sie zeichnet verantwortlich für das In-der-Welt-sein und mehr
noch ist sie der Boden derer, die abseits dessen einander begegnen und damit „nicht mehr in
273
274
AW 2, 56
AW 2, 68f
104
der Welt sind“.275 Damit ist nichts Geringeres als das Transzendieren der Welt gemeint, oder:
das Transzendieren des Daseins, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Verfolgt
man dieses Transzendieren, dann steht man tatsächlich vor dem Nichts. Binswanger spricht
dennoch von einem Wir, von einer „Ur-Begegnung“276. Vor welchem Nichts stehe ich da – ein
das Sein beraubendes (nihil privationis), ein Übel (nihil qua privatio boni), ein nichtendes
Nichts (nihil absolutum)? Nichts bedeutet hier das nihil relativum, ein Bezogen-sein-auf, also
keine absolute Verneinung. Weiters bedeutet nihil relativum nicht etwas Ausschließendes, kein
strenges Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Dasein ist In-der-Welt-sein und
liebendes Miteinandersein zugleich, daher müssen sich auch Räumlichkeit und Zeitlichkeit in
beiden „Seinsweisen“ ereignen.
Stehe ich in der Begegnung dir gegenüber, zeigt sich mir das nihil relativum.
Angesichts deiner ist mir meine bislang vertraute Welt fremd geworden – gewissermaßen ein
Nichts. Meine neue Welt ist nunmehr die deine, also unsere gemeinsame, die mir gerade
deshalb neu ist. Deine, unsere Welt ist insofern ein Nichts, weil ich keine bisher
durchgemachten Erfahrungen in ihr geltend machen kann, die in diesem neuen Raum Bestand
hätten. Gleicherweise trittst du in eine neue Welt ein. Das relative Nichts bildet das Bindeglied
zwischen In-der-Welt-sein und Über-die-Welt-hinaus-sein.
Die Sorge ist in „Sein und Zeit“ die Ganzheit des Strukturganzen des In-der-Weltseins. Indem das Dasein als Liebe das Dasein als Sorge transzendiert, überschwingt
es das In-der-Welt-sein. Darin liegt zwar einerseits daß es nicht schlechthin
unabhängig vom In-der-Welt-sein ist. [...] Andererseits aber kann das liebende
Dasein, wenn es Überschwingen des In-der-Welt-seins ist, nicht selber In-der-Weltsein, nicht in sich Sorge sein.277
Binswangers Begriffe – Transzendenz, In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-sein, Unendlichkeit
– sind leicht zu verwechseln, also diesbezüglich nicht hilfreich. Diese Termini stellen eine
Nähe zur Weltjenseitigkeit, vielleicht sogar Weltflucht dar, weshalb er nachschickt: „Verharren
Ich und Du in dieser ‚Weltabgeschiedenheit’, so zehren sie einander auf, stirbt die Liebe an
ihrer eigenen Exklusivität.“278 Man darf sich das nicht als räumlich-zeitliche „Verlagerung“
liebenden
Miteinanderseins
vorstellen,
das
vermögen
selbst
die
Liebenden
nicht
nachzuvollziehen. Transzendenz ist mystisch-religiös, leichthin irrational konnotiert, das
275
Dem Urteil über seine eigene, durch die Liebe bedingte Weltjenseitigkeit enthält sich Binswanger. Die
Überproportionalität der Welt der Liebe im Vergleich zur alltäglichen, konformen Welt, ergibt sich aus dem
Thema, doch weiß er auch letztere zu schätzen: „Wie immer man nun das Verhältnis von liebender und
‚weltlicher’ Räumlichung auch beurteilen mag, und wie verschieden es sich auch empirisch gestaltet, für uns
kommt es hier nur darauf an, an der Räumlichung der Liebe überhaupt zu zeigen, daß die Fülle der Liebe und die
Weltlichkeit der Sorge nicht ‚zwei getrennte Welten’ ausmachen, sondern daß das Dasein in beiden zugleich
‚west’ und ‚weltet’ [...].“, in: AW 2, 69. Man beachte die Heideggerschen Termini „wesen“ und „welten“!
276
AW 2, 88
277
Theunissen, Der Andere, S. 450
278
AW 2, 85
105
Unendliche
eine
Größe
der
Mathematik.
Zwar
kann
sich
in
der
Liebe
eine
Transzendenzerfahrung bekunden, sie fügt sich jedoch nicht in eine mathematische
Rechenoperation.279 Die zwischen Weltabgeschiedenheit und -zugewandtheit wechselnde
Begegnung transzendiert die einseitige Konstitution des Anderen, in dieser Aufgabe kann sie
nur vom In-der-Welt-sein abgeschieden sein, das auf Besorgendes, Uneigentliches, Zerstreutes
gerichtet ist, in dem sich alltägliches, unreflektiertes Dasein aufhält. Dasein in seiner
Eigentlichkeit heißt bei Binswanger Begegnung mit dem liebenden und geliebten Du.
Ein Dreischritt soll diese Opazität etwas aufhellen: 1) die räumliche Dimension bildet
2) das Wir und 3) das Begegnen im Raum der Liebe. Die dürren und kahlen Formulierungen,
in denen von Räumlichkeit die Rede ist, geben nicht den Raum des Menschen wieder, der sich
in solchen Ausdrücken schwerlich fassen lässt. Das dem Anderen Raum-geben kommt dem
Phänomen der Koexistenz bereits wesentlich näher (das Gegenteil dazu: Das Raumnehmen, die
Machtfülle), hier haben Ich und Du ihre Heimat, die von welt-räumlicher Nähe und Ferne
unabhängig ist. Paradoxerweise benennt Heimat den „unendlichen Raum“ der Liebe, die
Adjektiva
„unendlich“,
„unerschöpflich“,
„unermesslich“,
„unergründlich“
entnimmt
Binswanger auch der Dichtkunst, in der Liebe einen angestammten Platz innehat. Obgleich es
um menschliche Existenz geht, ist auch die poetische Sprache zuweilen nicht treffsicher. Mit
Recht schreibt Theunissen: „Die phänomenalen Tatsachen, die diesen [poetischen, Anm.]
Sprachgebrauch rechtfertigen sollen, sind auch nur wieder negativer Natur.“280 So bleiben wir
der in diesem Kontext unbestreitbaren Tatsache treu, dass Existenz das ist, was sie ist, indem
sie vieles nicht ist.
Binswanger gibt nun doch recht anschauliche Beispiele des Räumlichen an, die
keineswegs metaphorischen Charakters, sondern von existentieller Tragweite sind: Höhe,
Weite und Tiefe.281 Er vergleicht Liebe mit Tiefe und Weite des Meeres, das daraus seine Fülle
und sein Wesen erhält. Das Meer ruht nicht in sich, es lässt tierisches und pflanzliches Leben
in sich gedeihen, das wiederum dem Menschen als Nahrung dient. Ferner nutzt der Mensch das
Wasser als Verkehrsweg oder Energiequelle usw. Der Vergleich ist nicht unklug gewählt: je
weiter und je tiefer sich Liebe entfalten kann, desto fruchttragender wird sie – dies ist nicht in
der Bedeutung von sexueller Fortpflanzung gedacht, als ob Liebe allein darin bestünde, der
Nachkommenschaft verpflichtet zu sein. Sicher lebt auch der Einzelne seine weite, tiefe
Existenz, diese liegt allerdings brach; zweisam erst wird Liebe als Fülle urbar. Dass liebendes
279
Das Heranziehen dieser Begriffe stellt an sich schon jene Irritation dar, die unser vages und unsicheres
Verhalten gegenüber Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Liebe verrät.
280
Theunissen, Der Andere, S. 452
281
AW 2, 63-71
106
Wir gepflegt und respektiert werden muss, zeigt sich am Beispiel des Wetters, um bei dem Bild
des Meeres zu bleiben: ein Seesturm macht Schiffe manövrierunfähig, überschwemmt
Landstriche und zerstört damit die Lebensgrundlage der dort ansässigen Menschen. Es liegt in
den Händen der Beziehungspartner, ihre Liebe zu bewahren, ohne andere unter ihr leiden zu
lassen.282
Zur Tiefe verhält sich die Höhe nicht als Kontrapunkt, sondern sie ist deren Ergänzung,
keine Tiefe ohne Höhe. So kann das Meer nur befahren werden, wenn ein Standpunkt oberhalb
des Meeres eingenommen wird, dem sich die Weite eröffnet. Auch die Höhe, die die Liebe
umfängt, steht in der Gefahr, dieselbe in ihrer Fülle zu beeinträchtigen, indem sich die Liebe
über- oder unterschätzt. Setzt zum Beispiel ein Stabhochspringer die Latte zu niedrig, ergibt
das eine sinnlose Bewegungsabfolge; setzt er sie zu hoch, wird er sie nie überwinden. In beiden
Fällen wird aus jeder Bemühung nichts, dementsprechend würde auch das liebende Wir vor
sich selbst versagen. Hält Liebe ihre Räumlichkeit „nicht aus“, wird sie Vermessenheit, in der
Ich und Du nicht das entsprechende Maß halten, wodurch ihre Begegnung verflacht,
kleingeistig und mutlos wird. Oder sie nehmen ihre Begegnung nicht ernst und scheitern am
Unerreichbaren, Illusionären.283
Liebendes Dasein, das sich aus Illusionärem, vermeintlich Eigenem speist, geht an sich
selbst zugrunde. Liebe ist nicht Für-mich-sein, nicht Für-Dich-sein, es ist das Dasein als
Miteinander, das sich mehrt und selbst beschenkt.284 Liebe als Grundform menschlichen
Daseins ist kein Idyll, kein naiver, wohlmeinender Gemütszustand. Um dem Phänomen des
liebenden Wir zu entsprechen, fragen wir am besten bei ihm selbst an:
Hier hören wir wieder den ἔἑὸὔ, den Sich-selbst-Mehrer Eros. Aber
um was für ein Sich-Selbst handelt es sich hier? Die Antwort kann nur lauten: Um
das Sich-Selbst des Einander, des Daseins als unserem, als Deinem und Meinem,
dieses Und natürlich nicht in additivem Sinne, sondern phänomenologisch
verstanden.285
Der Rückgriff und die Berufung auf den Eros, in dem die Liebenden zueinander finden, ist für
Binswangers Argumentationsleistung gut und folgerichtig. Durch den Eros nämlich finden sich
die durch den Abfall vom Göttlichen geteilten Menschen, die vordem einig waren, wieder.286
Zuvor waren die Menschen – also Ich und Du – mängelbehaftete Wesen, weswegen sie
zueinander streben, um einander zu ergänzen. Diese „Hilfeleistung“ Platons führt Binswanger
282
Selbiges gilt übrigens auch für die anderen, die nicht in dieser Liebe stehen – eben die Liebe zu zerstören oder
mit Missgunst darauf zu warten, sie bloßstellen zu können.
283
Eine Vielzahl von Fallstudien an Patienten, die an der Vermessenheit scheitern findet sich in den Drei
Formen mißglückten Daseins in AW 1, dazu zählen Verstiegenheit, Verschrobenheit und Manieriertheit.
284
Siehe AW 2, 65. Die Exklusivität des liebenden Daseins ist bewusst betont, erst im „freundschaftlichen
Miteinandersein“ wird die ausschließliche Liebe den anderen eröffnet.
285
AW 2, 65
286
Platon, Das Gastmahl 201D-212C
107
unmittelbar zu Heraklit, dem er seine Formel vom „Selbstmehrer Eros“ schuldet.287 Die
Liebenden, die sich im Eros sammeln, mehren sich, vor allem mehren sie ihre Liebe, ihr Seinmiteinander, das sich stets neu – daher unvollkommen und strebhaft – als solches bewährt.
Mehrung seiner selbst setzt voraus, dass etwas „mehrheitsfähig“ ist; diese Fähigkeit der
Mehrung (auctus) liegt nicht in der Verfügungsmacht des Ich, auch nicht in der des Du. Stehen
Ich und Du im Wir, so wird beiden diese Mehrung, oder Vervollkommnung an Sein,
Akzeptanz, Reziprozität „zugespielt“ von einem Grund, der ihnen unverfügbar ist, ansonsten
wäre Mehrung in der Hand des einen oder des andern, auf keinen Fall aber Mehrung
(Steigerung des Selbst durch und im anderen), die wir leisten. Positiv gesagt: je intensiver uns
unsere Mehrung umfasst, desto näher rückt die Vertrautheit, in der wir die Differenz von Ich
und Du in der Einheit des Wir wahrnehmen.
4.3.3 Miteinandersein als zeitliches
Der Anstoß der Dauer ist das,
was mir gefehlt hat.
Wer nie die Dauer erfuhr,
hat nicht gelebt.288
Peter Handke fasst die Dauer als etwas Aktives, das mir widerfährt, dessen ich ermangle.
Erfahre ich sie, bin ich ihrer bewusst, so lebe ich. Dauer bekommt so eine neue Dimension: sie
tritt tätig auf, indem sie mich als den sie erfahrenden „anstößt“, etwas mit mir macht und mich
so in Bewegung versetzt. Dies hätte ich aus eigener Kraft nicht vermocht, denn der Anstoß der
Dauer hat mir zuvor gefehlt. In diesem einen Satz von Handke treten gleich drei Fragen auf: 1)
was ist Dauer?, 2) was ist deren Anstoß?, 3) was hat mir zuvor gefehlt, was gab den
Ausschlag? Der Folgesatz bildet die conclusio, die Prämissen bleiben noch unklar. Ist Dauer
ein Fingerzeig auf Erhofftes, ohne das ich nicht leben will, ist sie ein Impuls, der mich etwas
tun heißt oder ist das Ausbleiben der Dauer das Wesen eines unerfüllten und damit sinnlosen
Lebens? Zwei Zeilen aus dem Gedicht an die Dauer lassen erahnen, welchen
Bedeutungsgehalt die Dauer in sich birgt. Sprechen wir von Dauer, dann meist im negativen
Sinn, sie ist ein Synonym für Langeweile, etwas dauert zu lange, ja etwas dauert ewig. Dauer
ist die Überbrückung, eine Art Wartezeit, bis ein vorausgeplantes Ereignis eintritt, also
eigentlich eine nutzlose Zeit, die leer verstreicht.
287
Heraklit selbst allerdings spricht von der Selbstmehrung des Logos in der Seele (Heraklit, Fragment 115
(nach der Zählung von Diels/Kranz)).
288
Handke, Peter: Gedicht an die Dauer. – Frankfurt/Main. – Suhrkamp, 1986, S. 53
108
Begriffe wie Dauer, Zeit und Ewigkeit sind allgeläufig, werden regelmäßig verwendet,
ohne jedoch deren tiefere Bedeutung zu klären.289 Zu dieser Verwirrung tragen die
Wissenschaften insofern bei, als jede ein gesondertes Verständnis von Zeit für sich
beansprucht. Dies ist bei Binswanger ebenfalls zu beobachten. Als Korrelat zum Raum der
Begegnung findet sich die Zeit des liebenden Miteinanderseins. Die Frage nach der Zeit, die
das liebende Wir miteinander verbringt, einander schenkt und vom jeweils Anderen gewährt
wird, ist keine „einseitige“. Genauso gut könnte die Zeit uns fragen, was wir aus ihr machen,
oder ob sie nicht eher etwas mit uns macht. Fest steht, dass die Vorstellung von Zeit eine
schillernde, zuweilen höchst subjektive zu sein scheint – das belegen die vieldeutigen
Übersetzungen des Wortes –, sodass verbindlich gar nicht über sie gesprochen werden könnte.
Gerade darum ist es geraten, die Vielfalt der Meinungen über den Begriff Zeit auf jenes zu
bündeln, was Binswanger darunter versteht.
Zeit ist schon deshalb nicht in einem strengen, allgültigen Begriff zu fassen, weil es um
unsere Zeit geht; überdies läuft die Diskussion über Zeit Gefahr, diese nicht zu begreifen, weil
sie sie voraussetzt. Die Diskutierenden betten sich in das, was sie erörtern wollen und zugleich
in das, durch welches sie erst die sind, als die sie ins Gespräch treten. Zeit tritt uns nahe, wenn
wir sie auf uns selbst beziehen: Wird man nach seinem Leben befragt, etwa auf einem Amt, bei
einer Bewerbung oder beim Arztbesuch, gibt man über seine Biographie, also über das eigene
Leben Auskunft, dessen weitere – entscheidende – Dimension die Zukunft ist. Diese liegt nicht
in weiter Ferne, weil sie – mich angehend – bereits da ist. Zwar trifft mich Zukunft unerwartet
und unvorbereitet, jedoch kann ich meine Vergangenheit, das aus mir Gewordene der Zukunft
entgegnen, nicht um sie zu bezwingen, sondern um mich ihr als der, der ich bin, zu öffnen.
Öffnen bzw. offenbar werden kann nur das, was ich erlebt habe, was ich getan habe, was ich
also weiß. Tritt mir die Zukunft entgegen, so antworte ich mit dem aus mir Gewordenen; das
mir zukünftig Begegnende fordert meine Präsenz, die ihrerseits auf Vergangenem beruht,
welches seinerseits vorher schon Zukunft empfangen hat. Das, das ich empfangen habe, will
von mir angenommen werden, es zeigt mir, wer ich werden kann.
289
Das in der Erfahrung Begegnende zeigt sich – je nach Akzeptanz des Erfahrenen – natürlich sprachlich. Nun
geht es um das in der Zeit Begegnende, dessen Grund die Zeit „ist“. Zeit ist jedoch nicht gleich Zeit, so gibt es
etwa im Lateinischen wie im Griechischen Wörter, die allesamt mit „Zeit“ übersetzt werden können, doch aber
diese variieren. So heißt tempus Zeit, rechte Zeit, Gelegenheit, Unglück bzw. Gefahr, vor allem aber Schläfe,
Haupt! Aevum bedeutet Lebenszeit, Jugend, Greisenalter, aber auch unbegrenzte Zeit (daher aeternum);
momentum wird mit Änderung (movere), Wechsel, Augenblick übersetzt. Hora ist die Stunde, die Uhr. Im
Griechischen gibt es den Äon (ὁ, ἡ ἀώ), Lebenszeit, auch Ewigkeit, das Jugendalter (ἡ ἥ), das Leben
ὁίden Tag (ἡ ἡέebenfalls die hora (ἡ ὥ – Frühling, Klima, Frucht, die Erntezeit –, den Chronos
(ὁ ό – schlicht mit Zeit übersetzt. Nicht zuletzt der Kairos (ὁ όdas rechte Maß, der rechte Ort, die
richtige und günstige Zeit.
109
Dauer und Gegenwart des Ich und des Du scheinen keinen Platz zu haben, wenn
Binswanger vom „Ewigkeitsaspekt der Liebe“290 spricht, der Gegenwart und Vergangenheit
hinter sich lässt, zumindest suggeriert dies der Begriff „Ewigkeitsaspekt“. Doch wie kann sich
der Mensch als kontingentes, endliches Wesen selbst Ewigkeit zusprechen, ohne in Anmaßung
zu verfallen? Will liebendes Miteinandersein nicht diese Hybris für sich reklamieren, dann
wechselt der Begriff der Ewigkeit seinen Stellenwert, der Verbindlichkeit, Verantwortung und
Treue zwischen dir und mir bedeutet. Die Form dieser Beziehung ist in der Gegenwart als
Phänomen des Ephemären und Flüchtigen ohne Bestand, weshalb Binswanger eine Dynamik
der Begegnung zur Geltung bringt, die die leere Gegenwart außer Kraft setzt. In der Liebe zeigt
sich „[...] dieses wesensmäßige Ungenügen an der Gegenwart und Angewiesensein auf
Vergangenheit und Zukunft [...].“291 Die je eigene Vergangenheit, die Ich und Du in die
Beziehung einbringen, ist der Boden, auf dem eine gleichberechtigte Begegnung aufbaut und
dadurch Zukunft zulässt. Freilich kann ich mich unserer Zukunft verweigern, indem ich sie aus
Versagensängsten und Mutlosigkeit scheue oder sie aus Neugier und Rastlosigkeit überspringe.
In diesem Akt der Unfreiheit, des Nichtzulassens des Ungewissen versagen ich mir den Ruf
des Anderen und die Präsenz des Neuen. Dasein aber ist wesentlich in der Welt, d.h. bereits
umgeben von Neuem, zu Erfahrendem. Dieses Stehen in der Erfahrung, die zuweilen
erschütternd ist292, ergreift das Subjekt der Erfahrung (dich und mich) und verändert es.
Doch soll die Erfahrung, die Zukunft gewähren lässt und dadurch bewahrt, die
Liebenden in ihrem Miteinandersein weder schwächen noch ihre Solidität mindern. Ganz im
Gegenteil ist das Wir Grund und Baustein dessen, was nur dem Ich und dem Du zu erfahren in
Bemühung zu gelingen vorbehalten bleibt. In den Worten Elizabeth Barrett-Brownings: „Love
that endures“ als Abhebung vom „Life that disappeares“.293 Barrett-Browning, in deren
Gefolge Binswanger, setzen der „dauernden Liebe“ das „verschwindende Leben“ entgegen.
Offensichtlich widerspricht sich diese Kombination, eine voreilige Identifikation von Leben
und Liebe ist ebenso unangebracht. Die Erinnerung an Plotins Unterscheidung zwischen
messbarer Zeit (ὁ όund lebendiger Ewigkeit (ὁ ἰώ wird bei Heideggers
290
AW 2, 32
AW 2, 33
292
Man erfährt nie das Alte, Bekannte, schon einmal Gehörte, und wenn, dann in bislang ungesehener, nicht
bekannter Form. Aus diesem Grund begehen wir so oft denselben Fehler, andererseits erfahren wir an dir oder
auch an etwas (ein Tier, eine Blume, ein Kunstwerk), das sich nicht zu ändern scheint, Freude, Genugtuung in
stets neuer Geltung.
293
Barrett-Browning, Liebesgedichte, S. 88
291
110
Formulierung deutlicher, derzufolge Zukunft die „eigentliche Zeitlichkeit“ ist, bzw. das
ἐό oder „Außer-sich“.294
Dasein als ekstatikón, als Herausragendes, in die Zukunft Reichendes, verschließt sich
nicht dem Vergangenen, es kann und soll dieses in die Zukunft einbringen: die Annahme des
Kommenden ist nichts anderes als Wachstum und Fruchtbarkeit dessen, was vergangen und
verloren geglaubt ist. Das Vergangene – das, was ich und du füreinander waren – taucht im
neuen Licht des Offenen wieder hervor. Damit kann ich meine Identität und meine Taten nicht
revidieren, geschweige denn modifizieren – das wäre der Widersinn der Zukunft –, aber ich
kann (oder wir können) das mir keimhaft Gegebene zur Blüte kommen lassen. Das mir
Überantwortete ist der „Anstoß der Dauer“ (Handke), den ich austrage und aushalte. Austrag
des Vergangenen leitet die Frage nach dem, was wir „sein wollen“, d.h. wofür wir uns als
Gewordene bestimmen.
Zukunft birgt Ungewissheit über den Ausgang des Geplanten, Entworfenen, das wir
stets als ein erfolgreiches Unterfangen einstufen. Tritt das Erwartete nicht ein, wird die dadurch
gestörte Gegenwart verworfen und die Erfahrung des eigentlich Neuen zunichte gemacht: „Die
Offenheit eigentlicher Zukunft ist dem Menschen nur als Möglichkeit gegeben, die sich
verschließen kann; es hängt von ihm selbst ab, ob er sich für sie offenhält oder nicht.“295 Der
Mensch kann sich zu seiner eigenen Zukunft nicht nicht verhalten, sie ist seine eigene Sache,
Verweigern
oder
Abtreten
von
Entscheidungen
münden
in
Stillstand
und
Verantwortungslosigkeit. Dann regrediert das Ich und anerkennt nur das, was bereits da ist, um
es zu schützen und zu verteidigen. Das steife Verharren im Gewohnten, das mir „lieb
geworden“ ist, zeigt sich am klarsten in unspektakulären Verrichtungen, jedoch äußert sich in
ihnen der Unwille zur Preisgabe des Erreichten: „Das jeweils Gewordene ist der Feind des
Ungewordenen.“296 Das zum Werden bestimmte Noch-nicht-Gewordene erstarrt, stirbt ab, weil
ihm keine Veränderung erlaubt wird. Die subjektive und erst recht die intersubjektive
Geschichte des Daseins ist in dieser Fehlform zum Scheitern verurteilt. Jede gezwungene,
verkümmernde Existenz strebt nach dem, was sie selbst nicht ist: nach Neuem, Anderem. Das
vom Drang nach Neuem getriebene Dasein gelangt schließlich gar nicht dorthin, wo es sein
will – das Vergangene wird nicht zugelassen und die Zukunft in ihrem Kommen negiert. Wer
sich der Zukunft verweigert, muss die unreife Vergangenheit durchsetzen wollen. So Thomas
294
AW 2, 34 und Heidegger, Sein und Zeit, S. 329. Ob sich Plotin selbst in diesem Zitat wiederfinden und
zustimmen würde, bleibt offen.
295
Fuchs, Thomas: Biographie und Zukunft, in: Kupke, Christian (Hrsg.): Zeit und Zeitlichkeit. – Würzburg :
Königshausen und Neumann, 2000. – (Beiträge der Gesellschaft für Philosophie und Wissenschaften der Psyche
; 2), S. 41-57, hier S. 46
296
Fuchs, Biographie und Zukunft, S.46
111
Fuchs: „Uneigentliche Zukunft zeigt sich als ‚Fortsetzung der Vergangenheit mit anderen
Mitteln’.“297
Was bedeutet diese Kümmerform für das duale wie für das singulare Dasein? „Der
Anstoß der Dauer hat mir gefehlt“, das will heißen, ich vermisse etwas Dauerhaftes – wörtlich:
etwas, das an der Dauer haftet. Aber was ist die Dauer und wer haftet für sie? Dauer ist im
positiven Sinne das Sich-Offenhalten für das Kommende als Ankommen des Anderen. Der
Verbleib in Passivität wird mir verwehrt, deren Wesen die Leer- und Trägheit ist. In der Dauer
Gehalt und Sinn sehen setzt das Wagnis und Sicheinlassen auf das Ungewisse voraus, welches
sich erst als und im Kommen offenbart. Wäre das Du als Kommendes bereits schon da, so
glitte mein Verhältnis zu ihm zur bloßen Unverbindlichkeit herab, die mich nicht fordert oder
frägt, sondern die ich gedanken- und bezuglos passieren lassen kann. Weder Du noch Ich sind
als zählbare, kategorisierbare Anwesenheit da, die als solche unverrückbar feststeht.
Die Zeitauffassung Binswangers lehnt sich an die Phänomenologie und Anthropologie
an, vor allem Husserl und Heidegger sind hier zu nennen.298 Eine genuine Entwicklung des
Zeitproblems findet man in den Grundformen schwerlich, stattdessen die Rezeption anderer ex
negativo.
Daß wir die Zeitlichkeit der Liebe sicher nicht aus der Zeitlichkeit des Verfallens,
dem uneigentlichen Gegenwärtigen, sicherlich nicht aus der Befindlichkeit, der
Gewesenheit, und erst recht nicht aus der Zeitlichkeit des Verstehens im Sinne der
vorlaufenden Entschlossenheit, d.h. des eigentlichen Seins zur ‚Möglichkeit der
schlechthinnigen Unmöglichkeit’ des Daseins, interpretieren können, scheint jetzt
schon festzustehen.299
So sehr sich Binswanger auch von Zeit im Sinne Heideggers abheben möchte, ist er ihm doch
verpflichtet. In Sein und Zeit lesen wir:
Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart zeigen die phänomenalen Charaktere des „Aufsich-zu“, des „Zurück-auf“, des „Begegnenlassens-von“. Die Phänomene des zu ...,
auf ..., bei ... offenbaren die Zeitlichkeit als das ἐόschlechthin. Zeitlichkeit
ist das ursprüngliche „Außer-sich“ an und für sich selbst.300
Diese drei Ereignisformen der Zeit nennen die Ekstase (das Herausstehen im Offenen) der
Zeitlichkeit. Was der geläufigen Zeitauffassung entgeht, ist die Zeitlichkeit als ganze – sie ist
keine verwachsene Dreidimensionalität, die sich als Nacheinander verliert. Wo (oder besser:
297
Fuchs, Biographie und Zukunft, S. 47
Durch die Lektüre Binswangers gewinnt man zumal den Eindruck, er möchte die gängigen Lehrmeinungen
bezüglich des Problems der Zeit „fusionieren“. Seine Belesenheit und beinahe ausufernde Zitation diverser
Autoren und Philosophen legen diese Vermutung nahe. Das Sich-Einlassen auf das Denken anderer bietet eine
ehrliche Position im Dialog – darin bleibt Binswanger der Wissenschaftlichkeit treu. Andererseits verrät die
Vielfalt der herangezogenen Literatur die Unsicherheit der eigenen Position. Diese Unsicherheit zu überwinden
gelingt ihm vermutlich am besten in seinen fachspezifischen Schriften.
299
AW 2, 45
300
Heidegger, Sein und Zeit, S. 328f
298
112
wenn) Zukunft ist, ist auch Gegenwart und Vergangenheit.301 Wie den Raum nimmt
Binswanger auch die Zeit aus der Sorgestruktur des endlichen Daseins heraus und münzt sie in
Unendlichkeit um. Das Zeitverständnis der Liebe leugnet nicht das Fortschreiten der
chronometrischen Zeit (etwa nach dem Tod von mir und dir), die Idee der Liebe bezieht
daraus jedoch nicht ihre Kraft und Substanz.
Binswanger bleibt bei der Zeitlichkeit Heideggers, um sie sogleich um das „Bei“, das
„(Zurück-)Auf“ und das „(Auf-sich-)Zu“ der Liebe zu erweitern.302 Die Geworfenheit ins
Dasein führt er in das „Einander“ über, in dessen ursprünglichem Wir die Zukunft des „aufeinander“ beruht. Weil – hier die Nähe zu Heidegger – er das Dasein als besorgendes, in der
Um-zu-Struktur stehendes sieht, „erweitert“ er es um das Sein, das wir einander schenken.
Diese Gewagtheit muss Binswanger tragen, ansonsten er nicht behaupten könnte:
[...] dieses Gewärtigen hat keinen anderen Sinn, als daß es uns einander einräumt,
mich dir und dich mir, das aber heißt, daß es das Dasein gerade nicht „als je meines“
beansprucht und als je meines mir überantwortet, sondern daß es Dasein einräumt für
sein Da im „tiefsten Sinne“ des völlig einzigartigen Einandergehörens, für die
Heimat des „Ich und Du“, der dualen Wirheit.303
Angesprochen werden, diesen An-spruch vernehmen, einander Raum bieten und auf den
Anderen hören – ohne hörig zu sein (!) – braucht Duldsamkeit, beiderseitigen Willen,
Interesselosigkeit an Belanglosem. Gegenwärtigen oder Gegen-warten sagt etwas über die drei
Ekstasen der Zeit aus, die eine „geeinte Trennung“ erahnen lassen: als Gegenwärtiger bin ich
da, als der ich in und aus meinem Gewordenen bin – so bin ich selbst da, der sich nicht vor sich
selbst und erst recht nicht vor dir verstecken kann. Von daher bin ich gegenwärtig, d.h. ich
gewahre, nehme dich wahr und zwar „augenblicklich“ (man denke an den „rechten Moment“,
den ός). Nun eröffnet sich die Möglichkeit, dir und mir eine Zukunft zukommen zu lassen
als diejenige, in der wir uns zueinander bewegen und uns gegenseitig schenken, um das zur
Blüte zu bringen (vgl. ὥ, die Erntezeit), was in uns angelegt ist. Das in uns Gesetzte können
allerdings nur wir selbst hervorgehen lassen: Ich und Du sind hier unersetzbar. Ich brauche
dich, um das Meinige zum Vorschein bringen zu können und umgekehrt. Leider versteht
Binswanger solche Jemeinigkeit als eine solipsistische, als ob das Meine ausschließlich mir
gehörte. Doch ist Meines mir nicht erst vom Anderen zugeeignet worden?304 Das Meine, mir
301
Die Frage nach der Gleichursprünglichkeit der drei Modi ist legitim: werden hier nicht alle drei Zeitformen
vermischt und damit nivelliert? Hat die Rede von Zeit so überhaupt noch einen Sinn? Wie stünde es dann mit der
Zeitenfolge der Grammatik? Binswanger lastet der vulgären, von uns gebrauchten Auffassung von Zeit diese
Missverständnisse an; siehe dazu AW 2, 46, sowie Luckner, Martin Heidegger: „Sein und Zeit“, S. 142-156.
302
AW 2, 47
303
AW 2, 48
304
Abermals zeigt sich die Bedeutung des paulinischen Wortes „Und was hast du, das du nicht empfangen
hättest?“ (1 Kor 4,7) im außertheologischen Kontext.
113
Gehörige ist kein metaphysisches Substrat, dem Attribute inhärieren, es ist auch nicht etwas,
das mir in gönnerhafter Geste von einem Du überlassen worden ist und schon gar nicht
bedeutet es materielles Besitztum.
In die Jemeinigkeit der Existenz gelangen Ich und Du im Wir oder Einander, aus dem
wir in liebender Eigenständigkeit entlassen werden. So weit reichen Binswangers Bemühungen
und Analysen jedoch nicht, er belässt es bei den Begriffen der Ewigkeit bzw. Unendlichkeit:
„[...] denn diese Wahrheit [der Liebe, Anm.] beruht gerade darauf, daß sie entschlossen ist für
das Da des Daseins als un-endliches Da, für den ewigen Augenblick, für die Gewissheit der
Dauer.“305 Ist Liebe eine unendliche, so wird sie uns nicht einschränken oder bekümmern,
sondern sie wird uns gemeinsam beherbergen. Von da aus verweist liebendes Miteinandersein
auf das, was Binswanger der Jemeinigkeit gegenübersetzt: die „gleichursprüngliche
Jedeinigkeit“306.
Die Rede von Jedeinigkeit und Jemeinigkeit bringt keinen konkurrierenden
Besitzanspruch zum Ausdruck, der der Diplomatie bedürfte, um etwaige Eskalationen zu
kalmieren. Diese Weise des Mitseins gräbt sich von vornherein das Wasser ab, wenn sie das
Deine als jenes fasst, welches eigentlich meines sein soll. Dadurch ist nicht nur die Zukunft
gestört, diese Form des Mitseins hat überhaupt keine Vergangenheit, die der Gegenwart
vorausblickend Platz bietet. Bringe ich das je Eigentliche in eine Begegnung mit, ist dies
keineswegs bereits abgeschlossen, konserviert; im Gegenteil: die Zukunft des Eigenen – deines
und meines – steht uns erst bevor. Wir sind uns gegenseitig und uns selbst verborgen. „Was
wir eigentlich sind, liegt noch vor uns, es steht in Latenz [...].“307 Ist bereits die Vergangenheit
ein Rätsel, wie können wir dann der Zukunft gewahr werden?
Das Unwohlsein der Existenz in der Gegenwart bildet das unsichere Terrain, auf dem
wir einander begegnen. Die Gegenwart, oder besser: das Verharren in ihr ist deshalb
Ungewissheit, weil Erfahrungen mit dem Anderen, die immer Neues mit sich bringen, das Ich
in Frage stellen. Daher wittert es in Begegnungen mit Neuem zuweilen Gefahr; der Lauf der
Existenz wird womöglich aus der Bahn gebracht, weil Neues sich nur mit Abstrichen in
meinen Erfahrungs- und Erwartungshorizont einfügt. Die authentische Begegnung – die ich
erst nachher als solche gewahre – ist nicht berechenbar, mit ihr hebt fremdes Anderes an, das
uns Grenzen auferlegt. Nehme ich diese Beziehung ernst, bin ich meinerseits als In-Frage-
305
AW 2, 43
AW 2, 56
307
Fuchs, Biographie und Zukunft, S. 48. Latenz aus dem lateinischen latere heißt nicht nur versteckt, verborgen
sein, sondern auch gesichert sein. Gesichertes wird nicht jedermann preisgegeben, vielmehr wird es gehütet, um
es dem anzuvertrauen, der sich dessen würdig zeigt. So wird das Verborgene, das Gehütete offenbar, damit das
Vergangene aufgehoben wird und sich in der Gegenwart als das zeigt, was es war.
306
114
Stehender gerufen, Antwort zu geben, und zwar als jemand, der tatsächlich Ich ist und kein
Maskenspiel betreibt. Ich werde in der Frage des Du, in welcher Zukunft wahrlich offen ist,
angesprochen als einer, der aus dieser Frage als ein bestimmtermaßen anderer hervorgeht. Ich
bin der Andere meines bislang von mir geglaubten und vollzogenen Selbst. So kann mit Th.
Fuchs gesagt werden: „Wenn ich auf Begegnung ebenso Antwort geben wie es sein lassen
könnte, bin ich gar nicht begegnet – das Geschehen ist meinem Leben äußerlich geblieben.“308
Dass dem liebenden Miteinandersein ein anderes Verständnis von Zeit eigen ist, hebt
Ingeborg Janssen hervor: sie sieht mit Binswanger im „ewigen Augenblick der Liebe“309
nicht den Moment einer zufälligen, irresponsiven Begegnung, sie meint sogar:
Je intensiver ich lebe, umso kürzer lebe ich. Wenn Augenblicke intensiver werden,
wird Zeit kürzer. Erreicht mein Moment einen hohen Grad von Intensität, sprenge ich
die psychophysische Zeit und er wird zum Augenblick. [...] Wenn wir bei dieser
Terminologie bleiben, müssen wir bei Liebe von Augenblick sprechen und zwar in
intensivster Form. Hier liegt nun die Ähnlichkeit mit der Unendlichkeit.310
Auch diese Interpretation muss sich davor in Acht nehmen, diverse Verständnisse von
Zeitlichkeit durcheinander zu bringen. Mit der „psychophysischen Zeit“ ist wohl die Welt des
Besorgens bei Heidegger gemeint, die Binswanger als Endlichkeit und Beschränkung des
liebenden Daseins terminologisch bestimmt. Der ewigen Dauer des Augenblicks zu zweit stellt
Janssen die christliche Ahnung der Unendlichkeit zur Seite. Um diese Parallele, die
Binswanger selbst negiert311, zu vermeiden, schwenkt sie wieder auf seinen Kurs ein, der
Zeitlichkeit (Welt der Sorge) und Überzeitlichkeit (Liebe) zur Harmonie bringen will.312
Das Gefühl der Überzeitlichkeit, der Macht oder Ekstase, des Nichtendenwollens, das
sich als Treueschwur bekundet, bestimmt bekanntlich den Zustand des Verliebtseins und ist
doch auch dem Wir in Liebe eigen. Ergeben sich Liebende diesen Gefühlen, die dem
Allmachtsrausch nicht unähnlich sind, so entwerfen sie für sich eine Zukunft, die sich auf das
308
Fuchs, Biographie und Zukunft, S. 51. Man darf nochmals an Handke erinnern: „Der Anstoß der Dauer ist
das, was mir gefehlt hat.“ Was hat Dauer mit dem Anderen zu tun? Sie bedeutet hier Selbstbesinnung durch den
Anderen, dessen Frage an mich ich mich fügen muss. Ich kann nicht nicht antworten. Begegnung als Antwort
verlangt deshalb jene Dauer, in der ich mich dir verpflichtet weiß, Dauer bindet, sie fordert meine Antwort an
dich ein. Den Bezug von Du und Zeit zum Ich hat Lévinas treffend ausgeführt: „[...] die Zukunft ist das, was
nicht ergriffen wird, was uns überfällt und sich unser bemächtigt. Die Zukunft, das ist das andere. Das Verhältnis
zur Zukunft, das ist das eigentliche Verhältnis zum anderen. Von Zeit zu sprechen in einem Subjekt allein, von
einer rein persönlichen Dauer zu sprechen, scheint uns unmöglich.“, in: Die Zeit und der Andere. – Übersetzt
und mit einem Nachwort versehen von Ludwig Wenzler. – 3. Aufl. – Hamburg : Meiner, 1995, S. 48.
309
AW 2, 38
310
Janssen, Ingeborg: Binswangers Liebesphilosophie : Ein klärender Versuch. – Graz, Univ., Diss., 1953, S. 46f
311
Vgl. AW 2, 87. Eine Ähnlichkeit der liebenden Dauer mit der Unendlichkeit im Sinne der Theologie ist so
abwegig jedoch nicht, sind doch beide Formen eine Art der Abgeschiedenheit von Welt im populären Sinn des
Begriffes. Sieht man genauer hin, entpuppt sich diese Abgeschiedenheit als „Stiftung von Welt“, nämlich die
Welt des anerkennenden, liebenden Miteinander.
312
Dazu dient das Kapitel „Daseinserkenntnis als Überwindung des Widerspruchs von Liebe und Sorge“ in AW
2, 498-511
115
Vergessen des Vergangenen und Gewordenen (das wir sind!) bezieht. Das Vergessen – oder
Verschweigen – dessen, was ich war, beraubt sich seiner selbst, macht mich in der Gegenwart
starr und unnahbar für die Zukunft. Findet eine Begegnung unter diesem Umstand statt, der
vom Vergessen des je Eigenen geleitet ist, wird sie nur von kurzer Dauer (nicht im Sinne
Binswangers, sondern als chronometrische Zeit) sein. Akzeptanz als Ernstnahme des Anderen
setzt dessen Gewordensein, also Geschichtlichkeit voraus. Alles andere ist Einbildung eines
Wunsches abseits der Realität.
Die Annahme seiner selbst wie des Miteinanderseins mit wem auch immer ist die Basis
der Freiheit für das ganze Seinkönnen und dadurch auch die Weigerung, dem Man bzw. der
Falschheit anheim zu fallen. Binswanger beruft sich auf Heidegger:
Das zur Entschlossenheit gehörende Für-wahr-halten tendiert seinem Sinne nach
darauf, sich ständig, das heißt für das ganze Seinkönnen des Daseins freizuhalten.
Diese ständige Gewissheit wird der Entschlossenheit nur so gewährleistet, daß sie
sich zu der Möglichkeit verhält, deren sie schlechthin gewiß sein kann.313
Das Für-wahr-halten als Wahrheit des Seinkönnens miteinander ist Heidegger fremd; die Liebe
von mir und dir, die uns in Selbstheit sein lässt, steht „[...] frierend außerhalb der Tore dieses
Seinsentwurfs [...]“.314 Binswanger jedoch übersieht seine eigenen Gedanken, die er eben in
den Grundformen niedergelegt hat. Denn vom Mythos des Eros wird der Bogen über
unzulängliche bis hin zu erfüllende Weisen des Miteinanderseins gespannt. Diese Vielfalt an
Begegnungen – ob real, asymmetrisch, ersehnt oder ebenbürtig – spiegelt sich dort wider.
Binswanger tritt sehenden Auges ins Dilemma von Zeitlichkeit und Liebe, weil er
Liebe als „Begegnen-lassen-von“ („Sein-bei“), „Zurück-auf“ („Schon-sein-in“) und „Auf-sichzu“ („Sich-vorweg“) erkennt315, also als das, was mit Treue, Gerechtigkeit, Integrität und
Souveränität verbunden wird. Die drei Begriffe fassen knapp und wesentlich jenes, welches
Liebe genannt wird:
1) „Begegnen-lassen“ heißt, den Anderen mit und in seiner Vergangenheit willkommen heißen
und ihn als solch Gewordenen gewahren. Übersieht man das, begibt man sich in die Illusion
des Idealbildes des Gegenübers, der dies nie erfüllen wird können. Eine Einbildung nimmt
vorweg, greift in eine willkürlich gewählte und dadurch falsche Zukunft, um etwas zu
erhaschen, das man sein Eigen nennen will. Das Du in seiner Alterität wird sich darein nicht
fügen, sodass es die Illusion bzw. zukünftige Projektion des Ich durchbricht. Diese Situation
entspricht der missverstandenen Gegenwart.
313
Heidegger, Sein und Zeit, S. 308
AW 2, 43
315
AW 2, 47
314
116
2) Das „Schon-sein-in“ weist in das Gewesene316, in das, was wir waren, gerade bevor eine
Begegnung überhaupt stattgefunden hat. Wie kann man indessen eine vorgängige Beziehung
zum Anderen denken, ohne ihm allererst begegnet zu sein? Vom Mythos des Eros – die allem
zuvorkommende Einheit der Liebenden – geht Binswanger zu einer direkten, unvermittelten
Relation: „Nur wenn Dasein an sich schon den Charakter der Begegnung hat, [...], nur wenn
‚Ich und Du’ schon zu seiner Seinsverfassung gehören, ist Liebe von Mir und Dir überhaupt
möglich.“317 Das vermeintlich Vergangene legt Grund und Boden für das Miteinandersein, in
dem sich die Liebe zweier Menschen am deutlichsten bekundet. Weniger offenkundig, aber
doch, ist Vergangenes in jeder Beziehung präsent. Selbst ein absichtsvolles oder trügerisches
Begegnen setzt das gewordene (und so das vergangene) Ich und Du voraus. Eine Begegnung in
liebender oder zweifelhafter Intention ist in ihrer Komplexität (Verfasstheit der Subjekte,
Stimmungen, Rahmen der Begegnung, leitende Urteile und Vorurteile, psychisches Befinden
und ähnliches) auf das aus mir und dir Gewordene angewiesen. Das zuzugeben gebietet mir
und dir die Ehrlichkeit; just deswegen bedarf es keiner großen Umstände, lautere Menschen zu
betrügen.
Mit Blick auf die Geschichtsschreibung im Sinne der Biographie mag man Binswangers
Vorstellung eines positiven „Schon-sein-in“ der Begegnung, das der erst zu erfolgenden
vorangeht, als naiv, gutgläubig, beinahe als traumwandlerisch aburteilen. Nur in wenigen
mitmenschlichen Kontakten zeigen sich Liebe und Solidarität, in denen Ich und Du aufgehoben
sind. Und: wer hielte redlich diese Liebe denn auch aus? Es geht weder um Abneigung und
Distanz, noch um bedingungsloses Verfallensein an die Geliebte. Vor diesen Erscheinungen
steht eine Ursprünglichkeit des Miteinanderseins, unter deren Licht die uns geläufigen Weisen
der Intersubjektivität an den Tag treten. Vor jeder konkreten Liebe, vor Aversion und
Desinteresse steht unser gemeinsames Dasein. Die Bereitschaft zur Liebe (negativ: der Wille
zum Hass) ist an das Prinzip der Anerkennung gebunden, das ohne unser Zutun Gültigkeit
besitzt.
Dieses Prinzip ist Vergangenheit (Gewesenes), in der ich andere als solche anerkannt
habe und die mir nun gegenwärtig sind. Anerkennung hält sich bis in die Gegenwart, indem sie
ihr den Weg und ihre Möglichkeiten offen hält. Im positiven Sinn meint es:
Aber nicht die Tatsache, daß die Geliebte sät und daß es im Liebenden keimt (und
umgekehrt), ist das Entscheidende für uns sondern die Bedingung, die diese
316
Der Begriff „Gewesenes“ ist Heideggers Denken entnommen, dort nimmt es deutlich Bezug auf
Gegenwärtiges und Kommendes. Das Gewesene ist auch in Binswangers Terminologie nicht mit abgeschlossen
Vergangenem zu verwechseln, das uns nicht mehr berührt. Abgeschlossen zum Beispiel ist der Bau eines
Hauses, wenn es bezugsfertig ist. Nicht abgeschlossen jedoch ist das Schicksal derer, die das Haus fortan
bewohnen, zuweilen nimmt deren Los eine Wende und ist damit nicht vergangen.
317
AW 2, 73
117
Tatsache, das Säen und Keimen, möglich macht, die Liebe (als apriorische
Seinsbeziehung).318
Die Annahme dessen, welches das Gewesene freigegeben hat319, bringt die Vergangenheit in
die Gegenwart, ohne eine verlorene Zeit zu sein. So verstanden gibt es keine verlorene Zeit,
weil sie in ihrer Ernstnahme realisiert wird, d.h. tatsächlich Zeit „ist“. Bedauerlicherweise
zeigt sich der Sinn erst nach erfolgter Tat, dieses Risiko der „Tathandlung“ haftet jedem
Geschehen an. Scheu vor der Verantwortung einer selbstgesetzten Handlung ist genauso wie
unkluge Rastlosigkeit Flucht und Leugnung dessen, der wir sind. Das Vergangene bewahren
heißt demnach, es richtig einschätzen, es von Missgriff und Überbewertung freihalten.
Liebendem Dasein scheint nichts abträglicher zu sein als gewollte Modulation des
Gewesenen, welches wir jetzt sind. Das Gegenwärtige erwirkt dann einen manipulierenden
Eingriff in Vergangenes, der wiederum das Dasein verdreht (pervertiert). Dass das Gestrige
das Heute in seinem Wesen bestimmt, ist eine Binsenweisheit, in diesem Fall trifft sie auch
wirklich zu.
3) Das dritte Moment der Zeitlichkeit der Liebe nennt Binswanger das „Auf-sich-zu“
oder „Sich-vorweg“. Liebe auf sich zukommen lassen geschieht in der Gegenwart des Ich, das
zukommen lässt, das auf ein Du wartet; wohl nicht in der Passivität der billigen Erwartung,
dass ein Du endlich da sei, sondern viel eher als ein Warten, das dem Du entgegengeht. Jede
Begegnung bezieht ihre Beständigkeit aus einem Wandel, einem Prozess (procedere), in dem
ich und du neu, gereift und in wechselseitig verantwortetem Selbstand hervortreten. Das Wort
Heideggers vom Sich-vorweg der Zukunft erscheint bei Binswanger als „Zukommen-lassen
der Zukunft auf-einander“320, das das Sein-bei (Gegenwart) mit dem Schon-sein-in
(Vergangenheit als apriorisches Miteinander(gewesen)sein) in das kommende Wir-sein
vertieft.
Das Gegenwärtigen des Du aber stemmt sich gegen das Schalwerden der Begegnung,
in ihr wollen Ich und Du nicht die bleiben, die sie zuvor waren, ohne doch in ein irrationales
Maskenspiel zu geraten, welches beide mit beliebig anderen vertauscht. Das Wahrhaben des
Du belässt dich in deinem eigenen Sein, nicht weil es mir gleichgültig wäre, wer du bist –
ganz im Gegenteil: du sollst du selbst werden in der Beziehung, in Zueignung, in Distanz und
Auseinanderlegung mit mir. D.h., wir arbeiten aneinander, mit- und notwendig
gegeneinander, um uns im Miteinander zu bereichern. Zukunft verheißendes Gegenwärtigen
318
AW 2, 68f. Die apriorische Seinsbeziehung hat sich vorher als Selbstmehrung des Eros gezeigt, Binswanger
wechselt von der Mythologie, aber auch von Literaturzeugnissen wie der Kulturgeschichte zur Ontologie bzw.
Anthropologie, welches sich in der gesamten Philosophie der Liebe durchhält.
319
Erhellend dazu ist Heideggers Vom Wesen des Grundes, in der das Gewordene als das Sein zum Grunde
aufgewiesen wird.
320
AW 2, 47
118
[...] hat keinen anderen Sinn, als daß es uns einander einräumt, mich dir und dich
mir, das aber heißt, daß es das Dasein gerade nicht „als je meines“ beansprucht und
als je meines mir überantwortet, sondern daß es Dasein einräumt für sein Da im
„tiefsten Sinne“ des völlig einzigartigen Einandergehörens, für die Heimat des „Ich
und Du“, der dualen Wirheit.321
Das Gemeinsame bedarf keiner näheren Bestimmung die Zukunft betreffend. Das in der
Gegenwart vergangen Geglaubte ist als Vergangenes präsent; ob dem Vergangenen Wahrheit
zugesprochen wird – davon hängt die Zukunft ab. Gerade Zukunft kann man als Ausständiges
sehen, als das, in dem die Möglichkeit des „Machbaren“ liegt. Dies nur dann, wenn man
bereit ist, das Eigene dem Ungewissen, dem Du, mit einem Wort: der Zukunft preiszugeben.
Die Erörterungen über die Zeitlichkeit des liebenden Daseins entwickeln eine
Begriffsvielfalt, aus der jener der Fülle einen bedeutenden Charakter hat. Liebe als ewige
Dauer fasst Binswanger als Fülle, die sich aus sich selbst nährt und vermehrt; der Hintergrund
ist hier abermals der sich selbst mehrende Eros, der niemandes bedarf, um zu sein und um
mehr zu sein.322 Gemeinsames Dasein ist im umfassenderen Sinn Gesellschaft, doch eignen
sich nicht alle Gesellschaften dazu, das Alleinesein zu überwinden, manche verstärken dieses
noch. Das Mehr-sein der liebenden Begegnung ist wörtlich ein „mehr als (einzelnes) Sein“
(plus quam esse). Im Wir ist Seinssteigerung, weil aus ihm Ich und Du zu Eigen- und
Miteinandersein befreit werden und nicht weil rechnerisch zwei eben um eins mehr ist als nur
ein Individuum. Die Seinssteigerung, die ich und du erfahren, ist keine mengenmäßige – diese
ließe sich durch Hinzufügung etlicher anderer Einzelexistenzen bis hin zur unüberschaubaren
Masse expandieren. Seinsmehrung ist weiters schon gar nicht mit Usurpation zu
identifizieren, die den Anderen benutzt, um das Eigensein zu überhöhen.
Was darf man demnach positiv unter der Fülle der Zeitlichkeit verstehen? Fülle ist
etwas Konstantes, wiewohl sie ihren Gehalt nicht von vornherein in sich trägt, sie (die
Zeitlichkeit) kann deren auch verlustig gehen. Die Fülle oder das Wesen/Leben, das die
Gegenwart der Liebe auszeichnet, ist eine geschuldete, also keine selbst verursachte.
Auch das Dasein als Liebe, ja es erst recht, „weiß“, wie wir sahen, daß es den
„Grund“ selbst nicht gelegt hat. Gleichwohl ruht es nicht in seiner Schwere und
macht die Stimmung ihm diese Schwere nicht als Last offenbar.323
321
AW 2, 48
Binswanger verrät nicht, warum sich die Fülle des Wir mehrt, bestimmt steht Heidegger Pate, der in Vom
Wesen des Grundes Seiendes in Jemeinigkeit (bei Binswanger Jedeinigkeit bzw. Wirheit) entlassen sieht. Ein
anderes Motiv, dem sich Binswanger nicht explizit verwehrt, bildet die Religion. Ihr ist Gott Ursprung der
Seienden, deren Liebe zueinander bzw. Akzeptanz untereinander deutet auf Gott als Grund. Im Unterschied zu
Heideggers Grund ist Gott jemand, der angerufen werden kann, also kein anonymer Grund.
323
AW 2, 136
322
119
Etwas gewagt bringt Schmidt324 die Präsenzfülle der Liebe bei Binswanger mit dem
Evangelium in Zusammenhang, in dem von der „erfüllten Zeit“ die Rede ist. „Die Zeit ist
erfüllt.“ (ήὁὸ, Mk 1,15) bezieht sich auf die Ankunft Christi; will man
unbedingt bei dieser Verheißung bleiben, muss man sagen: das Kommen und Bleiben des Du
(und nicht nur Christi) ist wirklich. Erfüllt werden kann nur das, was zuvor richtungweisend –
zukunftbringend – da war. In Binswangers Sprache muss man folglich sagen: die Fülle der
Begegnung mit dem Du ist kein plötzliches, ungebändigtes Hereinbrechen in meine Welt,
sondern das Aufscheinen der sich latent durchhaltenden Anwesenheit des Anderen. Diese
Anwesenheit äußert sich zuweilen derart diskret, dass sie erst in ihrer Abwesenheit
durchscheint. Die zuvor erwähnte apriorische Beziehung verdeutlicht gerade dies. Es ist
weder nötig noch geboten, einen Menschen bis in sein Letztes zu durchleuchten, um zu
wissen, dass er mit da ist. M.E. wird diese simple und doch tragende Tatsache übergangen,
erst mühsame Umwege oder Konflikte werfen uns auf das Miteinandersein zurück.
Es ist angezeigt, am Schluss des Kapitels zu seinem Anfang zurückzukehren – zu
Handke nämlich. Im Gedicht an die Dauer lesen wir:
Wahr bleibt:
Die Dauer ist kein Gemeinschaftserlebnis.
Sie bildet kein Volk.
Und trotzdem bin ich im Zustand der Gnade
der Dauer
endlich nicht bloß ich allein.
Die Dauer ist meine Ablöse,
sie läßt mich gehen und sein.325
Dem „Volk“ im Vulgärverständnis wird Dauer abgesprochen, Dauer bedeutet kein Mehr an
Menge. In der sich verlierenden Masse hat sie keinen Bestand. Eine durch die Dauer gewährte
Ausnahme bildet die Gemeinschaft, sie verwaltet kein Volk oder eine billige Masse, sondern
hebt mich in den „Zustand der Gnade“, nicht bloß ich alleine zu sein. Dauer – man darf
wagen, zu sagen: das liebende Wir – „läßt mich gehen und sein“. Es lässt mich in Eigenstand
aus der Wirheit gehen, ohne sie zu mindern, sondern um Liebe im Wir gebührend zu
würdigen, indem ich dir mein Eigensein verdanke. Entwicklung als Hervor-gehen und sein als
Existenz sind in eins gesetzt. Ein weiterer Satz bringt die Zeitlichkeit der Dauer zum
Ausdruck:
Von der Dauer gestützt,
trage ich Eintagswesen
meine Vorgänger und Nachfolger
auf meinen Schultern,
eine erhebende Last.
324
325
Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 166
Handke, Gedicht an die Dauer, S. 51
120
Darum war die Dauer eine Gnade zu nennen [...].326
Vermöge der Dauer ist dem Menschen, wenngleich er etwas Ephemeres ist, Zukunft und
Vergangenheit (im Gedicht als „Nachfolger“ und „Vorgänger“ genannt) zugesprochen, diese
tragen wir „auf den Schultern“. Wir bemühen uns also, unsere Zeitlichkeit sie schützend zu
tragen, sie durchzuhalten, sie nicht acht- und sorglos abzuwerfen wie eine lästige Bürde.
Zeitlichkeit wird dann zur drückenden Last, wenn man sich ihr nicht stellt, sie nicht aushält
oder wenn man sie flieht. Bei Handke wandelt sich die Last zu einer mich erhebenden, zumal
ich selbst es bin, der Zeitlichkeit zum Austrag bringt. Die Tatsache, dass jede und jeder von
uns den Zustand der Dauer erfahren darf, nennt Handke Gnade.327
Der Bezug von Zeitlichkeit und liebendem Miteinandersein lässt sich abschließend
noch so umreißen: Wie das Räumliche ist auch das Zeitliche der Sorgestruktur des Daseins
enthoben, woraus sich der Ewigkeitscharakter der Liebe erklärt: Dasein steht nicht nur in der
Sorge, es räumt liebend dem Anderen Sein ein, gewährt ihm Platz und schenkt ihm Zeit.
Unendlichkeit oder Ewigkeit ist keine chronometrisch zu verstehende, wie sollte ich dir etwa
ein ewig währendes Leben, das jedem Kalender spottet, versprechen können? Vielmehr
bedeuten sie Wegfall von Einschränkungen, die Liebe Bedingungen unterwirft. So bin ich
unserer Liebe bewusst und lasse unsere gemeinsame Zukunft zu, in der wir einander
begegnen. Die Beziehung lässt sich freilich nicht gewollt planen und durchgliedern, dieses
wäre bereits Teil der Gegenwart. Mit der Zukunft gehen wir das Wagnis des Unverfügbaren
ein, das sich nicht erzwingen lässt. In der Zukunft kann, ja soll sich unsere je eigene
Selbständigkeit entwickeln. Binswanger hält dafür den Begriff Treue bereit. „Die Selbstheit
Meiner-selbst und Deiner-selbst zeigt sich sowohl in der Treue des Sich-Schenkens (oder in
der Treue im Sich-Schenken) als in der Treue zu sich selbst.“328
Sorglosigkeit oder Gleichgültigkeit wird von der Zukunft unterbunden, weil sie uns
die Grenzen unseres bisherigen Lebens aufzeigt.329 Zugleich stellt sie uns vor die
Entscheidung, dieses oder jenes zu tun und es auch zu verantworten. Mit Karl Rahner könnte
326
Handke, Gedicht an die Dauer, S. 52
Ganz offensichtlich operiert Handke mit theologischen Begriffen, darin findet sich auch die Übereinstimmung
mit Binswanger, der Parallelen zum Religiösen gar nicht leugnet, sich jedoch von ihm absetzt. Das ist mit ein
Grund für die Schwerfälligkeit seiner Begriffe: er entlehnt sie, durchaus zu Recht, seinem philosophischen und
geistigen Umfeld, modifiziert sie dann aber so, dass er Gefahr läuft, etwas völlig Neuartiges unter einem alten
Namen zu behalten.
328
AW 2, 112
329
Wir werden so wörtlich in die Schranken gewiesen, angesichts des Kommenden sind wir uns unserer selbst
nicht mehr so sicher, das Bestimmte, Garantierte wird nun suspekt, damit Beiläufiges Priorität bekommen kann.
Die bekanntesten Beispiele dafür sind Größenwahn in Anbetracht einer zu erwartenden Einbuße, Versagensangst
aus Selbstunterschätzung, Überangepasstheit, Konformismus, Resignation.
327
121
man fragen, was ohne die uns anspringende Zukunft in diesem Leben geschehen wäre? Die
Welt ginge weiter wie je und wir würden Pläne machen, ohne sie umzusetzen.330
4.4 Freundschaftliches Miteinandersein
Ist der fundamentale Grundzug des Menschen der der Liebe zum Du, so muss sich der
Grundzug auch als Geste der Wohlgesonnenheit, des Beistandes, der respektvollen
Zuwendung, also als Freundschaft (amicitia, ί) zeigen. Beide Begriffe (oder Zustände)
liegen nahe beieinander und werden bisweilen synonym verwendet. Freundschaft kann sich
zur Liebe entwickeln, eine gewonnen geglaubte Liebe kann sich in ehrlicher Freundschaft
festigen (von der die Partner tatsächlich profitieren). Die eine ist ohne die andere nicht
möglich, was allerdings trennt und einigt beide?331 Die Verbindung von Freundschaft und
Liebe ist leicht zu durchschauen, allen voran Sympathie, ähnliche Vorlieben, vergleichbarer
sozialer Status und Übereinstimmung der jeweiligen Biographien zeugen von ihr. Leicht ist es
zu meinen, Liebe und Freundschaft bedingten einander; Liebe ist nach Binswanger die
Beziehung, die in der Enthobenheit von Sorge ihren Platz einnimmt. Indes will man nicht
sagen, Freundschaft sei eine sorglose. Ziel der in den Abschnitten über den Dualis dargelegten
Gedanken war, Liebe als Grundlegung menschlichen Daseins aufzuweisen – das ist bei
weitem keine Erklärung empirisch-konkreter Verhaltensweisen. Das gewonnene Resultat war:
Liebe als Freigabe in wirhaftes Eigensein, In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-sein, Liebe als
heimatliche Nähe in Intimität. Überdies gewahren wir Liebe in einer Eigenart von Zeitlichkeit
und Räumlichkeit. Der Eindruck und die Abschreckung, Liebe sei extrem und exorbitant,
scheinen berechtigt. Liebe als Außenständiges, als von Sorge um „innerweltlich
Begegnendes“ Befreites, ist eine Fiktion, der sich ernsthaft um Liebe Mühende nicht
hingeben.332
Behandelt Binswanger das Miteinandersein als freundschaftliches, kommt Konkretes
näher, taucht das uns – in Liebe und Sorge Stehende – Vertraute auf. Umgekehrt heißt das
nicht, dass Liebe nur durch Freundschaft (im Sinne Binswangers) erlangt werden kann. Liebe
ereignet sich zwischen dir und mir, exklusiv dual; Freundschaft besteht als „Wirheit im
330
Rahner, Karl: Zur Theologie der Zukunft. – München : Deutscher Taschenbuch Verlag, 1971. –
(Wissenschaftliche Reihe ; 4076), S. 180
331
AW 2,200: „[...] denn Gemeinsamkeit der anthropologisch-ontologischen Grundstruktur kann nur besagen,
daß Liebe nicht ohne den Wesenszug echter Freundschaft, Freundschaft nicht ohne den Wesenszug echter Liebe
sein kann.“
332
AW 2, 123: „Es verhält sich hier wie überall, wo wir Sorge und Liebe einander gegenüberstellen: Liebe kann
ohne Sorge nicht sein; sie ist aber nicht selbst Sorge, sondern ist nur als Transzendieren der Sorge, als reiner
Überschwung, wie wir später sagen werden. Das gilt auch hinsichtlich der Geschichtlichkeit oder eigentlichen
Schicksalhaftigkeit der Liebe [...].“
122
Teilnehmen“333. Das „Wir-sein“ begegnet im Wir der Liebe, hier ist es ein freundschaftliches
Wir in Teilhabe aneinander. Worin besteht das Wir und woran nimmt es Teil? Teilhabe setzt
Getrenntheit, Selbstheit voraus, also das, was aus liebender Wirheit erwachsen kann.
Freundschaft findet dort statt, wo einander zwei Subjekte (Selbstheiten) begegnen, die in
ihrem und durch ihr eigenes Sein der Begegnung mit anderen gewachsen sind:
Daß die Freundschaft darauf aus ist, aus jedem zwei zu machen, besagt wiederum,
daß unter Freundschaft diejenige Weise des Miteinanderseins zu verstehen ist, in der
das Dasein sowohl an der Selbstheit Rückhalt hat, als auch an der Wirheit Halt
findet.334
Binswangers Worten getreu ist Freundschaft ein Mittleres zwischen Selbstheit, die ich in der
Liebe erlange, und Wirheit, aus der ich als (geliebtes und liebendes) Wir hervorgehe: „Dieses
‚sowohl als auch’ wird hier also ausgedrückt durch die abstrakteste Form der Kategorie von
Teil und Ganzem, durch die Begriffe der Zahl und der Summe (Verdoppelung).“335 In dieser
Abstraktion sind Fremde „Teile“ des „Ganzen“, sie treffen einander, um das „Ganze“ zu
füllen. Das jedoch ist die Formulierung des Miteinanderseins in Liebe, wie sie als Wir
vorgestellt wurde. Binswanger will vom Wir als Ganzes, Einheit Stiftendes nicht ablassen,
weshalb der Freundschaft zu tun sein muss, Getrenntes (Teile) in Eines (das Ganze) zu fügen.
Wie liebendes Wir und freundschaftliches Dasein ineinander übergehen, zeigt folgendes
Zitat:
Der Sinn der Tatsache, daß im vorwissenschaftlichen Seinsverständnis des
freundschaftlichen Miteinanderseins das Ganzsein und Teilsein, vorab das Doppelund Halbsein, eine so große Rolle spielt, liegt darin, daß, während im liebenden
Miteinandersein Sein und Bewußt-Sein, Erleben und Erkennen, Anschauen und
Denken, Gefühl und Begriff, Wunsch und Besitz, Gnade und Opfer [...], Wahrheit
und Rede, kurz Existenz und Bedeutung strukturell noch ungeschieden sind, hier
aber, im freundschaftlichen Miteinandersein, das „ungebrochene“, „ungeteilte“
liebende Dasein strukturell weiter aufbricht, sich in näher bestimmbare
Strukturglieder „bricht“ oder entfaltet. Freundschaftliches Miteinandersein ist [...] der
Sinn der Teil-Ganzes-Kategorie [...].336
Wie angeführt, entwickelt sich liebendes Wir in der Freundschaft in näher bestimmbare
„Strukturglieder“. Dass solches vor allem in der Liebe selbst Platz haben soll, ist klar – keine
Liebe ergeht sich in Abstraktionen, in denen Liebende „aufgehoben“ sind. Dessen bewusst,
wird Hegel angeführt: „Ein Gedachtes kann kein Geliebtes sein.“337 Liebendes Dasein
begegnet einander auch freundschaftlich, darin soll kein Zweifel bestehen, selbst wenn
333
AW 2, 197
AW 2, 202
335
AW 2, 202f
336
AW 2, 204
337
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke I. – Frühe Schriften. – Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845
neu edierte Ausgabe. – Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. – 1. Auflage. – Frankfurt/Main :
Suhrkamp, 1986, S. 362
334
123
Binswangers Begriff der Liebe zuweilen weltentrückt anmutet. Es geht folglich um
Freundschaft, die nicht liebendes Wir ist, dieses aber voraussetzt.338 Erst durch erfahrene und
erwiderte Liebe bin ich fähig, Freundschaften mit anderen aufzubauen, zu pflegen und zu
erhalten. Ein Mensch, dem Liebe nicht widerfuhr, wird wohl keine Freundschaft eingehen
können.339 Liebe als ursprüngliche Weise menschlichen Miteinanderseins bildet den Grund
jeder weiteren Form des Mitseins, so auch die des freundschaftlichen.340
Freundschaft bekundet sich als „Wirheit der Teilnahme“. Teilen selbst ist etwas, das
einen unverbindlichen Vorgang darstellt, der zufällig geschieht; ich teile den Platz im
öffentlichen Verkehrsmittel, teile das Krankenzimmer mit anderen Patienten, nicht zuletzt
den Arbeitsplatz.341 Teilnahme in engerem Sinn bedeutet ein „gemeinsames Schicksal“, das
sich der eigenen Welt entzieht: Nehme ich an deinem Schicksal teil, so kann ich mich darin
nicht vertreten lassen – als freundschaftliches Wir betrifft mich das, was du erlebst und dir
widerfährt und ich kann mich davon nicht ohne weiteres lossagen. Gerade darauf gilt es, den
Finger zu legen: ich bin Freund, nicht weil ich über außerordentliche Fähigkeiten verfüge,
sondern weil ich in der Freundschaft mein Eigenes mit Rücksichtnahme auf dich zur Geltung
bringen kann, um das Zusammensein zu bekräftigen. – Allein: wer wählt mich zum Freund
und wem gewähre ich meine Gewogenheit, ihm dadurch einen besonderen Platz in meinem
Leben zuweisend? Wodurch wird Amikalität überhaupt tragbar? – und: was unterscheidet sie
von der Liebe?
Den dafür fruchtbaren Boden bereitet das Schicksal, welches zumeist als Mühsal und
Last empfunden wird, als Bürde, die man abschütteln möchte. Binswanger sieht in ihm nicht
etwas Unentrinnbares – wahrlich Fatales –, das religiös etwa als Sündenfall und irdisch als
Schicksalsschlag interpretiert werden kann. Vielmehr bildet es die Verbindung zweier
Freunde:
[...] dieses Schicksal bist du, mein alter ego, der andere „Teil“ des Einander im Sinne
meiner „zweiten Person“. An deinem (als meines Freundes) Schicksal teilnehmend,
nehme ich nur auf mich und trage nur, was (auch) mich bereits „getroffen“ hat, was
schon mein ist als eines „Teiles“ des Wir, von dem Du der andere Teil bist.342
338
AW 2, 219: „[...] denn wenn ich auch nur eine Geliebte haben kann, so kann ‚Ich-selbst’ doch mehrere
Freunde haben.“
339
Die ursprünglich-anfängliche Liebe entfaltet sich im Mutterleib, welche Tatsache beständig dokumentiert
wird. Dessen ungeachtet ist es möglich, dass selbst ein ungewolltes, verstoßenes Kind in der weiteren
psychischen Entwicklung bei entsprechender Pflege und Betreuung zu einem geliebten, akzeptierten und selbst
wiederum liebenden Erwachsenen heranreifen kann.
340
Dem entspricht auch der Aufbau der Grundformen, „Wirheit im Lieben“ und „Das freundschaftliche
Miteinandersein“ – beide bilden das erste und zugleich wichtigste Kapitel des Buches.
341
Ähnlich das uns aus der Alltagssprache bekannte „Mitteilen“. In ihm werden Positionen, Darstellungen,
Tatsachen übermittelt. Sender wie Empfänger der übermittelten Botschaft sind prinzipiell austauschbar – als
Person, aber nicht als teilhabende Partei, im Zentrum steht die „Nachricht“, vgl. dazu AW 2, 206-209.
342
AW 2, 212
124
Dein Schicksal „schickt“, „stellt“ mich in ein anderes, von mir nie erwogenes Gefüge, das
meiner Wahl, meiner Zu- oder Absage entzogen ist. Bilden wir als Freunde die Teile des
Ganzen, ist Stellvertretung bzw. Vertauschung nicht möglich, ohne die Freundschaft in ihrem
Wesen gänzlich zu ändern, wenn nicht gar zu zerstören. Vor allen Partikularinteressen – seien
diese ein gemeinsames Ziel, vielleicht auch das Begehren des Anderen – steht die Ich-DuRelation, die diese ermöglicht.343 Freundschaft, Sympathie bedeuten zunächst das
gemeinsame Tun und Erleiden im Sinne der Erfahrung, später kommt tatsächlich das Mitleiden (ά hinzu, das in der Ethik einen grundlegenden Stellenwert hat.
Binswanger lehnt diesen Gedanken als bloße Engführung der Freundschaft ab. Mitleid als
Bereitsein zur Hilfe des in Not Geratenen bleibt alleine dem Freund vorbehalten, doch
bezüglich der Not selbst ist von Binswanger nichts zu erfahren. Freundschaft etabliert sich
unter einander Ebenbürtigen. Notgedrungenheit, welcher Art sie auch ist, hat in Binswangers
Idee der Freundschaft keine Rechtfertigung. In seinen Worten erübrigt sich Mitleid auf das
Herabdrücken des mir fremden Leidenden auf sein Leiden und nur auf dieses. Ich als Spender
und Wohlmeinender erwerbe mein Recht, solch einer zu sein, weil ich mich dem Bedürftigen
als Gönner erweise. Ich gebe erst dann, wenn ich jemanden unter mir weiß, der mir das
Gegebene nicht rückerstatten wird können.
Es geht nicht um Sentimentalität oder Gerührtheit, die Menschen dazu bewegt, ihnen
Unbekannten Geld zu spenden; irritierend ist in dieser Diskussion344 allerdings der Gebrauch
des Begriffes „Kreatur“, der, wenn man als solche bezeichnet wird, Schimpf und Schande
nach sich zieht. Kreatur, wörtlich das Geschaffene, Hervorgebrachte, Geborene, wird
vornehmlich pejorativ gebraucht, so etwa im Französischen crétin – der Schwachsinnige, der
Dummkopf. Ein möglicher Grund für die Wahl des Wortes liegt vielleicht im Fachjargon der
Medizin. Dennoch bleibt dies irritierend gerade in einer Schrift wie den Grundformen, die
eine Phänomenologie der Liebe zu treiben beansprucht.345 Im Mitleid haben Ethik und
Handeln offensichtlich keinen Platz, darum bleibt Freundschaft auf einen überschaubaren
Kreis beschränkt; am konsequentesten ist nur die Dualität, die ausschließlich das Du
anerkennt.346 Eine strikte Grenzziehung von Liebe und Freundschaft findet sich in den
343
Selbst hier kann sich Binswanger nicht vom Vorrang des Wir loslösen, das doch Ich und Du als
Eigenständiges hervorbringt: „[...] denn ‚früher’ (im Sinne des Apriori der Fundierung) als jenes ‚eigentliche’
Miteinander von Selbst und anderem Selbst ist das eigentlich-freundschaftliche Miteinander von Mir und Dir,
[...].“, in: AW 2, 215
344
Siehe AW 2, 229. Binswanger definiert den Mitmenschen als „Kreatur“. Nun ist dieser Begriff ein
theologischer, philosophischer und anthropologischer. In welcher Bedeutung Binswanger ihn gebraucht ist
unklar.
345
AW 2, 9
346
Der hohe, beinahe vermessene Anspruch Binswangers ist die „Aufdeckung eines einheitlichen
anthropologischen Urphänomens Liebe“ (AW 2, 235). Das „Urphänomen“, den Grund und die Quelle
125
Grundformen nicht, höchstens könnte man das „In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-sein“
allein dem liebenden Wir zubilligen, wodurch wiederum das konkrete freundschaftliche
Miteinander unbeachtet bleibt. Wie mich die Liebe aus dem Wir zu mir selbst bringt – zum
einzigartigen Selbstsein durch dich und in dir –, so individuiert mich jede Freundschaft
gleichsam anders; jeder verhält sich zu demselben anderen Menschen unterschiedlich, hier
gibt es keine Deckungsgleichheit.
Leben wir doch mit jedem Freunde ein anderes Leben der Freundschaft, weist mich
doch jeder Freund in andere Weise auf „mich-selbst“ hin, beschränkt, begrenzt,
bestimmt oder „bedingt“ [...] doch jeder Freund mich anders und umgekehrt ich ihn
[...].347
Die gängige Definition, Freundschaft sei Sympathie, wird von Binswanger übernommen,
ohne sie zugleich zu hinterfragen, oder diese Gleichung zu begründen. Freundschaft ist eine
intersubjektive Beziehung, in der letzte Konsequenzen nicht gezogen werden müssen, in der
ein Rest an Unverbindlichkeit bestehen bleibt. Ob Freundschaft nun ein Akt der Willkür, des
Gefallens oder die tatsächliche Aufnahme und Akzeptanz des Anderen ist, wird nicht erklärt.
Binswanger sagt lediglich, „[...] freundschaftliche Teilnahme ‚reicht so weit’, als Begegnung
möglich ist.“348 Begegnung in freundschaftlichem Einvernehmen findet ihre Grenze an meiner
Bereitschaft oder an meinem Willen, am Schicksal des Freundes Teil zu nehmen. Nach der
überschwänglichen Darstellung der liebenden Dualität zeigt sich im freundschaftlichen
Miteinandersein ein differenziertes Bild menschlicher Beziehungen: Liebe ihrerseits meint
Freigabe in wirhaftes Eigensein, bietet Nähe und Heimat in Intimität, indem sie sich räumlich
zeitigt. Nicht von ungefähr bildet diese Vorstellung von Liebe ein Extremphänomen, ein
Ideal, dem nachzueifern in der Tat schwieriger ist, als eine Freundschaft aufrecht zu erhalten.
Diese kann sich erst wieder nur auf Liebe, Liebesbereitschaft bzw. -fähigkeit gründen, die das
Gewordensein des anderen voraussetzt, wodurch sich Konvergenz und Distanz ergeben.
Plakativ gesagt ist Liebe das ausschließliche Zusammensein von dir und mir, Freundschaft
erweitert diese Exklusivität auf andere, nicht ohne sich zurückzunehmen und zu begrenzen.
denkerisch erschließen zu wollen, zieht unweigerlich Wirrnisse, überraschende Folgerungen nach sich. Der
Versuch, die Einheit der Liebe in sämtlichen Liebesformen aufzudecken, liest sich dann so: „ Auch hier finden
wir [...] die Einheit des Phänomens Liebe klar zum Ausdruck gebracht, eines Phänomens, das also weder zu
verwechseln ist mit sexueller libido, noch mit ethischer oder religiöser Pflicht. Wenn wir auch dieser Liebe den
Namen Eros zu geben dürfen glauben, so deswegen, [...] weil er in der Geschlechter-Liebe seine höchstmögliche
Vollendung findet und weil er, wenn auch keineswegs Neigung im Sinne KANTs, so doch ebenso wenig Pflicht
bedeutet, sonders durchaus diesseits oder besser jenseits steht des Gegensatzes von Pflicht und Neigung.“, in:
AW 2, 234. Die Überwindung des Widerspruchs von Pflicht und Neigung ist konkret die Anerkennung des
Anderen, der in seinem Sein geachtet wird. Die Anerkennung und Achtung des Anderen in dessen Eigensein, das
dem liebenden Wir entspringt, ist, nochmals gesagt, kein billig-kitschiges Ideal, es ist Grund für jenes
Zusammensein, in dem Menschen einander gegenüberstehen.
347
AW 2, 220f
348
AW 2, 228
126
Eine nochmalige Erweiterung bzw. Öffnung der Intersubjektivität bildet das Sein des Ich mit
den Vielen oder den anderen Mitseienden. Um diese geht es im Folgenden.
127
5 Mitsein als personal-soziales
Darstellung und Kritik des Denkens Binswangers hat sich an dieses Denken selbst zu richten;
nicht das, was andere über ihn geschrieben haben, sondern was Binswanger dargelegt hat, soll
zur Sprache kommen. Der Versuch, Binswangers Philosophie in ihren Grundlagen und
Konsequenzen zu verfolgen, muss sich zuvorderst an den Grundformen orientieren. Als
tragender Boden menschlichen Daseins zeigt sich als Prinzip und Fundament die Dualität, der
im Beheimatetsein in Liebe das In-der-Welt-sein als Sorge entgegengesetzt ist. Zwischen
Liebe und Sorge öffnet sich eine unerwartete Kluft, zumal dann, wenn beide Begriffe in
Wechselwirkung und Zusammenhang aufgefasst werden. Binswanger zerstreut aber diese
Erwartungen, weil er Sorge und Liebe als nicht miteinander zu versöhnender Status des
Menschen vorführt: entweder sind Ich und Du in (geometrisch)-ortloser Heimat und zeitlicher
Ewigkeit, oder Ich und Du verlieren ihr Wesen, indem sie einander in Sorge begegnen – will
heißen: einer sorgt für den (oder das) zu Besorgenden.349
Die zweite Grundform menschlichen Daseins ist nach der Dualität (und der ihr
benachbarten Freundschaft) der Modus der Pluralität im Sinne der Begegnung des Einen mit
einem anderen oder mit mehreren anderen. Wie bereits die Wortwahl anzeigt, geht es nun um
das soziale Sein abseits des liebenden Ich und Du. Dem liebenden Wir, welches Welt
übersteigt, um für- und miteinander da zu sein, wird das Sein mit (mehreren) anderen
gegenüberstellt.350
Ein Blick zurück auf das vorige Kapitel zeigt eine Lockerung, damit auch eine
zunehmende Auflösung der streng als Ausschließlichkeit anderen gegenüber definierten
349
Näheres dazu im Kapitel 2 Eine Standortbestimmung zur Phänomenologie der Liebe und in der darin
angeführten Literatur.
350
Binswanger benennt dieses soziales Gefüge – das wohl ein Konstrukt ist – als „In-der-Welt-über-die-Welthinaus-Sein“ (AW 2, 452). Merkwürdigerweise tritt dieser Begriff in den Grundformen methodisch und
erkenntnisleitend relativ spät zutage, nämlich erst im zweiten Teil, der das „Wesen der Daseinserkenntnis“ zum
Thema hat. Dabei spielt doch das Verhältnis von Liebe als exklusives Miteinandersein und das weithin
geläufige, alltägliche Mitsein von „Mensch zu Mensch“ eine tragende Rolle. Dem oftmals auftretenden
Widerspruch von Ich und Du als Wir und dem Sein mit anderen – welche auch immer – entwindet sich
Binswanger, indem er die Liebe zum singularen einzigen Du zur Liebe oder zumindest zur Akzeptanz des
abstrakt-allgemeinen Du (d.h. die vielen anderen) ausweitet. In seinen Worten: „Wenn Liebe und Freundschaft
jeweils nur eine Zweiheit ‚betrifft’, wie kann dann eine liebende Wirheit zu einem Prinzip des Menschseinsüberhaupt erhoben werden? Die Antwort ergibt sich gerade daraus, daß der Dualis, und erst recht der Dualis der
Liebe kein eingeschränkter Pluralis ist, keine Zwei innerhalb der Zahlenreihe bedeutet, sondern ein eigenes
Seinsprinzip enthält, das sowohl dem Hantieren mit Zuhandenem, als erst recht dem Zählen von Vorhandenem
völlig fremd ist. Die Daseinsfülle der Liebe widerstrebt [...] der abstraktesten Determinierung [...]. Die Tatsache,
daß ‚man’ nicht Mehrere lieben und nicht mit Allen befreundet sein kann, bildet keinen Widerspruch zu unserer
Auffassung.“, in: AW 2, 237f. Dementsprechend entzieht sich Liebe der zahlenmäßigen, d.h. der zählenden,
berechnenden Bestimmung. Das angeführte Zitat beschließt das erste Kapitel der Grundformen. Wenn – so die
These – liebendes Miteinandersein Freigabe in Eigensein und dessen Empfang einem Du verpflichtet ist, wird es
sich weiterhin als Dasein ermöglichendes ausweisen müssen, selbst und gerade dort, wo von Pluralität die Rede
ist.
128
Dualität. Des Buchtitels Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins gewahr, ist es
nicht bloß nur ein Prinzip, dem sich das Miteinander verdankt und in dessen Gefolge
Pluralität und Singularität sich als abkünftige erweisen, in denen sich eine Emanation des
unbefragt Obersten (anthropologisch, nicht theologisch oder philosophiehistorisch als Wir zu
verstehen!) manifestiert.351
Fahren wir mit dem über das vom Mitsein als freundschaftliches Gesagten fort. Dem
freundschaftlichen Du ist der Stellenwert des liebenden Du verwehrt (wenngleich in der
Freundschaft Liebe zutage treten kann). Umso stärker betrifft das das Zusammensein als
plurales, also das Begegnen mit den Vielen. Wir treffen hier andere an, ohne ihnen jedoch
sensu stricto zu begegnen, viel eher teilen wir ihnen eine Rolle zu, in welche sie schlüpfen
müssen.352 Der dem Theater entlehnte Begriff Rolle erinnert an Maskenspiel, Leichtigkeit,
Unverbindlichkeit; umgekehrt kann sich der Rollenträger als tragischer Held, Verliebter oder
Geläuterter entpuppen. Die Rollenverteilung ist in diesem Sinn zuvor nicht festgelegt. Hier
schert Binswanger aus, indem er das Mitsein von Einem und einem Anderen als Personalität
ausweist, die sich nur in dieser Grundform menschlichen Daseins entwickelt. Sprechen wir
von einer bestimmten Person, so wissen wir, wer damit gemeint ist, wir haben mit dieser
Person zu tun oder kennen sie. Person bzw. Personalität ist – durch ihre Rolle bestimmt – eine
wandelbare Figur, mithin ein Dasein, das sich wechselseitig durch andere bestätigt und
anerkannt findet.353
351
Eine kontradiktorische Zäsur stellt der nun veränderte Blick auf das Miteinandersein nicht dar, wenn sie
zuweilen auch diesen Eindruck macht. Dennoch tritt der Perspektivenwechsel von Ich-Du zu Ich-Wir (als
Pluralität) hervor, welcher der Sekundärliteratur zu denken gibt. Diese nimmt den Standortwechsel Binswangers
entweder referierend wahr (Rothe, Probleme pastoraler und psychologischer Theorienbildung aufgezeigt am
Beispiel der Daseinsanalyse Ludwig Binswangers, S. 163-170), setzt ihn in Verbindung zu Löwith und
Heidegger (so Theunissen, Der Andere, S. 458-462) oder verteidigt Binswanger gegen Heidegger (Schmidt,
Ekstatische Transzendenz, S. 248-291). All dem liegt Bubers Trennung der Grundworte in Ich-Du und Ich-Es
zugrunde (Buber, Das dialogische Prinzip, S. 7). Buber wertet den Unterschied von Du und Es keineswegs ab,
sieht er in ihm doch so etwas wie eine Notwendigkeit, die sich nicht vom Du ab- sondern der Gesellschaft
zuwendet. „Es“ meint bei Buber das (manhafte) Wir, das Du, mit dem mich eine Zweckgemeinschaft verbindet.
Dazu Bernhard Casper: „Buber selbst war also auf die Dialektik von Ich-Du und Ich-Es durchaus aufmerksam.
Er hat sie allerdings nicht weiter thematisiert. Man darf Bubers Selbstverständnis hier recht geben, das besagt, er
habe auf die beiden Seiten des In-der-Welt-seins als auf eine ‚vernachlässigte, verdunkelte Urwirklichkeit’ und
‚die große Voraussetzung für den Anbeginn des Philosophierens’ nur hinzeigen können.“, in: Casper, Das
dialogische Denken, S. 283. Die Dialektik, die keinen Widerspruch darstellen muss, will Binswanger in der
Pluralität hervorheben.
352
Binswanger benutzt in diesem Kapitel der Grundformen fortan folgende Handlungssituation: sämtliche
Tätigkeit wird dem Ich als nomen agens zugeschrieben, sodass der betreffende andere ausschließlich als
Handlungsvollzieher, als Vollzugsorgan dargestellt wird. Das Ich als aktives drängt andere in die Passivität, die
bewusst in der Kapitelüberschrift genannt wird: Das Subjekt der Tätigkeit erweist sich als greifendes „Nehmenbei-etwas“, als „Nehmen-bei-der-schwachen-Stelle“, oder als „Nehmen-beim-Ohr“ und ähnliches. Ist die
Definition der Dualität mit Recht als weltfremde, nicht willkürlich erfahrbare und zugleich als mich und dich
konstituierende gegeben, ist analog dazu das Mitsein mit den anderen einseitig vom Ich aus angelegt.
353
Eine philosophiehistorische Übersicht geben Martin Brasser: Person : Philosophische Texte von der Antike
bis zur Gegenwart. – Stuttgart : Reclam, 1999. – (Universal-Bibliothek ; 18024) und Theunissen, Skeptische
Betrachtungen über den anthropologischen Personbegriff, S. 461-490
129
Anerkennung andererseits ist ein der Liebe entnommener Prozess des Menschseins,
d.h., eigenes wie fremdes Dasein ist stets neu würdigend anzuerkennen. Pluralität hat
Annahme, Anerkennung und Gewahren einer anderen Existenz als Hintergrund. Mit Blick auf
das Sein mit den (vielen) anderen bleibt Binswanger seinem Primat der Dualität treu.
Diese einzigartige Bedeutung [der Pluralität, Anm.] läßt sich nur „defizient“ aus dem
ursprünglichen Zusammenhang „des einen mit dem anderen“ bestimmen, nämlich als
selbstgewählte Ver-einzelung (KIERKEGAARD), welche als solche die
ursprüngliche Vorherrschaft der Gemeinsamkeit bekundet.354
Gebundenheit des Ich an das Du im Wir hat entsprechende Folgen für die weiteren
Grundformen des Daseins, in diesem Fall für die Pluralität. Der Widerspruch von Liebe und
Sorge tritt abermals, nun in verschärfter Form hervor. Die Unverrückbarkeit liebenden Seins
steht von vorneherein fest: „Die Begegnung der Liebenden als Liebende ist eine ganz andere
Art von Begegnung überhaupt.“355 Von daher wird die Trennlinie von Dualität und Pluralität
deutlich, letztere finden wir im Alltag, in der „Gebräuchlichkeit“, mit der wir uns konfrontiert
sehen. Von Liebe ist hier keine Spur mehr zu sehen; für Binswanger ist Pluralität
gleichbedeutend mit dem verschütteten liebenden Miteinandersein, das der Seinsart des
Animalischen gleichkommt.356
Das Verhältnis, auch die Sprache von mir zu dir geht unter zugunsten eines
unbestimmten Daseins, das dennoch Jemeinigkeit ausdrückt. Ermöglicht wird dieses
Unbestimmt-Bestimmte mithilfe Löwiths Idee des „diffusen Miteinanderseins“.357 Dasein als
In-der-Welt-sein trifft in der Umwelt auf seine Mitwelt, beider Grenzen sind nicht klar
gezogen, vielmehr bedingen Um- und Mitweltliches einander. Lesen wir in den Grundformen,
so lesen wir auch in Sein und Zeit: in dem mir und dir Zuhandenen ist der andere mitweltlich
zugegen, die Diffusion von Mitwelt und Umwelt führt nur folgerichtig dazu, den anderen in
der „Seinsart des zuhandenen Zeugs“358 wahrzunehmen. Liest man vom Kapitel über die
Dualität bis hierher, so darf man mit Recht erstaunt sein. Soll uns Liebe nicht die
Anerkennung von mir und dir ermöglichen, aus der wir als Selbstmächtige hervorgehen, weil
wir nur so einzig, einmalig sein können, weil wir im schätzenden, taktvollen Dialog einander
das sagen, was an unserer Stelle niemand sonst zu Wort bringt? Mitweltliches Sein indessen
rückt dich und mich in ein anderes Licht. Was sich uns darin zeigt, hat sich schon angekündigt
und soll nun verfolgt werden.
354
AW 2, 109
AW 2, 60
356
AW 2, 244
357
So Theunissen, Der Andere, S. 458
358
AW 2, 242
355
130
Nicht der geliebte Andere, sondern ein unbestimmter anderer erscheint und begegnet
uns als jemand, der in der Alltäglichkeit und nur dort anzutreffen ist. Binswanger unterstellt
dem Ich einen „lieblosen Umgang“ mit anderen, der durch einen „drastischen
Mundanisierungsprozess“ verursacht ist, wie Schmidt es sieht.359 Der lieblose, vielleicht auch
der achtlose Umgang sieht den anderen als etwas Zuhandenes, das am Wert seiner
„Brauchbarkeit“ zu bemessen ist. Das Gebrauchen des anderen zu etwas erweist ihn als Zeug,
das meinem Zwecke dient. Sobald der Zweck erfüllt ist, hat der andere den Anspruch des
Gebrauchtwerdens abgelegt und tritt als von mir Unabhängiger hervor, der sich mir darin
entzieht. Jemanden, der mir zunutze in Arbeit, Brot und Lohn steht, weiß ich aufgrund seiner
besonderen Fähigkeiten zu schätzen. Meine Anerkennung betrifft jedoch nicht ihn selbst,
sondern das, was er zuwege gebracht hat. Träger und Erfüller der Eigenschaften, die ich für
mich beanspruche, bleibt der andere, der meinen Anspruch freilich aus eigenen Gründen
zurückweisen kann. Jetzt zumal liegt es am anderen, nicht willkürlich über sich entscheiden
zu lassen, oder Anerkennung und Beziehung einzufordern: „Um Dich zu ‚er-kennen’ – und
nicht nur etwas an Dir zu kennen, etwas von Dir zu wissen – muß ich ‚Dir’ im Sinne liebender
Begegnung begegnet sein.“360
Dieses Zitat bestimmt unser Kapitel, welches das innerweltliche Dasein als plurales
aus der liebenden Begegnung zu fassen versucht.361 Unter dieser Bedingung gibt Binswanger
einige Beispiele, die man geradewegs als Opposition zum liebenden Dasein sehen möchte.
Eines davon ist das „Nehmen-bei-etwas“: der mitweltlich Begegnende wird „bei etwas“
genommen, das nicht er selbst ist, sondern das er mir bereitstellt. Er steht hinter seiner
Funktion zurück und bildet eine Etappe, auf der ich mein Ziel erreiche. Das Ich sieht von der
Konzentration auf das Du ab – negiert dessen Singularität –, weil es auf Eigenschaften,
Fähigkeiten und die Nützlichkeit des Du blickt. Statt „Du“ könnte man besser von „Er“, „Sie“
oder „irgendwer“ sprechen, ist es doch das Bemühen meiner Begegnung, den anderen in
meiner Zielstrebigkeit „aufgehen“ zu lassen. Schmidt findet darin einen „funktionalen
Reduktionismus“362, der den anderen in letzter Konsequenz in den Dienst der Technik
stellt.363
359
Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 252
AW 2, 241
361
AW 2, 240: „[...] vielmehr ist Liebe als ein Seinsprinzip des Menschseins zu verstehen, das das In-der-Weltsein als Sorge ‚durchbricht’, gerade um sich an und in der Welt der Sorge als Liebe verstehen, betätigen, sich
bewähren zu können.“
362
Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 264
363
Man darf hier auch daran erinnern, dass ich mich selbst als Subjekt der Handlung in diesen Dienst stelle, ohne
zu wissen, ob die Technik bzw. die Idee meinen Intentionen überhaupt entspricht. Herrschaft des Subjekts heißt
nicht schon Bewusstsein von der Herrschaft über andere. Auch ist in Frage zu stellen, ob diese Form der
Intersubjektivität unbedingt eine über den anderen oder die anderen herrschende ist.
360
131
Der Bereich der Technik eröffnet sich da, wo sich Ding und Dasein einer
Funktionalität fügen, wo Dasein also nicht um seiner selbst und umwillen anderer existiert.
Liebendes Miteinandersein zeichnet sich durch seine ihm eigene Zeitigung und Räumlichkeit
aus, Pluralität zeigt ebensolches. In ihr ist Zeit die Dauer des „Handlungsvollzugs“364, die
Handlung (das „Nehmen-bei“) muss sofort erfolgen, um den anderen festhalten und seiner
habhaft werden zu können. Das Ich als agierendes bestimmt für sich eine eigene Zeit (einen
Handlungsspielraum), in der es den anderen wahrnimmt. Zeit ist so verstanden kein Geschenk
für und Gabe an das Du. Das „Nehmen-bei“, die Handhabe des anderen deutet zweifellos auf
die Dominanz des Ich hin, wie wir sie auch in der Alltagssprache ausgedrückt finden.
Die zeitlichen Charaktere jener Zugänglichkeit sind das Gegenwärtigen im speziellen
Sinne des „Aufpassens“ auf die Möglichkeiten des „Entschlüpfens“. Die Zeitlichkeit
des Nehmens-bei bestimmt sich also, mit einem Wort, durch die Aufmerksamkeit,
und zwar die Aufmerksamkeit im Sinne des Sich-Merkens und Gewärtigens einer
Bewandtnisganzheit vom Charakter der Zuhandenheit.365
Analog dazu ist auch die Räumlichkeit des mitweltlichen Umgangs eine von der Dualität
verschiedene. Binswanger erwähnt das „greifende“, „beißende“, „werkzeugliche“ Nehmenbei-etwas, die allesamt einen aggressiven, anherrschenden Ton anschlagen. So sind die
anderen nicht einmal mehr Auch- und Mitdaseiende, das er an Heidegger so kritisiert hatte.
Der in der Mitwelt Begegnende reiht sich in meine Kategorisierung als Zuhandenes ein, das
meiner Zugänglichkeit untersteht. Er existiert bloß als Genommenwerdender in materieller
(im Extrem auch in animalischer) Gestalt. In diesen drastischen Wörtern zeigt sich die
Grundlage der Situation – nämlich die Nähe von mir zum anderen. Je näher ich im Nehmenbei-etwas an den anderen heranreiche, desto ferner rückt er im Sinne eines Dialoges von mir
weg.366
Nähe, Raum und Zeitlichkeit spielen so im mitweltlichen Umgang eine völlig andere
Rolle als in der Dualität. Hier ist es Gewähren, Billigen, Zusprechen von Räumlichkeit und
Zeitlichkeit an dich, die sich im liebenden Wir erfüllen. Im Wir wirst du Du-selbst, ineins bin
ich ermuntert und gefordert, mein Ich anzunehmen; Binswanger stellt sich das als Gnade und
Treue dar. Dort bezeichnet Nähe die Kalkulierbarkeit des anderen. Um jemanden
„einspannen“, ihn „festnageln“, „ins Netz bekommen“ zu können, bedarf es der listigen, daher
verlogenen Nähe zum anderen, die ihn mir gefügig macht. Ich muss den anderen zuvor bereits
364
Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 269
AW 2, 272
366
Dazu Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 268: „Diese ‚handliche Nähe’ im Zugriff, die in der GegenüberStellung von Einem und einem Anderen herrscht, ist im Gegensatz zur liebenden Nähe durch eine inhärente AbStändigkeit gekennzeichnet. Aufgrund dieser Ab-Ständigkeit kann der Bezug der ‚handlichen Nähe’ als ein
Verhältnis der personalen Ferne bezeichnet werden.“
365
132
berechnet haben, ehe ich mich seiner Nützlichkeit versichere. Die Situationen und Beispiele,
die Binswangers Gedanken begleiten, entstammen hauptsächlich einem zweifelhaften,
kriminellen Milieu, dessen Tatsächlichkeit und gängiges Vorkommen steht ohnehin außer
Streit. Weithin praktiziert wird das Nehmen des anderen bei seiner „schwachen Stelle“, das
den Eingriff in die psychische Integrität anderer offenlegt. Ohne einen feinen, kenntnisreichen
Blick, der mir das Gefühl des Stärkeren gibt, ist dieser Eingriff überhaupt nicht möglich. So
ist das handelnde, manipulative Ich fähig, Einfühlung und Sympathie für sich beim anderen
zu erzeugen. Dieses Vorgehen schlagen wir alle zuweilen ein, wir sind darin geübt, demnach
ist es uns vertraut. Die höchste und letzte Instanz der Gesellschaft indes bildet die Politik, d.h.
der Staat.
Das „Nehmen-bei-der-schwachen-Stelle“ seitens des
Staates provoziert
Willkürherrschaft, Diktatur, letztlich Krieg: „Das Nehmen bei der ‚schwachen Stelle’ hat ja
offenbar das Nehmen einer feindlichen Position oder Festung zum Vorbild [...].“367
Eine subtile, weil zivilisierte Variante des Gebrauchens anderer ist die Responsabilität
oder – dem Wort getreu – die Verantwortlichkeit. In ihr gebe ich mein Wort, das meine Tat
ankündigt, die ich im Nachhinein zu vollziehen habe. Schaffe ich das nicht, löse ich mein
gegebenes Wort nicht ein, „verliere ich mein Gesicht“. Ich muss die an mich gestellte
Anforderung erfüllen, ich hafte für sie, bin verantwortlich als Vertragspartner. Ich schließe
mit einem anderen ein juristisch beglaubigtes Rechtsgeschäft ab, dem beide Seiten
nachzukommen trachten. Da erlaubt sich Binswanger den Zweifel an der sittlichen
Redlichkeit des Unternehmens, denn Gesetzestreue geht nicht notwendig mit moralisch
ausgewiesenem Tun einher.368
Offenbar
unterwirft
sich
Binswanger
einem
Sinneswandel
vom
liebenden
Miteinandersein zum Sein mit anderen hin. Dualität und Pluralität sind ein Begriffspaar, das
sich nicht versöhnt, obwohl beide zu den Grundformen menschlichen Daseins zählen. Von
der dritten Form des Daseins (die Singularität oder das eigentliche Selbstsein) wird
thematisch abgesehen, wodurch sich manch Spannungen und Widersprüche ergeben.
Binswanger widmet sich in ihr der Selbstliebe, die nicht egoistisch schlicht „Freundschaft mit
sich selbst“ meint. Pluralität als Sein mit anderen, das ja auch Selbstsein ist, führt abseits der
Binswangerschen Argumentation sehr wohl zu einem einander bereichernden Miteinander,
367
AW 2, 280
AW 2, 291-296. Der Dualis kennt keine Ethik als handlungsweisende, aus dem liebenden Wir soll erst Ethik
hervortreten als wechselseitige Anerkenntnis von Ich und Du. Sobald ich dich als Du erkenne, verpflichtest du
mich auf eine Antwort, die nur ich – will ich zu dir und zu mir ehrlich sein – geben kann. Ethik bestimmt keine
konkrete Handlung (das wäre autoritativ), ihre Grundlage ist das gesprochene Wort von mir an dich. In der
Ernstnahme des Wortes entwickelt sich und bewährt sich Selbstheit des Ich und Selbstwerden des Du, wenn man
dies zulässt.
368
133
das allerdings verdeckt bleibt. Denn selbst im Beherrschen, im Nehmen-bei ist das
Handlungsobjekt nicht von vornherein der Unterdrückte.
Das Mitsein von einem und einem oder mehreren anderen steht im „öffentlichen
Rahmen“, dem Zweisamkeit fremd ist. Unbeugsames Verharren in der Dualität führt letztlich
zur Abwertung des Daseins als plurales, welches selbst die Liebe eingehen muss. Nur ein
romantischer Illusionär verfällt dem unaufrichtigen Glauben an ein weltentrücktes, zweisames
Dasein in Liebe, die in sich selbst wiederum nur sich selbst beglaubigt und aneinander
Genugtuung findet. Vor allem droht in dieser Gestalt des Wir die Zerstörung des
Miteinanderseins in gegenseitiger Freigabe in Eigensein. Wie ich mich und dich in einer so
gearteten Konstellation verfehle, zeigt die Don-Juan-Figur, die für ihre Selbstheit zwanghaft
des anderen bedarf und ihn dadurch seines Selbstes beraubt. Die Kehrseite dazu bildet jener,
der das geliebte Du in sich selbst zu erblicken sucht – erfüllende wie spendende Liebe bleibt
ebenso ihm versagt.369 „Wo die Wirheit der Liebe ‚aufgeht’ im ‚Grenzfall’ bloßer
Zweisamkeit, ist Liebe untreu; wo sie ‚aufgeht’ im ‚Grenzfall’ bloßer Einsamkeit, ist sie
‚unglücklich’.“370 Also einerseits reine, weltlose Liebe, andererseits plurales Dasein, in dem
die „vielen anderen“ das liebende Wir abzudrängen suchen.
Binswanger stellt einen Modus der Pluralität dar, der zuungunsten der anderen
ausfällt. Das Ich als Subjekt wird allzu oft als handelndes dargestellt, das den anderen für sich
beansprucht. Aus Sicht des liebenden Ich mag das verwunderlich erscheinen, geht es ihm
doch um Entfaltung und Gedeihen des Du. – Allein: Ich und Du sind nicht immer nur im
Zustand des liebenden Wir. Pluralität bedeutet, dass andere „[...] nicht als Mit- und Auch-daseiende verstanden werden, und nicht ‚in der Fürsorge stehen’, sondern auch ihrerseits die
‚Seinsart des zuhandenen Zeugs’ haben.“371
Es wird ein Kompromiss zwischen liebender Wirheit und Sein mit anderen bemüht,
wobei letzteres deutlich negativ gezeichnet wird, zumal es die Als-Struktur (Heidegger)
trägt.372 So schreibt Theunissen mit Bezugnahme auf Buber:
369
Vgl. AW 2, 121
AW 2, 161
371
AW 2, 242
372
Binswanger kann das Wir und die Pluralität nur deshalb dermaßen in Gegensatz bringen, weil er Mitsein als
zu Besorgendes versteht, das sich in Bewandtnisganzheit und Dinghaftigkeit fügt. Das in der Welt Begegnende
bzw. Vorfindbare verweist auf andere, die eben mit da sind, diese sind dadurch allerdings nicht schon
objektiviert, weil sie mir bloß das Vorfindbare „bereitstellen“. In seinem Kommentar zu Sein und Zeit schreibt
Luckner, Martin Heidegger: „Sein und Zeit“, S. 54: „In der Welt nun zeigt sich, daß das Dasein nicht etwas
allein existierendes ist. Das Dasein ist vielmehr so, daß es immer schon mit Anderen ist. Diese Anderen sind
jedoch nicht zu- oder vorhanden, sie sind mit da, sie ‚koexistieren’, wie man vielleicht sagen könnte. Koexistenz
wäre aber scharf zu unterscheiden von so etwas wie ‚Intersubjektivität’, denn es handelt sich streng
phänomenologisch genommen beim Mitsein mit Anderen bzw. beim Mitdasein der Anderen nicht um ein
Verhältnis unter zusammen vorkommenden Subjekten [...]. Mitsein und Mitdasein sind dagegen Momente des
370
134
Das gesellschaftliche Mitsein kann gleichsam ganz der Welt überlassen werden, weil
das, was im Menschen über die Welt hinaus ist, in Liebe und Freundschaft eine
unantastbare Heimstätte gefunden hat. Indem Binswanger solchermaßen die beiden
Grundweisen [Dualität und Pluralität, Anm.] der Anwesenheit des Anderen zu
Extremen auseinandertreten läßt, vertieft er den Gegensatz, in den schon Bubers (von
Binswanger akzeptierte) Unterscheidung von Du und Er den Anderen zerspaltet.
Auch als Er im Sinne Bubers ist der Andere eindeutiger verweltlicht als das
Mitdasein, das im Sinne Heideggers von der Welt des jemeinigen Daseins
freigegeben wird; denn Er steht auf derselben Stufe wie Es, wie das „rein“
Dingliche.373
Theunissen erinnert an die Einnahme eines zentrierenden Standpunktes seitens des Ich, das
alles rund um sich positioniert, womit der jeweils eigene Mittelpunkt der anderen negiert
wird. Die Konsequenz dieser Zentrierung lautet: „Dies allein bedeutet bereits die totale
Auflösung der wirhaften Wirklichkeit.“374
Die Aufkündigung des Wir verändert die zwischenmenschliche Konstellation dahingehend,
dass Ich und Du nicht mehr andere (die „Vielen“) ausschließt, sondern diesen in irgendeiner
Weise verpflichtet werden, um den Begriff Pluralität einmal positiv zu fassen. In der
ausschweifenden Phänomenologie des „Nehmen-bei-etwas“ fehlt ein Bezug zum anderen,
der hier aufgezeigt werden soll: das Nehmen-bei-der-„schwachen Stelle“, welche
Beeinflussbarkeit impliziert, kann pädagogisch oder therapeutisch sehr wohl von Wert sein.
Zeigt man seine schwache Stelle, seine „schwache Seite“, so macht man sich verletzbar, man
lässt Wunden – die immer Sensibilität und Feingefühl offenbaren – zu, die Ehrlichkeit und
Offenheit dem anderen gegenüber anzeigen. Mitleid heischende Selbstentblößung, die an
Selbstaufgabe rührt, ist damit nicht gemeint. Die schwache Stelle (deine oder meine) erinnert
eher an die Konkretion des offenständigen, d.h. in der Offenheit stehenden In-der-Welt-seins.
Betrachtet man Binswanger im Umfeld seiner beruflichen Tätigkeit, so wirken seine oftmals
abfällig getanen Gesten der Pluralität gegenüber beinahe verblüffend, wenn nicht
diskreditierend. Ist es doch er selbst, der nicht Krankheitsbilder und Krankenfälle vor Augen
haben will, sondern den oft zitierten ganzen Menschen. Dazu gehört eben, einen seelisch
Erkrankten nicht „bei dessen Gehirn zu nehmen“.375 Die krankhafte Weigerung eines
Daseins selbst, nicht etwa dessen ‚Außenverhältnisse’.“ Binswanger fasst den pluralen Modus zu eng, als dessen
Folge ergibt sich der andere als von mir gebrauchtes und beherrschtes Zeug. Dadurch geraten Struktur und
Bezug von mir zu dir ins Wanken. Dem aber kommt Heidegger zuvor: „Es könnte sein, daß das Wer des
alltäglichen Daseins gerade nicht je ich selbst bin.“, in: Sein und Zeit, S. 115. Das Ich der Pluralität fällt mit dem
der Liebe nicht in eins.
373
Theunissen, Der Andere, S. 460
374
Theunissen, Der Andere, S. 461
375
Den Anderen in dessen Ganzheit – wie diese auch andeutungsweise zu verstehen wäre – wahrnehmen zu
wollen, erfordert mehr Mut und Bereitschaft als Worte. Bleiben wir dennoch beim Wort: In dem Aufsatz Der
Mensch in der Psychiatrie, erschienen 1957 – mithin ein später Beitrag –, schreibt Binswanger: „Dieses
Erblicken [des anderen, Anm.] ist aber, wie gerade unsere Beispiele zeigen, kein gegenständliches, optisches
135
Patienten etwa, jemand anderen bei etwas zu nehmen und sich stattdessen in sich selbst zu
verflüchtigen, beschreibt der berühmte Fall Ellen West, die sich dem pluralen Sein
verweigert: Ellen West macht
[...] keine Konzessionen an die Welt der Praxis, an den um-, mit- und eigenweltlichen
Umgang und Verkehr, mit einem Wort an das Nehmen- und Genommenwerden bei
etwas [...]. Die ätherische Welt [der Phantasien, der Wünsche, Sehnsüchte,
Hoffnungen, Anm.] läßt sich hier nicht auf die Praxis ein, durchdringt sich nicht mit
der Praxis und die Praxis nicht mit ihr.376
Wenn schon die Patientin vor dem (ihrerseits zu leistenden) Nehmen-bei zurückschreckt, wie
kann dann der Arzt therapeutisch wirken, wenn er sie nicht bei ihrem Schwachpunkt, der eben
das Nehmen-bei ist, fasst und begreifen will? Schwäche vermag nur der ausfindig zu machen,
der den Grund derselben in Blick genommen hat und von da her die Schwäche lokalisieren
kann. An dieser Stelle das Gedicht der Ellen West, einem flehenden Gebet gleich:
Weh mir, weh mir!
Die Erde trägt das Korn,
Ich aber
Bin unfruchtbar,
Bin weggeworfene Schale,
Zersprungen, unbrauchbar,
Wertlose Hülle.
Schöpfer, Schöpfer,
Nimm mich zurück!
Schaff mich ein zweitesmal
Und schaff’ mich besser!377
Ellen West bietet sich selbst an, „zurückgenommen“ zu werden, in ihrer Drangsal bittet sie
Gott darum. Sie weiß sehr wohl um ihre „schwache Stelle“, die sie zu heilen bereit ist, wenn
sie dies in ihrem Gedicht auch negativ ausdrückt. Ist es, um bei Ellen West zu bleiben,
abwegig, fahrlässig oder nicht doch hilfreich, andere (Hilfsbedürftige) bei deren schwacher
Stelle zu nehmen? Binswanger vergisst, dass Schwachpunkte nicht immer das Resultat eines
schwelenden Konfliktes sind, denn gerade der Konflikt beruht auf zuvor wahrgenommener
Anerkennung.
Perzipieren, auch kein gegenständliches Apperzipieren, sondern ein Dem-Menschenwesen-auf-den-GrundBlicken, ganz unabhängig davon, ob und wie man diesen Grund nachträglich näher bestimmen will. So wenig es
den Wahnsinn als solchen ‚gibt’, so wenig ‚gibt es’ den Organismus als solchen oder das Gehirn als solches,
losgelöst vom Seinsgrunde des menschlichen Daseins und seiner Koinonia oder Gemeinschaft mit dem All der
Seinsmöglichkeiten. Infolgedessen ist auch ‚der Leib des Menschen etwas wesentlich anderes als ein tierischer
Organismus’ (Heidegger).“, in: AW 4, 61. Ellen West, eine Patientin Binswangers, vermag sich erst gegen die
Mit- und Umwelt zu verschließen, weil sie das Gegenüber in der Gestalt des anderen, liebenden und
akzeptierenden Menschen scheut. Bekommt ein Mensch nicht einmal eine Vertrauensperson zu Gesicht, wird er
sämtlichen späteren Kontakten misstrauisch gestimmt sein.
376
Der Fall Ellen West, in: AW 4, 142
377
Der Fall Ellen West, in: AW 4, 83
136
Wie anders kann therapeutisches, sittliches Handeln zum Ziel führen, wenn es nicht
Fehler und Misslichkeiten beim Namen nennt? Der Missbrauch der dadurch entstandenen
Führungsrolle verrät vor allem und zuerst den, der sie innehat. Das den anderen förderliche
Nehmen-bei erinnert mehr an Heidegger als an Binswanger. Der einspringendbeherrschenden Fürsorge, die im rüden Nehmen-bei wiederkehrt, steht die vorspringendbefreiende gegenüber, der es um das Eigensein des anderen zu tun ist:
Diese [vorspringende, Anm.] Fürsorge, die wesentlich die eigentliche Sorge – das
heißt die Existenz des Anderen betrifft und nicht ein Was, das er besorgt, verhilft
dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden.378
Um bei der Fürsorge zu bleiben: Binswanger will sie durch den Begriff Liebe ersetzen oder
erweitern. Nehmen-bei-etwas bedeutet Distanz und Auseinandersetzung mit anderen; diese
sind nicht von vornherein einfach gegeben, sondern sie sind ist Resultat der Erfahrung, der
Begegnung mit dem anderen Menschen. Erfahrung wiederum kann ich nicht auf mich
zurückführen; vielmehr begegnet mir in ihr etwas – in unserem Fall der Mensch.379 Innerhalb
dieser Begegnungen entwickeln sich Zuneigung oder Langeweile, Ekel, Indifferenz oder
Interesse und Teilnahme am Anderen. Es geht hier sozusagen um ein Nahe- oder
Fernverhältnis, also um Vertrauen und Misstrauen.380 Liebe, so kann man mit Binswanger
sagen, kennt kein Misstrauen, ist sie doch die Grundform des Daseins, in der wir uns stets
schon finden. Wie der Dualis ein unvermitteltes Naheverhältnis zum Anderen bildet, so ist in
der Pluralität das Näherkommen des Einen an einen Anderen ein vager, ungewisser und
oftmals unterbrochener Prozess, den Ich und (ein plurales) Du durchlaufen.
Begegnung in Nähe, die ein Maß an Intimität einschließt, gemahnt dich und mich an
Verbindlichkeit. Wir gehen eine Bindung ein, für die wir verantwortlich sind.
Vertrauen „bringt nah“, Misstrauen „fernt“, Enttäuschung ist sittlicher Ab-Grund.
Der anthropologische „Grund“, auf dem so etwas wie Vertrauen, Mißtrauen und
Enttäuschung möglich ist, anders ausgedrückt: die spezifische Art der
Zugänglichkeit, die so etwas wie Vertrauen, Mißtrauen und Enttäuschung möglich
macht, bezeichnen wir als die Sphäre der Sittlichkeit.381
378
Heidegger, Sein und Zeit, S. 122
Was uns Erfahrung lehren kann, sagt Heidegger in dem Vortrag Das Wesen der Sprache: „Mit etwas, sei es
ein Ding, ein Mensch, ein Gott, eine Erfahrung machen heißt, daß es uns widerfährt, daß es uns trifft, über uns
kommt, uns umwirft und verwandelt. Die Rede vom ‚machen’ meint in dieser Wendung gerade nicht, daß wir
die Erfahrung durch uns bewerkstelligen; machen heißt hier: durchmachen, erleiden, das uns Treffende
empfangen, insofern wir uns fügen. Es macht sich etwas, es schickt sich, es fügt sich.“, in: Heidegger, Martin:
Unterwegs zur Sprache. – 14. Auflage. – Stuttgart : Klett-Cotta, 2007, S. 159. Erfahrung auf sich zukommen zu
lassen ist ein Wagnis, welches uns staunen lässt. Ein noch nie Dagewesenes tritt in unser Dasein und lenkt dieses
„in andere Bahnen“, ist somit in keiner Weise berechenbar: „Das Staunen lebt vom Zufall. Im Gesetz erstickt
es.“, in: Canetti, Elias: Aufzeichnungen für Marie-Louise. – Frankfurt/Main : S. Fischer Verlag, 2009, S. 45.
380
Siehe AW 2, 317
381
AW 2, 318
379
137
Diese Worte dürfen durchaus so verstanden werden, dass aus einem Nehmen-bei eine Weise
der anerkennenden Freundschaft entstehen kann, in welcher das Subjekt (das Ich) und das
Objekt (das Du, das „bei etwas genommen wird“) gleichberechtigt miteinander da sind.382
Denn eine ausschließlich liebende Ich-Du-Beziehung ist, um redlich zu sein, weder tragbar,
noch ist sie auszuhalten. Werde ich verobjektiviert, indem ich bei etwas genommen werde –
etwa bei meiner Tätigkeit, Dienstleistung oder bei meiner Hilfe – wird mir Anerkennung
zuteil, die abseits der Dualität steht, jedoch für ein gemeinsam zu erreichendes Ziel
unabdingbar ist. Zuletzt noch eine Anmerkung, derer sich auch Binswanger nicht erwehren
kann: eine Person in Gestalt des Du ist nicht wahrnehmbar in Fällen und Ereignissen, bei
denen es zuvorderst um eben diese Person und ihr Leben geht. Handelt es sich zum Beispiel
um Feuerkatastrophen, Unfälle und Extremsituationen ähnlicher Art, muss der Helfende vom
Du als solchen absehen, will er seine eigene Leistung nicht gefährden.
Die obigen Einwände sind von der Absicht geleitet, die mancherorts zerklüftet und
unvereinbar erscheinenden Grundformen als Einheit aufzudecken, die unter diversen
Perspektiven und Modifikationen als auseinanderdriftende Vielfalt auftritt. Übernimmt man
die Arbeitshypothese Binswangers, gerät man vor die Polarisationen, zu denen er gefunden
hat – hier die Liebe unisono, da das Sein mit vielen, das in lieblosen Umgang umzuschlagen
droht.383 So besehen bringt die Lektüre der Grundformen den Eindruck hervor, es handle sich
beständig
um
dasselbe
–
liebendes
Wir
oder
In-der-Welt-sein
mit
anderen.
Erkenntnisfördernd kann man die Frage stellen: Wer bin ich und wer bist du, was sind wir
uns und den anderen? Fangen wir beim ersten Teil der Frage an, die nach dem Selbstsein:
zeigt sich mir ein Grund, der mich im Miteinander mit dir sein lässt oder erweist er sich als
trügende Chimäre, die dich von mir fernhält, wodurch jede, auch noch so lockere Beziehung
scheitern müsste?384
382
Buber streicht hervor, dass es das Schicksal des Du (und des Ich) ist, zum Es zu werden. Diese Tatsache
alleine bildet keinen Grund, sich dem Schicksal willenlos und hörig hinzugeben, wodurch man vollends im Es
verbleibt. Aufgabe und Grund von Sittlichkeit ist, das Du „hinter“ dem Es zu bewahren.
383
Binswanger weiß um das Kreuzen der ursprünglichen Formen des Miteinanderseins, er versucht jedoch
trotzdem, diese Weisen in deren je eigener Art zu betrachten. Die Frage, geht es in den Grundformen um eine
Synopse der drei Formen oder um ihr spezielles Eigengut, lässt eine eindeutige Antwort offen: „Die Pluralität ist
die Grundform oder der Modus des Menschseins im Gegenübersein von zwei bis x ‚Personen’, ‚Rollen’ oder
‚Parteien’, die Dualität derjenige in der Wirheit von Ich und Du. Und wiederum ist die Singularität keineswegs
ein zahlenmäßiges Element der Pluralität; denn Singularität heißt Einzelheit, ja Einzigkeit und Einmaligkeit. So
sehr sich diese Grundformen auch miteinander verflechten, einander durchdringen und einander ablösen können,
so wenig sind sie doch auseinander abzuleiten oder gar zu ‚erklären’. Nur in diesen Modi, ihren speziellen
Abwandlungen und Verflechtungen (‚Komplexionen’) ist das Dasein wirklich bei-sich.“, in: AW 2, 345.
384
Die Frage nach dem Selbstsein ergibt sich aus dem Aufbau der Grundformen, der erste Teil hat das liebende
Dasein zum Thema, in dem naturgemäß das Du den Vorrang hat, gefolgt vom freundschaftlichen Miteinander.
Der zweite Abschnitt erweitert die Begegnung zu einem sozialen Gefüge. Der folgende dritte Teil, um den es
nun gehen soll, widmet sich dem Selbst-sein.
138
6 Dasein als Vereinzeltes
6.1 Einleitendes
Fragt man Liebende oder einander freundschaftlich Gesinnte, was denn Liebe bzw. Amikalität
sei, bekommt man meist zu hören, dass uns ein tiefes Wir-Gefühl, eine Interessens- oder
Schicksalsgemeinschaft oder eben schlicht Liebe verbinde. Kaum wird jemand den
Eigennamen nennen und dabei behaupten, er liebe seine Frau. Das Miteinandersein schöpft
aus einer Quelle, die Binswanger das liebende Wir, das Miteinander in Freundschaft nennt.
Nun kann ich sehr wohl selbstvergessen, gar selbstverloren die Liebe wahrnehmen; das wird
vor allem dann der Fall sein, solange diese noch jung und aufregend ist. Doch kündigt sich
schon hier die Frage nach der Einzigkeit des Anderen an: was liebe ich eigentlich an dir – also
eine „Liebe zum Detail“, das ich an dir entdeckt habe? Wärest du ohne dieses Attribut auch
liebenswert? – Oder liebe ich dich und nehme ich dich an, weil du in Eigensein und
Einzigartigkeit existierst? Obendrein fördert meine Liebe deinen Selbstand, indem sie dich
ermutigt, du selbst zu sein.
Selbstsein und Liebe können einander gar nicht ausschließen. Selbstheit, die nicht in
der Liebe gründet, ist missverstandene Selbstliebe (als Selbstsucht) und Vermessenheit.
Umgekehrt ist eine Liebe, die kein Selbstsein zulässt, dieses voraussetzt oder über dieses
hinwegsieht, lediglich eine Vereinahmung des Du, wenn nicht gar eine gefährliche Illusion, in
der weder Ich noch Du Platz haben. Liebe ist eines der Themen, mit dem sich Wissenschaft,
Kunst, Religion wie Philosophie stets auseinandersetzen. Doch hält diese Liebe uns als
konkrete Einzelne in Atem oder steigern wir uns in ein rauschhaftes, glückverheißendes WirGefühl hinein? Erblickt man in ihr nur eine ununterscheidbare Zweisamkeit, so wäre ihr
alsbald der Untergang beschieden. Liebe, die keine Differenz unter den Partnern bewahrt,
keine Entwicklung und Entfaltung fördert, wird zum nichtssagenden Wort. Der Begriff
„Dialogphilosophie“ drückt sein Programm schon namentlich aus: Dialog umfasst
(mindestens) zwei Partner, die etwas zu sagen haben. Einer gibt sich dem Anderen kund und
gibt sich ihm so zu verstehen; der eine war also schon vorher ein Selbstsein, das sich nun
mitteilen kann. Die Selbstheit – deine wie meine – gilt als Voraussetzung des liebenden
Miteinanderseins, welche leicht übersehen wird, sobald man die Einheit der Liebe in Betracht
zieht. Aufgabe der Begegnungsphilosophie ist es, den Anderen, das Du, den Geliebten
denkend zu erfassen, wobei das Ich als isoliertes zurücktritt. Nicht selten entsteht so der
Eindruck des totalen Seinlassens des Anderen, dem sich das Selbst subordinieren müsste.
139
Davon und auch vom völligen Einssein bzw. Verschmelzen in Liebe hält Binswanger wenig.
So nennt er die erste Grundform des Daseins Dualität, in der es um Zweiheit geht und aus der
heraus sich Ich und Du entwickeln.
Die Selbstheit meiner und Deiner im Sinne des liebenden Miteinanderseins ist ja,
wie wir wissen, keine Selbstbemächtigung im Sinne des Ganzseinkönnens der
Existenz, sondern eine Beschenktheit oder Begnadetheit mit Selbstseinkönnen aus
der Fülle und in der Fülle des reinen Überschwangs. Das Geschenk dieser Selbstheit
ist die Einsamkeit. Im Gegensatz zur Alleinheit oder Isoliertheit ist Einsamkeit nur
möglich auf dem Grunde der wahren Zweisamkeit, wie wahre Zweisamkeit nur
möglich ist auf dem Grunde der Einsamkeit.385
Einsamkeit widerspricht nicht der Liebe, zumal beide – Einsamkeit und Liebe – auseinander
zu verstehen sind. Man darf allerdings fragen: wie sind Ich-selbst und Du-selbst möglich,
ohne dass das liebende Wir zu existieren aufhört? Welchen Stellenwert hat umgekehrt die
Selbstheit der Beziehungspartner – sind beide stabil genug, um nicht in einem nivellierenden
Wir aufgelöst zu werden? Die Wechselwirkung zwischen Individuum und Wir erläutert
Binswanger anhand der Gabe oder des Geschenks. Jemandem etwas überreichen meint nicht
nur das Geschenk, ich selbst schenke mich dir als der, der unvertretbar ich selbst bin, in
diesem Sinn bin ich schon ein Einzelner. Sodann bin ich ein Ich-selbst, sofern ich von dir
akzeptiert werde und in die Beziehung eintreten kann. Schenke ich mich dir und bekomme
ich dich geschenkt, dann sind wir beide in Liebe einmalig und vereinzelt. Dazu bedarf es, wie
Binswanger hinzufügt, der Einsamkeit. Sie ist ein „[…] der liebenden Gemeinsamkeit oder
Wirheit immanenter Wesenszug, nicht weniger als die Zweisamkeit.“386 Einsam bin ich
deshalb, weil ich mir meiner selbst als von dir geschenktes Ich bewusst bin.
Es gilt, die positive Bedeutung des Begriffes der Einsamkeit zu fassen, der vor allem
von Seiten einer Spaß- und Erlebnisgesellschaft als Privation, als Mangelerscheinung oder
ungebührliches asoziales Benehmen leichtfertig abgetan wird. Einsamkeit ist in erster Instanz
überhaupt kein Anzeichen einer (krankhaften, hypersensiblen) Rückzugstendenz, einer
Neigung, sich in sich selbst zu verkrümmen. Sie ist Respekt vor dem Anderen in seinem
Sein. Emmanuel Bove stellt das Verhältnis des Einsamen – selbst als Einsamer verhält man
sich noch zu anderen – bündig dar: „Im übrigen: wenn ich einen Menschen gernhabe, will ich
ihn niemals besitzen. Je mehr diejenige [das Mädchen, Anm.] zögert, desto lieber wird sie
mir.“387 Die Dynamik der Dualität als das Werden von Ich und Du (als Einsame) im
385
AW 2, 166
AW 2, 116
387
Bove, Emmanuel: Meine Freunde – Aus dem Französischen von Peter Handke. – Erste Auflage. –
Frankfurt/Main : Suhrkamp, 1981, S. 176. Boves Roman endet zwar in Resignation, der Autor führt jedoch den
Unterschied von Einsamkeit als Folge mitmenschlicher Beziehungen und Alleinesein als Isoliertsein in
Verlassenheit vor: „Die Einsamkeit: wie schön ist sie, und wie traurig. Wie ist sie schön, wenn wir sie wählen.
Wie ist sie traurig, wenn sie uns aufgezwungen ist durch die Jahre. Manch starke Menschen sind in der
386
140
liebenden Wir, das uns aufruft, jene zu werden, die wir im Prinzip, im Keim schon sind,
beschreibt Böckenhoff:
Doch wird für die Zweisamkeit geradezu eine gewisse Einsamkeit gefordert; denn der
Andere bleibt ja ein Anderer in der Begegnung. Ja, er wird erst recht in seinem Selbst
wachsen. Mitsein ist zwar ursprünglicher als Alleinsein. Aber beides gehört
zusammen: einsam sein und sich öffnen, wie Plus- und Minuspol. Das zum AndernSein und die letzte große Einsamkeit sind nicht kontradiktorische, sondern polare
Gegensätze. Die letzte Tiefe des Andern, seine Individualität, ist nicht
auszuschöpfen; sie wird in der Liebe aufgeschlossen.388
Begegnung, sei sie Liebe, Freundschaft oder ein unbeabsichtigtes Zusammentreffen,
geschieht erst da, wo ich jemanden gewahre, der nicht meinesgleichen ist. Anderes wäre
bestenfalls eine Spiegelung meines eigenen Ichs.389 Selbiges gilt gleicherweise für den
anderen, dem ich begegne: ich bin ihm genauso fremd wie er mir. Ohne das Denken über den
Dialog absichtlich zu verlassen, ist es beinahe geboten, das Ich auf sein Zu-sich-selbst-sein
zu befragen, um so wieder zum Anderen zurückzukommen.
Um ein Einzelner zu sein, hebt sich der Mensch von dem ab, was er nicht ist. Bei aller
Bezugnahme auf Um- und Mitwelt ist er so auf sich selbst verwiesen und auf sich
angewiesen. Der so sich durchhaltende Selbstand ermöglicht es, „Ich“ sagen und sich darin
behaupten zu können. Jede von mir getätigte Aussage und vollzogene Handlung erweist mich
als Urheber, der als solcher ein einzelner ist. Das betrifft nicht nur meine Äußerungen und
Akte, es geht viel tiefer: ich kann mich in meinem Eigensten – in meinem Dasein – nicht
vertreten lassen.390 Ich selbst nämlich bin es, der das mir überantwortete eigene Dasein
annimmt und damit die entsprechende Verantwortung trage.
Das ganz konkrete faktische Ich bildet in gewissem Sinn einen Angelpunkt, um den
sich meine Weltbezüge drehen und in denen andere Menschen ihren von mir zugewiesenen
Platz einnehmen, zumal sie doch von mir unterschieden sind. Würde ich die anderen unter
Einsamkeit nicht allein; doch ich, der ich schwach bin – ich bin allein, wenn ich niemanden zum Freund habe.“,
in: Bove, Meine Freunde, S. 205f.
388
Böckenhoff, Die Begegnungsphilosophie, S. 399
389
Von da her ist es nicht weit zu Theorien der Einfühlung, Einsfühlung, Identifizierung. Diese haben als
sozialpsychologische Vorgänge gewiss ihren Rechtsgrund, versagen aber vor der Erfahrung des anderen
Menschen, sobald eingestanden wird, dass sämtliche Theorien der Fremdheit den Anderen – Lévinas nennt es
die Spur des Anderen – nie adäquat einzuholen und dadurch zu erklären vermögen.
390
Heidegger begreift Dasein als Faktizität. Dass Dasein ist, beruht nicht auf der freien Wahl seiner selbst, es ist
und es hat zu sein. Ganz gleich, ob wir uns für oder gegen unser In-der-Welt-sein stellen, wir können über die
Geworfenheit nicht verfügen: „Diesen in seinem Woher und Wohin verhüllten, aber an ihm selbst um so
unverhüllter erschlossenen Seinscharakter des Daseins, dieses ‚Daß es ist’ nennen wir die Geworfenheit dieses
Seienden in sein Da, so zwar, daß es als In-der-Welt-sein das Da ist. Der Ausdruck Geworfenheit soll die
Faktizität der Überantwortung andeuten.“, in: Heidegger, Sein und Zeit, S. 135. Die Wahl des Wortes
„Geworfenheit“ verleitet zur Annahme, Dasein sei eine aufgezwungene Last, derer man sich nicht erwehren
kann. Faktizität drückt die Aufgabe, zu sein aus; es ist mir zu sein gegeben. Geworfenheit ist kein Urteil, das ich
etwa vergeblich anfechten möchte, Sein ist mir überantwortet; dies macht sich vor allem da bemerkbar, wo ich
mich vom Dasein und von der Welt abwenden möchte.
141
mich subsumieren, so bedeutete das einen Cäsarenwahn, der den anderen vernichtet, ohne
ihn ernst genommen zu haben. Trotz Teilhabe an der Spezies Mensch bin ich ein Einzelner,
der die Welt gegenüber hat; mit jedem Ich hebt eine neue Welt an. Oder, wie Emerich Coreth
schreibt:
In der gesamten Welt und der Geschichte ist nur ein einziger Punkt, der mir selbst
gehört, der ich selbst bin – an dem ich gleichsam die Augen aufschlage und sagen
kann: Ich – das bin ich. Es ist ein Punkt, an dem mir ein lichter Raum eröffnet ist:
mein Bewußtsein, in dem ich mir selbst gelichtet bin, mein Erkennen, in dem das
andere, die Welt, in das Licht meines Bewußtseins tritt und in diesem Licht zu
meiner Welt wird. Es ist zugleich ein Punkt, an dem mir ein freier Raum geöffnet ist,
in dem ich über mich selbst verfüge, mich entscheiden muß und mich entfalten soll,
in dem ich mir selbst – unvertretbar und unausweichbar – überantwortet bin. Dieses
einzelne, einmalige Dasein, das ich selbst bin, ist mir allein geschenkt, mir
anvertraut, in meine eigene Verantwortung gestellt.391
Das Ich als Mittelpunkt seiner eigenen Welt ist ein nachvollziehbarer und stimmiger
Gedanke, der den Grund menschlicher Selbsterfahrung zum Ausdruck bringt. Der Mensch
überhaupt betrachtet sich als Zentrum, in welchem das Beziehungsgefüge seiner Welt ihren
Platz hat. Wäre dem nicht so, könnte dieser einzelne Mensch durch einen beliebigen anderen
ersetzt werden. Spätestens jetzt ist dem Argument eines solus ipse bzw. eines Egozentrismus
der Boden genommen, kann doch erst ein Ich seiner eigenen Erfahrung teilhaftig werden.
Erfahrung, derer man bewusst ist und offen gegenübersteht, kann nur mich betreffen, weil
ausschließlich ich derjenige bin, der sich vor dem Erfahrenen zu verantworten hat.392
Überdies trifft mich Erfahrung als Einzelner, die mir meine Zukunft offenhält, die eben nur
ich wahrnehme. Vergesse ich hier meine Einmaligkeit, mache ich zum willigen Opfer eines
Fatalismus, eines Unbeteiligtseins oder auch zum Instrument einer Ideologie. Diese bieten
eine Scheinsicherheit, die sich der Erfahrung wie der Zukunft in den Weg stellt. Damit gehe
ich natürlich ein Risiko ein, wie H.M. Enzensberger betont: „Was vorn ist, weiß niemand, am
wenigsten, wer unbekanntes Terrain erreicht hat. Gegen diese Ungewißheit gibt es keine
Versicherung. Mit der Zukunft kann sich nur einlassen, wer den Preis des Irrtums zu erlegen
bereit ist.“393 Nun kann man zu der Ansicht gelangen, die Philosophie der Begegnung ist in
ihre Schranken verwiesen. Binswangers Gedanken laufen dem jedoch zuwider, beharrt er
391
Coreth, Emerich: Was ist der Mensch? : Grundzüge philosophischer Anthropologie – 4., neu bearb. Aufl. –
Innsbruck ; Wien : Tyrolia-Verlag, 1986, S. 63
392
Der Einwand, in der Dualität machen wir dieselbe Erfahrung gemeinsam, übersieht den Charakter des
Wesens der Erfahrung. Z.B. ist das betrachtete Bild, die gehörte Symphonie oder das gelesene Gedicht immer
dasselbe, allerdings sind die Betrachter, Zuhörer, Leser voneinander verschieden. Jeder Rezipient bringt seine
eigenen Stimmungen und Erwartungen mit. Du und ich können dasselbe Phänomen nie gleich erfahren bzw.
erleben. Erfahrung vereinzelt, weil ich es bin, oder du es bist, der die Erfahrung, eine Situation, damit also schon
eine Begegnung durchmacht.
393
Enzensberger, Hans Magnus: Scharmützel und Scholien : Über Literatur – Herausgegeben von Rainer
Barbey. – Erste Auflage. – Frankfurt/Main : Suhrkamp, 2009, S. 156f
142
doch auf Selbstwerdung des Ich durch das Du. Das Ich ist weder alleine noch weltlos, erst
durch Mit- und Umwelt – ohne diese dialektisch und vereinnahmend zu verstehen – gelangt
das Ich zu sich selbst. Mit diesem Hintergrund wird man Coreth zustimmen:
Daraus entspringt die letzte Einsamkeit, die jeder bisweilen in ihrer ganzen Tiefe
erfährt. Sosehr er auch inmitten der Welt und des Weltgeschehens lebt, ist er doch im
letzten auf sich allein gestellt, auf sich selbst zurückgeworfen. Er steht allein in seiner
eigenen Entscheidung und Verantwortung. Niemand, auch nicht der vertrauteste und
geliebteste Mensch, kann sie uns abnehmen, uns vertreten oder entlasten. Ich habe
dieses einmalige Dasein allein auf mich zu nehmen. Es geht allein um mich selbst.394
6.2 Das Problem in der Philosophiegeschichte
Im Dialog gelangt das Ich durch das Du zu sich selbst. Selbiges gilt für dich: mit mir und
durch mich geht dir dein Eigensein auf, welches dich fordert, du selbst zu sein. Das
Selbstsein realisiert sich in der Annahme seiner selbst, unter der Binswanger die Liebe zu
sich selbst versteht. Von ihr ist Selbstverliebtheit, Durchsetzung des Eigenen und damit
verbundener Alleinanspruch über alles andere strikt zu unterscheiden. Wiederum bleibt
Binswanger dem abendländischen Denken treu, namentlich findet er bei Aristoteles und
Augustinus
eine
Entwicklung
des
Begriffes
der
Selbstliebe.
Eine
theologische
Anthropologie, auf Offenbarung fußend, weist er zurück, damit scheidet eine Form der
Selbstakzeptanz aus – die religiöse. Der andere Grund – Selbstliebe als ethisches Phänomen
– fällt ebenfalls weg.395 Religion und Ethik werden ausgespart, um die Selbstliebe rein auf
eine philosophische Anthropologie zu gründen. Ethik wie auch Religion sind nun einmal
menschliche Phänomene, gerade auch dann, wenn der Atheismus als Sinngeber auftritt bzw.
wenn Ethik nach eigenem Gutdünken modifiziert wird. Dessen ungeachtet entwickelt
Binswanger seinen Standpunkt von Aristoteles und Augustinus heraus, die gleichsam als
Gewährsleute dienen. In einem weiteren Schritt kommt er auf seine eigenen Überlegungen zu
sprechen (das diskursive Sein-zu-einem-selbst), die in einem dritten Schritt weiter ausgebaut
394
Coreth, Was ist der Mensch?, S. 64
Das Verhältnis Binswangers zu Religion und Ethik ist ambivalent, was im Denken des Dialogs ungewöhnlich
erscheint. Religion entspringt nach ihm der Dualität, die Unableitbarkeit schlechthin bedeutet. Nicht
Gottebenbildlichkeit bzw. Gott als Grund des Seienden ist Maßstab zwischenmenschlicher Begegnung, sondern
Dualität ist das letzthin Gründende. Religion ist demnach eine mögliche Folge des Miteinanderseins und nicht
zwingend gleichbedeutend mit der Freigabe ins Dasein von mir und dir: „Der Aufweis der Verwurzelung eines
‚religiösen Bewußtseins’ im liebenden Miteinandersein darf also nicht dazu verleiten, die Liebe als solche als
religiöses Phänomen zu bezeichnen.“, in: AW 2, 348. Dann wieder ist Gott das allgemeine Du als Schöpfer des
Geschenkes, deiner und meiner Existenz. Es heißt explizit, dass „[…] wir den Grund unserer Begegnung nicht
nur nicht selbst gelegt, ja auch nicht von uns selbst her ergriffen haben, sondern daß er uns ‚ergriffen’ hat.“, in:
AW 2, 346f. Ob dies eine Erfahrung Gottes als Grund Gebender ist oder vielleicht ein psychisches
Gestimmtsein, lässt Binswanger offen. Dazu Theunissen, Der Andere, S. 475: „Nie dagegen sagt er
[Binswanger, Anm.]: der Ursprung der Liebe, der Schöpfer der Gnade ist Gott. In den phänomenalen Befund der
Liebe fällt also nicht das Faktum Gott, sondern nur das Faktum, daß wir, Ich und Du, unsere Liebe auf Gott
zurückführen.“
395
143
werden. Fragestellung und Programm zielen darauf ab, „[…] ob es eine Art der Selbstliebe
gibt, die der Liebe oder Freundschaft in dem von uns herausgearbeiteten Sinne der liebenden
Begegnung oder Teilnahme entspricht, oder ob es nicht der Fall ist.“396 Inwieweit er sein
Vorhaben einlöst, ist Gegenstand der folgenden Überlegungen.
Die aristotelische Selbstliebe (ἡ φιί) und der augustinische amor sui, der nicht
vom amor dei zu trennen ist, bilden unzureichende Beispiele von dem, was Binswanger
darunter versteht.397 Liebe und Selbstliebe sind miteinander so verflochten, dass beide Arten
der Liebe zuweilen unentwirrbar sind. Dem fraglosen Verständnis sind sie quasi eine Weise
der Liebe – Selbst- und Andernliebe bedingen einander. Das ist im Grunde auch völlig
richtig und konsequent, der Zuspruch, den mir andere geben, fordert mich auf, zu sagen: „Es
ist gut, dass ich da bin.“ Heidegger spricht in derselben Hinsicht, dass mir zu sein
(auf)gegeben ist. Zu-sich-selbst-sein ist anderen, seien es die Eltern, eigene Kinder, Freunde,
der geliebte Mensch, geschuldet. Das ist inmitten der alltäglichen Wahrnehmung zwar
verdeckt, aber dennoch bleibe ich im Wirbel und Wandel der hektischen Geschäftigkeit ich
selbst, auch wenn sich dies erst im Nachhinein herausstellt.
Auch Aristoteles orientiert sich am alltäglich Feststellbaren: die einen (vielleicht die
meisten?) lieben einander, um wechselseitig Nutzen zu ziehen, anderen ist Liebe
Lustgewinn: „Wer also jemanden liebt, weil er nützt, der liebt um eigenen Gutes willen, und
wer aus Lust liebt, liebt aus eigener Lust, und nicht, weil der Geliebte das ist, was er ist,
sondern weil er nützlich oder angenehm ist.“398 Das so gelebte Miteinandersein verbirgt und
offenbart zugleich eine Liebe als Selbstsucht. Der eine gibt seinen Neigungen – die
Aristoteles den niederen Seelenteilen zuordnet – nach, wobei der andere als Erfüllungsgehilfe
zu dienen hat. Sobald die Lust gestillt ist, wird der andere nicht mehr beachtet, denn er steht
jedem weiteren Eigennutz bloß hinderlich im Wege: „Wohltaten empfangen wollen ja viele,
aber sie zu erweisen meidet man als unnütz und lästig.“399 In der Selbstsucht kehrt das alte
Wort siech – krank – wieder, der Selbstsüchtige ist an sich selbst erkrankt, er leidet am
eigenen Dasein. Sei es, dass er sich seinem Dasein verweigert und sich gegen es sperrt, oder
sich nicht annimmt als der, der er zu sein hat oder als der, der er – durch andere – sein darf.
Binswanger nennt dies das Sein „von Gnaden deiner“400.
396
AW 2, 350
Das Urteil über Aristoteles lautet: „Eine phänomenologische Wesensanalyse dieses Selbst dürfen wir hier also
nicht erwarten […].“, in: AW 2, 350. Was die christliche Selbstliebe betrifft, lesen wir auf Seite 355: „Auch hier
kann es sich nicht um Liebe in unserem Sinne handeln.“
398
Aristoteles: Die Lehrschriften – Band 11 : Nikomachische Ethik. – Herausgegeben, übertragen und in ihrer
Entstehung erläutert von Paul Gohlke. – Paderborn : Schöningh, 1956, zitiert als NE, 56a
399
NE 1163b
400
AW 2, 401
397
144
Selbstliebe bei Aristoteles ist weniger vom Dialog mit anderen geprägt als von zwei
Perspektiven, unter denen er den Menschen betrachtet. Die eine bildet jenes Selbst, das der
Vernunft, dem Maß, also dem όentspricht; der andere Seelenteil fühlt sich der
Leidenschaft, dem Affekt (τὸ ά angehörig. Man wird nicht meinen wollen, diese
beiden Seelenteile verhielten sich kontradiktorisch zueinander, sind sie doch Teile eines
gemeinsamen, sie beide umfassenden Ganzen, eben der Mensch. Um weder ausschließlich
der „reinen Vernunft“ (die trotzdem noch der Erfahrung bedarf) noch der ausufernden
Leidenschaft (die selbst auch unter den Regeln der Vernunft steht) den Vorrang zu geben,
spricht Aristoteles vom Begriff der Mitte (ἡ ό, die die Einheit des Menschen
gewähren soll. Großzügigkeit z.B. ist das Mittlere zwischen purer Verschwendung und
hartnäckigem Geiz. In diesem Maß, das nicht zuviel verlangt und nicht zuwenig fordert, ist
der Mensch in seiner Mitte, d.h. frei von Selbstsucht und Selbstverleugnung.
Die Definition des Menschen als vernunftbegabtes Lebewesen stammt von Aristoteles
selbst, dementsprechend ist das Verhalten zu anderen wie zu sich selbst vernunftgeleitet:
„Nun macht das Denkvermögen unser Wesen aus, oder doch hauptsächlich. Auch
zusammensein will ein solcher mit sich selbst, weil es ihm Freude macht.“401 Warum aber
Freundschaft mit mir selbst, wenn ich lediglich aus ihr Freude empfinde? Er antwortet: der,
der nicht die Mitte einschlägt, hätte nichts Liebevolles an sich. Das ist nicht moralistisch zu
sehen, denn der Unmäßige, der aus dem Lot geraten ist, trifft in seinen Entscheidungen nicht
das Gute oder die Tugend und ermangelt daher der Liebe. Die – vernunftgeleitete – Liebe
wird weder ihm noch den Mitmenschen zuteil; im Extremfall wird daraus Hass und Abscheu
sich selbst und anderen gegenüber.402
Jemand, der sich von der Liebe nicht angenommen weiß, die ihm hätte gelten sollen,
vermag kein treues Selbstverhältnis durchzuhalten. „Darum ist also der Schlechte gegen sich
selbst nicht freundschaftlich gestimmt, weil er nichts Liebenswertes [der Liebe Würdiges,
Anm.] hat.“403 Das Übereinkommen mit sich dagegen, das sich im „Seelenfrieden“ bekundet,
spiegelt Freundschaft zu anderen wider. Darin liegt das Interesse Binswangers, Liebe des
anderen und Selbstliebe weisen Gemeinsamkeiten auf, die Aristoteles hervorgehoben hat. Im
Kapitel über die Dualität wird das Thema des freundschaftlichen Miteinander aufgeworfen,
das nun in veränderter Form wiederholt wird. War dort die Freundschaft eine Erweiterung
401
NE 1166a
Dramatisch drückt es Shakespeare aus, der Elisabeth im Richard III sagen lässt: „I’ll join with black despair
against my soul, And to myself become an enemy.“, in: Richard III, 2. Akt, 2. Szene.
403
NE 1166b. Hier zeigt sich die Autodestruktion. Selbsthass als letztgültige Verneinung all dessen, was ist,
bejaht im Grunde dieses, lässt es aber nicht zu. Aus objektiver Sicht kann man sich selbst nicht hassen, weil man
sich im Selbsthass vorausgesetzt und in diesem sich selbst angenommen hat.
402
145
der Dualität als Zuwendung dem oder den Dritten gegenüber, ist die Singularität (Eigenliebe,
Eigensein, Sein zu sich selbst) eine Freundschaft mit sich selbst, zumindest ist sie ein
Verhältnis zu sich selbst. Ergeben sich bei Aristoteles Parallelen zwischen Selbstakzeptanz
und Freundschaft mit anderen, so werden diese bei Augustinus in der Dimension des
Göttlichen betrachtet.
Selbst ein undifferenzierter Augenschein erkennt in Aristoteles’ und in Augustinus’
Gedanken über Selbstliebe Ähnlichkeiten, nicht nur, weil beide dasselbe Phänomen zu
erhellen suchen. Ersterer führt als höchste Instanz menschlichen Tuns den Verstand (ὁ
ῦan; Augustins Philosophie weist ebenso dem intellectus die führende Rolle zu. Die
gravierende Differenz zwischen beiden erwächst durch den christlichen Glauben, nach dem
es vorbehaltlos Gott zusteht, die Liebe zu sein.404 Man mag sein Denken unter der Maxime
„credo, ut intelligam“ verstehen, die eine Vermittlung des Glaubens mit dem Denken zu sein
beansprucht. So nähert sich Binswanger an Augustinus an, wo dieser vom Göttlichen spricht,
das sich dem Menschen nur glaubend-erkennend öffnet:405
Aber wie ARISTOTELES in der φί(nur) die Freundschaft mit unserem
vernünftig-geistigen Sein erblickt, so erblickt AUGUSTINUS in der Selbstliebe (nur)
die Liebe zu unserem göttlich-geistigen Sein, zum mens „in uns“.406
Die grundlegende Weise der Liebe ist vor allem die Liebe zu Gott. Das Ich ist damit als
theologischer Begriff des Geistes gefasst, der die anthropologische Interpretation in sich
aufnimmt. Eine rein vom Menschen her gesehene Auslegung der Liebe wird durch die
Konzentration auf die göttliche Liebe überstiegen. Augustinus entnimmt seinen Gedanken
der Trinität; wie die Dreiheit einen Binnenbezug aufweist, durchläuft die menschliche Liebe
ebenfalls einen Dreischritt: Gottesliebe, Nächstenliebe und Annahme des Selbst verweisen
aufeinander. Im dualen Wir lieben Ich und Du einander, um jene sein zu können, die wir der
Potenz nach bereits sind. Liebe ich dich, so akzeptiere ich dich und „lasse dich zu“ – so liebe
ich dich derart, wie es niemand sonst an meiner statt zuwege bringt, zumal ich dich liebe. In
diesem Prozess gewähren wir einander wechselweise Einzigartigkeit: „Je größere
Wirklichkeit der Wirheit, um so größere Möglichkeit der Selbständigkeit von Mir und Dir,
404
Eine grobe Fehlinterpretation erliegt dem Irrtum, der Mensch wäre deshalb von jeglicher Liebe
ausgeschlossen und daher zur Liebe unfähig. Die Liebe Gottes zeigt sich als Urkraft, die uns sein lässt. Damit
stößt Augustinus an eine Frage, an der kein Denken der Begegnung vorbeikommt: ist liebendem Miteinandersein
ein göttlicher Boden unterbreitet oder nicht.
405
An dieser Stelle macht Binswanger der Religion eine respektvolle Konzession: „Wo von wirklicher SelbstLiebe – also nicht im Sinne der Eigenliebe, der Selbstsucht oder des Egoismus, der mit Liebe im
anthropologischen Sinne nichts zu tun hat, und nicht im Sinne des freundschaftlichen Umgangs mit sich selbst –
die Rede ist, da befinden wir uns in der geistigen Sphäre des Christentums, in einer bestimmten theoanthropologischen Sphäre also, in der nicht nur der amor sui untrennbar ist vom amor proximi und beide vom
amor dei […].“, in: AW 2, 355f.
406
AW 2, 358
146
[…].“407 Binswanger untermauert sein Verständnis von Liebe mit dem Dasein als In-derWelt-sein, welches mit Religion als solche nicht (mehr) in Berührung steht. Die
überkommenen philosophischen und theologischen Fundierungen der menschlichen Existenz
sind der Technik und den Wissenschaften bzw. der Entgötterung gewichen.408
Skepsis gegenüber der Technik und der durch sie geprägten Zeitläufte ist – nach
Heidegger – nur mit dem „kommenden Gott“ zu begegnen; Binswangers Zweifel an der
Liebestheorie des Augustinus findet seinen Gegenpunkt im Theologen Michael Schmaus,
den er zu Wort kommen lässt:
Doch lieben wir Gott um seiner selbst willen, den Nächsten um Gottes willen. Auch
uns selbst lieben wir mit der gleichen Liebe. Auch die wahre Selbstliebe erfolgt um
Gottes willen. Wer sich wahrhaft zu lieben versteht, der liebt Gott. Wer Gott nicht
liebt, scheint sich eher zu hassen als zu lieben.409
Unterstützung findet Binswanger ebenso bei Hannah Arendt, deren Standpunkt er teilt. Der
geliebte Andere fungiert als Ausgangspunkt für die Gottesliebe; den Gedanken Augustinus’
extrem verknappend kann man meinen, es werde durch das Geschaffensein der Schöpfer
geliebt: „An jedem einzelnen Menschen wird derselbe Ursprung geliebt, jeder Einzelne ist
diesem identischen Ursprung gegenüber nichtig.“410 Der geliebte Mensch dient nur als
Vehikel zum göttlichen Du, das verlassen wird, sobald sich die Liebe in Gott erschöpft. Das
Du verweist in seiner Geschöpflichkeit auf Gott als ursprünglicher Grund unseres Daseins.
Die Annahme seiner selbst wie die des Geliebten muss nicht notwendig durch den Glauben
motiviert sein, deshalb trennt Binswanger den christlichen vom anthropologischen
Liebesbegriff. Ausschließliche Hinwendung zu Gott lässt den Einzelnen und den Anderen
außen vor. Gleichwohl ist an dieser Stelle eine Bemerkung angebracht: Das oftmals
vorgebrachte Argument der Nächstenliebe übersieht die darin ebenfalls gebotene Selbstliebe,
sofern sie diese als Eitelkeit, Selbst- und Gefallsucht entlarven will. „Liebe deinen Nächsten“
heißt dann immer auch: „denn du selbst bist diese Liebe“.411
407
AW 2, 111
Scheidet der religiöse Glaube als Basis personal-dialogischer Beziehung aus, warum beruft sich Binswanger
ausgerechnet auf Augustinus? Er distanziert sich vom technisch-wissenschaftlichen Weltbild ebenso wie vom
rein religiösen. Die Bezugnahme auf die antiken Denker bildet ungeachtet ihrer Argumente einen
philosophiegeschichtlichen Hintergrund für seine eigene Deutungsebene.
409
AW 2, 362
410
Arendt, Hannah: Der Liebesbegriff bei Augustin, zitiert in: AW 2, 364
411
Bin ich selbst diese Liebe, dann suche ich, den anderen zu sich selbst zu bringen und uns im liebenden Wir
Selbständigkeit zuzutrauen. Den für Binswanger typischen weitschweifigen Reflexionen entnimmt man dazu in
einer Fußnote: „Hier wird übrigens ersichtlich, daß und inwiefern man die vorausspringende Fürsorge
HEIDEGGERs als eine säkularisierte christliche Nächstenliebe bezeichnen könnte.“, in: AW 2, 363, Fußnote 19.
Augustinus bietet sich Selbst-, Nächsten- und Gottesliebe in trinitarischer Form dar, Binswanger indessen fühlt
sich der philosophischen Anthropologie verpflichtet, muss demnach die Liebe Gottes beiseite lassen. Man
braucht deshalb nicht die Konsequenz zu ziehen, wie es Feuerbach tat, der im Wesen des Menschen Gott
erblickt. Nächstenliebe ist nicht schon Gottesliebe, wie auch die Tugend der Gottgefälligkeit in Geringschätzung
408
147
Die Pluralität der Menschenmenge ist der Verantwortung enthoben, weil in ihr ein
Einzelner gar nicht ausgemacht werden kann. Spielt sich im Gegenteil ein Einzelner in seiner
Selbstsucht auf, dann vermeint er, Herr des Unbeherrschbaren zu sein. Singularität strebt
hingegen an, nicht mehr zu sein bzw. danach zu trachten, als mir zu sein geboten ist – aber
auch nicht weniger. Aristoteles’ Empfehlung, die Mitte zwischen den Extremen
einzuschlagen, klingt hier ebenso mit wie Jesaja, den Binswanger hinzuzieht. Der
alttestamentliche Prophet ringt um das Heil des Geschaffenen, das sich nicht erheben soll,
um einen nicht gebilligten Platz einzunehmen: „Weh dem, der mit seinem Schöpfer rechnet,
er, eine Scherbe unter irdenen Scherben. Sagt denn der Ton zu dem Töpfer: Was machst du
mit mir?“ (Jes 45,9) Es steht nicht an, Jesaja auszulegen, sein Satz steht für die Fügung in
sich selbst und in der Mitwelt. Singulares Dasein existiert sodann in der Vereinzelung im
Sinne der Gliedhaftigkeit eines Umfassenden, von dem es als Teil abhängt. Zwar gibt es das
Ganze erst, wenn es Einzelnes in sich versammelt, daher bedarf die Singularität als
Unvollkommenes der Welt und des Du und soll doch des Gründenden gewahr sein.
Zweifellos steht Binswanger der christlich-abendländischen Tradition nahe, ohne die sein
Begegnungsdenken in dieser Form gar nicht zustande gekommen wäre. Einheit im Wir und
Vereinzelung in Ich und Du führt er auf die Überlieferung zurück: „Dieser höchsten Einsicht
christlich-religiöser Theo-Anthropologie, der Einsicht in die Fragmenthaftigkeit jedes Ich,
kann sich auch die säkularisierte Anthropologie nicht verschließen!“412
6.3 Singularität im Sinne Binswangers
Das bislang Erörterte bildet eine historische Annäherung an das Problem der
Einzelhaftigkeit, es hat über dieses noch nichts entschieden. Ein Schritt ist allerdings schon
getan, nämlich der, dass philosophische und theologische Anthropologie nicht deutlich zu
trennen sind. Wie führt Binswanger diesen Gedanken weiter?413 Die Frage nach dem Selbst
öffnet sich damit umso weiter. Eine erste Antwort gibt Binswanger mit dem Hinweis auf die
Diskursivität des Daseins, wie sie im Modus der Pluralität herausgearbeitet wurde. Ist es
bereits herausfordernd genug, den Einzelnen, den Geliebten verstehen zu wollen, so
verändert sich die Verstehensweise, in der ein Ich sich mehreren Mitdaseienden zuwendet.
anderer umschlagen kann. Wie immer der Begriff der Sorge zu fassen ist, sie gilt in jedem Fall den
Mitdaseienden.
412
AW 2, 381
413
Er betritt wiederum heikles, manchmal umstrittenes Terrain, hier in Gestalt der zuweilen unscharf gezogenen
Trennlinien zwischen Theologie und Philosophie. Er reiht sich damit in die Schar der „Grenzgänger“ ein, die es
in Kauf nehmen, angrenzende Wissenschaften zu verfolgen, um deren Resultate wahrzunehmen. Das Risiko,
Grabenkämpfe ausfechten zu müssen, wohnt der Interdisziplinarität notwendig inne.
148
Nicht dir gilt ungeteilte Aufmerksamkeit, auch andere fordern meine Gegenwart ein. Die
unvermeidliche Begegnung mit den Vielen gestaltet sich in der Weise des
[…] schrittweisen, von einer Stellung zur anderen fortschreitenden, ver-stehenden
und ver-nehmenden Auf-Tretens, also des Durch-Schreitens, mit einem Fremdwort,
der Diskursivität.414
Dass das Schreiten um die anderen und um sich selbst noch nicht zum Eigenen führt, dieses
vielmehr in Schwebe hält, ist Binswanger bewusst, warum aber bemüht er die Diskursivität
als Modus des Daseins? Das Gegenüber in der Singularität ist nicht das Du oder die vielen,
sondern das Ich selbst. Genauso ist der Verstehensraum die Eigenwelt. Angesichts des
Gewichtes der Dualität erscheint die Eigenwelt als etwas Leeres und Substanzloses.415 Im
Weiteren wird Binswanger das Selbst als etwas Bodenloses oder nur unzureichend Fassbares
verstehen. Was in der Diskursivität vernehmend umschritten wird, bin ich selbst; ich bin
Vernehmender und Vernommener zugleich. Umkreise ich in der Pluralität andere, um sie
„bei etwas“ zu nehmen und sie unter ein Schema zu fassen, dann treibe ich in der Einzelheit
ein Rollenspiel mit mir selbst – ich agiere als Schauspieler, der der eigenen Regie untersteht.
Ich spreche zu mir selbst, indem ich diverse Standpunkte und Perspektiven einnehme. In
diesem Fall stehe ich unter Voreingenommenheit und Parteilichkeit, die jede Indifferenz
unterbindet. Im Selbstgespräch lässt sich nichts Unbekanntes erfahren, in ihm sage ich mir
das, was ich zuvor schon gewusst habe, psychische Konflikte oder Gewissensfragen werden
in ihm selten gelöst. Binswanger nennt es ein „[…] Quasi-Gespräch, und zwar auf Grund der
strukturellen Nivellierung, die die Struktur des Gesprächs im Selbstgespräch erfährt.“416
Nun ist liebendes Miteinander entsprechend konfliktanfällig, gerade weil wir einander
in beidseitigem Interesse zusprechen, das je unser Eigenes betrifft.417 Anders als man glauben
mag, führt das Selbstverhältnis als Rollenspiel mir gegenüber nicht zum Selbst, sondern
verbleibt im Dilemma zwischen „[…] dem rollenhaften oder standpunktlichen Zu-sich-
414
AW 2, 307f
Die Leere und mit ihr eine gewisse Undefinierbarkeit des Ich-selbst bzw. des Einzelnen taucht in
Binswangers Argumentationen öfters auf. Phänomene wie das „nackte Grauen“, Schlaf, Psychose, der Einzige
bei Max Stirner werden angesprochen. Hinter all dem stehen pathologische Phänomene, in denen Menschen
weder andere noch sich selbst wahrnehmen, weil ihr In-der-Welt-sein Störungen und Verzerrungen unterliegt.
Singularität bleibt unter totaler Ausschaltung der Dualität ein rein defizientes Dasein. Hieraus erklärt sich das
Negative, manchmal Inhumane, das diesen Beschreibungen anhaftet.
416
AW 2, 387, Fußnote 16
417
Binswanger gesteht der Auseinandersetzung mit sich selbst eine Form der Selbsterkenntnis zu, spricht ihr
hingegen Selbstliebe ab. Liebe hat ihren eigentlichen Ort in der Dualität, die dich und mich sein lässt. Dass
Angenommen- und Aufgehobensein auch Liebe zum eigenen Dasein bedeutet, ist für ihn merkwürdigerweise
ohne Relevanz. Liebe als universaler, tragender Leitbegriff erfährt eine Einschränkung: sie gilt anderen, ich bin
passiv ein Geliebter (welches Binswanger zu betonen oft unterlässt). Eines muss hinzugefügt werden: Es ist gut
und richtig, dass ich so da bin, weil ich mich von anderen geliebt finde und ich darf diese Liebe in Selbstliebe
wandeln und annehmen. Alles andere käme einer Verneinung der Seinsgabe gleich.
415
149
selbst-sein und dem eigentlichen Selbstand oder Selbstsein.“418 Um den Überblick zu
wahren: Binswanger unterscheidet drei Formen des Selbst, die allesamt „dasselbe Selbst“
beschreiben: 1) das Ich in Dualität, 2) das Ich in Gegenwart der vielen und 3) das
eigenweltliche Gegenübersein, das in Habitualität und Rollenhaftigkeit zum Vorschein
kommt. Die letzten zwei Formen setzen dabei das liebende Ich voraus, das aus der Beziehung
zum Du als ursprüngliche Form des Miteinanderseins den vielen und der Eigenwelt begegnen
kann. Genauer betrachtet ist die Eigenwelt auch schon vom Anderen getragen, der mir den
Boden meines Seins legt.419 Der Gedanke – zugleich die Gefahr – liegt nahe, das geschuldete
Dasein befinde sich in höriger Abhängigkeit von ebendiesem. Allerdings stünde jener Andere
durch infiniten Regress selbst wieder in Abhängigkeit von dem, der ihn ins Sein gebracht hat.
Wovon in der Dualität gehandelt wurde, kehrt im singularen Modus erneut wieder – die
anerkennende, respektvolle Freigabe in unverwechselbares Eigensein. Im liebenden Wir bin
ich auf dich hingeordnet, ohne mein Eigenes hintanzustellen; die Partner sind als Liebende
sie selbst, ohne vom Wir nivelliert zu werden. Weder das Wir noch der Einzelne darin hat
den Anspruch auf Absolutheit. Eine Beziehung aufnehmen heißt, ein Subjekt sein, in der
Begegnung jedoch werde ich das Ich eines Du. In bezug auf das Zu-sich-selbst-sein bedeutet
das:
Wenn ich michselbst [sic!] in „Opposition“ zu den Anderen, in Wirkung und
Gegenwirkung, in Förderung und Hemmung als rollenhaftes Selbst, in Anerkennung
und Anerkanntwerden als eigentliches Selbstbewußtsein, in Lieben und
Geliebtwerden als Ich von Gnaden Deiner selbstige, in der Bemächtigung des
Grundes als meinem schließlich mich als eigentliches oder existenzielles Selbst
zeitige, so hebt sich ineins damit auch je meine Welt aus der Welt der Anderen,
Deiner oder einer anderen Existenz heraus und zwar auf je besondere Weise.420
Ein autonomes, selbstbezogenes Dasein ist unter diesen Vorzeichen nicht in der Lage, den
anderen für dessen Sein frei zu machen, es ist der Liebe nicht fähig. Umgekehrt wiederum
findet das „[…] Dasein unserer Überzeugung nach den Weg zu sich selbst nur unter
Vorherrschaft des Wir, der Sehnsucht oder Urbegegnung.“421 Die Frage „Wer bist du und
wer bin ich?“, der sich vielleicht Binswangers Gesamtwerk verdankt, setzt ja bereits eine
Erfahrung voraus, nämlich unsere Begegnung miteinander. Man wird es bei dieser Frage
nicht als zufälliger belassen, vielmehr will man dieser Begegnung und damit uns selbst „auf
den Grund gehen“. Der Tradition können etliche Antworten entnommen werden, sie alle sind
daraus zu verstehen, einen einhelligen und einsichtigen Grund deines oder meines Daseins
418
AW 2, 393
Am markantesten trifft das auf das Phänomen der menschlichen Geburt zu, in der ich mich als jemanden
erfahre, dem der Seinsgrund geschenkt wurde. Allein dadurch bin ich auf andere hingeordnet.
420
AW 2, 401
421
AW 2, 114
419
150
aufzuweisen. Aus Sicht des menschlichen Schicksals ist das klarerweise eine berechtigte
Form der Sinnsuche. In diesem Fall setzt die Suche nach dem Sinn denselben voraus. Die
Grundfrage meint schon ein Grund-wissen, sei es auch vage und umrisshaft.
Der Begriff „Grund“ ist ein weitverzweigter, der nicht selten mit dem Gegründeten
ineins gesetzt wird, was in Folge zu Verwirrung und Verwechslung beider führt. Binswanger
spezifiziert deshalb das Selbstsein „[…] als Sein zum Grunde, und zwar zum Grunde je
meinen, je deinen, je seinen Daseins (abgekürzt: zum Grunde als meinem).“422 Zum tiefsten
Grund des Daseins gelangt er durch die Diskussion der Dualität; als ob diese nicht
erörterungswürdig genug wäre, wird das Bewusstwerden des je eigenen Grundes gefordert.
Haben wir unseren Grund im Wir, welches dich und mich zum Eigensein ermuntert, so darf
auch nach dessen Grund gefragt werden. Es geht also um zwei Gründe: der erste als ein Du,
das sich mir zuspricht und mir so mein Sein eröffnet, das ich als Seiender wahrzunehmen und
zu vollziehen habe. Zweitens: das Dasein als Sein zum eigenen Grund.
Was bedeutet Grund, ist er erfahrbar, zeigt er sich also? Ist der Grund kein Grund,
wenn er sich nicht offenbart? Klassisch wird der Begriff im Satz vom Grund erfasst. Logisch
besagt er, dass jede Aussage vernünftig und verbindlich ausweisbar ist. Der Grund macht
offenbar, warum etwas so und nicht anders ist (principium rationis sufficientis). Anders in
der deutschen Mystik, die unter Grund Innerlichkeit, Wesen, Ursprung, auch Seele versteht.
Der Satz vom Grund bedeutet als Axiom, dass kein Seiendes ohne Grund bzw. Tiefe existiert
– dieses wäre bloß oberflächlich und unverbindlich. Grund bildet daher die Basis des Soseins
von Daseienden. Dies zeigt sich bereits im Alltag, in dem wir nach Gründen, Ursachen
fragen, um auf „sicherem Boden“ stehen zu können. In Bezug auf das Miteinandersein zeigt
sich die Frage nach dem Grund allerdings zwiespältig. Einerseits gründe ich in dir, im
liebenden Wir; dies ist die eine Grundform, „[…] ein Sein zum Grunde als unserem, als
Heimat, Geschenk oder Gnade.“423 Andererseits geht es um das selbständige Ich im Wir;
welcher Grund lässt das autonome wie das liebende Ich sein, wer trägt es ins Dasein? Vorerst
ist nur von einem Grund die Rede:
[…] denn wenn wir wirklich Ernst machen mit der Frage nach der Seinsweise des Ich
bin – das heißt aber zugleich, nach der Wahrheit seines Offenbarwerdens – so
gewahren wir rasch, daß es sich hier keineswegs um ein „abgeschiedenes“ In-sichSein handelt, sondern um eine „gegründete“ Seinsweise, d.h. um eine solche, die von
einem Grund ihres Seins „weiß“, und sei es auch nur, daß sie nach einem solchen
frägt. Und zwar kann dieser Grund nur liegen im Sein überhaupt […].424
422
AW 2, 407
AW 2, 408
424
AW 2, 407
423
151
Die zweite Weise des Selbstseins hat im liebenden Wir ihren Grund und Boden.425 Was
nimmt er von Heidegger auf, wo grenzt er sich ab? Eine Form des Satzes vom zureichenden
Grund – „Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts?“426 – wird üblicherweise als Frage
nach dem Etwas, nach einem tatsächlich vorliegenden Gegenstand gestellt. Nach einem
Etwas kann aber erst gefragt werden, weil es ist. Demnach müsste der Akzent auf dem ist
bzw. sein liegen, was aber meistens nicht im Vordergrund steht. Über das Sein wird
hinweggesehen, um verschiedenes Seiendes in den Blick zu nehmen. Die Konzentration liegt
auf dem Seienden, ohne auf dessen Bezug zum Sein zu achten.
Der ontischen Differenz als der Unterscheidung des einen Seienden vom anderen
liegt die ontologische Differenz voraus: die Unterscheidung des Seienden und seines
Seins, in welcher Unterscheidung überhaupt erst ein Seiendes als Seiendes
heraustritt.427
Fasst man diese Unterscheidung als totale und trennende Differenz, wird aus dem Sein
wiederum ein Seiendes und würde damit zur ontischen Differenz. Lässt man andererseits
Seiendes und Sein zusammenfallen, wird ebenso beides verkannt.
Die ontologische Differenz ist weniger eine Antwort als eine Frage – die Frage nach
dem Sein.428 Sein, so kann man sagen, ist das Offenbarwerden des Seienden, das im Sein
„Platz nimmt“ oder in ihm seinen Grund hat. Trotz der Differenz ist Seiendes vom Sein nicht
zu trennen – nichts ist ohne Grund. Was Heidegger die „Transzendenz des Daseins“ nennt,
ist der Überstieg (oder Abstieg?) vom Seienden zum Sein, sie ist der Überstieg, „[…] aus
dem heraus das Dasein erst in eigentlicher Weise auf die Dinge, auf das Mitdasein und auf
sich selbst zurückkommen kann […].“429 Sein als bzw. im Überstieg steckt den Horizont ab,
innerhalb dessen ich anderes und mich selbst gewahre, es ist nicht die Grenze meiner Welt,
sondern Offenbarwerden der Welt. Anders als bei Binswanger ist mir meine Welt eröffnet.
Dabei ist meine Welt nicht eine Kollision mit der deinigen, Welt ist überhaupt nicht ontisch
425
Binswanger wurde ja vorgeworfen, Heidegger falsch verstanden zu haben, wo Heidegger vom Dasein spricht,
sieht Binswanger das In-der-Welt-sein als Sorge, dem er das Beheimatetsein in Liebe entgegenhält. Erst im
zweiten Teil der Grundformen soll der Widerspruch von Liebe und Sorge überwunden werden.
426
Diese Grundfrage (als Frage nach dem Grund) wurde von verschiedenen Philosophen kontrovers beantwortet,
klassische Formulierungen sind die von Heidegger und Leibniz. Dieser fragt, „[...] warum es vielmehr etwas als
nichts gibt.“, in: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Monadologie und andere metaphysische Schriften : französischdeutsch. – Enthält: Discours de métaphysique. La monadologie. Principes de la nature et de la grâce fondés en
raison. – Herausgegeben, übersetzt, mit Einleitung, Anmerkungen und Registern versehen von Ulrich Johannes
Schneider. – Hamburg: Meiner, 2002, S. 163. Mit Heidegger fragen wir: „Warum ist überhaupt Seiendes und
nicht vielmehr Nichts?“, in: Heidegger, Martin: Einführung in die Metaphysik. – 5., durchgesehene Auflage. –
Tübingen: Niemeyer, 1987, S. 24.
427
Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, S. 149
428
Die ontologische Differenz arbeitet Heidegger in Vom Wesen des Grundes heraus: „Wenn anders nun das
Auszeichnende des Daseins darin liegt, daß es Sein-verstehend zu Seiendem sich verhält, dann muß das
Unterscheidenkönnen, in dem die ontologische Differenz faktisch wird, die Wurzel seiner eigenen Möglichkeit
im Grunde des Wesens des Daseins geschlagen haben. Diesen Grund der ontologischen Differenz nennen wir
vorgreifend die Transzendenz des Daseins.“, in: Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 15f
429
Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, S. 93
152
als Sammelplatz unzählbarer Seienden auf einem Planeten zu sehen. Dasein bildet eine Welt,
indem es sie „geschehen lässt“, um in ihr Seienden und Mitdaseienden begegnen zu können
oder auf diese zuzugehen. Heidegger spielt dem Dasein die aktive und behutsame Rolle zu;
dieses ist es, das anderes von sich selbst her zeigen lässt. Dasein bildet den Raum, der
Seiendes zulässt und sein lässt, gleich ob es Zeughaftes oder Mitdasein ist. Eine wichtige
Folge dieses Gedankens des Sein-lassens erwähnt Heidegger quasi en passant: „Durch die
ontologische Interpretation des Daseins als In-der-Welt-sein ist weder positiv noch negativ
über ein mögliches Sein zu Gott entschieden.“430 Sein entlässt Dasein in Selbstand, voreilig
und verfrüht wäre es, das Sein mit Gott zu identifizieren.
Allein: die Verwendung des Gottesbegriffes gibt einen Verweis auf den Anderen, hier
auf den total Anderen in der Gestalt Gottes. Das Zulassen Gottes ereignet sich im Gebet und
in mannigfach anderen Formen. Eine Parallele dazu findet sich im Seinlassen des Anderen in
Liebe, wie sie Binswanger deutet. Dasein als liebendes Wir trägt in sich den Charakter des
Grundes, aus dem Selbstsein hervorgeht „[…] als ein Selbst, d.h. als ein Seiendes, das zu sein
ihm anheimgegeben ist. Im Sein dieses Seienden geht es um dessen Seinkönnen.“431
Das so hervorgekommene Selbst, das umwillen seiner ist, ist gerade deshalb kein
solipsistisch eingeengtes, weil es sich dem Grund verdankt, der ihm Sein zuschickt. Ob
dieser Grund nun Gott ist, das namenlose Sein oder das liebende Wir, ist für das Grund
nehmende Dasein methodisch (nicht sachlich!) irrelevant. Heidegger geht noch weiter: Sein
als Offenbarkeit für Dasein und Mitseiendes entbindet dieses nicht von der Verantwortung.
Der Empfang des je eigenen Daseins geschieht – bewusst vollzogen – als sorgender und
fürsorgender. Als sorgendes übernimmt das Dasein Verantwortung:
In diesem transzendierenden Sichentgegenhalten des Umwillen geschieht das Dasein
im Menschen, so daß er im Wesen seiner Existenz auf sich verpflichtet, d.h. ein freies
Selbst sein kann. Hierin enthüllt sich aber die Freiheit zugleich als die Ermöglichung
von Bindung und Verbindlichkeit überhaupt.432
Verbindlichkeit gilt hier weniger den Mitseienden als dem Sein selbst, dem ich verbunden
bin, zumal es mir zu sein aufträgt. Heidegger setzt Freiheit mit Verantwortung gleich, die
Idee einer Willkürfreiheit, die das Dasein nach Belieben in Kraft treten lassen kann, ist damit
ausgeschlossen. Der irritierende Begriff der Freiheit ist eine Freiheit aus Kontingenz, aus der
Faktizität der Geworfenheit. Freiheit und damit Dasein ist nun aber endlich – Dasein steht
nicht in der Freiheit, ob, oder dass es ist, es ist nicht Grund seiner selbst. An dieser Stelle
kann eine Nähe zu Binswanger freigelegt werden. Binswanger trennt das Sein zum eigenen
430
Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 39, Fußnote 56
Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 37
432
Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 43f
431
153
Grund von der uns gründenden Wirheit. Für Heidegger meint Dasein zuvorderst ein
Seiendes, welches erst als solches Mensch ist. Die sich in Ich und Du konkretisierende
Selbstheit ist noch gar nicht erreicht, er verbleibt bei einem formalen bzw. logischen Begriff
der Selbstheit.433 Anders Binswanger, der das Selbst auf dem Hintergrund des Wir verortet
und damit in Opposition zu Heidegger tritt, der das faktische Dasein unter das Sein stellt, das
es offenbart und dem es entspringt, „nachträglich“ (im ontischen Sinn) erst verhält sich
dieses zu einem Du.
Wenn wir die Ermöglichung der Selbstheit im Sinne des Ichselbst und Duselbst der
Liebe in dem Dich-geschenkt-bekommen und Dich-empfangen und Mich-Dirschenken und von Dir-empfangen-werden erblicken […], so sehen wir immerhin
schon jetzt, daß diese Selbstheit sich nicht gründen kann auf so etwas wie
Selbstbemächtigung; vermag doch keine „Macht der Welt“ Bemächtigung zu
wandeln in Geschenk!434
Dass der Grund nicht im Bereich des Ontischen gelegt ist, geht daraus hervor, dass das
Dasein seinen Grund verdecken und ausblenden kann ohne ihn erfasst zu haben
(Seinsvergessenheit). Binswanger konterkariert Heideggers Position mit einem Einwand, der
im Prinzip nicht neu ist. Er anerkennt wohl den Standpunkt Heideggers, ergänzt ihn um die
Dimension der Liebe. Heideggers Selbstsein zeigt sich in der Sorge, bei Binswanger geht
Selbstheit aus dem Sich-einander-einräumen hervor.
Die Auseinandersetzung zwischen zwei Denkern läuft nicht notwendig auf
Unvereinbarkeiten oder Dissonanzen hinaus; das die zwei Positionen Verbindende führt erst
zum Dialog. Einen ontologischen Solipsismus des Daseins lehnt Heidegger ab; das Sein, in
dem sich Seiendes zeigt, ist gründend, weil es Dasein als eigenes bewahrt. Dasein ist
gegründetes, weil es nach seinem Grund fragt und nicht schlechthin ohne Wissen vom Grund
existiert (sei dieses auch noch so ungewiss, versteckt und fragil). Zwar gibt es ein Verhältnis
von Seiendem zu seinem Sein, dies freilich nicht etwa als Emanation in negativer
Abhängigkeit, es ist nicht das Abbild des Seins, sondern es vernimmt Sein als Boden, Grund
und Möglichkeit des Eigenseins. Die vorhin erwähnte Transzendenz des Daseins zur Welt
hin (In-der-Welt-sein) markiert den Menschen, der Sein-verstehend ist und Sein vom
433
Selbstsein ist auf das Sein bezogen, eine Anthropologie zur Grundlage des Selbst zu machen, verbietet er
sich. „In dem genannten Satz [„Das Dasein existiert umwillen seiner.“, Anm.] liegt weder eine solipsistische
Isolierung des Daseins noch eine egoistische Aufsteigerung desselben. Wohl dagegen gibt er die Bedingung der
Möglichkeit dafür, daß der Mensch ‚sich’ entweder ‚egoistisch’ oder ‚altruistisch’ verhalten kann. Nur weil
Dasein als solches durch Selbstheit bestimmt ist, kann sich ein Ich-selbst zu einem Du-selbst verhalten.
Selbstheit ist die Voraussetzung für die Möglichkeit der Ichheit, die immer nur im Du sich erschließt. Nie aber
ist Selbstheit auf Du bezogen, sondern – weil all das erst ermöglichend – gegen das Ichsein und Dusein und erst
recht etwa gegen die ‚Geschlechtlichkeit’ neutral.“, in: Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 37f.
434
AW 2, 116
154
Seienden zu trennen vermag, um für die Wahrheit des Seins als Unverborgenheit (ἀ-ή
offen zu sein. Der schöne Schlussparagraf in Vom Wesen des Grundes drückt das so aus:
Und so ist der Mensch, als existierende Transzendenz überschwingend in
Möglichkeiten, ein Wesen der Ferne. Nur durch ursprüngliche Fernen, die er sich in
seiner Transzendenz zu allem Seienden bildet, kommt in ihm die wahre Nähe zu den
Dingen ins Steigen. Und nur das Hörenkönnen in die Ferne zeitigt dem Dasein als
Selbst das Erwachen der Antwort des Mitdaseins, im Mitsein mit dem es die Ichheit
darangeben kann, um sich als eigentliches Selbst zu gewinnen.435
Wie kann man den Menschen als „Wesen der Ferne“ verstehen? Wie bereits ausgeführt436, ist
die Ferne kein Begriff der Geometrie, sondern vielmehr ein Ausdruck des Respekts vor
anderen, ein Zeichen des Seinlassens des Daseins, auf das nicht beherrschend-entmündigend
zugegangen wird. Der Mensch greift nicht eigenmächtig in das Tun anderer ein. Für
Binswanger ist dies ein nahezu einladender Gedanke, er vergleicht den Wir-Raum mit der
Ellipse, deren Brennpunkte Ich und Du bilden; je weiter die Brennpunkte voneinander
entfernt sind, desto größer ist übrigens die Fläche der Ellipse, d.h. der Raum des Wir.
Räumlichkeit ist der Sinn, den Liebende einander gewähren, einander schenken und
empfangen: „Der sprachliche Ausdruck für diese Räumlichkeit lautet: Ich und Du.
Vertiefung und Erweiterung bedeuten hier aber zugleich Annäherung, Ferne bedeutet hier
zugleich Nähe, Klarheit und Wahrheit.“437 Bei näherem Zusehen wandelt sich Ferne in Nähe,
die sich im Hörenkönnen (und im Antwortgeben) ereignet.438 Hören und antworten ist in
einzigartiger Weise dem Menschen vorbehalten, dem Dasein mit anderen gegeben ist. Im
Hörraum bin ich es selbst – nicht meine Ohren –, der dich vernimmt, genauso bist es du
selbst, der mich ruft. Jedes andere Selbst wird also deine Rede und meine Antwort völlig
verschieden wahrnehmen und auffassen. Im Miteinandersein werden Ich und Du als je
eigenes Selbst konstituiert. In seinem letzten Buch Wahn. Beiträge zu seiner
phänomenologischen und daseinsanalytischen Erforschung bestimmt Binswanger Dasein
dreifach als 1) Seinlassen des Seienden, 2) Sich-den-Seienden-überlassen, 3) Sich-einlassenauf-das-Seiende.439 Alle drei Formen des Mitseins können sich nur auf ein Dasein beziehen,
das mit sich selbst identisch ist und diese Selbigkeit zum Austrag bringt.
435
Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 55
Siehe Kapitel 4.3.2 Miteinandersein als räumliches
437
AW 2, 23
438
Hören und Antworten ist bei Heidegger mehr ein Seinsbezug denn ein dialogisches Geschehen. Ich höre oder
„gehöre“ dem Sein, aus dem ich mein eigentliches Selbst gewinne. Die Antwort des Mitdaseins dürfte einen
gemeinsamen Bezug zum Sein stiften, jedoch kein liebendes Wir.
439
Wahn, in: AW 4, 433
436
155
Mit dieser Feststellung lässt es Binswanger bewenden und steht vor einem Dilemma:
das Sein ist ein das Selbstsein gründendes Sein, soweit Heidegger. Das wird nahezu eins zu
eins für die Singularität übernommen:
Grund bedeutet hier das Seinsprinzip (was immer auch heißt das Wahrheitsprinzip),
auf das sich einer als auf seinen Grund stützt, auf dem er steht und von dem aus er
sichselbst in Abhebung von Um- und Mitwelt und in Abhebung von Dir „empfindet“
und versteht.440
Sogleich erwähnt Binswanger in einem Satz die Grundformen menschlichen Daseins, um
dann in einen Widerspruch zu geraten. Alle drei Grundformen (Dualität, Pluralität,
Singularität) nämlich setzen „[…] die Möglichkeit eines Seins zum Grunde als meinem
voraus.“441 Aber gerade die Dualität soll ja als die uns gründende Seinsweise aufgewiesen
werden! Das Gründungsverhältnis wird umgedreht, so ist dann das Sein zum eigenen Grund
die notwendige Bedingung für die zwischenmenschliche Beziehung. Das Wir gesellt sich
gleichsam als zweiter Grund hinzu, es ist Sein zum Grund als unserem, der sich als Geschenk
und Gnade enthüllt. Welcher Grund „gilt“ nun, welcher ist begründender Grund?
Philosophie der Begegnung als Denken des Anderen, oder besser: an den Anderen,
impliziert nach ihrem Selbstverständnis die Gemeinschaft, also das Du mitsamt dem Ich und
die Mitwelt. Das Problem des Grundes stellt sich konkret als Zu-sich-selbst-sein und als
Miteinander in Liebe dar. Beruhe ich im Eigensein oder finde ich meinen Ort im Wir als
unserem? Binswanger sucht eine Position, die beiden gerecht wird, ein Zwischen, das
Eigensein und Liebe als Daseinsgrund sozusagen in Spannung hält und doch versöhnt. Grund
ermöglicht Selbstsein, genauso wie aus dem Wir ein Ich und ein Du hervortritt. Das liebende
und das geliebte Ich ist in der Beziehung einmalig und unvertauschbar (ansonsten ich nicht
dich liebe und schätze, sondern ein Ideal oder eine Vorstellung von dir), Wirheit bedeutet
Gemeinschaft und Vereinzelung in einem. Der Gegensatz beider kann nur ein relativer bzw.
konstruktiver sein.442 Das Wesentliche wird dann verfehlt, wenn es entweder ausschließlich
im Eigenstand des Ich oder in der Gegründetheit im Du ausgemacht sein will.
440
AW 2, 408
AW 2, 408
442
Selbständigkeit als Eigensein im Wir führt den Menschen an den rechten Ort der Liebe, die ihn ermutigt, ganz
er selbst zu sein und nicht bloß die Kopie eines irrealen Wunsches. – Sonst stünde dem Du dann auch kein
ursprüngliches, einzelnes, unverwechselbares Ich gegenüber. Ist damit auch schon Existenz und Bedeutung des
Ich erschöpft? Einzigkeit beinhaltet notwendig eine Dimension des Eigenen, des Individuellen, das eben nicht
mitteilbar ist. Löwith hat dies bemerkt und schreibt mit Recht: „’Ich’, der ich einzig und allein kein Anderer bin,
werde mich also dadurch zeigen, daß ich zu mir selber ein’Verhältnis’ haben kann, und zwar ein solches, daß
ausschließlich mich selbst und keinen andern betrifft, ein schlechthin unvergleichliches, einzigartiges
Verhältnis.“, in: Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 171. Ich bin nicht nur ein Ich für
dich, sondern auch für mich. Das Selbstverhältnis – ich kann mich zu mir nicht nicht verhalten – ist kein
„Herausfallen“ aus der Begegnung, es folgt aus der Beziehung, setzt diese also voraus.
441
156
Gründen, oder „Bodennehmen“, geschieht als ein doppeltes bzw. getrenntes. Finde
ich meinen Grund in dir oder zeigt sich mir mein Grund, der deiner nicht bedarf? Der Grund
rechtfertigt das Dasein und fügt es in sein Eigenes, das Dasein ist fremden Ursprungs.
Allfällige Bemühungen des Subjekts, Grund seiner selbst zu sein, ziehen sich den Boden
unter den Füßen weg. Unter Berücksichtigung des Wir ist das Eigensein von Ich und Du
dennoch denkbar – als Einsamkeit, die mich auf meinen von dir gelegten Grund stellt.
Einsamkeit zeigt sich mir als den, der ich mit anderen geworden bin. Positiv gesagt:
Einsamkeit ist der Herausgang aus dem liebenden Miteinandersein, nicht um dieses nach
erfolgter Zweckerfüllung abzustreifen, sondern um als von dir Beschenkter und Bereicherter
zu mir zu kommen.443
In seinem Denken des Seins, des Grundes und der Selbstheit rührt Heidegger an das
Herzstück der Ontologie, Binswanger sucht ebenso Grundformen des Daseins, den Weg der
Anthropologie einschlagend. Beide haben dasselbe Phänomen vor sich, nähern sich ihm
zuweilen unter verschiedenen Perspektiven.444 Bereits aus der Abstufung der Grundformen
443
Einen wertvollen Beitrag zur Frage nach dem Eigensein der Beziehungspartner leistet Bernhard Waldenfels,
der, von Husserl kommend, den interpersonalen Dialog untersucht. Den Sinn jeglichen Gesprächs sieht er im
Ausgang vom Wir hin zum Ich, sodass das reflektierende Ich vorher schon in der Begegnung gestanden haben
muss. „Die Frage ist nur, wo das Ich seinen Schwerpunkt hat, im Dialog selbst oder vor ihm, in der Weltlichkeit
selbst oder vor ihr […].“, in: Waldenfels, Bernhard: Das Zwischenreich des Dialogs : Sozialphilosophische
Untersuchungen im Anschluß an Edmund Husserl. – Den Haag : Martinus Nijhoff, 1971. – (Phaenomenologica ;
41), S. 404. Unbewusst spielt er dabei Binswanger in die Hände; abseits der Konstitutionsanalysen rückt er das
gleichberechtigte und ebenbürtige Subjekt in Gestalt von Ich und Du in den Vordergrund. „Wenn nun aber das
Ich ursprünglich das ist, was es mit den Andern ist, so kann der Rückgang vom Wir auf das Ich nur als eine Vereinzelung gedeutet werden, in der die Gemeinsamkeit bereits vorausgesetzt ist.“, in: Waldenfels, Das
Zwischenreich des Dialogs, S. 405. Gleichursprünglichkeit trägt Züge des Wir, das weder dich noch mich
bevorteilt, sondern uns im Dialog behält. Eigensein und Selbstheit sind gewiss ein Sich-herausnehmen aus der
liebenden Begegnung, beide aber – so Waldenfels – halten uns offen, befreien uns für die Beziehung. Der Wert
einer Begegnung bemisst sich nicht an erfüllten Wünschen oder Erwartungen an andere; er liegt in der
Bereicherung meiner selbst, wenn du jenes Gegenüber bist, das ich nie zu sein vermag, wenn du Handlungen
setzt bzw. Äußerungen tätigst, die ich alleine so nicht zuwege bringe: „Die Andern erscheinen hier nun nicht
mehr nur negativ-begrenzend, sofern sie meine eigenen Ansprüche einschränken, sondern positiv-ergänzend,
sofern sie mir zu mir selbst verhelfen.“, in: Waldenfels, Das Zwischenreich des Dialogs, S. 408.
444
In seinem Aufsatz Vom Wesen der Begegnung im Hinblick auf die Unterscheidung von Selbstsein und Sein
selbst bei Heidegger arbeitet Detlev von Uslar das heraus, was er in Sein und Zeit vermisst, nämlich die
Eigentlichkeit in der Begegnung: „Wir müssen also zuerst zeigen, wie dem Dasein in der Begegnung zum
Dasein des Du das Sein zur Frage wird, wie also das Dasein in der Begegnung eigentlich sein kann, weil es in ihr
in Frage gestellt wird.“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 13 (1959), S. 85-101, hier S. 88. Dem
Selbstand des Daseins eignet die Unveräußerlichkeit, ich muss mein, du musst dein Dasein selbst tragen. Geht es
dem Dasein in seinem Sein um dieses Sein selbst, so zeigt sich im gleichursprünglichen Mitsein die
vorspringend-befreiende Fürsorge: „Diese Fürsorge, die wesentlich die eigentliche Sorge – das heißt die
Existenz des Anderen betrifft und nicht ein Was, das er besorgt, verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich
durchsichtig und für sie frei zu werden.“, in: Heidegger, Sein und Zeit, S. 122. Uslar fasst Seinsdenken und
Denken des Du ineins. Dasein als Mitsein ist sorgendes, vor allem aber fürsorgendes. Begegnung ist dann eine
solche, sobald ich dir die Möglichkeiten aufzeige, die dich zu dir selbst freigeben. – Wichtig: Nicht ich gebe dir
dein Sein, ich weise nur auf es hin, um dir dein Selbstsein aufzuzeigen. Die Quelle unseres Miteinanders ist der
gemeinsame Bezug zum Sein, aus dem wir existieren. Jede interpersonale Beziehung steht ausschließlich unter
dem Gewahren des Seins: „Es [das Dasein, Anm.] ist, indem es auf sein Sein bezogen ist. Sein Sein ist die Sorge
um sein Sein. Für-Sorge aber heißt Sorge für das Sein des Du. In der eigentlichen Begegnung also muß das
Dasein zumal und in einem auf sein Sein und auf das Sein des Du bezogen sein, doch so, daß der Bezug zum
157
menschlichen Daseins ist der Vorrang der Dualität einzusehen. Wird dem Du als
Beziehungspartner auch gebührende Priorität zuteil, so ist ebenjenes Du nur als Du eines Ich
denkbar, wovon schließlich auch die Konstitutionskontroverse zeugt. Führt man diese nicht
als aussichtslosen Grabenkampf, steigt erst recht die Bereitschaft zum Dialog. Dass das zum
Dasein Freigebende als Konstituens über dieses willkürlich bzw. für das Dasein uneinsehbar
agiert, ist allzu oft nur das Resultat einer unabgeschlossenen Debatte über Konstitution, der
ein Dependenzstreben nachgesagt wird.
In seiner Diskussion über Stirners Einzigen schließt Binswanger auf Freiheit und
Selbstsein des Gegründeten als Mensch:
Schon dieses Scheitern eines ontologischen Beweises für die Möglichkeit eines
lediglich auf sich selbst gestellten Einzigen zeigt, daß selbst das kühnste Pochen auf
die Seinsautonomie des Einzelnen die These nicht zu erschüttern vermag, daß
Selbstsein nur möglich ist als „Sein zum Grunde“, das heißt immer, als Sein zu einem
das Selbstsein erst gründenden und begründenden Sein.445
Dreierlei kann herausgelesen werden: 1) der Grund als Sein, wie ihn Heidegger denkt, 2) der
die Kreatur erschaffende Gott, 3) der Andere, der mich fordert, jener zu werden, dem zu sein
gegeben ist.446 Das mir anvertraute Sein steht in der Frage des Anderen, der vorspringendbefreiend Fürsorge trägt. – So weit Heidegger; Binswanger untergräbt die Seinsgebundenheit
der Sorge, zumal er Liebe als das erstlich Verbindende und zugleich das Eigensein
Ermöglichende ansetzt. Nun kann man dagegen einwenden, die beiden Begriffe Sein/Sorge
und Liebe würden bloß vertauscht ohne sonst einen Erkenntnisgewinn zutage zu fördern. In
mancher Hinsicht trifft das auf Binswangers Argumente tatsächlich zu, wenn er
gegebenenfalls Liebe als In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-sein ins beinahe Akosmische
entrückt, oder Begriffe der Ontologie auf ontisch-anthropologische Phänomene ummünzt.
Sein des Du eben als solcher der Bezug zu seinem je eigenen Sein und der Bezug zu seinem Sein in sich der
Bezug zum Sein des Du ist. Diese Möglichkeit muß sich dem Dasein im Sein des Du schenken […].“, in: Uslar,
Vom Wesen der Begegnung, S. 92. Uslars Gedanke führt zur Seinsidentität von mir und dir; das Sein, welches
dich sein lässt, in dem du mir begegnest, ist dasselbe Sein, aus dem heraus ich mich dir zeige. Im
Offenbarmachen unseres gemeinsamen Seinsgrundes begegnen wir einander. Uslar muss sich doch die Frage
stellen lassen, ob nicht der andere lediglich in Hinsicht auf das Sein gesehen wird, er mithin keine
Aufmerksamkeit für sich beanspruchen darf. Wohl stehen Du und Ich im Bezug zum Sein, jedoch begegnen wir
einander. In der Begegnung ist das Sein zwar mitvollzogen, bildet aber keineswegs immer notwendig den
expliziten Angelpunkt der Beziehung. Beziehung geschieht umwillen des Du und des Seins wegen.
445
AW 2, 417
446
Der Andere macht mich in der vorspringenden Fürsorge für meine Sorge frei, er wird mich in meiner
Existenz nicht ersetzen wollen. Durch ihn stellt sich mir die Frage nach meinem eigenen Sein, die zuweilen klar,
meistens aber latent schwebend sich aufdrängt: „Denn im Fragen nach dem Geheimnis meines Daseins, im
eigentlichen Sein zum Seinsgrunde als meinem, frage ich immer tiefer in die Möglichkeiten meines Seins hinein,
öffnet sich dem fragenden Blick immer mehr mein Seinkönnen. Sosehr daher auch der Grund meines Daseins
Geheimnis bleibt, so ist doch das Kriterium dafür, daß das Fragen nach ihm tatsächlich ein Fragen nach dem
Grunde ist, gerade das, daß ich mich in diesem Fragen dem Geheimnis meines Daseins immer mehr nähere, das
aber heißt, der Möglichkeiten meines Seins immer besser ‚innewerde’ und in diesem Innewerden werde, der ‚ich
bin’, reife.“, in: AW 2, 433.
158
Weil Dasein in seinem Wesen Miteinandersein ist, kann nur Liebe, die Seiendes sein lässt,
indem es dies fördert und würdigt, die fundamentale Weise der Koexistenz sein, die die
Fürsorge überragt. Im selben Zug erinnert er, „[…] daß Existenz im Sinne Heideggers nur
eine Sonderform des singularen Seins zum Grunde ist, wenn auch die radikalste und
extremste.“447 Auf die prinzipielle Zustimmung zu Heidegger folgt eine Modifikation:
„Der Grund“ kann doch kein anderer sein hier und dort, ist er doch kein mit sich
identischer und von anderen Gegenständen abzugrenzender „Gegenstand“, ja steht er
doch, als Geheimnis des Daseins, wie jenseits jeder kategorialen Bestimmbarkeit
oder Definierbarkeit, so auch jenseits der Kategorie der Identität und Andersheit, der
Position und Negation; daher muß es einer sein, zwar nicht im Sinne der Einzahl,
sondern im Sinne der All-einheit. Der Grund als meiner und der Grund als unserer ist
gleicherweise Geheimnis.448
6.4 Rückblick
Das bisher Dargelegte zeigt: Ist der Grund des eigentlichen Selbstseins und das Wir als
Grund deines und meines Daseins ein und derselbe, dann ist der Widerspruch von Liebe und
Sorge kein kontradiktorischer. Gerade weil Binswanger so oft den Begriff des Widerspruches
bemüht, fällt es schwer, die Einheit und wechselseitige Ergänzung von Sorge und Liebe zu
erkennen. Selbst bei ausgesprochener Verneinung der Begegnung ist Menschsein dialogisch.
Wer dies leugnet, muss das Verleugnete voraussetzen und es damit bejahen. Im Gerichtetsein
auf den Begegnenden steht nicht nur dieser im Zentrum, sondern ebenso das Ich. Unter
diesem Aspekt gehören liebendes Sein und Selbstsein zueinander. Nimmt indes der Andere
im Begegnungsdenken einen überdimensionierten Raum ein, wird das Ich an den Rand
gedrängt – der Dialog mit dem Du verstummt. Auch daher nimmt die Singularität eine
gesonderte Stelle ein; das Selbstsein wird vom Einzelnen her verstanden, sodass das
Gegenüber bei all seiner Relevanz zurücktritt. Im redlichen Dialog, der dieser Bezeichnung
gerecht wird, stehe ich als Einzelner und kehre ich als ebensolcher zu mir zurück. Das
Gewahrwerden des Grundes als meinem jedoch verdanke ich dem Anstoß der Mitdaseienden.
447
448
AW 2, 434
AW 2, 434f
159
7 Die Diskrepanz zwischen allgemeinem und singularem Du in der Begegnung
7.1 Vorbereitendes
Philosophie der Begegnung rückt Dasein, Mitdaseiende sowie deren Relationen und
„Wechselwirkungen“ ins Zentrum. Den Fokus stellt Binswanger in dreierlei Arten dar –
Dualität, Pluralität, Singularität, die allesamt den Anspruch erheben, Grundformen zu sein,
d.h. Ausfaltungen, in denen sich dein wie mein Grund offenbart. Generell fragt Philosophie
nach Gründen von Seienden, nach dem Sinngehalt von Tatsachen, die vernünftig einsehbar,
demnach wahr sind. Gründe, Objekte, Tatsachen müssen ausweisbar sein, erst dann sind sie
erkannt. Erkenntnis bildet die Grundlage jeder Kritik, die in umfassenderem Sinn Scheiden,
Sondern, Hervorheben (ί) meint. In unserem Fall geht es um das Erkennen
menschlichen Daseins, genauer: um das Dasein als Miteinandersein. Was führt zu den drei
Daseinsmodi und was folgt aus ihnen? Was motiviert Binswanger, zuerst die Grundformen
darzustellen und ihnen dann Erkenntnisformen zuzuweisen? Ist es nicht sachgerechter und
angemessener, vorab Erkenntnismethoden als Arbeitshypothesen einzuführen, um das Objekt
der Erkenntnis zu erschließen? Oder liegt hier ein Zirkel vor, in welchem Erkenntnis und
deren Gegenstand einander bedingen?
In seinem Hauptwerk geht Binswanger von den Grundformen aus, deren Erkenntnis
scheint er „angestückt“ zu haben. Ist nicht mit einer bloßen Darstellung dieser Grundformen
schon Genüge getan? Aufbau und Struktur folgen jedoch logisch dem Vorgang der
Begegnung, insofern sie die Koexistenz menschlichen Daseins wiedergeben: begegnest du
mir, so reagiere ich auf deine Anwesenheit nicht analysierend, berechnend oder abschätzend.
Diese Reaktionen (Erkennen, Auslegen, Interpretieren, Verobjektivieren) erfolgen erst
nachträglich. Etwas, bzw. jemand muss mir begegnet sein, danach erst ist eine Deutung
möglich und zulässig. Wird dem Erkennen der Vorrang gegenüber der Begegnung
eingeräumt,
so
betrachtet
man
Allfälliges,
auf
einen
Zukommendes
unter
Erkenntnismaßgaben, die der Erkennende selbst gesetzt hat. Das Widerfahren von Fremdem,
Unbekanntem bleibt somit ausgeschlossen, folglich begegnet in dieser abgeschnittenen
Erfahrung das Erkenntnissubjekt nur sich selbst, bzw. dem, das sich seinen Erkenntnisnormen
beugt.449 Die nach der Begegnung einsetzende Reflexion über sie strebt nach Geltung, also
449
Diese Erkenntnis ohne „spezifisches Interesse“ arbeitet ohne bestimmte Methoden, die das Objekt eher
verdecken als es selbst zu Wort kommen zu lassen: „Die Zugangs- und Auslegungsart muß vielmehr dergestalt
ausgewählt sein, daß dieses Seiende sich an ihm selbst von ihm selbst her zeigen kann.“, in: Heidegger, Sein und
Zeit, S. 16. Heidegger – im Gefolge Binswanger – erteilt dem Erkennen als kalkulierendes Klassifizieren eine
Absage, dieses ist weder die einzige noch die fundamentalste. Das Erkennen des Daseins (genitivus subiectivus)
160
nach Verbindlichkeit – vor allem dir gegenüber, wenn ich meine Beziehung nicht für mich
behalten, sondern dir begreifbar machen will. Beziehungspartner sind alleine durch ihre
Relationalität darauf angewiesen, den je eigenen Empfindungen oder Stimmungen Ausdruck
zu verleihen. Ist weder das Ich noch das Du dazu in der Lage, dann mag es sich um einen
Zustand mystischer Versenkung handeln oder die Partner nehmen einander gar nicht wahr
und deshalb auch nicht ernst.
Die Diskussion um das singulare Dasein als Sein-zum-Grunde als meinem hat eine
Zwiefalt ergeben – zum einen der unverfügbare Grund, der dem Einzelnen zu sein gibt, zum
anderen jener Grund, der als Wir dich und mich gründet. Selbstsein aus dem Grund als
meinem korreliert mit unserem wirhaften Grund: „Der Grund als meiner und der Grund als
unserer ist gleicherweise Geheimnis. Der Unterschied kann daher nur in der Weise des Seins
zum Grunde hier und dort gelegen sein.“450
Die unterschiedlichen Weisen des Seins-zum-Grunde zeigen sich im (Heideggerschen)
Existieren als besorgendes und als liebendes In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-sein, wie
Binswanger es nennt.451 Damit kehrt die alte Problem- und Fragestellung in neuem Gewand
wieder: die Kluft zwischen Sorge und Liebe, Endlichkeit des Daseins versus Ewigkeit der
Liebe. Konsequent verharrt Binswanger auf dem Wir, in dem Daseinserkenntnis Grund und
Boden hat; die Gemeinschaft von Ich und Du im Wir muss aber, um als grundlegend oder
axiomatisch anerkannt werden zu können, ein Allgemeines sein, das Individuelles,
„Zufälliges“, eventuell auch Konträres, welches es in Frage stellen könnte, in sich aufnimmt.
Störfaktoren bzw. vermeintlich Unvereinbares zwischen Ich und Du (wie etwa „Beiläufiges“,
Akzidentelles am jeweils konkret-leiblichen Anderen) sind im Allgemeinen aufgehoben –
allerdings im nivellierenden Sinn. Er übergeht und ignoriert so ein einmalig-einzigartiges Du,
das einem ebensolchen Ich begegnet. Beziehung in Ehrlichkeit und Unwiederholbarkeit – und
erschöpft sich ursprünglich im Seinlassen des Begegnenden: „Im Sichenthalten von allem Herstellen, Hantieren
u. dgl. legt sich das Besorgen in den jetzt noch einzig verbleibenden Modus des In-Seins, in das Nur-nochverweilen bei … Auf dem Grunde dieser Seinsart zur Welt, die das innerweltlich begegnende Seiende nur noch
in seinem puren Aussehen (ἶ begegnen lässt, und als Modus dieser Seinsart ist ein ausdrückliches Hinsehen
auf das so Begegnende möglich.“, in: Heidegger, Sein und Zeit, S. 61. Im weiteren Fortgang seiner
Untersuchungen wird Binswanger der Begegnung mit dem „puren Aussehen“ Vorrang vor dem einzelnen
Anderen, der allerdings nie rein oder ausschließlich im Sinne einer metaphysischen Wesensschau hervortritt,
einräumen. In der Begegnung nehme ich dich als Singulares dann nur als Abbild oder Exemplum eines
allgemeinen Du wahr.
450
AW 2, 435
451
Das, wie es Binswanger selbst ausdrückt, „produktive Missverständnis“ Sein und Zeit gegenüber verrät einen
Lektürefehler, der allerdings die Niederschrift der Grundformen mitauslöste. Heidegger schreibt: „Weil das Inder-Welt-sein wesenhaft Sorge ist, deshalb konnte in den voranstehenden Analysen das Sein bei dem
Zuhandenen als Besorgen, das Sein mit dem innerweltlich begegnenden Mitdasein Anderer als Fürsorge gefaßt
werden. […] Sorge meint daher auch nicht primär und ausschließlich ein isoliertes Verhalten des Ich zu ihm
selbst.“, in: Heidegger, Sein und Zeit, S. 193. Binswangers Stellungnahme zu seinem „produktiven
Missverständnis“ lesen wir im Vorwort der Grundformen.
161
somit auch in Geschichtlichkeit – kann nur zwischen Menschen bestehen, denen
unverwechselbares Eigensein innewohnt. Binswanger verdrängt die Unterschiedenheit von
Ich und Du zugunsten der Dominanz des einigenden Wir: „[…] denn wer für mich ‚existiert’,
das bist Du, jenseits Deiner Eigenschaften oder Bestimmtheiten, nämlich als sie alle in sich
bergender einheitlicher Grund.“452 Bestimmtheiten, seien es Eigenheiten, Charakterzüge,
wahrlich Persönliches, sind in der liebenden Begegnung bestenfalls sekundär, wenn nicht gar
der Liebe abträglich, zumal sie vom allgemeinen Du ablenken. – Kann unter solch
abstrahierenden Prämissen überhaupt noch ein Mensch geliebt werden? Und: möchte ich von
einem so gestalteten Menschen geliebt werden? Ist dies nicht am Ende eine Liebe zu einem
fiktiven Du?
Das Verständnis der liebenden Beziehung zwischen Ich und Du scheint einem
tiefgreifenden Wandel unterzogen worden zu sein. Schilderte Binswanger dieses Phänomen in
seinen vielfältigen Ausformungen und Artikulationen, wovon vor allem Dichtkunst und
Kulturgeschichte zeugen, so rückt er nun diese gründende Daseinsweise in ein neues Licht.
Dies nimmt weiters nicht wunder, handelt es sich doch um das Dasein, welches erkennt, und
zwar das Du erkennt. Vereinfacht gesagt: nicht das Du bildet den zentralen Gedanken,
vielmehr konzentriert sich die Darstellung auf mich, der ich dich erkenne.453 Einen
konsequent systematischen Denker wird man Binswanger wohl nicht nennen können,
452
AW 2, 524
Die Sekundärliteratur hat die Akzentverschiebung vom Du auf das Ich kommentierend aufgenommen. In
bezug auf den Gegensatz von Sorge und Liebe, der endlich überwunden werden soll, schreibt Janssen: „Er
[Binswanger, Anm.] sieht Gegensätze und Probleme, vermag sie aber als solche nicht zu lösen und erklärt sie
daher für unlösbar. Dann aber verzichtet er doch nicht darauf, eine Antwort zu geben und mit dem Vorwand, nur
aufzuweisen, trifft er nun die Lösung auf eine einseitige und das früher als dazugehörig Aufgezeigte außer acht
lassende Weise. Würden wir sagen, Binswanger hätte allerdings den Pol Liebe richtig beschrieben, so wäre
damit schon auch erwiesen, daß dies Gesagte nicht gleichzeitig auch für die Liebe-Sorge-Polarität, den
Menschen, stimmen kann. Diesen Pol Liebe aber, den Binswanger in seiner Vollkommenheit zeigt, müssen wir
‚Idee der Liebe’ nennen.“, in: Janssen, Binswangers Liebesphilosophie, S. 101f. Von der „Idee der Liebe“ kann
man mit Haltmayer sagen, sie biete eine „[…] Unterscheidung, die in unserem Zusammenhang von der weiterhin
unversöhnten Differenz von hier liebendem Über-die-Welt-hinaus- und dort sorgendem In-der-Welt-Sein
belastet ist.“, in: Haltmayer, Zum Begriff der Liebe, S. 159. Mit Blick auf Binswangers therapeutisches Wirken
sieht Herzog „[…] einen Bruch in Binswangers Hauptwerk selbst, der entscheidende Folgen für das Spätwerk
haben sollte.“, in: Herzog, Weltentwürfe, S. 99. Das Dilemma von Sorge und Liebe bringt Bollnow auf den
Punkt: „Endlich wird das Erkenntnisproblem zu eng gesehen, wenn die Sorge zwar als Umwelterkenntnis die
kausalen Zusammenhänge im allgemeinen erschließen soll, die Liebe aber als Daseinserkenntnis ausschließlich
dem anderen Menschen zugewandt bleibt. […] Zunächst ermöglicht die Liebe nicht nur eine Erkenntnis des
geliebten anderen Menschen, sondern erschließt zugleich, wovon bei Binswanger nicht die Rede ist, in genau
entsprechender Weise auch die ganze übrige Welt aus einem neuen Gesichtspunkt.“, in: Bollnow, O.F.:
Besprechungsaufsatz: Ludwig Binswanger, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, in:
http://www.otto-friedrich-bollnow.de/doc/Binswanger.pdf,
S.
5,
Abrufdatum:
06.09.2012.
Der
Besprechungsaufsatz erschien in der Zeitschrift „Die Sammlung“, 1. Jahrgang, 2. Heft, November 1945, S. 122128. All dies ließe sich unter das beinahe schon klassisch gewordene Urteil Theunissens subsumieren, der einen
„Rückfall in die Transzendentalphilosophie“ feststellt (Theunissen, Der Andere, S. 466-474). Schmidt, der
sozialontologische Defizite in Sein und Zeit aufzeigen will, enthält sich jeglicher Bemerkung.
453
162
dennoch kündigen einige Passagen aus dem ersten Teil der Grundformen vorgreifend die
Erkenntnis von menschlichem Dasein an.
7.2 Daseinserkenntnis in Bezug auf die Grundformen
Die Herausarbeitung der Weisen menschlichen Existierens lassen diese zuweilen isoliert und
unabhängig voneinander erscheinen, zumindest legt das die Argumentation Binswangers
nahe. Er hebt Dualität als das intimste zwischenmenschliche Sein hervor, indem er sie vom
Dasein als sorgendes In-der-Welt-sein abscheidet, wodurch die strenge Trennung von Dasein
und In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-sein in Liebe erst sichtbar wird.454 Die gleichermaßen
künstliche wie methodische Trennung zeigt sich bereits in den Erörterungen über das
Miteinandersein von mir und dir; das In-der-Welt-sein als Sorge liefert nur eine
Teilerkenntnis, die Etwas als Etwas begreift, dessen Sinn sich im Um-zu erschließt und sich
darin auch erschöpft. Binswanger bedient sich der Reduktion eines Argumentes Heideggers,
um so seine Vorstellung vom liebenden Wir zu stützen: der andere begegnet als Mitdasein,
der im Zeugzusammenhang „entdeckt“ wird (das gelesene Buch wurde geschrieben von…,
das getragene Kleid wurde genäht von…). Er unterstellt Heidegger, der andere werde
lediglich unter diesem Aspekt gesehen. Von wechselseitiger Freigabe in je eigenes liebendes
Ich respektive Du könne demnach nicht die Rede sein. Mitsein umschließt den kleinen Kreis
des Seins-mit oder des Seins-bei, das sich stets einem gemeinsamen, „höheren“ Ziel beugt.
Der Verweisungszusammenhang selbst sagt über den anderen, seine „Beschaffenheit“, sein
Menschsein wohlbemerkt nichts aus, es ist dies ein Phänomen aus dem Bereich der Ontologie.
Binswanger weiß um das Mitsein in diesem Rahmen, Heidegger geht ihm allerdings nicht
weit genug.
Als tragfähiges Fundament, in dem alle anderen Weisen des Mitseins (auch defiziente)
gründen, stellt er die Liebe voran, die zugleich die umfassendste Erkenntnis bedeutet (jenes
durch diese Erkenntnis Erkannte wird er das „Sein als Ganzes“ nennen).
Dieses Gegenüberstehen [von Liebe und Sorge, Anm.] ist aber keineswegs nur als
logischer Gegensatz zu verstehen, sondern muß phänomenologisch verstanden
werden. Während das Dasein als Sorge immer im Besorgen von etwas in einer
bestimmten Situation, also immer in einer begrenzten Bewandtnisganzheit aufgeht,
geht das Dasein im Sinne der Liebe auf im unbegrenzten, uneingeschränkten, kurz im
unbedingten Sein mit-einander.455
454
Mit dieser Scheidung, die unser gemeinsames Dasein durchschneidet, drängt sich der Eindruck auf,
Binswanger laufe dem irrealen Wunsch nach Liebeserfüllung hinterher – vergleichbar mit dem Kampf gegen
Windmühlen, den nur Binswanger selbst ausfechten kann. Gleichwohl hält sich in dieser Scheidung – weil diese
allererst ermöglichend – liebendes Miteinandersein durch. Als Bewährungsprobe dazu dienen Binswangers
psychotherapeutische Protokolle, die von Sorge für den Patienten wie Anerkennung in Liebe zeugen.
455
AW 2, 61. Schmidt spricht m.E. ungerechtfertigt von einem „[…] existenzialen Solipsismus der fundamentalontologischen Daseinsauslegung Heideggers […].“, in: Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 114.
163
Der
konkrete
Andere
ist
nie
als
solcher
anwesend,
weil
er
mir
schon
in
Verweisungszusammenhängen begegnet ist – er erfüllt eine Funktion, ist selbst jedoch keine
Person frei von Strukturen, denn er verweist auf sie und er steht in ihnen. Mit diesem
Standpunkt ist Binswanger nicht alleine, das belegt schon seine Auseinandersetzung mit
diversen Dialogphilosophen. Sein Verständnis von Koexistenz soll umgreifender sein als das
Heideggers, dem er nur die Teilerkenntnis des anderen im Umfang der Als-Struktur im
Verweisungszusammenhang einräumt. Ein umfassenderes Erkennen menschlichen Daseins
blendet das Sorgen-für, das situationsbezogen und bewandtnishaft ist, aus, ja dieses kann den
Anderen gar nicht erkennen, weil dieser sich den Zusammenhängen bzw. meinen Entwürfen
entzieht.456
Der Andere „zerfließt“ mir gleichsam; was ich erkannt habe, ist mehr oder weniger
das von ihm hinterlassene Bruchwerk, hinter dem ich ein allgemeines, verbindliches Du zu
erkennen glaube. Nun leistet Binswanger mit dieser Feststellung keinen originären Beitrag
zur Diskussion über die Ich-Du-Relation; der innerweltlich Begegnende tritt ja aus seinen
Bezügen heraus, bleibt ihnen trotz allem aber verbunden. Jeglichem Bemühen, ihn aus seinen
Strukturen herauszulösen, quittiert er mit seinem Sich-entziehen, wodurch er erst recht
unkenntlich wird. Der Versuch, den anderen zu erhaschen, entpuppt sich als Griff ins Leere.
Der andere verkommt zur Scheinexistenz, die das Ich alleine zurücklässt. Übrigens ist die so
geartete
Erkenntnisbewegung
keineswegs
einseitig;
unter
Voraussetzung
der
Wechselseitigkeit der Beziehung ergeht es dem Du in seinem Erkenntnisbestreben genauso
wie dem Ich. Auch das Ich wird in seinem personalen Eigensein verkannt, sobald
innerweltliche Bezüge ausgespart werden. Binswanger untergräbt das gegenseitige
Verkennen mit dem Verweis auf das vorgängige, in diesem Sinn unreflektierte, irrationale
Verhältnis von Ich und Du, das als liebendes Wir zum Austrag kommt. Die Psychologie – so
seine Behauptung – habe das verborgene und dennoch tragende Fundament Liebe außer acht
gelassen: „Was von der gewöhnlichen Psychologie als Liebe ‚beschrieben’ wird, ist nur ein
‚theoretisches’ Schattenbild der Liebe.“457
456
Um die eigene Argumentation zu untermauern, nimmt Binswanger Sein und Zeit zu Hilfe, in dem er das
Phänomen der Liebe vermisst. Er zitiert den Passus, in welchem das Mitsein als Grundweise des Daseins
erwähnt wird, die sämtlicher Teilerkenntnis vorausgeht, diese ermöglichend: „[…] im Seinsverständnis des
Daseins liegt schon, weil sein Sein Mitsein ist, das Verständnis Anderer. Dieses Verstehen ist, wie Verstehen
überhaupt, nicht eine aus Erkennen erwachsene Kenntnis, sondern eine ursprünglich existenziale Seinsart, die
Erkennen und Kenntnis allererst möglich macht. Das Sichkennen gründet in dem ursprünglich verstehenden
Mitsein.“, in: Heidegger, Sein und Zeit, S. 123f.
457
AW 2, 457. Dass er damit neues, nicht unumstrittenes Terrain betritt, belegt die folgende briefliche Mitteilung
vom 25.03.1935 an den Literaturwissenschafter Emil Staiger, in der er die „heilende Liebe“ über das
„Gesundmachen“ stellt: „Psychiatrisches Sein ist ein Mit-Sein, in dem der Sinn der heilenden Liebe zuschanden
wird, insofern hier an Stelle des mitmenschlichen Heilens eine Resignationsstufe, nämlich das Gesundmachen,
164
Das „theoretische Schattenbild der Liebe“ drückt das unverstellte Verhältnis zum
Anderen völlig unangemessen aus – dies ist bereits dem Inhaltsverzeichnis der Grundformen
zu entnehmen. Das Miteinandersein von mir und dir kann sich nur durchsetzen, weil es in
Opposition zur Sorge tritt; in diesem hartnäckigen Widerstreit hat das liebende Wir zuvor
schon
den
Sieg
errungen
–
so
Binswanger.
Gleichen
die
unternommenen
Argumentationsschritte einem „Schauprozess“, der andere philosophische Ansichten als
nichtige bloßstellt? Eine bestimmte – nicht unvoreingenommene – Lesart mag diesen Schluss
ziehen wollen, nimmt zuletzt jedoch keine der philosophischen Interpretationen ernst.
Freilich
kann
man
Binswanger
Schwärmerei
und
dilettantisch-romantisches
Heraufbeschwören von idealisierter und dadurch niemals faktisch gelebter Liebe vorhalten,
seine ausufernden Dokumentationen der intersubjektiven Beziehungen scheinen dieser
Ansicht sogar dienlich zu sein. Erinnert sei indessen an die geistigen wie wissenschaftlichen
Begebenheiten, die zur damaligen Zeit das Wort führten. Methodenstreitigkeiten,
voneinander abweichender Begriffsgebrauch, Unklarheit bezüglich des Forschungsobjekts
selbst führten zu unkontrollierten Wucherungen und Irritationen. Nun trat Binswanger nicht
an, um Licht in diese Wirrnisse zu bringen und sie mit einem Schlag zu lösen, weil sein
Begriff der Liebe selbst wiederum Wandlungen unterliegt – man denke an die Liebe vom Ich
zum Du, die Freundes- und Selbstliebe und an die in sehr weit gefasstem Sinn liebende
Zuwendung zum Patienten. Hier steht ein Begriff zur Diskussion, der bislang in den
Geisteswissenschaften, Künsten und in der Theologie verortet war, ein Begriff also, den zwar
alle Liebenden kennen, der sich trotzdem wissenschaftlich nicht so recht einfügen will. Aus
diesem Grund hat Binswanger auch nicht stets handfeste, akademisch griffige Argumente
parat, wie Eckart Goebel findet:
Wenn Binswangers vortheoretische Intention, die Wahrnehmung nicht nur für die
„positiven Seiten“ der Liebe, sondern auch die Unverzichtbarkeit der Liebe für ein
Begreifen menschlichen Daseins überhaupt darzutun, nach Theunissens
Dekonstruktion noch „gerettet“ werden soll, muß sein Entwurf auf anderem Wege
rekonstruiert werden als über die akademische Philosophie; Binswanger ist kein
akademischer Philosoph und will auch keiner sein.458
tritt, in welcher Resignation die heilende Liebe aber doch wieder triumphiert, nämlich insofern als sie auch im
Geisteskranken den Menschen wenigstens zu sehn vermag [...]. Dieses Sehen ist nur möglich auf Grund der
Liebe [...].“, in: AW 2, XLI. Liebe als Form menschlichen Daseins, die exklusiv dir gilt und sonst niemanden
zulässt, ist im Verhältnis des Arztes zu den Patienten insofern ausgeweitet, als der Arzt daran tut, statt im
Patienten als hilfsbedürftiges Therapieobjekt, das in defizienten Strukturen verfangen ist, jener Koexistenz zu
begegnen, die sie bereits vor Akutwerden der Krankheit war. Ersteres mündet in Symptombehandlung, die das
Zugrundeliegende ignoriert, letzteres unternimmt den Versuch, das Ich-Du-Verhältnis von Arzt und Patient
fruchtbar zu machen im Sinne des Offenseins des Kranken für seinen Zustand. Liebe und Sorge gleichermaßen
bilden dann das Tragwerk einer hoffentlich gelingenden therapeutischen Beziehung.
458
Goebel, Eckart: Der engagierte Solitär : Die Gewinnung des Begriffs Einsamkeit aus der Phänomenologie der
Liebe im Frühwerk Jean-Paul Sartres. – Berlin : Akademie Verlag, 2001. – (Literaturforschung), S. 106
165
Dass Binswanger keine akademische Philosophie vertrat, bedeutet keineswegs freie Bahn für
Naivität oder unbotmäßiges Überschreiten klarer wissenschaftlicher Grenzen, denn gerade
die Psychiatrie als „Seelenheilkunde“ begegnet liebenden, lieblosen, der Liebe verlustig
gegangenen bzw. indifferenten Menschen, oder solchen, deren Liebe in Hass pervertiert ist.
Nicht nur die universitäre Form der Philosophie weist Binswanger oftmals zurück, er enthält
sich auch der Lehre des Faches. Dass er so mitunter seinen eigenen Maximen untreu wird, ist
Folge der eigenen Positionierung im Diskurs. Was das für das liebende Miteinandersein
bedeutet, hebt Jan Holthues hervor:
Das von Binswanger besonders ausführlich und besonders mißverständlich erörterte
Phänomen der Liebe macht für Binswanger eine Revision des Katalogs der
Möglichkeiten notwendig, die das Dasein hat, um sich der Welt und sich selbst
zuzuwenden. Mißverständlich ist der Begriff der Liebe insbesondere deswegen, weil
er von Binswanger zunächst allein als Gegenbegriff zur Sorge verstanden wird, und
in den vielfältigen anderen, z.B. triebbestimmten Assoziationen, die sich
unweigerlich an ihn knüpfen, nicht weiterführt. Es geht in diesem Begriff um die
gegenüber der Heideggerschen Sorge veränderte Struktur der Bezugnahme auf einen
Anderen und sich selbst.459
Das „anthropologische Missverständnis“ weitet sich auf das liebende Wir in seiner
Ursprünglichkeit aus; Liebe ist kein stückweises Erkennen des Geliebten, sondern gleichsam
eine den Gesetzen der Empirie unterworfene Beziehung, die sich als Fürsorge erweist.460
Diese wird als Sorge um Bestimmtheiten, um Eigenschaften am geliebten Du interpretiert:
Ich liebe dann nicht dich, die ich beim Namen rufe, die mir – meine Rede vernehmend –
Anwesenheit zusagt, die mich in meinem Sein belässt, mich aber auch zurückweist (Liebe ist
sehr wohl auch Ausdruck einer Stimmung), kurz: deren Sein dem meinen ebenbürtig ist.
Allerdings herrscht Ebenmaß nur zwischen konkreten leiblichen Partnern, die einander in
ihrer gemeinsamen Zeit im miteinander geteilten Raum begegnen. Liebe ist weitaus mehr als
ein gerührtes Herz mit entsprechenden Gemütsbewegungen, darin liegt Binswanger bestimmt
richtig. Sie ist aber auch mehr und anderes als nur Verharren im liebenden Wir, worin sich
die Gefahr einer anonymen, beherrschend-unterdrückenden Liebe versteckt.
459
Holthues, Jan: Die Kritik der Psychologie : Anthropologie und Wissenschaftstheorie bei Ludwig Binswanger,
in: Kupke, Christian (Hrsg.): Zeit und Zeitlichkeit. – Würzburg : Königshausen & Neumann, 2000. – (Beiträge
der Gesellschaft für Philosophie und Wissenschaften der Psyche ; 2), S. 177-190, hier S. 183
460
Diese Konzeption führt unweigerlich zur Abschneidung vom einzelnen Ich und Du, dem Sorge bzw. die EsStruktur anhaftet, von der Vorstellung zweier Beziehungspartner, die rein und ausschließlich in Liebe sind. Hier
bleibt noch zu fragen, ob das Sein in Liebe dasselbe bedeutet wie das Sein als Liebender. Ersteres suggeriert
einen konstanten, unverwechselbaren Zustand, als ob es nur Liebe gäbe; letzteres hingegen drückt Bewegung
und Arbeit aus – Du und Ich müssen sich stets neu als Liebende und Geliebte wissen, ansonsten Liebe abstirbt
und zu einem bloßen Wort verkommt. Liebe, die nur redlich eine solche sein kann, muss sich innerweltlich,
alltäglich, im Unscheinbaren, also Verborgenen durchhalten. Eine Liebe, die dies nicht aushält oder dieses
verdrängt, ist eine irregeleitete.
166
Anonymisierende Liebe, also jene, die diesen Namen gar nicht zu Recht tragen dürfte,
ignoriert das aus ihr erwachsen sollende Du und Ich. Zwischenmenschliche Liebe greift
zeitlich in die Lebensspanne ein, die wiederum ihren Ort hat. Liebe umfasst zwei Individuen
– dich und mich, hier und jetzt –, davon abstrahieren heißt, eine konkrete, dennoch
unmessbare (unfassbare?) Liebe zugunsten eines allgemeinen Begriffes „Liebe“ zu opfern.
Der Sorge, die dir zu deinem Eigen- und Freisein verhilft, wird nun abgedankt. Deine und
meine Individualität fallen der Irrelevanz und Unverbindlichkeit anheim, um die es der Liebe
nicht zu tun ist: „Die sorgende Scheidung zwischen Mir als Individualität und Dir als
Individualität, ja als Existenz, schwindet hier hin, und damit die Scheidung zwischen ‚Etwas
an Dir’ und ‚Etwas an Mir’ […].“461 Das Übergehen des Eigenen, des je Deinem und je
Meinem, das in liebendem, einander zugetanem Gespräch hervortritt, offenbart die
zweifelhafte Neigung Binswangers, Liebe als sich faktisch ereignende keinen gebührenden
und würdigenden Tribut zu zollen. Vielmehr verlegt er sich darauf, das In-der-Welt-sein in
Sorge dem Wir unterzuordnen. Das liebende Wir umgreift ein Ich und ein Du, Binswanger
konzentriert sich auf das Wir, welches sich per definitionem im Gemeinsamen des unter ihm
Versammelten findet. Auf den Schwenk vom konkreten zum allgemeinen Du hin verweist er
schon in der Erörterung des pluralen Seinsmodus. Das ist weiter nicht verwunderlich, zumal
das Ich als einzelnes mehreren anderen begegnet; diese sind ohne vorgängiges Wissen um
deren Andersheit nicht erkennbar.
„Menschenkenntnis“, die rein aus dem In-der-Welt-sein als Sorge entspringt, wird
erst zur Erkenntnis „des Menschen“, wenn sie sich auf Liebe „stützt“, d.h. wenn sie
im Andern oder im Mitmenschen „den Menschen“, im Sinne des Zusammenfallens
von Du und Duhaftigkeit überhaupt, nicht nur zu „sehen“, sondern ihm zu begegnen
vermag.462
Das vorgängige, noch nicht thematisch eingeholte Wissen entwickelt sich in diesem Fall als
Liebe. Das Allgemeine der „Duhaftigkeit überhaupt“ vermengt Binswanger mit liebendem
Sein. Das Primat der Liebe ist nicht auf ein einziges Du bezogen, weil Liebe fortan als
Erkenntnisprinzip für ein jegliches Du reklamiert wird. Dadurch verlieren Teilinhalte,
Bestimmtheiten, Akzidentelles an Bedeutung (die ich dir beimesse und an dir würdige), ja
diese werden erst durch das Allgemeine als von ihm Verschiedenes wahrgenommen. Der
Vorrang des umriss-schattenhaft Generellen, aus dem der konkrete, liebende Mensch
hervortritt, ist ein im Rahmen der Erkenntnistheorie angesiedeltes Problem, in der
Begegnung selbst jedoch besitzt es keine Relevanz. So ist es verfehlt zu sagen, ich liebe dich
in deiner Duhaftigkeit – ich liebte dann anstelle deiner die Vorstellung eines Du, welches mir
461
462
AW 2, 140
AW 2, 241
167
in Gestalt deiner begegnet. So werden Du und Ich in der Liebe, in der wir ja doch unsere
Einzigartigkeit füreinander gewähren und bewahrheiten, zu Exemplaren einer Gattung. Der
Oberbegriff „Gattung“ realisiert sich sodann als ein Wir, in dem Ich und Du als Teile
versammelt sind, die in Wert- und Gliedhaftigkeit vertauschbar sind. Allgemeines als
Duhaftes kann überhaupt nicht geliebt werden, es wird höchstens mittels Vernunft erfasst. An
einer früheren Stelle im Werk zitiert Binswanger allerdings aus Hegels theologischen
Jugendschriften: „Ein Gedachtes kann kein Geliebtes sein.“463
Was ist nun mit der Einführung des Begriffes der abstrahierenden Duheit für den
Problemstand gewonnen? Dazu kann – vorausgreifend – festgehalten werden: 1) Das
Duhafte überhaupt dient als erkenntnistheoretisches Fundament der Liebe in ihrem weitesten
Sinn als Akzeptanz und Aufmerksamkeit für die begegnenden anderen. Hypothetischen
Charakters ist die Ansicht, eine Duhaftigkeit führe zur bedingungslosen Annahme sämtlicher
anderer. Liebendes Begegnen weitet sich vom Ereignis zwischen mir und dir aus zu einer
lebensweltlichen Weise intersubjektiven Daseins. Wahrnehmungspsychologisch ist dieser
Gedanke durchwegs nachvollziehbar, so schreibt etwa Boss, sich auf Heideggers
Offenständigkeit des Daseins beziehend:
Hätte ich nämlich nicht immer schon im vorhinein den andern als ein Wesen von
derselben Seinsart erkannt und verstanden, dergemäß ich selbst existiere, wüßte ich
gar nicht, in was hinein ich mich einfühlen sollte, um einen anderen Mitmenschen in
dem zu entdecken, was er ist. Alle Vorstellungen von einer Empathie oder einem
Sich-einfühlen-können in einen Mitmenschen setzen das Verstanden-haben des
anderen als Mitmenschen immer schon voraus. […] Eine Einfühlungs-Theorie ist
denn auch nur dann vonnöten, wenn das In-der-Welt-sein des Menschen nicht als ein
Offenständig-sein für den Anspruch der sich uns zusprechenden Gegebenheiten
unserer Welt gesehen wird.464
Wenngleich Binswanger das Problem manchmal pathetisch angeht, können die anderen von
mir nicht „inbrünstig“ geliebt werden (das wäre ohnedies unehrlich), ihnen soll im „Geist der
Liebe“ begegnet werden. Hier meldet sich durchaus ein ethischer Anspruch an, den
Binswanger allerdings nicht ausdrücklich dargestellt hat. 2) Weiters will er damit den
Widerstreit von Liebe und Sorge überbrücken. Sorge, die auf Einzelnes an dir (dir
anhaftendes „Endliches“, „Beurteilbares“) gerichtet ist, ist in der Universalität der Liebe
eingebettet.465 Der Begriff der Liebe stellt sich erneut als ein prekärer dar. Binswanger
versucht, die von ihm eingeführte Dichotomie von diskursiver Teilwahrnehmung von dir und
463
Hegel, Werke I, S. 362
Boss, Grundriß der Medizin und Psychologie, S. 364
465
Herzog bringt dazu einen ärztlichen Beweggrund ins Spiel, der sich in den Grundformen anbahnt und im
Verlauf seines späteren Wirkens deutlicher hervortritt: „Es wird in den Spätschriften sichtbar, wie Binswanger
bis zuletzt mit dem Problem der Einheit von vergegenständlichender (somatischer) Medizin und
vorgegenständlicher, d.h. sympathetisch-kommunizierender Menschenbehandlung rang.“, in: Herzog,
Weltentwürfe, S. 100.
464
168
liebender Erkenntnis durch die beide in sich aufhebende Daseinserkenntnis zu bewahren
bzw. zu „retten“. Erkenntnisleitend ist statt der Intentionalität das Offensein des Daseins für
das Einssein mit dem Sein als Ganzem, welches sich als simple Negation des teilweisen
Erkennens zeigt. Indem er Einzelnes, d.h. das Du in seiner realen Gestalt in Gegenwart
übergeht, versetzt er das Dasein gleichsam in eine Situation, die von einer „unbestimmten
Seinsfülle“, „[…] vom Wesen der Wirhaftigkeit, ‚unendlich weit hinaus’ über das bestimmte
geliebte Du, ‚ewig vorher’ und ‚ewig hernach’ […]“466 durchherrscht ist. Ein
ununterscheidbares Ich und Du scheinen im Wir untergetaucht zu sein. Das führt dahin, dass
Ich, Du und Wir das „Sein als Ganzes“ sind, Liebe ist das ranghöchste Ganze, das ich zu
erkennen vermag. Sind Ich, Du und Wir konvertibel, so partizipiert das konkret-empirische
Ich am Ganzen, als das sich Liebe erweist: „Wer am Sein als Ganzem teilzunehmen vermag,
vermag – der Möglichkeit nach – alles zu erkennen.“467 Liebe ist als Grundform angesetzt,
ihre Wirklichkeit erst lässt Begegnung mit und Zuspruch vom Sein zu (das wir je schon
sind). Hier treffen wir auf das, was Binswanger eigentlich vermeiden wollte, nämlich die
Verquickung von Liebe und sorgendem In-der-Welt-sein, oder wie Heinz Vetter schreibt:
„Sie [die Liebe, Anm.] muss sich eigentlich mit allem befassen, was die menschliche
Wirklichkeit im weitesten Sinne betrifft, und das ist letzten Endes die Wirklichkeit
überhaupt.“468
In dem mit etwas Verlegenheit gebrauchten Begriff „Wirklichkeit überhaupt“ hat das
Umfassende naturgemäß Vorrang vor den Einzelteilen. Dialogphilosophie meint nicht in
erster Linie dich und mich, die einander unverwechselbar und faktisch einander begegnen,
sondern sie beansprucht Verbindlichkeit. Dazu bedarf es des Absehens von deiner und
meiner lebensgeschichtlichen, durch Erfahrungen und Reflexionen über diese gereiften
Person. Das geht so weit, dass wir unserer Mundanität und mit ihr unserer Sorgestruktur
beraubt werden469: „Das heißt, daß dem Besonderen, ja der Besonderheit als solcher, in der
Liebe keine selbständige Bedeutung zukommt, […]. Nur als Teilinhalt einer wirhaften
Totalität empfängt das Einzelne und Besondere hier Sinn und Bestand […].“470 Versteht man
unter Besonderheit das, wodurch du und ich je einzig, daher nicht substituierbar sind, dann
wird in diesem Satz Jemeinigkeit wie Jedeinigkeit als Ergreifen der eigensten Möglichkeiten
zurückgewiesen. Die Einebnung von Deinem und Meinem – welches keinen Besitzstand
466
AW 2, 453
AW 2, 458f
468
Vetter, Heinz: Die Konzeption des Psychischen im Werk Ludwig Binswangers, S. 96
469
Die Konsequenzen heben vor allem Haltmayer und Theunissen hervor, deren Argumente im folgenden
herangezogen werden.
470
AW 2, 459
467
169
anzeigt! – führt sodann in ein Wir-Gefüge, das man auch als Seinsganzes identifizieren kann,
Haltmayer meint dazu:
Ginge es darum, in kürzester und zugleich fundamentalster begrifflicher Weise
auszudrücken, was Liebe ist, so müßte diese als das zwischendurch schon
angesprochene Zusammenfallen meines „einzelnen“ Du und von Du überhaupt
charakterisiert werden (bzw. zugleich, was Ich und Wir anbelangt: als
Zusammenfallen von mir als „einzelnem“ Ich und von Ich überhaupt sowie von Wirbeide mit Wirheit überhaupt).471
Ist das einzelne Du exakt deckungsgleich mit dem abstrakt-allgemeinen Du, dann liebe ich
ausschließlich ein einziges Du, das sich in seiner Allgemeinheit – und das meint immer
Ungreifbarkeit – mir als konkretes Seiendes entzieht, wenn nicht gar verflüchtigt. Das
einzelne Du, das sich in Duhaftigkeit zeigt, mutiert unter diesen Auflagen zum absoluten Du.
Der Status der Absolutheit des Du wird jedoch nur um den Preis der Aufgabe der „konkreten
Duhaftigkeit“ deiner Person erkauft. Wie ein Konkretes (dies selbst schon ein abstrakter
Begriff) etwas „Allgemeines“ zu erkennen vermag, darüber schweigt Binswanger, indem er
sich auf das Unvermögen des Verstandes, ebendies zu fassen, beruft.472 Er spielt das, was er
unter einen Begriff bringen will (Sorge und Liebe) gegeneinander aus. Das angekündigte
„sowohl-als-auch“ (Liebe zu dir wie auch Sorge als Befreiung zu deinem nur dir selbst
gegebenen Seinkönnen) weicht dem „entweder-oder“, daher Haltmayer befindet:
Mit diesem oszillierenden Isolieren der Vernunft am einen Pol von der Liebe am
anderen gerät Binswanger in eine (von ihm für die Begründung seiner
Daseinserkenntnis zwar begrüßte, aber letztlich doch nicht zu überwindende und
seiner Arbeit daher zum Schicksal werdende) Dualität, die wir von der
Entgegenstellung der (endlichen) Sorge gegen die (unendliche) Liebe her schon
kennen. Diese Dualität muß, beruft man sich auf jenes erwähnte „Erschleichen“, als
„Widersprochenheit“ oder Entzweiung verstanden werden, deren zwei Seiten
einander äußerlich (und daher auch mit keinen Mitteln zusammenzubringen oder zu
versöhnen) sind; so daß es nur als folgerichtig anzusehen ist, wenn auch die Einheit
Wirklichkeit-Begriff zuletzt in die Gegensätzlichkeit der Dualitätsfronten gerät,
dergestalt, daß (wenigstens der Tendenz nach) die mit Verstand und Vernunft Hand
in Hand gehende Begrifflichkeit gegenübergestellt wird der Liebe, u. zw. der Liebe
als der eigentlichen Wirklichkeit. Eine derartige Behauptung von Unterschieden hat
übrigens durchaus ihren guten Sinn, allerdings nur so lange, wie ihr zugleich
bestehender Zusammenhang nicht geleugnet wird.473
Von Koinzidenz vom allgemeinen mit dem konkreten Ich und ebensolchen Du zu einem
komponentenlosen Wir ist eingangs der Grundformen ausdrücklich nicht die Rede: „Denn
aus der ungeschiedenen Seinsfülle des Einander lösen sich erst Ich und Du heraus, um aneinander ihre ‚Selbstheit’ zu gewinnen.“474 Selbstheit von Ich und Selbstheit von Du ist
471
Haltmayer, Zum Begriff der Liebe, S. 157
AW 2, 553
473
Haltmayer, Zum Begriff der Liebe, S. 158
474
AW 2, 13
472
170
geradezu das Gegenteil von Allgemeinem, in das Ich und Du hineingezogen werden. Abseits
dessen bedeutet Selbstsein So-sein bzw. Dieses-sein, das allein dadurch bereits vom Anderen
getrennt ist; was anderes aber kann ich lieben als jemand anderen selbst?
Setzt und bedingt zugleich Liebe den anderen Menschen? Es fällt nicht nur ein
konkretes Du als ein Selbst mit dem allgemeinen Du zusammen, das allgemeine Du steigert
sich zum Absoluten, an dessen „ganzem Sein“ das Ich Teil haben will. Ein Konkretes wird
verallgemeinert und dieses sodann als Absolutes deklariert. Man kann gut – wie das oft auch
geschieht – das Geliebte absolut setzen, sich so selbstvergessen unterordnend, sodass du den
alleinigen, damit allherrschenden Fixpunkt meiner Existenz markierst. Dem gebieten deine
und meine Selbstheit jedoch Einhalt, wie Binswanger gerade im Abschnitt über die „Wirheit
und Selbstheit im Lieben“475 herausstellt. Liebe, die nur dir, dich damit verabsolutierend, gilt,
ist nicht jene Liebe, in der du mir als empirisch fassbares Wesen entgegentrittst.
Binswanger verwechselt das logisch-abstrakte Absolute von der „Abgehobenheit“
jener Liebe, zu der Ich und Du tatsächlich fähig und berufen sind. Was zuerst betont wurde,
nämlich Liebe von selbständigem Ich und Du, wird nun revidiert: das Selbst steht als
logische Instanz mit dem Allgemeinen bzw. Absoluten in Zusammenhang, Liebe zum Du als
eine Selbstheit wird aber schwerlich einen (logischen) Bezug zur Allgemeinheit des eben
geliebten Du herstellen wollen. Auf das Absolute, das wahrlich von dir Losgelöste und dich
von mir Trennende, beharrt Binswanger ohne Abstriche: „Liebe ohne Liebe zur reinen Form
ist ‚bloße’ Verliebtheit, Form- und Maßlosigkeit.“476
Der ohnedies überbelastete Begriff „Liebe“ wird nicht aussagekräftiger, wenn man
ihn zum Absoluten erhebt, damit zugleich reale Gegebenheiten übergehend. Liebe selbst
kann nie nur ein Begriff sein, der sich als Gegenstand der Logik oder der Linguistik
darbietet; insofern verfehlt jedes Reden über die Liebe die Liebe selbst. Sie soll weder
sorgendes In-der-Welt-sein noch ein unerreichbares „Jenseits des Seins“ sein. Sie ist
Grundform menschlichen Daseins und deshalb nicht anderen Menschen als Messlatte
anzulegen, ohne wiederum deren Liebe zu verkennen oder zu zerstören. Was hier
subjektivistisch klingt, ist keineswegs so zu verstehen. Liebe gewähren Subjekte einander,
allerdings in der Art und Weise, wie es nur diese zu tun vermögen. Dies gilt für jede Liebe,
475
AW 2, 107-123
AW 2, 548. Der zweite Teil der Grundformen trägt den Titel „Vom Wesen der Daseinserkenntnis“, der den
Leser eher verwirrt denn erkennend zurücklässt. Das belegen die zahlreichen Wiederholungen des bereits
Gesagten, die mit Berufung auf traditionelle Termini (Begriff, Dialektik, Allgemeines, Einzelnes, Bestimmtheit)
untermauert werden, deren Prämissen und Folgerungen manchmal unbedacht in die eigene Argumentation
eingeflochten werden. Die mannigfachen Verweise und Bezugnahmen auf Dichtung (Goethe) und Philosophie
(Kant, Hegel, Hönigswald, Dilthey, Husserl, Heidegger) bis zur Psychologie lassen eine Unsicherheit
Binswangers hinsichtlich des eigenen Themas erahnen.
476
171
die dich als den liebt, fördert und würdigt, der du bist und dieses dein „Du-sein“ erst
hervorzubringen vermag. Darin ist wohl auch der Grund für die Zuhilfenahme zahlreicher
Gedichte zu sehen, in denen liebende Begegnung in einer nichtwissenschaftlichen Sprache zu
Wort kommen, womit sie an das Phänomen wesentlicher näher herankommen. Trotzdem: In
eigenem Interesse muss sich Binswanger – um den Preis der Verständlichkeit – in der
Fachterminologie ausdrücken. Das dadurch entstehende kommunikative Manko bringt
Theunissen auf den Punkt: „Doch was es [das Liebende jenseits der Heideggerschen Sorge,
Anm.] positiv ist, vermag Binswanger nicht zu sagen.“477
Liebe, die dich und mich in Unverwechselbarkeit füreinander da sein lässt, verliert
unter diesen Aspekten ihre Gültigkeit, ja ihren Sinn überhaupt: Je betonter Ich, Du und Wir
als etwas Generelles, „Ganzes“ gedacht werden, umso verschwindender und marginalisierter
erscheinen wir in unserer Liebe. Übersteigert man diese Vorstellung ins Extreme – und
Extremes bedeutet immer Missverständnis, also Ignoranz des zu denken Gebenden –, so
bleibt von einem geliebtem Du nichts mehr übrig. Wenn ich dann überhaupt noch liebe, so
liebe ich bestenfalls etwas Gegenstandsloses. Nochmals Theunissen das Wort:
Wie also alles Einzelne am konkret-singularen Du unter die Totalität dieses Du
subsumiert werden muß, so ist das konkret-singulare Du, als trotz seiner inneren
Ganzheit Einzelnes, seinerseits wieder der Ganzheit „konkret-allgemeines Du“
unterzuordnen. In dieser Unterordnung ist das konkret-singulare Du nur eine
„Besonderheit der konkret-allgemeinen Duheit“. Das heißt, daß das allgemeine Du
das vorgängige Ganze ist, welches das singulare als seine Besonderung aus sich
entläßt. Oder anders ausgedrückt: das singulare Du exemplifiziert nur das allgemeine,
es ist nur ein Exemplar der Gattung Du.478
Das Verdikt Theunissens, das der orthodoxen Interpretation Binswangers hart erscheint, ist
ein klarsichtig und gründlich gesprochenes, das mit Kritik und Offenbarung nicht vorm
Mund hält. Geleitet wird der Einwand von dem Argument, nach dem der Zusammenfall von
Ich mit „Ichheit-überhaupt“ und von Du mit „Duheit-überhaupt“ in Begegnung nicht möglich
ist, womit weiters auch der Dialog zwischen dir und mir nicht statthaben kann, weil dafür
jede Grundlage fehlt. Ein Gespräch, eine liebende Wirheit nimmt in einer so geführten
Diskussion keinen Platz ein. In ihr ist für Theunissen dem Schicksal des „einzelnen Du“ die
Messe gelesen.479 Mehr noch: duale Wirheit – bisher als In-der-Welt-über-die-Welt-hinaussein definiert – verliert an Weltlichkeit, Binswanger müsste fortan für ein weltloses Dasein
plädieren, welches in unserer Welt schlichtweg undenkbar ist. Er selbst erkennt die
477
Theunissen, Der Andere, S. 466
Theunissen, Der Andere, S. 469
479
Theunissen, Der Andere, S. 470
478
172
Diskrepanz von Allgemeinem und Konkretem, von Einzelnem und Abstraktem, die die
Grundformen des Daseins als „Inkommensurabilität“480 prägen.
Binswanger riskiert in seinem Denken die Inkaufnahme der Unterordnung des
Individuellen, Besonderen und gerade dadurch Einzigartigen, in welchem sich das geliebte
Du zeigt und worin es sich auszeichnet. Ihm geht es um das In-der-Welt-über-die-Welthinaus-sein, das als Transzendieren die Welt als Sorge verlassen will. Eine Liebe, die die
Welt, in der wir füreinander zu sorgen haben, in ihrem eigenen Namen zu übersteigen
beabsichtigt, gerät mit sich selbst in Widerstreit. Begegnung – und so wird sie hier
verstanden – als eine in Eigenständigkeit freigebende Kraft, bringt Tatsächliches, d.h. das,
wie es mit dir und mit mir steht, hervor; sie kann also dieses nicht zuvor schon
überschwungen haben. Wissenschaftliche Erläuterungen zur Liebe, von entsprechenden
literarischen Ausprägungen ist bloß an dieser Stelle nicht die Rede, nähren den Verdacht,
sich selbst ins Schwärmerische, Träumerische, subjektiv Beschriebene hineinzuschwindeln.
Klar dagegen jedoch spricht Theunissen, der, Binswanger weiterdenkend, über ihn
hinausgeht: „Binswanger denkt den Überschwung in diesem Zusammenhang als ein
Überschwingen aller Faktizität oder als Hinausschwingen in völlige Untatsächlichkeit.“481
Die liebende Begegnung, in der ich deiner gewahr werde, hat mit Untatsächlichkeit,
wie Theunissen unterstreicht, nichts zu tun. Bedenkt man das Du, denkt man an das Du,
begegnet man dem Du, so findet der Zugang zu ihm in der Anwesenheit deiner für mich
tatsächlich statt. – Jede Untatsächlichkeit zerstört unsere Beziehung, indem sie sie ins
Irrelevante,
Ungreifbare
verschiebt,
in
etwas,
das
einer
metaphorischen
Seelenverwandtschaft gleichkommt. Das Selbstmissverständnis, dem Binswanger unterliegt,
gebietet einen abermaligen Blick auf das, was ihn zu seiner misslichen Interpretation geführt
hat. Die Konzentration auf das allgemeine Du ist durch die vorgängliche Herabsetzung des
Singularen bedingt, dessen Bedeutung er zuvor herausgestellt hatte. In der Singularität ist
nicht in erster Hinsicht von der Rolle, die ich bekleide, die Rede, sondern von dem Selbst,
welches ich durch dich erlange. Das Du also ist es, das mich als ein Ich erkennen lässt und
mir Identität zumutet: „[…] denn mit Dir, mit dem ‚Verlust’ der Wirheit, hätte ich im vollen
Sinne des Wortes auch mich-selbst verloren. Die Selbstheit ist hier also von Gnaden der
Wirheit! Ihr Name lautete: Einsamkeit.“482 Die Selbstwerdung, die ich durch dich erlebe,
erfahre ich erst, wenn du mir real begegnest – nicht als Einzelexemplar eines Allgemeinen.
Die Beziehung von Dasein mit Mitdaseienden steht bei Heidegger unter dem Vorrang des
480
AW 2, 501
Theunissen, Der Andere, S. 473
482
AW 2, 397
481
173
sein lassenden Seins, das seinerseits eine Anonymität erahnen lässt, Binswanger setzt an
diese Stelle das ins Allgemeine enthobene Ich und Du. Dabei ist es einerlei, ob ein Du im
Lichte des Seins betrachtet wird oder unter dem Anspruch des Allgemeinen steht. Wird dem
Du ausschließlich unter diesen Hinsichten begegnet, dann ist auch dir dein dir zugehöriges
Anders- und Eigensein verwehrt.483
7.3 Konsequenzen
Die in dem Kapitel dargestellte Debatte hinterlässt Frucht- und Ratlosigkeit, daher sind
fragende Einwände gestattet. Eine das Phänomen der Liebe zu erhellen versuchende
Philosophie rückt klarerweise die Liebenden in das Zentrum der Betrachtung, wobei deren
Fassbarkeit – will sie nicht spekulativ-skeptisch agieren – ein unhintergehbares Prinzip
darstellt. Allein dadurch verbietet sich die Betrachtung des einzelnen Du als eine
Allgemeinheit, gegenteilig verkehrt wird das Du zu einem Exemplar der Gattung Mensch.
Wie ich durch Zufall mit diesem Exemplar in Bekanntschaft gerate, darf ich es – durch
Koinzidenz und ebensolche Willkür – lieben. Gilt meine Liebe zu dir als Zuneigung zu
einem Exemplar, dann liebe ich nicht dich, wie wir einander begegnen, sondern ein
Schattenbild, einen Vertreter eines Standes, eines Volkes, eines Zirkels, als jemanden, dessen
Selbstheit von anderen vereinahmt und dadurch „entselbstet“ wurde.
Binswanger hingegen plädiert für die Selbständigkeit in und durch Zweiheit, wenn
auch Transmundanität und Antiindividualität Züge seines Denkens tragen. Hält man ihm
seine eigene Schrift vor Augen, muss er die Folgen seiner Überlegungen eingestehen und
durchhalten. Die Relation von Ich und Du ist sein Anliegen, ein Sinnbild derer findet er, wie
schon erwähnt, in der Ellipse.484 Die Zentren der Ellipse bilden die Brennpunkte, also Ich
und Du, ohne die die Ellipse keine wäre. Lässt man die Brennpunkte zusammenfallen, so
resultiert ein (missverstandenes) Wir, das dich und mich absorbierend vereinheitlicht. Je
größer die Entfernung der Brennpunkte voneinander, desto größer auch der Raum (oder
mathematisch korrekt: die Fläche), den Liebende einander schenken. Binswanger hat das
bereits mit dem sich selbst mehrenden Eros verglichen. Die Erläuterungen zur Räumlichkeit
des Daseins legen weiters nahe, dass er von zwei Liebenden ausgehen muss, um überhaupt
483
Um diese Gefahr weiß Binswanger, jedoch wehrt er sie nicht ab. Das folgende Zitat trägt beinahe schon Züge
eines Bekenntnisses: „Es braucht nun kaum noch einmal betont zu werden, daß es sehr verschiedene Grade der
Vollkommenheit von Daseinserkenntnis gibt. Von dem erwähnten Höchstgrad aus gibt es alle Übergänge bis zu
demjenigen Grad, wo Ich Dich aus dem Auge verliere und nur noch das Wesen Du-überhaupt schaue, wo Du
und das Wesen Du-überhaupt also nicht mehr zusammenfallen oder zur Deckung gelangen. Fällt dann
schließlich auch noch die Sicht auf das Wesen Du-überhaupt hinweg, dann erkenne Ich überhaupt nicht mehr
psychologisch, sondern nur noch gegenständlich. Psychologische Erkenntnis findet ihre Grenze da, wo Duüberhaupt umschlägst in Es-überhaupt, in die Gegenständlichkeit.“, in: AW 2, 586
484
AW 2, 21. Zur präziseren Erläuterung siehe das Kapitel 4 Die Welt des Dualis (liebendes Miteinandersein).
174
zu einem Begriff der Räumlichkeit zu gelangen. Einräumen des Wir-Raumes verlangt eine in
Liebe gewachsene Präsenz eigenständiger Menschen; in der betreffenden Passage heißt es
expressis verbis:
Hier enthüllt sich die Raumstruktur des liebenden Miteinanderseins erst deutlich: ihr
Ordnungsprinzip, ihr oberstes Sinnprinzip bist Du, und da Du nicht bist, ohne daß Ich
bin, sind das oberste Raumprinzip Wir. Nur weil „im“ Wir Ich und Du schon – als
einander zugehörende – sind, gehöre Ich dort hin, wo Du bist, vermag ich da zu sein,
wo du bist, vermag da, wo du bist, ein Ort „für mich“ zu „entstehen“ […].485
Um eine Beziehung unterhalten zu können, muss ich eine Entität sein, liebend erst bin ich
ich. Den Raum, den ich gewähre, trete ich ja nicht ab, ich muss ihn mir auch nicht
wegnehmen lassen; er wird mir in sinngewandelter Weise wieder „zurückgeschenkt“, um
beim Bild der Ellipse zu bleiben. Von einem allgemein-abstrakten Ich bzw. Du wird in
diesem Bild nicht ausgegangen: „Der sprachliche Ausdruck für diese Räumlichkeit lautet:
Ich und Du. Vertiefung und Erweiterung bedeuten hier aber zugleich Annäherung, Ferne
bedeutet hier zugleich Nähe, Klarheit und Wahrheit.“486
Die Diskussion um die Liebe eines allgemeinen Du oder eines konkreten Du ist einer
der Prüfsteine der Philosophie der Begegnung. Es kann die Beziehung zu dir als eine nur uns
beide angehende gesehen werden, dann ist sie den anderen eine exklusive, damit ist sie aber
nicht abgewertet. Vielmehr wird zuweilen die Liebe zum Du propagiert. Dieses Du ist dann
jedoch nicht jener Mensch, den ich liebend bei mir weiß. Das Problem liegt darin, dass ich ja
gar nicht wissen kann, wen ich als allgemeines Du überhaupt liebe.487 Die Liebe zum
Allgemeinen offenbart sich darin als Liebe zum Nichts, wenn dieses als Negation des
Menschlichen gedeutet wird. Liebe als Offenbaren des Eigenen für dich, als Seinlassen
deiner und meiner ist in zählbaren Momenten nicht fassbar. Die Existenz der Liebenden wird
mit dieser Methode verfehlt. Ist Liebe ein grundlegender Modus, der uns selbständig sein
heißt, so ist er doch versteckt, aber nicht ausgerottet. Das wäre er dann, sobald Liebende
ihres Füreinanderseins verlustig gingen oder dieses als ein falsches Spiel betrieben. Auch aus
485
AW 2, 20f
AW 2, 23
487
Diese Vorstellung treibt sich zuletzt dann ins Extreme und Unvorstellbare, sobald man an den Tod denkt.
Stirbst du, dann stirbt kein universelles Du, sondern eben du, dessen Liebe ich teilhaftig werden durfte. Ein
allgemeines Du ist in diesem Sinne gar nicht sterblich. Sehr wohl bist aber du sterblich. Begleite ich dich bis zu
deinem (physischen) Ende, so „stirbst du mir weg“ und nicht jemand anderer, der als Einzelexemplar an deiner
statt stirbt. Erst recht im Sein-zum-Tode ist das Dasein aufgerufen, miteinander da zu sein. Ich kann dir deinen
Tod nicht abnehmen, sehr wohl jedoch dir in jenem Fortgang beistehen, den du leisten musst. – So stirbt jeder
Mensch einen anderen, eben den eigenen Tod. Ob sich darin Liebe, Zugetanheit, Sympathie, Hilfsbereitschaft
zeigt oder die Beziehung am Tod zerbricht, vermag nur der Verstorbene zu sagen. Doch dieser verbleibt
schweigend. Eine Individuation – meine wie deine –, die bei jeder Konkretheit der Liebe doch im Ungewissen
verbleibt. Dies redet nicht der Unverbindlichkeit das Wort, unter deren Mantel sich verantwortungslose Liebe
verbirgt, geht es doch um das Wagnis der Liebe.
486
175
diesem negativen Beispiel wird ersichtlich, dass Binswanger die Liebe als Wertvolles zu
schätzen weiß, seinen Aberrationen zum Trotz.
Die sich hartnäckig und widersprüchlich haltende Dissonanz zwischen allgemeinem
und konkret-individuellem Du, der sich die Dialogphilosophie gegenübersieht, kehrt bei
Binswanger wieder, die er weder leugnet noch löst. In erster Hinsicht schreibt er als
Psychiater, der sich auf philosophisches Terrain begibt, wodurch sich terminologische und
sachbezogene Schwierigkeiten aufdrängen müssen. Der Frage – wer bin ich und wer bist du?
– stellt er sich aus der Position beider Wissenschaften. Die Antwort auf diese Frage hat sich
bereits angekündigt, sie kann hier nur im Rahmen der Philosophie Raum einnehmen. Das
Problem, dem sich Binswanger widmet, ist das Selbstsein von mir und dir in Gemeinsamkeit.
Ein eigenständiges Ich und Du, die einen Wir-Raum konstituieren, ohne die Selbständigkeit
preisgeben zu müssen, ist jedoch der Seinsstand und das Miteinandersein, das Binswanger als
liebendes Wir definiert. Das In-sich-stehen des Ich (und des Du) in (fremdgegebener)
Autonomie, die bei Binswanger unter „Singularität“ fungiert, soll nun folgend zur Sprache
kommen. Singularität ist nur eine der Grundformen menschlichen Daseins, sehr wohl aber
jene, die dem Wir entspringt und zugleich dieses konstituiert. Verdankt sich das Ich einer
vom Anderen herkommenden Selbständigkeit, die mich fordert, ich – und kein anderer als
eben ich – zu sein, dann wird im Dasein des Ich und dem des Du der Charakter der Gabe
deutlich. Die Gabe des Daseins (ich bin mir selbst von dir gegeben, geschenkt) erfahre ich in
der Grundweise der Einsamkeit, anhand derer mir deutlich wird, dass ich durch dich ein
Einzelner, so noch nie Dagewesener und in der Art nicht wieder Kommender bin; ich bin in
deiner Liebe zu mir nicht austauschbar, weil gerade ich es bin, den du liebst, indem du mir zu
sein gibst. Binswanger streift diesen faszinierenden Gedanken öfters, expliziert ihn jedoch
nicht ausreichend. An der Seinsgabe hängt sprichwörtlich das ganze Leben ab, also das,
welches das Leben trägt. Ist die Gabe Grund meines Seins, so ist es geraten, sich auf sie zu
besinnen.
176
8 Gabe des Daseins in liebender Begegnung
8.1 Die Gabe als Thema der Philosophie
Die Gabe, das Schenken, die „Gabenbereitung“, das Teilen, sind in einem derartigen
Übermaß präsent, dass ihr gemeinsames Wesen bereits wieder vergessen ist und unbeachtet
bleibt. Hört man von Gaben und Geschenken, sieht man sich selber gerne in der Rolle des
Empfängers, selten wahrscheinlich in der des Gebers. Das hat u. a. auch damit zu tun, dass
das Schenken ein kreativer und phantasievoller Prozess ist, dem man sich, sollte es soweit
kommen, nicht gewachsen sieht. Zudem weiß man nicht, was man wem wann schenkt. Und:
warum überhaupt schenken? In diese Ratlosigkeit wird noch dazu der Empfänger
hineingezogen, der sich in Erwartung weiterer Gaben artig und pflichtschuldig bedankt. Dabei
rufen Schenken und Empfangen keineswegs nur peinliche Situationen hervor, solche
Vorgänge weisen eine komplexe Struktur auf. Diese umfasst den Geschenkgeber, den
Empfänger, sowie die Gabe, die deren Verbindung stiftet bzw. festigt. Die gesamte Handlung
spielt sich in einem speziellen Rahmen ab, diesen bilden z.B. Jubiläen und Geburtstage,
dessen höchster stellt die rituelle religiöse Handlung dar, in der ein Akt zutage tritt, in dem
das Geschenk und dessen Spender erst bewusst gewürdigt wird: der Dank.
Das Geschenk ist meistens nichts Ungewöhnliches, es wird in einem festgelegten,
feierlichen Kontext überreicht. Man darf aus bestimmten Anlässen beinahe schon mit
ebensolchem rechnen. Ob dieses auch ein gelungenes ist, lässt sich vorher bereits zumindest
erahnen, kennen Geschenkgeber und -nehmer doch meistens einander. In solch einem
Verständnis von Gabe droht das Wesentliche unkenntlich gemacht zu werden. So wird man
auf ein Geschenk nicht spekulieren, man wird nicht Hoffnung darauf setzen, eines zu erhalten,
weil man ohnehin weiß, dass einem eine Gabe zugedacht ist. Es entfallen dann auch das
Staunen und die Verwunderung, die mit dem Schenken einhergehen. Die Gabe stellt sich so
als etwas Unvorhergesehenes, Außergewöhnliches heraus, welches nicht zu erwarten war. So
kommt es, dass ein bestimmtes Geschenk von einem bestimmten Menschen das eigene Leben
prägt und begleitet. Eine Gabe vermag in ihrer vollen Tragweite den Empfänger in
Möglichkeiten und Weisen zu versetzen, die dieser von sich aus nie hätte erlangen können.
Die höchste Gabe, die uns zugemutet wird, ist das Leben. Es empfiehlt sich hier die
Theologie, nach deren Lehre der Schöpfer die Kreatur aus sich „entlässt“.488 Eine andere
488
Nimmt man das Dasein als etwas Kreatürliches, dann verbietet sich die Idee eines ens causa sui, niemand hat
sich schließlich selbst ins Dasein gerufen. Trotzdem sieht sich diese Auffassung stets Argumenten konfrontiert:
so wäre das Geschöpf seinem Schöpfer unablässig zu Dank und Huldigung verpflichtet, es wäre somit im
177
Deutung schlägt den Weg ein, der zum Dasein als Tatsächlichkeit führt. In ihr wird nicht
direkt Gott als Spender des Lebens angeführt, sondern dieses wird aus der Perspektive des
Seienden betrachtet. Das gegebene Dasein ist Faktizität, Geworfenes, Vorfindbares, trägt den
Charakter eines Dinghaften. So verbleibt es als Tatsächliches, dessen Wesen vorerst noch
nicht zum Austrag kommt. Beide Deutungen, die theologische wie die ontologische, kommen
darin überein, dass die Gabe eine Grunderfahrung menschlichen Daseins ist. Der Vorgang des
Schenkens markiert den Geber, den Empfänger und die Gabe, wobei alle drei Elemente einen
Wandel durchlaufen: weder der Schenkende noch der Beschenkte sind nach erfolgter Gabe
die selben, das Geschenk hat beide in ein anderes Verhältnis zueinander gesetzt, überdies hat
das Überreichte keinen bloßen Sachwert mehr.489
Ein Kennzeichen der Gabe ist ihre Unveräußerlichkeit, sie kann weder weitergegeben
noch rückerstattet werden, wohl aber kann sie in Vergessenheit geraten oder als belanglos
abgetan werden. Gerade deshalb ist sie mehr und anders als ein Handelsobjekt, die Ökonomie
begreift die Gabe nie als solche, weil sie dafür einen angemessenen Gegenwert berechnet.
Dies ist der Grund, warum man dem ehrlichen Geschenkgeber manchmal mit Misstrauen
begegnet: das Geschenk – und darin liegt sein Wesen – lässt kein Gegengeschenk zu, weil es
sich erst dem Empfänger als Geschenk zeigt. Dieser aber sieht sich in der Annahme der Gabe
als „Gewählter“, der würdig ist, sie anzunehmen. Das hat weder mit Verpflichtung, Schuld
dem anderen gegenüber noch mit Entmündigung seitens des Gebers zu tun. Das Geschenk
führt zu einer gewissen Differenz und Distanz zwischen den Partnern – es herrscht eine Art
der Ungleichheit –, die beiden eine je eigene Identität zuspricht.
In lebensweltlichen Zusammenhängen ist nur das Gabe, was für mich, aber weder
von mir noch durch mich da ist, eben das also, was mir gegeben ist. Gaben gibt es
nicht ohne Empfänger, und Empfänger gibt es nur, insofern Gaben sie dazu
machen.490
Die Gabe löst in der Begegnung eine Dynamik aus, weil du sie mir anvertraust und nicht
jemandem anderen. Sie ist direkt an mich gerichtet, durch sie sprichst du mich als Geber an,
du traust mir zu und ermunterst mich zugleich, deine Gabe in Gewahr zu nehmen. Ich bin
damit in eigener Art und Weise personalisiert, weil nur ich die Gabe zu entschlüsseln
strengen Sinn gar nicht in Liebe geschaffen, sondern in niederdrückender Abhängigkeit gehalten. Das
geschaffene Dasein kann seinerseits etwaige moralische Verfehlungen mit ebendieser Abhängigkeit rechtfertigen
usw.
489
Das Wort „Sachwert“ führt in die Irre; Geben ist etwas anderes als das Überlassen von Waren, schon gar
nicht ist es ein Gütertausch, der unter zwei Parteien ausgehandelt wird. Gabe, wie sie Binswanger versteht, ist
vom ökonomischen Handel bzw. von Politik grundverschieden. Hier ist vom Dasein als Gabe die Rede, dort vom
symmetrischen Eigentumswechsel. Daher wird an dieser Stelle von soziologisch-ethnologischen Forschungen
abgesehen.
490
Dalferth, Ingolf U.: Alles umsonst : Zur Kunst des Schenkens und den Grenzen der Gabe, in: Gabel, Michael
; Joas, Hans (Hrsg.): Von der Ursprünglichkeit der Gabe : Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion.
– Orig.-Ausg. – Freiburg/Breisgau ; München : Alber 2007. – (Scientia & Religio ; 4), S. 159-191, hier S. 169
178
vermag, andernfalls verlöre ein persönliches Geschenk seinen Sinn.491 Darin offenbart sich
die Problematik der Wahl des passenden Geschenks und hier treten die unzähligen
Schwierigkeiten mitmenschlichen Daseins auf – ich vermeine, den zu Beschenkenden zu
kennen und verfehle mit meinem Präsent ebendiese Person, wodurch mir erst meine
Unwissenheit klar wird. Die Gabe bewegt sich in einem vagen Raum: Ich weiß dich als
Vertrauten, Geliebten, deine Akzeptanz der Gabe ist selbst bei tiefer Kenntnis um unsere
Beziehung noch in Schwebe gehalten. Vermittels ihrer kann unsere Begegnung in einem
neuen, anderen Licht erscheinen und Neues zugelassen werden, welches ohne Geschenk
nicht da wäre. Schenken und Empfangen sind auf das Engste mit Zeit und Hoffnung
verbunden, das dringt selbst zu umgangssprachlichen Floskeln vor, wie etwa „ich leihe dir
mein Ohr“, „ich schenke dir Aufmerksamkeit“, „ich gebe dir Zeit“. Merkwürdig daran ist,
dass die Gabe nicht ein Teil des Gebenden ist, sondern vielmehr dieser sie selbst ist. Ich
schenke mich dir – jetzt und hier – als Person, soweit ich dies vermag. Im Geschenk bist du
nicht mehr bloß passiv Nehmender, sondern bereits gedrängt, meiner Aufmerksamkeit
gewahr zu sein. Erfahrungsgemäß mahnt so eine Situation zur Wachsamkeit – man fühlt sich
in der geschenkten Anwesenheit des Anderen möglicherweise unsicher, in Frage gestellt,
oder doch bestärkt und im Eigensein bestätigt. Dalferth sieht darin „Vollzüge personaler
Kommunikation“, in denen sich Begegnungen festigen und zugleich wandeln:
In diesen Beziehungen werden wir, wer wir für andere sind, und erst dadurch werden
wir fähig, als solche auch zu leben und zu handeln. […] Durch Gaben werden wir,
wozu wir uns nicht selbst machen können: zu Empfängern.492
Dalferth betont die Rolle des Empfängers, der das Geschenk erhält, namentlich das Geschenk
des Lebens. Abseits des theologischen Zusammenhangs, der hier hervortritt, zeigt das Geben
einen Prozess an, eine Interaktion zwischen den Partnern, auch wenn der Beschenkte nichts
entgegnen kann. Durch diese Dynamik ist die Beziehung nun eine andere als zuvor, Du und
Ich werden einem Wandel unterzogen. In diesem Sinn war der Beschenkte vorher noch ein
„Bedürftiger“, der mit der Gabe bereichert wird. In der Begegnung sticht paradoxerweise
eine Passivität des Empfängers hervor, in der dem Gebenden nicht die Rolle des
Besitzergreifers unterstellt werden soll. Diese Passivität ist kein Unvermögen bzw. eine
Mangelerscheinung, schon gar nicht Bequemlichkeit oder Faulheit, in der man sich
„bedienen lässt“. Sie bedeutet hier Rezeptivität als Offensein für den Anderen und dessen
491
Das Ereignis der Gabe ist hier im Ontischen angesiedelt, in dem der Empfänger bereits als Dasein konstituiert
ist. Eine andere, nämlich grundlegende Gabe ist die des Seins, die Dasein da sein lässt, es ins Sein ruft und ihm
zu sein überantwortet. Darauf zu verweisen ist das Ansinnen Heideggers. Binswanger hingegen lässt eine
weitere Option offen: das Geben und Empfangen des je eigenen Daseins aus dem Wir.
492
Dalferth, Alles umsonst, S. 172f
179
Gabe, was auch immer diese im Konkreten sein mag. Allein diese Öffnung und Einstellung
selbst verrät bereits Dankbarkeit.
Vom Dank, auch von der Bitte, liest man bei Binswanger in seinen Grundformen
selten, während von der Gabe ausführlicher die Rede ist und zwar in den Kapiteln „Die
Selbstheit im Handeln und die Wirheit und Selbstheit im Lieben“ sowie in den Ausführungen
zu „Liebe und Tod“. Die „Selbstheit im Lieben“ definiert er als „Einsamkeit“, in der es mir
aufgegeben ist, zu lieben und dementsprechend zu handeln. Der missverständliche Terminus
„Einsamkeit“ bedeutet in positiver Wendung Selbstannahme in Akzeptanz des nicht selbst
gelegten Grundes des eigenen Daseins. Das Ereignis der Begegnung in Liebe ist untrennbar
mit dem Phänomen der Gabe verbunden; dies zeigt sich schmerzlich in fehlenden oder
brüchigen Beziehungen. Im Folgenden muss Gabe als Wesensmerkmal der Ich-DuBeziehung herausgestellt werden, weil sich erst in der Seinsgabe Liebe äußert, die dich als
mit deinem Sein Beschenkte/r meint. Jedoch bleibt der Grund der Gabe verdeckt – wer gibt
mich mir, wer gibt dich dir? Oder geben wir einander zu sein, sodass wir unser je eigenes
Dasein dem Anderen verdanken? Wie aber soll der Mensch als kontingentes Wesen einem
anderen zu dessen Sein verhelfen, ohne in Hybris zu verfallen? Liebe als Gegründetsein im
Du, welches mir Sein einräumt und gewährt, zeigt sich in bewusst vollzogener Annahme
seiner selbst mit dem Wissen um die eigene Herkunft aus dem Du. Mein Ursprung ist mir von
dir gegeben, ich stehe dadurch aber nicht in einem repressiven Abhängigkeitsverhältnis dir
gegenüber, weil du nach der Freigabe meiner in eigenes Sein kein Besitzrecht zur Geltung
bringen kannst. Das mir zuteil gewordene Sein ist ontologisch betrachtet unveräußerbar, es
kann weder getauscht noch aufgehoben werden.
Es genügt aber nicht, einzusehen, daß Liebe darin besteht, im Sein „eines Andern“ –
um diese Redeweise hier noch gelten zu lassen – den Grund ihres Seins zu haben,
vielmehr gilt es einzusehen, daß dieses Grundhaben nur Liebe ist, insofern es kein
pflichtmäßiges, überhaupt kein sich etwas vor-setzendes und damit auch kein im
Gegensatz zum natürlichen Sein stehendes Sein ist! Liebe setzt sich weder etwas zum
Grunde, noch zum Zweck, vielmehr wird ihr Grund sowohl wie Zweck als Geschenk
oder Gnade.493
8.2 Selbstheit als Geschenk des Anderen
Die Aussage, ich sei mir von dir gegeben worden, hinterlässt einen verwirrenden Eindruck.
Ich kann sie erst dann äußern, sobald ich meiner bewusst geworden bin, mich subjektiv
daseiend erfahre. Das Ich trägt den Status eines Seienden auch ohne von der wechselseitigen
Ich-Du-Konstitution explizit wissen zu müssen. Sei es das Du oder das Ich – beide müssen
493
AW 2, 163
180
Subjekte sein, um zum Anderen „Du“ sagen zu können. Nur ein Subjekt kann eine
Beziehung eingehen, daher wird auch nur in der Begegnung das Ich dem Anderen zum Du.
Weitet sich Existenz zum Miteinander, dann werden Dynamik, auch Ungewissheit ins
Werk gesetzt. Diese wird umso intensiver, als man ja nie weiß, mit wem man es zu tun hat,
wenn man wirklich liebt. Wie Liebe letztlich das Wagnis der Beziehung ausdrückt, deren
Bemühen es ist, den Anderen als solchen, d.h. als den, der er selbst ist, zu lieben. Die Worte
„Liebe“ und „Gabe“ drücken Aktivität seitens des Subjektes aus; „lieben“ umfasst stets
„geben“, umgekehrt offenbart sich nicht in jeder Gabe liebende Zuwendung. Wird in der
Beziehung dem Partner Selbstheit, also Eigensein, geschenkt, zeigt sich dies auf der
ontologischen und auf der ontischen Ebene. Ich kann dir als geliebtes Du ein Geschenk
überreichen, welches dich – obwohl als Subjekt bereits stabil konstituiert – zu berühren
vermag, sodass du nach der Geschenkannahme nicht mehr jener bist, der du davor warst.
Das aus der Tiefe oder dem Grund schöpfende Geschenk ist natürlich doch das
fundamentale, weil dir darin dein Grund, deine Existenz übergeben wird. Vermittels der
Gabe wirst du, aber auch ich, mit Dasein (besser: Miteinandersein) be-gabt. In den
vorangegangenen Kapiteln wurde bereits auf Generalisierungstendenzen hingewiesen;
Binswanger ordnet Ich und Du dem Wir unter, bzw. löst er beide in ein allgemeines Ich
respektive Du auf. Die so entstehende Übermacht des Allgemeinen stellt Liebe als In-derWelt-über-die-Welt-hinaus-sein dar. Die Gabe spielt sich indessen in einer konkreten,
erfahrbaren Begegnung ab, in der Liebende einander gegenüberstehen. Sieht man vom
Allgemeinen ab, so zielt die Gabe auf den Beschenkten als Einmaligen, denn nur ihm ist sie
zugedacht.
Dass eine Beziehung wesentlich ein Geben und Empfangen ist, erscheint als
Binsenweisheit. Sie ist jedoch kein Tauschplatz, vielmehr wird das Sein-für-Andere gewährt
und dieses empfangen. Im Wir werden die Liebenden aneinander Du und Ich. Ich schenke
mich dir als jener, der unvertretbar Ich bin – dieses Schenken kann niemand an meiner Stelle
vollziehen. Ich bin es, der mit dir in der Beziehung steht. Du für deinen Teil nimmst mein
Sein-für-dich in der Weise an, wie nur du es zu tun vermagst. Anstelle von „Schenken“ kann
man auch sagen „ich gebe dir Raum, lasse dir Zeit, schenke dir Vertrauen“, schließlich: ich
nehme dich ernst in dem, der du bist und was du sagst bzw. tust. Öffnen wir uns füreinander,
so nehmen wir uns Zeit und Raum, um als solche sein zu können, wie wir es nur in unserer
Begegnung sind. Geschenk bedeutet so die Anwesenheit des einen für den Anderen, die
Selbstheit des Ich oder des Du wird durch den jeweilig Anderen verbürgt; Binswanger trennt
sie klar und mit Nachdruck vom Ergreifen der eigenen Existenz, wie es Heidegger darstellt:
181
Wenn Ich mich Dir schenken und Mich nur im Dir-schenken haben soll, wenn Ich
ich-selbst nur sein kann als Mich Dir Schenkender und von Dir mir-selbst
Geschenkter, so kann diese meine Selbstheit auf keiner Bemächtigung beruhen,
sondern nur auf einem Geschenk.494
Das Selbstsein der Person – ob nun juristisch, psychologisch, soziologisch oder moralisch
verstanden – umfasst zeitliche und räumliche Orientierung, bewusstes Wahrnehmen von Mitund Umwelt, Fähigkeit zu Aktion und Reaktion, hinzu kommen Rationalität und
Emotionalität, Verantwortungspflicht. Was sich hier wie ein Auszug eines medizinischen
Statusbogens liest, erschöpft bei weitem nicht die Bedeutung des als Person verstandenen
Menschen. Selbstheit bezeichnet bei Heidegger eine ontologische Größe, die sich als
Entschlossenheit des Seins zum Tode oder als Ek-sistenz als Stehen in der „Lichtung des
Seins“ erweist. „Selbst“ drückt etwas Subjektives aus, so bist es du selbst, zu dem ich mich
verhalte. Ich sehe in dir dich selbst, nicht den Vertreter der menschlichen Gattung, der du
natürlich auch bist. Als ein Selbst ist ein Seiendes, gleich ob Mensch oder Ding, identifiziert
als der- oder diejenige, der/die in diesem Sinne ein „Einzelexemplar“ darstellt.495 Heidegger
versteht das Selbst neutral, Dasein ist ein Selbst, „[…] das zu sein ihm anheimgegeben ist. Im
Sein dieses Seienden geht es um dessen Seinkönnen.“496 Selbstheit bewährt sich im
Seinkönnen, das Seinkönnen ist auf ein Selbst verwiesen. Zum Wesen des Daseins gehört
sein Selbstsein, von einem konkreten Ich bzw. Du ist an dieser Stelle noch nicht ausdrücklich
die Rede. „Nur weil Dasein als solches durch Selbstheit bestimmt ist, kann sich ein Ich-selbst
zu einem Du-selbst verhalten. Selbstheit ist die Voraussetzung für die Möglichkeit der
Ichheit, die immer nur im Du sich erschließt.“497
Was bedeutet das Wort Heideggers für das Denken Binswangers? Während
Heidegger das Selbstsein als Ursprüngliches ansetzt, geht es bei Binswanger aus dem Wir
hervor, in dem wir einander das Dasein reichen. Zunächst wird hier ein Missverständnis
mitgehört: „Selbstbemächtigung“ ist keineswegs das Durchsetzen des Eigenen, das dem
Selbst auf Kosten anderer Zugerechnete. Sich des Selbstes zu bemächtigen ist Sinn und Ziel
des Menschen, der verantwortlich, selbst-bewusst mit anderen da ist. Genauer gesagt: nehme
ich mein Dasein als Geschenk aus deiner Hand an, dann bin ich geradezu verpflichtet und
gerufen, Macht über mich zu erlangen und sie zu behalten. Damit lege ich mir keine Züge
eines Aggressors zu, Selbstmacht ist geboten, denn sie bedeutet Pflege und Bewahrung des
494
AW 2, 116
Man soll sich bewusst bleiben, dass „identifizieren“ so viel wie „gleichmachen“ (idem facere) – besser: in das
Selbe bringen – bedeutet. Als ein Selbes ist jeder Mensch unverwechselbar und unübersehbar, dadurch ist er
auch (in der landläufigen Bedeutung) identifizierbar.
496
Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 37
497
Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 38
495
182
Daseins, das mir von dir gegeben wurde. Das Geschenk des Daseins wird sich fortentwickeln
und entfalten, Selbstheit ist in diesem Zusammenhang alles andere als ein unveränderbarer
Zustand. Wäre dies der Fall, so müsste man von einem Dasein, das in Abhängigkeit und
Willkür anderer steht, sprechen. Gabe jedoch hält nicht an sich, der Schenkende will
schließlich, dass der mit Dasein Beschenkte je er bzw. sie selbst sei – aus Liebe zu dir will
ich, dass du der bist, der eben nur du sein kannst. Dieses Du-selbst-sein vermagst nur du, es
kann dich darin niemand ersetzen.498
Die Konsequenz dieser liebenden Forderung – sei du und ausschließlich nur du –
kann als Befreiung zu sich selbst, zugleich auch als Zwang, derjenige sein zu müssen, der
man ist, erfahren werden. In beiden Fällen aber nehme ich mich als Einzelner in Einsamkeit
wahr.499 Die Bemächtigung des mir gegebenen Daseins führt geradewegs in Einsamkeit, die
besagt: niemand kann mich ersetzen, keiner wird mir mein Dasein streitig machen, alleine
schon deshalb, weil Dasein nicht austauschbar ist. Als solches werden ihm Eigenschaften
zugeordnet, die sehr wohl variabel sind, Grundlage und Träger bleibt dabei das Identische.
Einsamkeit bedeutet für Binswanger die „Selbstheit als Geschenk“500, wobei Selbstsein als
Gabe einen merkwürdigen Prozess durchläuft: Das Ich wird am Anderen und durch ihn zum
Ich, der Gabecharakter menschlichen Daseins scheint hier nicht durch, man kann sich
allerdings die Wechselwirkung von Geber, Geschenk und Empfänger vor Augen führen: mir
wird Dasein geschenkt, durch diesen Akt existiere ich allererst. Daraus trete ich als mit Sein
Begabter heraus, um dem schenkenden Du seine Relevanz als Geschenkträger zu
verdeutlichen. Indem ich mich selbst von dir empfange, bestätige ich dich als Gebenden.
Damit ist die Personenkonstellation innerhalb des Gabegeschehens eine veränderte – der
498
Man vermisst hier ethisch-pädagogische Fragestellungen; die Ermahnung, man solle nur selbst sein, klingt
nach Permissivität, die alles entschuldigt, verniedlicht und die am Ende zu Desinteresse am Du und
Teilnahmslosigkeit führt. Mit Bezug auf defiziente Formen des Miteinanderseins schreibt Binswanger: „Die
Unmittelbarkeit dieses unseres Aufenthaltes bei den ‚Dingen’ oder ‚Sachen’ zeigt sich darin, daß wir das
Seiende, alles Seiende, sein lassen, wie es an sich selbst ist. Dieses Seinlassen ist aber keineswegs das
Selbstverständliche und Bequeme, vielmehr stellt es […] die allerpositivste Tätigkeit dar.“, Einleitung (zum
Sammelband „Schizophrenie“), in: AW 4, 335. Das Belassen von Seiendem in dessen Sein nimmt in der
Alltagswelt viele Gestalten an. Aus Gründen der Höflichkeit überlassen wir anderen den Sitzplatz, räumen
anderen Vorrang ein und beweisen Hilfsbereitschaft. Doch geschieht dies nicht lediglich, weil es Erziehung und
Etikette gebieten; Situationen, in denen wir aufmerksam und helfend auftreten, zeigen den anderen, dem
geholfen wird, meistens in einem Zustand, der ihn vom Eigensein abhält oder hindert. Ihm wird in einer
widrigen Situation sein Sein gerade nicht belassen, sodass wir ihm Möglichkeiten des Selbstseins – seien diese
auch marginal und unscheinbar – aufzeigen und sie ihm hilfreich in die Hand geben.
499
Im Zwang, sein zu müssen, verbirgt sich die Abhängigkeit vom Seingebenden in ihrer negativen Form. Ich
muss da sein, weil es vielleicht meine Eltern so wollten, ich muss so oder so sein, weil andere es verlangen usw.
In diesen an mich gestellten Forderungen komme ich gar nicht erst zu mir, sodass ich mir selbst, um mit
Augustinus zu sprechen, ein großes Unbekanntes werde. Nichts jedoch ist leichter zu leugnen als etwas
Unvertrautes. Hier ist das Ich sich selbst fremd und es mehrt die Entfremdung, indem es sich der
aufgezwungenen Rolle fügt. Es ist weder ein sich durchhaltendes Subjekt noch ist es ein Ich, das der Begegnung
mit einem Du gewachsen ist, sondern eine täuschende und enttäuschte Scheinexistenz.
500
AW 2, 116
183
Empfänger steht nicht unbedingt in Dauerschuld, die ihn in den Knechtstand versetzt,
sondern er kann ebenso dem Geber Dank erweisen und Respekt zollen, womit sich die
Situation dreht: aus dem Geber wird ein Beschenkter; jener, der zuvor empfangen hat, kann
aus seiner Bereicherung aktiv Gaben leisten.
Die „Selbstheit als Geschenk“ einen Prozess durchlaufen lassen, klingt paradox, denn
verändert sich die Selbstheit, so hört sie gerade auf, eine solche zu sein. Die sich im Wandel
haltende Selbstheit zeigt sich – in der Liebe – als Einsamkeit. Die nicht-privative Einsamkeit
ist das Fundament des Seins miteinander; sich in der Einsamkeit der Liebe dem Du öffnen,
bedeutet, in der Begegnung nicht abgelenkt zu werden, heißt, sich auf den Anderen
konzentrieren, sich ihm widmen und ihm in dieser Weise Sein geben.501
Ohne die Möglichkeit der Einsamkeit könntest Du nicht Du-selbst sein im Sinne der
Selbstheit im Lieben, sondern wärest Du entweder eine „unselbständige“ zweite
Person, mein bloßer alter ego in gemeinsamer (mystischer oder orgiastischer)
Egoität, oder aber eine „dritte Person“, ein sich in seiner endlichen „Rolle mir
gegenüber“ erschöpfender „Anderer“.502
Selbstheit in Einsamkeit angesichts eines Du? Was sich wie Widersinn ausnimmt, ist im
Denken Binswangers schlüssig und konsequent, wenn man nur die Prämissen berücksichtigt.
Ist das Selbstsein geschenkt, so ist es notwendig einsam, es kann sich mit keinem anderen
Selbstsein vergleichen bzw. an dessen Stelle setzen. In diesem Sinn ist der Begriff
Individuum zu verstehen, das Selbst ist Garant für das Ich- und das Du-sein, es lässt sich
nicht mitteilen oder spalten – es bürgt nur für sich. Zugleich ist das Selbst jener Punkt, von
dem liebendes Miteinander ausgeht und zu dem es zurückkehrt. Im obigen Zitat wird
Einsamkeit mit Selbstsein im Namen der Liebe gleichgesetzt. Beide Begriffe dienen dazu,
die Authentizität der Liebenden hervorzukehren: zwei eigenständige Menschen sind einander
in Liebe zugetan, es ist dies eine mündige Liebe, weder Du noch Ich sind unselbständige
Marionetten. Genauso wenig ist das Du ein imaginiertes Wesen, welches eher meiner
Phantasie entstammt, statt in der realen Welt seine Heimat zu haben. Überdies eignen sich
beide Begriffe dazu, eine oftmals genannte Vorstellung von Liebe zu enttäuschen – die
„Verschmelzung“ der Liebenden.
501
Hier stößt die Diskussion abermals an den Begründungszirkel von Ich, Du und Wir, deren wechselseitige
Bedingtheit diversen Perspektiven zuzuordnen ist. Wird dem Wir Priorität eingeräumt, dann ist dieses das
Fundierende und Absolute. Lassen wir uns dagegen von lebensweltlicher Erfahrung leiten, so werden wir im Du
den Dreh- und Angelpunkt der eigenen Existenz erblicken, also die Selbständigkeit aus der Begegnung mit dem
geliebten Menschen erklären wollen. Binswanger gibt dem Wir als Konstitutivum mancherorts den Vorrang vor
dem konkret-lebendigen Ich und Du, das ihm den Vorwurf eingebracht hat, er stelle das Absolute über die
individuelle Gestalt des Menschen. Näheres dazu im Kapitel 4 Die Welt des Dualis und Kapitel 7 Die
Diskrepanz zwischen allgemeinem und singularem Du in der Begegnung.
502
AW 2, 117
184
In Anbetracht und Ernstnahme der Bedeutungsvielfalt des Liebesbegriffes soll darauf
hingewiesen werden, dass Ich und Du niemals eins werden können, ohne die gemeinsame
Liebe damit aufs Spiel zu setzen und sie womöglich zu verlieren. Dem tut auch das
Argument der orgiastischen, mystischen oder emotionsbedingten Einsfühlung keinen
Abbruch, denn lieben kann ich nur etwas bzw. jemanden, der nicht meinesgleichen ist, d.h.
Liebe gebührt dem Anderen in seiner Selbstheit und Einzigkeit. Und selbst Liebe als Wille
zum Sein des Geliebten kehrt zum Liebenden zurück. Liebe als Bejahung und Bekräftigung
des Seins des Anderen umgreift mich als Liebenden selbst, weil ich dann „nur mehr lieben
kann“. Binswanger beschreibt diesen – durchaus idealisierten – Zustand als „Selbstmehrung
der Liebe“, vor allem um zu betonen, dass aus Liebe stets Liebe hervorgeht, aber auch um
auf die Kraft der Liebe aufmerksam zu machen, welche die Liebenden in deren Eigenstes
führt:
Je mehr ich Mich Dir gebe, desto mehr habe Ich Mich und je mehr Du Dich Mir
gibst, desto mehr hast Du Dich. Einsamkeit bedeutet daher nicht Mich-abwendenvon-Dir oder gar Mich-abschließen-gegen-Dich, sondern im Gegenteil Mir-offenbaroder -durchsichtig-werden im Mich-Dir-schenken und von Dir-empfangenwerden.503
Begegnung in Liebe entfaltet, entwickelt sich – sie dauert; die Begegnung ist, wenn sie sich
in Wahrheit und nicht als Rollenspiel ereignet, sie nimmt keine vorhersehbare Entwicklung.
Ein Außenstehender könnte auch nicht sagen, eine von ihm beobachtete Liebe „stocke“, in
ihr „gehe nichts weiter“. Das Geschehen der Liebe als Gabe und Annahme des Seins ist
ausschließlich den Liebenden vorbehalten. Auffällig ist trotzdem, dass Geben und Annehmen
einen eigenartigen Charakter tragen, Binswanger verwendet beide Termini fast synonym: ich
empfange mein Dasein im Miteinander, sofern ich mich dir schenke. Wie dies in einer
konkreten Beziehung aussieht und vonstatten geht, das gibt Binswanger nicht preis.
Dass sich Ich und Du nicht in ein differenzloses Wir auflösen bzw. einer im anderen
sich verliert, dass mithin der Selbstand der Beziehungspartner geformt und unterstützt wird,
erklärt Binswanger mit einer von ihm nicht näher begründeten „ich-duhaften Norm- oder
Gestalthaftigkeit“504. Ich und Du erscheinen als Normgröße, worin sich Selbstsein als
Geschenk verbirgt. Zu lieben vermag ich, wenn ich ein mit Liebe begabtes und zur Liebe
fähiges Ich bin. Ich kann außerhalb meiner Subjektivität nicht lieben; meine Liebe reicht so
weit, wie sich mein Dasein erstreckt. Alles andere wäre Großspurigkeit, Prahlerei oder
Engherzigkeit und Kleingeisterei.
503
504
AW 2, 118
AW 2, 122
185
Liebendes Dasein als Geschenk ist notwendig begrenzt, zumal das Geschenk – soll es
ein sinnvolles sein – den Empfänger nicht überfordern darf, im Sein als Gabe tritt das Dasein
als Ich bzw. Du schließlich erst hervor. Diese Begrenzung des Selbstes ist alles andere als
eine Schmälerung und Verniedlichung der Existenz, sondern fordert sie zu Eigensein und
Selbstannahme heraus. Begrenzung lässt sich treffender mit Konkretion umschreiben, sie
markiert den Zustand des Ontischen, Kontingenten, des In-der-Welt-seins.
Indem ich die Begrenzung und „Konsolidierung“ Meiner-selbst durch Deine
„Gegenwart“, d.h. durch Dein Gegenwärtigen und Gegenwähren (BUBER) als
Geschenk annehme und anerkenne, werde Ich, statt liebend auszuschweifen, auf
„Mich-selbst“ zurückgewiesen. Und je mehr ich Dich liebe, desto „lieber“ erfahre ich
jene Begrenzung, wachse Ich-selbst an Dir (und umgekehrt). Aber auch je mehr ich
Dich-selbst zu begrenzen (einzuhüllen) vermag, desto mehr wachse Ich-selbst
wiederum an Dir, wie Du-selbst dann auch an mir wächst.505
Binswanger spricht von einer Begrenzung, die Ich und Du in Gemeinschaft erfahren, was
will er damit jedoch sagen? Ist Liebe nicht eine Seinsweise, die Grenzen, Blockaden oder
Hemmnisse beiseite räumt? Welche Beschränkungen glaube ich überwunden zu haben, wenn
ich liebend existiere? Falls Begrenzung eine Möglichkeit zum Freisein für sich und andere
offenhält, so ist Binswanger im Aufweisen dieser Begrenzung zu folgen. Denn just die
Eingrenzung auf mich bedeutet Konzentration auf mich, der ich mich als dein Geschenk
wahrnehme. Das Erkennen der nunmehr eigenen Grenzen zeigt die Potentiale, die darauf
warten, verwirklicht zu werden.506
In den obigen Erläuterungen stellt sich Liebe als 1) Gabe, 2) Einsamkeit und 3)
Grenze/Begrenzung dar, allerdings in ihren abstrakten Formen. Liebe als Miteinandersein
von dir und mir wird sich in solchen Weisen nicht wiedererkennen. Die Ausdrucksstärke der
Dualität wirkt abseits philosophischer Begriffsgebarung, sie richtet sich auch nicht nach einer
Denkschule – so besehen kommt jegliche Philosophie immer „zu spät“, d.h. sie kann erst im
Rahmen der Reflexion an ihr Werk gehen. Zudem ist sie gut beraten, bei ihrer Sache zu
bleiben, in unserem Fall bei der Selbstheit als Geschenk des Anderen, als Gabe der geliebten
Person.
Der Vielfalt des Begriffes Gabe wird ein tiefer Sinn entnommen, sobald die Geburt
eines Menschen als Geschenk erfahren wird. Auf Seite der Eltern steht die Freude, auch der
505
AW 2, 122
Grenzen werden als Versagungen, als Defizite, als etwas, das eigentlich nicht sein soll, erfahren, wenn das
innerhalb der Grenzen Liegende übergangen wird. Nun ist menschliches Dasein per se Bestimmungen und
Limitationen unterworfen; mutet man dem Dasein bzw. sich selbst etwas Irreales, nicht zu Verwirklichendes zu,
so wird über diese Grenzen und das in ihnen menschlich Mögliche hinweggesehen. Statt sich des Eigenen und
damit auf sich selbst zu besinnen, zwingt man sich und anderen Forderungen auf, die schlichtweg unerfüllbar
sind. Davor warnt Pindar in seiner dritten Pythischen Ode: „Meine Seele, strebe nicht nach Unsterblichkeit, das
Mögliche schöpfe aus in deiner Bemühung.“, in: Pindar: Oden. – Griechisch/Deutsch. – Übersetzt und
herausgegeben von Eugen Dönt. – Stuttgart : Reclam, 1986, S. 105.
506
186
berechtigte Stolz, mit ihrem Kind „gesegnet“ worden zu sein, sie haben einem Menschen zu
dessen Sein verholfen in der Verpflichtung, das Selbstsein des Kindes zu behüten. Zugleich
befinden sich die Eltern in einer gewandelten Selbstheit: sie verdanken ihrem Kind nicht nur
die Elternschaft, sondern stehen als Vater und Mutter in einer neuen Weise des Daseins,
welches sich als Miteinandersein – jetzt erweitert durch das Kind – zeigt. Demgegenüber
steht die Position des Kindes; es wurde den Eltern gegeben, vor allem aber wurde es sich
selbst geschenkt, es ist berufen, eine freie und selbstmächtige Person zu sein. Dem Kind wird
dies erst in seinem Werdegang aufgehen – wenn man es denn werden lässt. Über das
Phänomen der Geburt bzw. über das Kind findet sich in Binswangers Arbeiten kaum
Relevantes, sieht man von Schilderungen der Kindheitstraumata seiner Patienten ab. Und
doch beruft er sich auf das Sinnbild des Eros, der sich selbst mehrt, indem er das Miteinander
in Liebe begründet.
Das folgende Kapitel widmet und nähert sich dem Phänomen des Geborenseins.
Geburt bedeutet zuerst das In-die-Welt-treten, im weiteren Sinne versteht man darunter das
Auftauchen von etwas Neuem, zuvor nicht Dagewesenem. Das Selbstsein in Liebe findet ihr
Urbild in der Geburt eines Menschen, dem sein Dasein zum Geschenk wird. Freilich kann
auch ein Erwachsener behaupten, er werde durch das geliebte Du ganz er selbst, er empfange
sein Dasein und dessen Sinn aus „deinen Händen“. Diese Äußerung wird man eher im
Bereich der gleichnishaften Rede verorten, sie verliert dadurch allerdings nichts an ihrer
Richtigkeit. Ist Miteinandersein an sich bereits Gabe, so zeigt sich ihr ursprünglicher und
tiefster Sinn im Geborensein.
8.3 Geburt als Gabe des Seins
Das eigene Sein als Geschenk bzw. religiös überhöht als Gnade wahrzunehmen, scheint uns
zu viel des Guten. Wir fühlen uns zuweilen ungefragt und ungebeten in der Welt und feiern
dennoch jährlich den Tag unserer Geburt. Kein Lebender kommt um seinen Geburtstag
herum, man sieht sich also mit der eigenen Geburt, mit dem eigenen Leben konfrontiert.
Geburt als In-Erscheinung-treten ist ohne Zweifel etwas Markantes, Einschneidendes,
dementsprechend reich sind die Beiträge aus Kultur- und Religionsgeschichte zu diesem
Thema. Dieser entnehmen wir, dass uns ein Kind – gar der Heiland und Erlöser – geboren
war, dessen Wirken zur Zeit der Verkündigung noch gar nicht absehbar war. Mit der Geburt
scheint das Schicksal des Menschen bereits besiegelt zu sein. Ähnlich ergeht es offenbar
auch der konträren Stimme, derzufolge das Geborensein den ungünstigsten Seinsstand
ausmacht. Für E.M. Cioran ist die Geburt ein unverschuldeter Sündenfall, der durch keine
187
Reue zu entlasten ist, dabei nimmt er sogleich den Zeuger mit in die Pflicht: „Alle
Verbrechen begangen haben, bis auf jenes, Vater zu sein.“507
Ob man die Geburt eines Menschen, die sich niemals wiederholen kann, aus der
Neues hervorgeht, in Dankbarkeit und Achtung entgegennimmt, oder die Stunde der eigenen
Geburt ungeschehen machen möchte508 – das Verhältnis zum Geborensein ist kein
unbeteiligtes.
Sachlich-abstrahierend ist die Aussage, einem Seienden wird zu sein gegeben, dass
sich ihm Sein „zuschickt“. Dementsprechend steht gerade ein Neugeborenes in der Gabe des
Seins, wobei Heidegger die Frage nach dem Sein freilich nicht angesichts des zur Welt
gekommenen Kindes, sondern in größerem Rahmen stellt. Wie sieht aber die Seinsfrage
bezüglich der Gebürtlichkeit aus? Ist ihr etwas Konkretes hinsichtlich unseres
Miteinanderseins zu entnehmen? Heidegger denkt die Gabe des Daseins (worunter ja auch
die Geburt subsumiert wird) vom Sein her in der Form des „Es gibt“.509
[…] Sein besagt Anwesen. Im Hinblick auf das Anwesende gedacht, zeigt sich
Anwesen als Anwesenlassen. Nun aber gilt es, dieses Anwesenlassen eigens zu
denken, insofern Anwesen zugelassen wird. Anwesenlassen zeigt darin sein
Eigenes, daß es ins Unverborgene bringt. Anwesen lassen heißt: Entbergen, ins
Offene bringen. Im Entbergen spielt ein Geben, jenes nämlich, das im Anwesenlassen das Anwesen, d.h. Sein gibt.510
Zur Gabe ist hier schon etwas Wichtiges gesagt, nämlich dass ihr „Anwesen“ „zugelassen“
wird als etwas, das sich selbst entbirgt, indem es zutage tritt und sich solcherart sehen lässt.
Anders könnte eine Gabe nicht wahrgenommen – oder in diesem Zusammenhang treffender:
empfangen – werden, denn als sie sein zu lassen, um damit ihr Eigenes zu bewahren und zu
schützen.511 Einen als Geschenk oder Gruß überreichten Strauß Blumen z.B. wird man in
einer mit Wasser gefüllten Vase drapieren, um ihn zur Wirkung kommen zu lassen. Damit
507
Cioran, Emil M.: Vom Nachteil, geboren zu sein, in: Werke. – Aus dem Rumänischen von Ferdinand
Leopold. Aus dem Französischen von Francois Bondy, Paul Celan u.a. – Frankfurt/Main : Suhrkamp, 2008, S.
1484. An anderer Stelle fragt er im selben Zusammenhang bezeichnenderweise: „Was bin ich denn anderes als
ein Glücksfall unter den unendlichen Wahrscheinlichkeiten, nicht gewesen zu sein!“, in: Cioran, Das Buch der
Täuschungen, in: Werke, S. 281.
508
Vgl. Hiob 3,3: „Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin, die Nacht, die sprach: Ein Mann ist
empfangen.“
509
„Es gibt“ ist ein von Heidegger eingeführter terminus technicus, um die ontologische Differenz auch in der
Aussagesprache zu bewahren. Allgemein, wenn auch sachlich inkorrekt, gilt die Redeweise „Das Sein ist.“. Die
Seinskopula gilt dann nur für Seiendes, das eben ist. Die Formel „Es gibt“ findet schon in Sein und Zeit
Verwendung, eine tragende Rolle spielt es im 1962 gehaltenen Vortrag Zeit und Sein, veröffentlicht in:
Heidegger, Zur Sache des Denkens
510
Heidegger, Zeit und Sein, S. 9
511
Eine Redeweise wie diese fordert beinahe schon Missverständnisse heraus, man wird eine Gabe nicht sein
lassen, sondern vielmehr an sich nehmen. Auch das der Gabe Eigene – das ist sie als Gabe selbst – neigen wir zu
ignorieren, sobald wir uns ihrer vergewissert und sie uns als neues Eigentum einverleibt haben. Die Gabe des
Daseins ist kein Sachgeschenk, das nach Willkür zur Verfügung steht. Deshalb auch die Betonung des
Seinlassens, in welchem die Gabe in ihr Eigenes findet, in dem sie sich entfalten kann, damit sie ihre Qualität als
Gabe steigert und festigt.
188
sind die Blumen geschützt, ihre Bedürfnisse sind gedeckt und sie sind als Gabe in ihr
Eigenes gebracht: sie blühen oder schlagen sogar, auch in übertragenem Sinn, Wurzeln.
Heidegger aber denkt das Sein als Gabe, deren Geber bleibt unerwähnt im Dunklen. Sein ist
nach ihm Anwesen. Der substantivisch gebrauchte Infinitiv ist eine betont gewollte
Wortwahl, „anwesen“ bedeutet als Existenzaussage „ich bin da“, ich ek-sistiere, weil mir zu
sein gegeben ist. „Anwesen“ als Substantiv verstanden findet beispielsweise im Begriff des
herrschaftlichen, aber auch bäuerlichen Anwesens eine treffende Verwendung.
Doch was lässt mich sein, was oder wer ruft mich ins Anwesen? Zu einer klaren
Formulierung dieses Gebers, der hinter seiner Gabe zugunsten dieser zurücktritt, hat sich
Heidegger nicht bewegen lassen. Der Gedanke an einen Schöpfergott empfiehlt sich hier,
doch auch dieser wird nicht zugelassen, wie wir im Brief Über den Humanismus lesen: „Das
‚Sein’ – das ist nicht Gott und nicht ein Weltgrund.“512 Ebenso wird eine klar definierte
weltliche Instanz ausgeschlossen.513 Hat man sich unter diesem „Es“, das „gibt“ einen
anonymen Spender vorzustellen, der bei noch so dezenter Diskretion Macht über die Gabe
bzw. über das Sein als gegebenes ausübt, wodurch aus dem Geschenk ein trojanisches Pferd
würde? Bleibt jedoch der Geber, der das Anwesende anwesen lässt und so ins Offene und
Freie (des Miteinanderseins) bringt, hinter seiner Gabe zurück, dann darf man vermuten, dass
es ihm in der Gabe um etwas Besonderes zu tun ist, dass mithin sie und der Akt des Gebens
Priorität besitzen.
Heidegger geht es nicht um die Beschreibung einer Übergabe eines innerweltlich
antreffbaren Objektes, sondern um Tieferes: „[…] ein Zueignen, ein Übereignen, nämlich
von Sein als Anwesenheit und von Zeit als Bereich des Offenen in ihr Eigenes.“514 Mit
interpretatorischer Vorsicht kann der Satz dahingehend ergänzt werden, dass Sein als
Anwesenheit das Geborensein bedeutet, in dem sich Dasein übereignet wird, in sein Eigenes
gebracht wird. Mit Bezugnahme auf die Geburt verleitet das Zitat natürlich zu
Missverständnissen – wie soll ein eben zur Welt gekommenes Kind sein „Eigenes“
wahrnehmen oder dieses geltend machen können? Heidegger spricht nicht über
Entwicklungspsychologie oder Erziehungslehre, sondern von der Bestimmung des Daseins,
das sich selbst geschenkt wird. Die Seinsgabe bezeichnet nicht einen einmaligen Vorgang,
512
Heidegger, Martin: Über den Humanismus. – Neunte Auflage 1991 – Frankfurt/Main : Klostermann, S. 22
Als solche können auch die Eltern nicht fungieren; sie sind eine notwendige Bedingung des Daseins – ohne
meine Eltern gäbe es mich nicht. Sie geben aber keine hinreichende Bedingung für mein Sein: ich bin nicht
lediglich das Produkt eines Zeugungsaktes, mein Wesen, meine Eigenarten (physischer wie psychischer Natur)
lassen sich nicht durch den Rekurs auf familiäre Gegebenheiten erklären. Das Kind ist mehr und vor allem
anderes als die Vereinigung seiner Eltern, wäre dem nicht so, dann könnte mit ihm auch kein neuer, einzigartiger
Mensch zu sein anfangen.
514
Heidegger, Zeit und Sein, S. 24
513
189
der nach Überreichen der Gabe beendet wäre – mit dem Zur-Welt-kommen entwickelt sich
eben erst das Dasein! Der von Heidegger so geschätzte Pindar sagt: „Beginne zu erkennen,
wer du bist.“515 Das heißt: Du bist dir gegeben als Mensch, der „Ich“ sagen kann und nicht
als etwas Fertiges, Vorfindbares, du wirst, wie es wörtlich heißt, lernend der, der du bist.
Die Gabe des Seins muss man als sich durchhaltenden Prozess denken im
Unterschied zur chronologisch datierbaren Einzelgabe, mit der der Beschenkte sodann alleine
zurückgelassen wird.516 Dem entspricht das Bild des passiv-unbeteiligten Empfängers, der
mit der ihm überantworteten Gabe restlos überfordert ist. Das Wort „passiv“ hat einen
entschieden negativen Beigeschmack, wir assoziieren damit Leere, Unselbständigkeit,
Trägheit, wenn nicht gar Faulheit. Zu leicht übersehen wir, dass in der Passivität verborgen
Tätigkeit wirkt. Dalferth beschreibt das als „konstitutive Passivität“:
Ist der lebensweltliche Ort der Gabe das Empfangen, wird dort Empfangen, wo man
bekommt, ehe man sich dafür oder dagegen entscheiden kann, und wird man eben so
der, zu dem man sich selbst nicht machen kann, dann ist die Praxis der Gabe auf
Seiten des Empfängers maßgeblich durch Passivität charakterisiert – nicht die des
Leidens oder der Passion, sondern des Werdens: Wer Gaben bekommt, ist im Werden
und wird dadurch unbeschadet all seiner physischen und psychischen
Lebensaktivitäten ganz und gar passiv bestimmt: Er wird zu dem, was die Gabe aus
ihm macht.517
Damit ist die negativ konnotierte Passivität rehabilitiert und der Empfänger kein Bittsteller
mehr. Versteht man unter der Gabe die Seinsgabe, dann ist Passivität nicht Merkmal eines
Mängelwesens, dem es an diesem oder jenem fehlt. Gemeint ist damit auch nicht das
Neugeborene, das in seiner kindlichen Entwicklung mit Krankheiten in Berührung kommen
wird. Wo Leben wächst, da ist auch Umbruch und Veränderung, die Ungewissheit und
Zweifel mit sich bringen. Es geht hier um eine Passivität, die in der Gabe des Seins
begründet ist und vor dem konkreten Gegensatzpaar aktiv-passiv liegt und dieses erst
möglich macht. Die ursprüngliche Passivität rührt aus der Tatsache, dass sich der Mensch
sein Sein nicht selbst geben kann. Im Grunde sagt Binswanger dasselbe, wenn er von der
„[...] Be-gabung des Daseins mit der Einsamkeit durch Selbstempfängnis des nicht von ihm
selbst gelegten Grundes in der Offenbarung der ‚unendlichen’ Freiheit [...]“518 spricht. In der
Terminologie Heideggers bedeutet „Begabung des Daseins“ Selbstbemächtigung, welchen
Pindar, Oden, S. 98: „γέ’, ἷἐὶϑώ.“
Zur Besinnung ruft uns Heidegger, wenn er Dasein, Anwesen, das Zulassen des Seienden verbal versteht; das
„Es gibt“, dass es „mich gibt“ (nicht als Vorhandenes, Dinghaftes), erfahre ich immer neu: „Wäre der Mensch
nicht der stete Empfänger der Gabe aus dem ‚Es gibt Anwesenheit’, erreichte den Menschen nicht das in der
Gabe Gereichte, dann bliebe beim Ausbleib dieser Gabe Sein nicht nur verborgen, auch nicht nur verschlossen,
sondern der Mensch bliebe ausgeschlossen aus der Reichweite des: Es gibt Sein. Der Mensch wäre nicht
Mensch.“, in: Heidegger, Zeit und Sein, S. 16f
517
Dalferth, Alles umsonst, S. 175f
518
AW 2, 159
515
516
190
Begriff Binswanger allerdings vermeidet, um einen Egozentrismus, der das Du übergeht,
auszuschließen. Und doch ist Selbstbemächtigung nichts anderes als die Annahme des Seins.
Das Phänomen der Gabe ist in seiner Wahrnehmung im Rückzug, die Gabe
verschwindet zwar nicht, sie wird aber in einem Bedeutungskomplex ausgelegt, in der das ihr
Eigene ausgespart wird; so hegt Hans Joas den Verdacht: „Das eigene Leben als Gabe
aufzufassen ist den meisten Menschen heute nur auf der biologisch-organischen Ebene
relativ plausibel.“519 – Statt das eigene Leben als Gabe zu erfahren, wird es als Objekt
wissenschaftlicher Forschung betrachtet. Es geht also nicht um dein, mein und unser
gemeinsames Leben, sondern um das von einer bestimmten Disziplin untersuchte (anonyme)
Leben. Diese Ablenkung vom Gabecharakter des
Lebens wird zusätzlich von
Denkbemühungen gefördert, die sich eher auf das Ende des Lebens konzentrieren ohne
dessen Anfang bzw. Verlauf in gleicher Weise zu berücksichtigen. Lebensende und -anfang
(des selben) Menschen können unabhängig voneinander betrachtet werden, sodass die
Anfang und Ende verbindende Lebensspanne außer Acht gelassen wird.
Begreift man das Leben im Sinn der Evolution, der Religion, im Interesse von Politik
oder Ideologie, eines zumindest dürfte gewiss sein: die Diskussion über es verrät eine Krise;
die Lebenden selbst sind untereinander strittig, was Leben sei, ob es ein Gut sei, es mir
zufalle oder mich auch zu etwas verpflichte. Provokativ-programmatisch äußert sich dazu
Niklas Luhmann:
Die Gabe versetzt in Dauerdankbarkeit und Dauerschuld. So zu geben ist moralisch
mindestens ambivalent. Man kann es für gut halten, da das Leben ja ein Gut ist,
andererseits ist es eine ausgeklügelte Bosheit, den Empfänger auf diese Weise in
Dauerschuld zu versetzen, aus der er sich selbst nicht befreien kann.520
Wozu die Passivität des Empfangens verleiten kann, zeigt das Zitat Luhmanns, zudem
erscheint der Empfänger als Mängelwesen, dem es da und dort gebricht, der für sich
genommen eigentlich eine hilflose, bedauernswerte Kreatur ist. Dasein steht somit unter
negativen Vorzeichen: Abhängigkeit anstelle von Freiheit, Fremdbestimmung statt
Autonomie, kurz: Unmündigkeit. Dependenz, im Rahmen der Intersubjektivität zumal, ist ein
vielschichtiger Begriff, gibt es darin auch eine Selbständigkeit in Abhängigkeit?521 Negative
519
Joas, Hans: Die Logik der Gabe und das Postulat der Menschenwürde, in: Gabel, Michael ; Joas, Hans
(Hrsg.): Von der Ursprünglichkeit der Gabe : Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion. – Orig.Ausg. – Freiburg/Breisgau ; München : Alber 2007. – (Scientia & Religio ; 4), S. 143-158, hier S. 148
520
Luhmann, Niklas: Funktion der Religion, zitiert in: Joas, Die Logik der Gabe und das Postulat der
Menschenwürde, S. 154
521
Dalferth konfrontiert die Negativität der Abhängigkeit mit positiven Sinngehalten ebendieser Abhängigkeit:
„Denn was als Abhängigkeit figuriert, kann sowohl negativ als Un- oder Nichtfreiheit als auch positiv als
Begabung und Ermöglichung von relativer Freiheit und Abhängigkeit verstanden werden. Ähnlich kann
Endlichkeit nicht nur negativ als das beschränkte Andere der Unendlichkeit und damit als metaphysisches Übel,
sondern als das Andere des unendlichen Schöpfers und damit als Geschöpflichkeit verstanden werden, die eben
191
Formen der Abhängigkeit sind uns – bezeichnenderweise! – wesentlich vertrauter, sie zeigen
sich etwa im Gebrauch anderer als Mittel zum Zweck oder zum Genuss, im Extremfall
münden sie in Freiheitsberaubung.
Die Gabe kontingenten Daseins ist – das ist nicht zu leugnen – eine Weise des
Abhängigseins, die die Begegnungsphilosophie ihrerseits jedoch als Freigabe (Be-gabung) in
Selbständigkeit verstehen will. Ungeachtet ihres Modecharakters zeigen diese Begriffe
(Freiheit, Selbständigkeit u.ä.) Grundlegendes auf, über das allzu leicht hinweggesehen wird.
Das Kind (wie auch der Unmündige, der Greis oder der kranke Mensch) ist natürlich auf
seine Eltern und andere Pflegepersonen angewiesen, hier in erster Linie auf existentieller
Ebene, die weit mehr als die Bereitstellung von Nahrung und „Brutpflege“ bedeutet. Grund
und Boden für diese Ebene ist eine vorangegangene Akzeptanz des Kindes, die sich nur
durchhalten kann, wenn das Kind in dem belassen wird, was (bzw. wer) es ist.
„Abhängigkeit“ ist in unserer Gesellschaft des Konsumzwanges mit finanzieller Notlage
gleichgesetzt, die es zweifellos gibt. Doch darum geht es hier nicht.
Anders als die in Unselbständigkeit führende Abhängigkeit bedeutet die Gabe des
Daseins ein Freigeben zur Selbständigkeit, und zwar so, dass einer zurücktritt zugunsten des
Anderen, damit „[…] er zur Mitte (Zentrum) seiner Welt werde und aus eigener Initiative
hervortreten kann, damit er ganz er selber werde […].“522 Gemeint ist die Rücknahme des
Eigenen – nicht ich stehe im Brennpunkt des Verhältnisses –, um dem Du, dem geliebten
Menschen, dem Kind dessen Eigensein aufzuweisen und sie zur Annahme des Eigenen zu
ermuntern und darin zu unterstützen:
Wahre personale Liebe gibt den anderen zu sich selber frei, sie lässt ihn sein. Das
bedeutet kein Ausweichen, Sichverdrücken und Davonrennen, sondern ein Beistehen
in Treue und Ausdauer, also ein „aktives“ Seinlassen. Liebe vereinigt so, gerade
indem sie differenziert, personalisiert […], sie bringt eine Weise der Abhängigkeit
hervor, die Selbständigkeit gewährt, so daß gesagt werden kann: Ich bin, weil Du
bist.523
Das paradoxe Muster einer befreienden Abhängigkeit lässt einen Vergleich mit der
vorspringend-befreienden Fürsorge Heideggers zu:
Diese Fürsorge, die wesentlich die eigentliche Sorge – das heißt die Existenz des
Anderen betrifft und nicht ein Was, das er besorgt, verhilft dem Anderen dazu, in
seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden.524
gerade kein Übel ist, weil sie das Geschöpf vom Schöpfer nicht trennt, sondern es als Geschöpf auf ihn bezieht
und aus ihm leben und sein lässt.“, in: Dalferth, Alles umsonst, S. 179
522
Wucherer-Huldenfeld, Karl Augustinus: Philosophische Anthropologie II (Fortsetzung). – Skriptum –
Universität Wien, S. 234
523
Wucherer-Huldenfeld, Philosophische Anthropologie II (Fortsetzung), S. 234
524
Heidegger, Sein und Zeit, S. 122. Heidegger warnt öfters vor dem Missverständnis der Sorge als Besorgnis
oder deren Gegenteil, die Sorglosigkeit; hier daher der Titel des Daseins als Sorge in vollem Wortlaut: „Sichvorweg-schon-sein-in-(der-Welt-)als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden).“, in: Heidegger, Sein und
192
Abhängigkeit, die Selbstand hervorruft, zeigt sich zum einen in der Liebe, die das je eigene
Denken, Handeln und Urteilen achtet, zum anderen ist ihr Grund ein ontologischer:
[…] sich wissend und sich selber gehörig, kann und soll der Mensch in sich selber
stehen (tota in se et sibi), so daß er von niemandem besessen, durchwohnt, verdrängt
werden kann, unvertauschbar und unersetzbar ist, und gerade dies ist ihm nur
„gegeben“.525
Dasein, das ich in Unvertauschbarkeit zu sein habe, kann Segen und Fluch zugleich
bedeuten: Segen, weil ich ganz ich selbst bin, Fluch, weil ich eben dieser ungefragt zu sein
habe, mir mein Eigenstes nicht wählen konnte, sondern dieses mir zugesprochen, an mich
herangetragen wird. Das Eigene, das mich konstituiert und so von anderen unterscheidet,
stammt nicht von mir, ist nicht von mir gestiftet. „Selbstbesitz“ ist so verstanden keine
Errungenschaft, die ich auf mein Panier heften kann, weil er mich allererst „ermöglicht“.
Selbstsein ist in zweifacher Weise interpretierbar: 1) als Form des kontingenten Einzelnen,
das sich unwandelbar durchhält (substanziell Beständiges, Identisches), ist das Selbstsein ein
Subjekt, und zwar dieses und nicht irgendein anderes. 2) Selbstsein erfährt sich als solches
über den Dialog und Austausch mit anderen, in welchem mir aufgeht oder gezeigt wird, wer
ich denn nun bin – ich erhalte mein Selbstsein in Abhängigkeit von anderen.526
Zeit, S. 192. Sorge spannt sich vom Freisein für das eigene Seinkönnen (Sich-vorweg-sein des Daseins) in der
Welt als Horizont hin zu dem, der mir in der Welt begegnet. Die Sorge als Welt- und Selbstverhältnis kann mir
jedoch auch genommen werden, bzw. ich kann sie an andere abtreten – in jedem Fall gehe ich ein
Abhängigkeitsverhältnis ein, in welchem ich als Person eine Funktion ausübe und mich darauf beschränke.
Meine Rolle ersetzt sodann meine Person in ihrer Einzigkeit.
525
Wucherer-Huldenfeld, Philosophische Anthropologie II (Fortsetzung), S. 235. Der vollkommene Selbstand
der menschlichen Kreatur dürfte zumindest in der christlichen Philosophie mit einem Fragezeichen versehen
sein, zumal man sie unter dem Begriff der Person verstehen will: „Hierbei bedeuten das ‚suppositum’
(ὑό’substantia singularis completa tota in se’, d.h. einzelne Vollsubstanz, welche den letzten Selbstand
in sich selbst besitzt, also nicht von einem Anderen aufgenommen und besessen ist. Worin das ‚totum in se’ –
der letzte und unaufhebbare Selbstand, die letzte Ganzheit der in sich selbst bestehenden, sich selbst besitzenden
Vollsubstanz – besteht, wodurch also die Vollsubstanz zum Suppositum, die geistige Vollsubstanz demnach zur
Person konstituiert wird, ist eine bis heute nicht vollends aufgeklärte Frage.“, in: Coreth, Emerich: Metaphysik :
Eine methodisch-systematische Grundlegung. – 3. Auflage. – Innsbruck ; Wien ; München : Tyrolia, 1980, S.
463. Das völlig abgeschottete und autonome In-sich-stehen bleibt dem Menschen, der sich als Gabe empfängt,
verwehrt, hat er sich doch nicht selbst gesetzt. Die Forderung nach Selbständigkeit in totaler Unabhängigkeit
vom Anderen droht so in radikalen Egoismus umzuschlagen wie ihn z.B. Stirner vertritt, über den Binswanger
urteilt: „Schon dieses Scheitern eines ontologischen Beweises für die Möglichkeit eines lediglich auf sich selbst
gestellten Einzigen zeigt, daß selbst das kühnste Pochen auf die Seinsautonomie des Einzelnen die These nicht
zu erschüttern vermag, daß Selbstsein nur möglich ist als ‚Sein zum Grunde’, das heißt immer, als Sein zu einem
das Selbstsein erst gründenden und begründenden Sein.“, in: AW 2, 417.
526
Dem Argument der Selbständigkeit in und durch Abhängigkeit droht die Gefahr, nicht ernst genommen zu
werden. Eine Philosophie der Geburt und eine der Begegnung muss diese beiden Begriffe auf ihren Grund hin
durchdenken und zu erweisen suchen, dass die Idee der freigebenden Abhängigkeit kein auf die eigenen
Interessen des „stärkeren“ Daseinspartners in der Beziehung zurechtgestutztes Programm ist. Zuweilen ist auch
die Wortwahl irreführend; Abhängigkeit wird identifiziert mit Unfreiheit, Angewiesensein auf andere bis hin zur
Preisgabe des Eigenen, das mir allerdings der Andere zuvor gestattet und zugesprochen hat. Legt man hingegen
den Akzent auf das Selbstsein, dann geht es nur um das Selbst ohne Rücksicht auf jene, die dem Selbst
gewähren, ein solches zu sein. Die Verwobenheit von Selbstand und Abhängigkeit gerät darum leicht und immer
wieder in Vergessenheit.
193
In Anlehnung an Bernhard Welte schreibt Wucherer-Huldenfeld dem sich gegebenen
Dasein eine unableitbare, also genuine Ursprünglichkeit527 zu, die Einmaligkeit,
Unvertretbarkeit und Unwiederholbarkeit menschlichen Daseins besiegelt. Was ist aber, so
die legitime Frage, ein Ursprung, der sich selbst einem Abhängigkeitsverhältnis verdankt?
Geht er aus diesem Verhältnis nicht eher als Wirkung hervor? Einmaligkeit des Daseins
(genauer: des geliebten Du bzw. des vom Du geliebten Ich) kennzeichnet dessen
Unwiederbringlichkeit in der Geschichte: ich bin mir so gegeben, wie sich zuvor noch kein
Mensch gegeben wurde und wie sich nachmalig auch niemand geschenkt werden wird. – Die
Annahme meines Daseins führt mich im Verständnis Binswangers in Einsamkeit: es gibt
niemanden und nichts, welches mich von meinem Sein suspendieren könnte, ich bin einzig,
weil ein anderer mein Menschsein nicht zu erfüllen vermag. Darin liegen Aufgabe und
Würde zugleich, denn wäre jemand anderer imstande, das zu tun, das eigentlich mir obliegt,
oder der zu sein, der ich sein soll, so wäre meine Existenz und Identität wenn auch nicht
belanglos, so doch schlicht austauschbar. Unter diesem Signum ist das Sein der geliebten
Person zu sehen; die Idee, dass ein geliebter Mensch konvertibel sei, bedeutet geradezu die
Perversion der Liebe.
Für eine solche, auf dem Grunde liebender Gemeinsamkeit ruhende, „geschenkte“
Selbstheit oder für die Selbstheit als Geschenk haben wir ein Wort, das […] den
eindeutigen Gegenpol zur Zweisamkeit ausspricht: die Einsamkeit.528
Vor diesem Hintergrund ist es interessant, auf Weltes Gedanken über den Ursprung zu
achten. Vergleichen wir die „Selbstheit als Geschenk“ mit dem Ursprungsein, so gewahren
wir bereits die Einmaligkeit des Daseins, das uns gegeben wurde:
Als der Anfang ist der Ursprung etwas, hinter das man nicht zurückkommt. Der
Ursprung ist als Anfang kein Abgeleitetes noch Ableitbares. Ein Seiendes, von dem
wir sagen, es sei ein Ursprung, mag zwar mancherlei Voraussetzungen haben, aus
denen wir es ableiten und verstehen können. Aber auf diese Voraussetzungen blicken
wir nicht, wenn wir von ihm als Ursprung sprechen. Im Blick auf diese
Voraussetzungen ist es ja auch nicht Ursprung. Es ist vielmehr Ursprung insofern, als
es von sich selber her anfängt und nicht bloß Folge ist. […] Erst wo wir spüren, daß
er selber von sich her etwas anfängt, können wir die Ursprünglichkeit eines
Mitmenschen erfahren.529
Das Ich, das sich in der Liebe selbst geschenkt wird, ist ein Ursprung, der von sich aus
Anfänge setzen kann, das Ich ist demnach keine Folge oder Wirkung, die aus der
527
Welte, Bernhard: Logik des Ursprungs und Freiheit der Begegnung, in: ders., Zeit und Geheimnis :
Philosophische Abhandlungen zur Sache Gottes in der Zeit der Welt. – Freiburg ; Basel ; Wien : Herder, 1975, S.
53-62, sowie ders.: Religionsphilosophie. – Hrsg. von Bernhard Casper und Klaus Kienzler. – 5., überarb. und
erw. Aufl. – Frankfurt/Main : Knecht, 1997, S. 166f und Wucherer-Huldenfeld, Philosophische Anthropologie II
(Fortsetzung), S. 236
528
AW 2, 116
529
Welte, Logik des Ursprungs und Freiheit der Begegnung, S. 54
194
geschlechtlichen Vereinigung der Eltern resultiert. „Anfangen“ heißt nicht nur, Verursacher
von etwas zu sein oder eine Reihe von Wirkungen zu erregen, sondern etwas von selbst, aus
eigener Kraft und Mächtigkeit, aus freien Stücken ins Werk zu setzen.530 Es wäre verfehlt,
dies als besondere Fähigkeit zu bestimmten Handlungen zu deuten, wie sie Spezialisten oder
Künstlern zueigen ist. Die Begriffe „Tun“, „Machen“, „Handeln“ decken sich nicht mit dem
des Ursprungseins, als der ich mir durch dich gegeben bin. Anfangen lassen in
Ursprünglichkeit bedeutet für Welte – hier eine Parallele zu Binswanger – Seinlassen:
Das Hervorbringen wird auch ein Geleiten ins Offene und insofern ein Entbergen
sein. Auf Grund der Entbergung wird das Hervorgebrachte für sich im Offenen
stehen als das, was es ist, und im Offenen als dieses, was es ist, angetroffen werden
können. […] Solche Züge: Hervorbringen aus dem Verborgenen, ins Offene
geleitend entbergen, im Entbergen wahren und bewahren, solche Züge gehören dazu,
daß ein Anfang etwas anfangen lasse.531
Dass Welte im Kontext der Religionsphilosophie sowie aus der Perspektive Heideggers
argumentiert, ist nicht zu überhören, darum soll auch auf einen möglichen Einwand
geantwortet werden: Gott ist jener Ursprung, der Sein gewährt, der Mensch in Gestalt von Du
und Ich hingegen ist „entsprungener Ursprung“. Das meint keine Seinsminderung oder
Disqualifikation des menschlichen Ursprungseins, zumal sich erst im Ursprungsein Tiefe und
Weite des menschlichen Daseins zeigt. Ebendiese Dimensionen des Menschlichen werden
ausgespart, sobald die Differenz zwischen Gott als Ursprung und Mensch als
hervorgebrachter Ursprung verdeckt wird, wie es in der analogen Weise der Rede von Gott
und dem Menschen zuweilen der Fall ist. Pejorativ mag man behaupten, der Mensch sei
immerhin ein Ursprung „zweiter Ordnung“; sehr wohl aber kann der Mensch von sich aus –
also unabhängig – etwas hervorbringen, schaffen, das sich seiner Wirkmacht entziehen wird:
„Das heißt aber für das Wesen des Ursprungs: Er bleibt, was er ist, und er ist, was er ist,
gerade darin, daß er anfangen läßt, was er nicht ist.“532 Für eine Besinnung auf die
menschliche Geburt ist diese Aussage eminent wichtig: als Eltern führen wir einen Menschen
ins Dasein, der in vielfacher Weise auf uns angewiesen und also abhängig ist, wiewohl mit
ihm sein eigenes Dasein anhebt.
Indem ein Mensch durch Zeugung oder Geburt usf. von mir abhängig ist, vermittle
ich ihm eine Ursprünglichkeit, eine Anfänglichkeit und Selbständigkeit, die ich doch
nicht gemacht, nicht hergestellt habe, die auch nicht die meine ist, die aber erst die
ganze Möglichkeit meines eigenen Ursprungseins freilegt und auslegt.533
530
Das Thema „Freiheit“ erinnert natürlich an Kants Wort, sie sei „ein Vermögen, einen Zustand, mithin auch
eine Reihe von Folgen desselben, schlechthin anzufangen“ (KrV B 473).
531
Welte, Logik des Ursprungs und Freiheit der Begegnung, S. 55
532
Welte, Logik des Ursprungs und Freiheit der Begegnung, S. 56
533
Wucherer-Huldenfeld, Philosophische Anthropologie II (Fortsetzung), S. 237f
195
Hier kündigt sich sogar ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis an, welches zwar
vielerorts erkannt und gewürdigt, aber auch leichtfertig übergangen wird – Eltern sind nur
vermittels ihres Kindes Eltern, der Herr muss sich auf seinen Knecht verlassen, um seinen
Status wahren zu können, der Fabrikant ist auf seine Arbeiter angewiesen usw. Solche
Kontrarität wirkt bis in das zutiefst Persönliche der liebenden Beziehung in deren
Geschlechterambivalenz. Angesichts der Frau wird ein Mann die ihm vertrauten
Rollenmuster und Klischeebilder überdenken müssen, wenn er für sich Authentizität in
Anspruch nehmen möchte. D.h. er wird ihr in der Form des Daseins gegenübertreten müssen,
die nur er annehmen und tragen kann; im Gegenzug wird die Frau ihm ihr Dasein offenbaren
in einer Weise, die gleichfalls ihre Einzigkeit belegt. Beide begegnen einander – mit
Binswanger gesprochen – in Einsamkeit und geben den jeweils Anderen in dessen Ursprung
frei.
Wird sich ein Mensch gegeben, wird ihm zu ausgezeichnetem Dasein verholfen (ob
durch Geburt oder in liebendem Miteinander), dann ist ihm gestattet, selbst Ursprung zu sein,
indem er andere in deren Eigensein unterstützt.534 Die Freigabe in Eigensein bleibt
klarerweise nicht darauf beschränkt, selbst Kinder zu zeugen und sie zur Welt zu bringen;
bekanntlich kann sich die Vater- bzw. Mutterschaft in ihr Gegenteil pervertieren, wenn Eltern
ihren Kindern etwas aufbürden, sie zu einem bestimmten Beruf drängen, deren soziales
Umfeld auswählen, das bis zur Wahl des Ehepartners des Nachwuchses reichen kann. Was
hier gemeint ist, zielt auf einen umfassenderen Sinn von „Eigensein“ ab, der dem Anderen
Authentizität gewährt.535 Dies geschieht gerade dann, wenn etwa Eigeninitiativen erkannt
und gefördert, wenn Begabungen zugelassen werden. Kurzum: Authentizität erlange ich,
sofern ich in der Begegnung meine Einsamkeit wahrnehme.536
Der Mensch, der sich in der Geburt geschenkt wird, wird damit auch ermächtigt, von
selbst, eigenständig zu handeln, mithin seinerseits anfänglich zu handeln, indem er Initiativen
534
So Wucherer-Huldenfeld ebendort, S. 236f.: „So ungefragt sich einer überantwortet ist, so ist er es doch nur
durch die Bejahung und Anerkennung anderer (im passiven und aktiven Sinn); und er hat sich darin erst
vollständig angenommen, wenn er sich selbst in der Möglichkeit erfährt, anderen ihr Sein und Werden zu
gewähren, schöpferischer Anfang eines von ihm zu verantwortenden, abhängigen und zugleich völlig neuen
Daseins zu sein.“
535
„Authentisch“ heißt dem Wort nach jener, der selbst etwas anfangen und vollenden kann, also der Urheber
(ὐϑέ) bzw. Mehrer, Förderer (auctor).
536
Wucherer-Huldenfeld denkt wie Heidegger und Binswanger an einen Ursprung in Gestalt des Grundes, des
Schöpfers oder des Wir, der dir und mir zu sein gibt: „Je näher Menschen einander in personaler Verbundenheit
kommen, desto mehr verweisen sie einander auf die ursprüngliche Gemeinsamkeit ihres je verschiedenen
Ursprungseins hin. Der Andere wird also nur in seiner Selbständigkeit wahrgenommen, ja er wird in seiner
Personwürde und Freiheit nur erscheinen können, wenn beide über sich hinaus verantwortlich und aufgebrochen
sind. Nur aus einem gemeinsamen unverfügbaren Ursprung heraus können sie einander frei geben und
füreinander da sein, und nur so ist eine (gleichrangige) Ich-Du-Beziehung möglich.“, in: Wucherer-Huldenfeld,
Philosophische Anthropologie II (Fortsetzung), S. 240.
196
ergreift. Abseits von Welte und Wucherer-Huldenfeld arbeitet Hannah Arendt diesen
Gedanken aus, den sie auf Augustinus bezieht: „[Initium] ergo ut esset, creatus est homo,
ante quem nullus fuit.“537 – Damit ein Anfang sei, ist der Mensch geschaffen worden, vor
dem nichts gewesen ist. Der geschaffene Mensch ist als gezeugter und geborener gewiss ein
abhängiger, jedoch so, dass er selbst einen Anfang setzen, ein Ursprung sein kann: „Die
Erschaffung des Menschen ist der Anfang des Anfangen(können)s, ein Anfang, der sich mit
jeder Geburt, jedem Einzelwesen, das neu in der Welt erscheint, wiederholt.“538
Allein die Geburt verbürgt das Neue und Einzigartige eines jeden Menschen. Man
kann folglich so weit gehen und sagen, dass vor der Geburt eines bestimmten (geliebten)
Menschen nichts bzw. niemand war (nullus fuit). Geburt als Anfang bedeutet, als „Neuer“ –
noch nie Dagewesener, nie wieder Kommender – geschaffen zu sein und selbst Neues,
Eigenes hervorzubringen, das keinem vorbestimmten Ziel unterliegt; Sein und Werden sind
nicht determiniert. Fortpflanzung ist im Sinn der Biologie zweckgebunden, dort dient sie der
Erhaltung der Art, in der Neuem und Anderem selten Platz gewährt wird. Dennoch tritt mit
der Geburt eines Menschen etwas unvergleichlich Neues ins Dasein: „Ein neues Individuum
fängt an zu existieren, das von Menschen erzeugt, doch von niemandem gemacht, nicht in
seinem Sein und Werden vorausbestimmt ist.“539 Das Geborene ist nicht die Vervielfältigung
eines Idealbildes, welches spätestens in der Realität versagt, auch kein hypothekarisch
bedrängtes Wunschkind, das als Bedürfnisbefriedigung der Eltern fungiert. Ist, wie Arendt
meint, jeder Mensch ein neuer Anfang, dann ist er sogleich auch vor den Mitmenschen – den
„Mitgeborenen“ – ein unvergleichlich Einziger.
Die Gabe des Daseins steht unter dem Titel der Zweckfreiheit (Angehrn) und der
Einzigartigkeit, in der sich ein „Jemand“ kundgibt, der einen Namen trägt, der also namhaft
ist. Dass sich ein Mensch in der Geburt als etwas Neues gegeben wird, macht sich zunächst
in seiner Biografie bemerkbar; er entwächst dem Elternhaus, erlangt Bildung und Beruf,
gründet einen eigenen Hausstand. Abseits dieser Eckdaten ist dieser Mensch ein sich
gegebener, dem das Recht auf Entfaltung des ihm zueigen Gegebenen gebührt. Dabei sollen
Sozialisation und familiäre Einflüsse nicht als etwas Negatives, Entwicklungshemmendes
verleumdet werden, viel eher geht es darum, das Eigene und damit das Neue (Unerwartete,
Nichtberechnete) zu bewahren und zu schützen. In Anbetracht der Künste der
Naturwissenschaft gibt Angehrn zu bedenken:
537
Augustinus, De civitate Dei, XII, cap. XX, zitiert in: Angehrn, Emil: Die Frage nach dem Ursprung :
Philosophie zwischen Ursprungsdenken und Ursprungskritik. – München : Wilhelm Fink Verlag, 2007, S. 205
538
Angehrn, Die Frage nach dem Ursprung, S. 205
539
Angehrn, Die Frage nach dem Ursprung, S. 206
197
Er [der Gedanke von der Geburt als Setzung eines neuen Anfangs, Anm.] widersetzt
sich den Visionen des Menschen als eines biotechnologischen Produkts, das vom
Hersteller nach seinem Bilde gemacht wird. Die Unableitbarkeit, Ereignishaftigkeit,
die im Anfangen und Freisein des Subjekts impliziert ist, setzt einen Gegenakzent
gegen ein Zeitgefühl, für welches die Welt zu einem instrumentell Gemachten und
Gesteuerten wird und letztlich die menschliche Natur selbst in die Kompetenz
gentechnischer Verfügung fällt.540
8.4 Dankbarkeit als Art und Weise des Empfangens der Daseinsgabe
Hat eine Philosophie des Miteinander ein rechtes Selbstverständnis und kann sie dieses
ausweisen, so müsste sie dem Dasein in seinem Gabecharakter eine zentrale Rolle zuspielen.
Merkwürdigerweise ist das nur selten der Fall, wo doch das Sein mit- und durch-einander
einen Beziehungsprozess anzeigt, aus dem Ich und Du gewandelt, mit dem Eigensein
bereichert hervortreten.541 So unterlässt es auch Binswanger, Dasein als Geschenk einer
eingehenden Analyse zu unterziehen; er scheint das Gegebensein fraglos vorauszusetzen,
wodurch das Phänomen in seiner Eigenart und Fragwürdigkeit eher verdeckt als offengelegt
wird. So finden sich Anspielungen auf Heideggers Denken des „Es gibt“: „Es“ wird aus dem
„Geben“ verstanden, ein Geben als „Zusprechen“ oder „Einräumen“ von „Anwesen“, als
„Schicken von Sein“.542
Das in die Offenheit gebrachte Dasein artikuliert sich – im anthropologischen Sinne –
in der Geburt, welche üblicherweise als Zeitpunkt des Eintritts in die Welt definiert wird.
Statt „Es gibt“ kann dann gesagt werden: „Ich bin, indem ich mir gegeben bin“ und weil mir
stets zu sein gegeben wird. In einem punktuellen Verständnis von Zeit bedeutet Geburt einen
einmaligen, fixierten und sogar amtlich dokumentierten Eintritt in die Welt nunmehr in
postnataler Daseinsweise, wodurch die Geburt – und damit auch die Gabe – zu einem
Ereignis der Vergangenheit wird, an das man sich selbst zwar gar nicht erinnern kann, es
aber gleichwohl feiert. Heidegger hingegen beharrt mit Recht auf das verbale und
prozesshafte Verständnis von sein, das nicht einen singulären Moment darstellt, sondern ein
540
Angehrn, Die Frage nach dem Ursprung, S. 206
In der Primärliteratur finden die Phänomene „Gabe“, „Geschenk“ eher am Rande Erwähnung, einschlägige
Kommentare und Interpretationen verfahren ähnlich. So kann Kurt Wolf befinden: „Eine ‚Philosophie der Gabe’
ist in Deutschland noch wenig bekannt.“, in: Wolf, Kurt: Philosophie der Gabe : Meditationen über die Liebe in
der französischen Gegenwartsphilosophie. – Stuttgart : Kohlhammer, 2006, S. 9. Stärker hat sie sich im
französischen Raum entwickelt, zudem ist zu bedenken, dass sie interdisziplinär auftritt – sie ist in der
philosophischen Anthropologie, Ethik, der Metaphysik wie in der Theologie gleicherweise anzutreffen.
542
Heidegger, Zeit und Sein, S. 22
541
198
Geschehen: „Durch diese [i.e. Gegenwart im Sinne von Anwesenheit, Anm.] wird das Sein
einheitlich als Anwesen und Anwesenlassen, d.h. Entbergung bestimmt.“543
Das „Es“, welches „gibt“, lässt sich seinerseits nicht wie ein Gegebenes definieren
oder thematisieren – es hat nicht die Eigenschaft der Gegenständlichkeit –, es zeigt sich,
insofern es sich der Beschreibung entzieht – der Grund des Daseins ist selbst grundlos. Zwar
entzieht sich das „Es“, aber „es gibt Sein“, es reicht und schickt sich uns Sein zu: „Im Sein
als Anwesen bekundet sich der Angang, der uns Menschen so angeht, daß wir im Vernehmen
und Übernehmen dieses Angangs das Auszeichnende des Menschseins erlangt haben.“544
Doch wer gibt? Und: wem gilt Dank für die Gabe? Innerweltlich-ontisch ist die Gabe des
Daseins im Sinn der Natalität den Eltern zu verdanken; im breiteren Rahmen ist die
Weitergabe des Lebens der in der Natur angesiedelte Vorgang der Fortpflanzung. Allerdings
entfällt im Naturhaften bereits das Phänomen des Dankes. Zuletzt kann auch ein göttliches
oder unbekanntes Prinzip als Lebensspender bzw. Geber fungieren. Hier gilt jedoch: je weiter
und umfangreicher man Gründe und Ursachen des Gegebenseins verfolgt, desto abgeflachter
und verfälschter erscheint Dasein als Gabe. Unter Bezugnahme auf Heidegger und Lévinas
schreibt Wolf:
Gemeint sein kann hier auch die Gabe einer schwer erklärbaren „transzendentalen
Energie“, die aus einem „tiefen Einst“ kommt und sich dem Menschen ohne dessen
Zutun zueignet, ja ihn trägt. Diese „transzendentale Energie“ durchwaltet jenes „Es
gibt“, das Sein und Zeit darreicht, und „was in ihm an Überfluss und Großmut
mitschwingt“ […]. Dank des starken Ereignisses der Ankunft dieser
„transzendentalen Energie“ werden Sein und Zeit jedem einzelnen Menschen in der
Intensität einer „Gabe“ und Aufgabe (zur Mitgestaltung in Freiheit) nahe gebracht.545
Mit Lévinas macht Wolf einen Sprung vom „Es gibt“ respektive von einer anonymen
Wirkmacht zur Gabe des personalen Seins – ich bin nicht nur etwas aus Naturprozessen
(Triebe, Zeugung, Geburt etc.) Hervorgegangenes, sondern weil du mir Sein schenkst. Wie
schon bemerkt, ist die Seinsgabe nicht allein der Elternschaft vorbehalten, sie umfasst auch
Achtung, Förderung und Pflege der Mitdaseienden. Mit der Seinsgabe durch die Eltern
kommt nicht die Ursache (Kind) einer Wirkung (Geschlechtsakt) zum Vorschein, vielmehr
tritt in ihr das Neugeborene hervor als ein bestimmtes Kind, das bestimmten Eltern zugehörig
ist. Es ist damit hoffentlich kein Zufallsprodukt, welches eben passiert ist. Üben die Eltern
nur die Funktion der Verursacher aus, so würden sie jedes beliebige Kind in die Welt setzen,
nur nicht das ihre, das sie mit Namen nennen, um seine Einzigkeit inmitten aller anderen
543
Heidegger, Zeit und Sein, S. 16. Zur lebensweltlichen Gegebenheit in der Zeitlichkeit siehe WuchererHuldenfeld: Beginn und Anfang des menschlichen Daseins, in: ders., Ursprüngliche Erfahrung und personales
Sein : Ausgewählte philosophische Studien I, S. 95-106, hier S. 99-102
544
Heidegger, Zeit und Sein, S. 28
545
Wolf, Philosophie der Gabe, S. 17
199
Menschen hervorzukehren. In dieser Auffassung ist vom Menschen als Gabe, der sich selbst
und anderen von anderen (nämlich seinen Eltern) gegeben ist, nicht die Rede. Dagegen sind
Natalität und Kreatürlichkeit der offenkundige, ursprüngliche Erweis des Seins als Gabe.
Jedoch bereits „der Zugang zu sich selbst, der keineswegs Sein schafft, wird zum
Erweis meines fremden Ursprungs, da kein letzter Grund meines Seins in der
menschlichen und natürlichen Welt aufzufinden ist“. In mir selbst stoße ich auf einen
geheimnisvollen „Ort“, der auf ein Vonwoandersher verweist. Auf den beiden Wegen
der Gebürtigkeit und der Innenschau wird daher offensichtlich: trotz seiner Kraft des
Gebens (in der Zeugung, in der Liebe, im Vergeben) kann der Mensch sich sein Sein
nicht selbst geben. […] Ich und die anderen sind „Gabe“.546
Das Geschenk des Seins birgt auch bei Wolf den Zug des Abgeleiteten oder Abhängigen wie
es zuvor bei Welte und Wucherer-Huldenfeld nachgezeichnet wurde. Zeigt die Geburt einen
Anfang an, durch den ich ins Sein komme, so ist sie doch nicht der Anfang einer vereinzelten
Jemeinigkeit, denn Dasein ist „aufgrund“ anderer, ist ihnen geschuldet. Dass mir Sein
geschenkt wurde, versetzt mich nicht in den Knechtsstand, in dem ich permanent –
zwangsweise – Dank aussprechen müsste. Seinsgabe als Freigabe in Eigensein ist kein
gönnerhafter Willkürakt, sondern das Sein wird umwillen und zugunsten des Seienden
geschenkt: „Weil es einfach gut ist, daß jeweils Du Du selber bist und sein kannst – nicht nur
für mich –, sondern erstlich für Dich selber.“547
In der Unableitbarkeit, die sich als Ursprung (in Abhängigkeit) zeigt, erfährt sich das
Dasein als Geschenk548, als kontingentes ist es kein ens causa sui und könnte als NichtNotwendiges schließlich auch nicht sein. Sein Grund ist ihm also äußerlich, jedoch so, dass
dem Dasein zu sein gegeben ist. Nachdruck und Betonung liegen hier darauf, dass dem
Dasein nicht „irgendein“ Sein zugesprochen wird, sondern das je eigene, unverwechselbare
und einzigartige. Darüber hinaus erblickt Welte in der Seinsgabe eine Ursprünglichkeit, die
gewährt, dass der sich geschenkte Mensch Neues unabhängig von anderen hervorzubringen
in der Lage ist. Der Gabe entspricht bei Welte das „Hervorbringen aus dem Verborgenen“,
wobei das Hervorgebrachte – das Dasein – im Entbergen ge- und bewahrt wird.549
Das in Eigensein Freigegebene ist den Eltern ihr Kind oder dem Liebenden die
Geliebte, sodass man sagen kann, Liebe sei der Wille zum Sein des Anderen. Das
Miteinandersein in Liebe ist wohl reich an Paradoxa, in denen eine merkwürdige existentielle
Logik hervortritt: je qualitativ größer und wesenhafter das Eigensein, desto intensiver die
Bindung (Abhängigkeit) an den Freigebenden. In der Weise des Umgangs mit
Abhängigkeitsverhältnissen, die das Dasein konstituieren und begleiten, zeigt sich nach
546
Wolf, Philosophie der Gabe, S. 24
Wucherer-Huldenfeld, Beginn und Anfang des menschlichen Daseins, S. 102
548
Siehe AW 2, 116
549
Welte, Logik des Ursprungs und Freiheit der Begegnung, S. 55
547
200
Dieter Henrich die Dankbarkeit: „Den Grund zum Dank anerkennen heißt dagegen immer
auch, in seinem Verhalten die eigene Abhängigkeit zu bestätigen.“550 Der Dank zeigt sich
primär nicht in einer gut studierten, ausformulierten Geste der Höflichkeit, sondern drückt
die interpersonale Realität aus – im Dank bin ich dir als Geliebter, Freund, Sohn bzw. Vater
etc. verbunden, in ihm erkenne ich mich von dir bejaht. Das Danksagen ist transitiv, man
kann sich schwerlich bei sich selbst bedanken; als kommunikative Handlung führt es mich
von mir weg zum Geschenkgeber, der Dank ist im engen und weiten Sinn ein Ereignis in der
Sprache – der Dank für etwas zeigt sich als Dank an jemanden, dem er als Instanz
dargebracht wird.
Eigenheit und Wesen des Dankes zu erkunden ist ausgerechnet für die Philosophie
der Begegnung eine lohnenswerte und perspektivreiche Aufgabe, die noch immer nicht zur
Gänze erfüllt worden ist. Bedenkenswert ist die Feststellung Gadamers zur Rezeption des
Phänomens des Dankes: „Nun begebe ich mich freilich auf ein Gebiet, wo wir bei großen
Denkern wenig Vorarbeit finden.“551 Dieses Ungenügen mag auch an der Komplexität des
Phänomens liegen, es wird demnach nicht verwundern, dass es verschiedene Wissenschaften
(Theologie, Psychologie, Soziologie) in den Blick zu bekommen trachten.
Was ist unter Dank näher zu verstehen, wie zeigt er sich, wie wird er wahrgenommen
bzw. angenommen? Henrich deutet die Dankbarkeit als Anerkennung der eigenen
Abhängigkeit von anderen, darin zeigt sich eine Parallele zum Konzept Weltes. Im Dank
(wie in der Gabe) deutet sich eine intersubjektiv bedingte Ungleichheit an: wer Dank spricht,
dem wurde etwas gegeben, was er aus sich alleine heraus zu erreichen nicht fähig war. Im
vornehmsten und tiefsten Sinn ist diese Gabe das eigene Dasein. Der entsprechende Dank für
es kommt nicht umhin, eine Asymmetrie zwischen Geber und Empfänger anzuerkennen552,
Gadamer sieht darin eine „[…] Erfahrung der Transzendenz, d.h. Danken geht immer über
den Horizont hinaus, in dem menschliche Erwartungen ihre gegenseitige Bilanz
550
Henrich, Dieter: Gedanken zur Dankbarkeit, in: ders.: Bewußtes Leben : Untersuchungen zum Verhältnis von
Subjektivität und Metaphysik. – Stuttgart: Reclam, 1999, S. 152-193, hier S. 156
551
Gadamer, Hans-Georg: Danken und Gedenken, in: Seifert, Josef (Hrsg.): Danken und Dankbarkeit : Eine
universale Dimension des Menschseins. – Heidelberg : Carl Winter Universitätsverlag, 1992. – (Philosophie und
Realistische Phänomenologie ; I), S. 27-36, hier S. 30
552
Die sich hier zeigende Ungleichheit – der Geber „gewährt“ die Gabe – wird meist vorschnell als negatives
Abhängigkeitsverhältnis fehlgedeutet; der Gabe des Daseins wohnt Ursprünglichkeit inne: ich bin ermächtigt,
von selbst Handlungen zu tätigen. Max Müller setzt an dieser Stelle seine „existenzielle Maxime“: „Tue, was nur
du tun kannst und was an deiner Stelle eben niemand tun könnte.“, in: Müller, Max: Existenzphilosophie : Von
der Metaphysik zur Metahistorik. – 4., erw. Aufl. hrsg. von Alois Halder. – Freiburg/Breisgau ; München :
Alber, 1986, S. 38. Für das Dasein als eigenes Ursprungsein und dessen Entspringenlassen nochmals Welte,
Logik des Ursprungs und Freiheit der Begegnung, S. 56: „Das heißt aber für das Wesen des Ursprungs: Er bleibt,
was er ist, und er ist, was er ist, gerade darin, daß er anfangen läßt, was er nicht ist.“ Das auf diese Weise
Anfangende, das Entspringende ist ein Selbständiges, andernfalls müsste es im Ursprung verbleiben – es würde
so nicht „sein gelassen“, es wäre sich nicht in freigebender Abhängigkeit geschenkt.
201
aufstellen.“553 Für die Gabe bedeutet dies, dass sie jenseits der Berechnungen und
Vorstellungen des Empfängers steht, sie ist in diesem Sinn stets auch eine
„Überraschung“.554 Dass das Geschenk von dir stammt – das erst macht es wertvoll und
darin zeigst du dich in deiner Gewogenheit. Diese Frohmut vonseiten deiner kann ich nicht
adäquat wiedergeben, weil sie ja von dir ausging und mich betrifft, die einzig angemessene
Antwort ist der Dank:
Dies [der Dank, Anm.] ist nicht einfach ein Retournieren von etwas, sondern es ist
das Anerkennen des Anderen in seiner Verbundenheit mit mir und meiner eigenen
Verbindlichkeit, die ich in dem Annehmen des Geschenkes oder irgendeiner Gabe
einging.555
Dank erschöpft sich nicht in einer Gegenleistung, in der man das Erhaltene abzugelten
versucht, sondern steht in einem offenen, bewussten Verhalten gegenüber dem Geber. Ob der
Empfänger Dank ausspricht – dies liegt nicht in der Macht des Gebers, der Zwang zum Dank
widerspricht dem Wesen der Gabe.556 Der ausgebliebene oder unerfüllte Dank offenbart
oftmals die überzogene, zum Teil arrogante Erwartungshaltung, die der Gebende innehat (aus
welchem Grund?). Gabe meint Freigabe in je eigenes Seinkönnen, Dank bedeutet die
entsprechende Antwort auf die mir widerfahrene Sorge.
Dank, selbst noch der Undank, hat den Charakter einer Antwort, die sich nicht immer
in einer Gegengabe artikuliert – wie sollte diese angesichts der Gabe des Daseins überhaupt
beschaffen sein? Diesbezüglich kann sich der Dank nur als Anerkennung des anderen
erweisen, der mich mir gab; in meiner Beziehung zu ihm habe ich mich „gewonnen“.557 Für
Henrich folgt aus dieser Beziehung die Authentizität des eigenen Lebens.
Das folgt daraus, daß diese Dankbarkeit nicht Dank an eine Person für ihre Gabe
ist, daß sie vielmehr Dank ist für einen Menschen, der in unser Leben eintrat und
durch den dieses Leben in seine eigentliche Wirklichkeit gebracht wurde – ein
553
Gadamer, Danken und Gedenken, S. 30
Das altgriechische Verb ί, aus dem das Nomen ά(Dank) hervorgeht, meint „froh sein, sich
freuen, Vergnügen an etwas haben“ – der Beschenkte erfreut sich der Gabe, darin liegt bereits der ursprüngliche
Sinn des Dankes. Cháris selbst bedeutet weiters „Anmut, Gnade, Liebesgabe, Huld, Gunst, Wohlwollen“.
Bezeichnend ist, dass die im Deutschen voneinander getrennten Begriffe „Gabe“ und „Dank“ im Griechischen
zusammengefasst sind. Die Gabe trägt – zumindest im Griechischen – in sich schon Dank.
555
Gadamer, Danken und Gedenken, S. 34
556
Gadamer sieht das Verhältnis von Geber, Geschenk und Empfänger wie folgt: „Geschuldeter Dank – oh, da
sind wir in einem fatalen Kalkül – erwarteter Dank, der ausgeblieben ist und den man dann Undank nennt – auch
das ist sicherlich kaum Dankbarkeit. Die Dankbeziehung ist überhaupt nicht primär die Haltung des Urteilens
über ein Verhalten. Dankbarkeit ist vor allen Dingen etwas, was in einem selber wächst […].“, in: Danken und
Gedenken, S. 35. Gabe, die sich an der erwartbaren Dankbarkeit orientiert, ist eine verlorene Investition. Dank
lässt sich, so Gadamer, nicht immer eindeutig und unmissverständlich als solcher deuten oder identifizieren,
manchmal am wenigsten zwischen Gebenden und Dankenden.
557
Den Anderen anerkennen heißt, ihn präsent halten, an ihn denken, es ist das Bewusstsein und Bewusstbleiben
von Gabe. Von da aus spannt Peter Handke den Bogen zur Religion: „Die Religiosität läßt sich wie folgend
kurzfassen: Statt: ‚Das werde ich nie vergessen’ sage ich: ‚Das werde ich DIR nie vergessen’.“, in: Handke,
Peter: Am Felsfenster morgens : (und andere Ortszeiten 1982-1987). – München : Deutscher Taschenbuch
Verlag, 2000, S. 94
554
202
Dank für sein Dasein selber und in einem damit für alles, was ihn zu dem macht,
der er ist. So danken Eltern für das Kind, von dem sie sagen müssen, daß es ihnen
geschenkt und anvertraut ist. So dankt der, der eigentlich liebt, für den geliebten
Menschen, und gewiß nicht nur dafür, daß auch dessen Liebe sich ihm zuwandte,
sondern dafür, daß es ihn gibt in der Welt und zu der Zeit, in die die Spanne des
eigenen Lebens gebunden ist.558
Der Dank wird alsbald verkürzt zu einer Hilfeleistung in Extremsituationen, wodurch auch
jenes nivelliert wird, wofür gedankt wird: das Leben, welches bloß als Kette reibungslos
ablaufender Ereignisse und Prozesse interpretiert wird, kann nach erfolgreicher Hilfe
„weiterlaufen“.559 Ein daseins- und mitseinsoffenes Verständnis schließt in den Dank auch
Lehrer und Vorbilder sowie die namentlich nicht Bekannten ein, mit denen man im Leben
konfrontiert wird. Das führt schließlich dazu, die richtigen Zeitpunkte und Gelegenheiten in
den Dank einzubeziehen, Aspekte jedenfalls, die nicht bewerkstelligt (aber wohl
„herbeigesehnt“) werden können. Der Dank gilt und kommt jenem zugute, der mein
Eigensein (ὐϑέ in Offenheit als Wahres (ἀής freigibt und hält.560
Damit nähert sich Henrich dem Denken des Anfangs und des Ursprungs bei Welte
und Wucherer, als die wir uns gegeben sind. Ich bin in mein Eigensein freigegeben, ich habe
als dieser so und so Bestimmte zu sein, aber die Freigabe ist Tat und Leistung eines Anderen,
der mich überhaupt erst in das Sein führt. Dank für das eigene Dasein weitet sich darum zum
Dank für das Dasein anderer Menschen561, worin er sich vom geheuchelten Dank des
Pharisäers wesentlich abhebt, der in seinem Stolz den Anderen nicht wahrnehmen kann. Für
Henrich nimmt das Gewahren des Eigenseins eine Geste der Demut an:
Wir danken dafür, daß unser Wirken in diese Welt den Segen hat, anderen
wohltätig zu sein durch solche Kräfte und Gaben, die wir uns selbst nicht geben
konnten und die wir allenfalls gepflegt und vor Entstellung bewahrt haben.562
Selbstverständlich setzt der Dank erst ein, sobald ich Gutes und Förderliches erfahren habe,
er kommt aber nur dann zur vollen Geltung, wenn ich mich selbst als Ursprung des Dankens
erkenne. Das setzt wiederum das Wissen um das Dasein als Geschenk voraus, welches ich
558
Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, S. 161f
Den Grund des Dankes nur in der Abwendung von Lebensgefahren und Bedrohlichkeiten sehen, ist eine
Auffassung, die den Dank verfehlt: „Wer aber nur will, daß sein Dasein geschützt vor Leid und Sog des Endes
weiter dahingehe, dankt nicht wirklich für dies Dasein selbst, sondern nur für dessen Fortbestand.“, in: Henrich,
Gedanken zur Dankbarkeit, S. 167
560
Ursprungsein (Sich-Gegebensein) in Abhängigkeit führt Henrich auf das griechische Denken zurück, leider
ohne dies näher auszuweisen: „Und solcher Dank zeigt dann auch, was anders zu sehen den Griechen gar nicht
in den Sinn gekommen wäre: daß Dankbarkeit nicht etwa die Gestalt einer Knechtstugend annehmen muß, daß
sie vielmehr ein Signum der Freiheit ist.“, in: Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, S. 164
561
In gleicher Weise ist es durchaus denkbar, dass andere für mein Dasein danken, wenn ich ihnen ihre
Seinsweisen erschließe, wozu sie alleine von sich aus nicht imstande wären. Man dankt nur für etwas oder
jemanden, das bzw. der nicht unter der eigenen Verfügungsmacht steht. „Der Andere dankt für den Menschen,
indem er für das dankt, was er ihm war und was er doch nicht aus eigenem Willen hat erbringen können.“, in:
Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, S. 168
562
Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, S. 169
559
203
mir selbst nie hätte bereiten können. Obhut und Pflege der Gabe meint gerade nicht ein
ängstliches Verschlossensein in sich, das sich im Egoismus verspinnt, sondern: Annahme der
Daseinsgabe in Dankbarkeit öffnet mich dem, der mich mir gegeben hat und eröffnet mir die
Möglichkeit, Andere in ihr selbständiges Eigensein zu bringen – sei es durch leibliche
Zeugung eines Menschen, durch pädagogische bzw. therapeutische Anteilnahme am
Schicksal anderer oder in liebendem Miteinander als Dualität.
Das Leben als Geschenk annehmen, das klingt, als müsste man sich einer harten
Übung unterwerfen, oder es erheischt bloß vorgeschobene Dankbarkeit. Dass das eigene
Dasein zumeist nicht dankenswert erscheint, hat mit der unumgehbaren Faktizität dieses
Dasein zu tun: ich habe mein Dasein zu übernehmen, worin sich nicht selten sein
Lastcharakter offenbart. Wir können nichts für oder gegen unser In-der-Welt-sein, in unserer
Ohnmacht fühlen wir uns dessen überdrüssig.563 Ein hervorstechendes Merkmal nicht nur des
heutigen Menschen ist seine überproportionale, scharfe Wahrnehmung von Negativem,
Mangelhaftem oder Beklagenswertem. An Vorhandenes wie an das eigene und das fremde
Dasein wird ein Sollensanspruch gestellt, den diese meistens nicht erfüllen können, weil das
Gesollte schlicht nicht in der Natur der Dinge bzw. der Menschen liegt. So wird das Seiende
letztlich als etwas gesehen, das besser nicht geworden wäre. Dasein ist unter diesem
Vorzeichen keine Gabe, vielmehr eine niederdrückende Bürde, von der man sich am liebsten
lösen möchte.
Die Erfahrung, dass das Leben nicht ganz frei von Not und Drangsal ist, macht jedes
Kind recht bald. Welche Form nimmt der Dank für das Dasein an, das nicht stets geradlinig
verläuft und rundum geglückt ist? Der Dank für eine Einzelgabe fällt hier aus, da es sich um
mein Leben handelt, das ich nicht erwirkt habe, sondern das mich hervorgebracht hat durch
das Wirken anderer Menschen, die mich so in mein Dasein gerufen haben. Der Dank
umgreift also auch Mit- und Umwelt, in denen das Dasein angesiedelt ist. Mit Bezug auf
Henrichs Entwurf schreibt Theunissen: „Ich kann nicht wirklich Dankbarkeit empfinden für
mein Leben als Ganzes, ohne dankbar zu sein für das Ganze der Welt, in der ich es verbracht
563
Auch der Überdruss ist eine Weise der Realitätserschließung, deren Kraft erblickt Heidegger vor allem in
negativ konnotierten Stimmungen (Angst, Langeweile), zuvor heißt es aber: „Diesen in seinem Woher und
Wohin verhüllten, aber an ihm selbst um so unverhüllter erschlossenen Seinscharakter des Daseins, dieses ‚Daß
es ist’ nennen wir die Geworfenheit dieses Seienden in sein Da, so zwar, daß es als In-der-Welt-sein das Da ist.
Der Ausdruck Geworfenheit soll die Faktizität der Überantwortung andeuten.“, in: Heidegger, Sein und Zeit, S.
135. Die Überantwortung (das „Zu-sein-haben“) ist nichts anderes als die Aufgabe des Seins, sodass mir zu sein
gegeben ist. Das Gebende (das „Es gibt“) ist in der Gabe merkwürdig absent, das „Woher und Wohin“ (eben das
Gebende) ist dem Beschenkten nicht direkt zugänglich. Aus diesem sprichwörtlich Ungreifbaren lässt sich
verstehen, dass Phänomene wie Langeweile und Überdruss bis hin zur Angst das Dasein bestimmen und
unterdrücken können. Erst die Eigentlichkeit, die Besinnung auf das Gegebene ist ein Frei-sein für sich und für
jene, die mir begegnen.
204
habe.“564 „Leben als Ganzes“ setzt jedoch voraus, dass dieses Leben möglichst unverstellt in
den Blick gelangen kann, indem es etwa nicht fragmentiert wird, d.h. in einzelne,
unzusammenhängende Abschnitte zerteilt wird. Im Bewahren der biographischen Linearität
und Konsequenz stellen sich Empfangenes und Gegebenes, Verpasstes und Verschuldetes
ihrer je eigenen Zukunft und gelangen dadurch an eine auch für andere wahrnehmbare
Offenheit.565
Den Einwand, Leben sei Last, entschärft Henrich mit dem Begriff der Kontingenz –
wir sind nicht notwendig auf der Welt, wir hätten nämlich auch nicht geboren werden
können.566 Die Tatsache, dass wir ins Leben getreten sind, ist wiederum anderen Menschen
zuzuschreiben, die uns als Kind (hoffentlich) gewollt und akzeptiert haben. Die Eltern wie all
jene, durch die uns Förderung und Wohlwollen zuteil wurde, sind dementsprechend die
ersten Adressaten des Dankes, hinzu kommen die, die uns ein gelingendes Leben lehren,
indem sie selbst ein solches führen:
Ist aber auch noch jener Dank für mein Dasein, in dem der Gedanke der
Möglichkeit meiner Nichtigkeit für immer eingeschlossen ist, erst in dem
Gedanken daran stabil und dauerhaft, daß mein Leben, das wirklich wurde,
zugleich geborgen sein sollte, so ergibt sich schlussendlich, daß sich aller Dank für
eigenes Dasein von dem Gelingen her entfaltet, zu dem ein Leben gelangt oder
geführt worden ist. Dies Gelingen ist das eigentliche Gut, das verdankt ist […].567
Meine „Nichtigkeit“ meint zum einen die Möglichkeit des non ens, das wir ohne unsere
Geburt als Überführung des Möglichen in Wirkliches geblieben wären. Zum anderen ist
Nichtigkeit das Nichts, das Fremde bzw. Andere, von dem der Mensch umgeben ist,
Nichtigkeit und Not berühren hier einander. Eine dritte Deutung schließlich sieht in der
Nichtigkeit das Nichts als das Ursprüngliche in der Erfahrung des Ganzen und des Grundes
des Daseins, wobei „Nichts“ das Offensein, die Weite, das Unverstelltsein, den offenen
564
Theunissen, Michael: Der Gang des Lebens und das Absolute : Für und wider das Philosophiekonzept Dieter
Henrichs, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002), S. 343-362, hier S. 351
565
Das Phänomen des Lebens als Ganzes hat Romano Guardini in einer Vorlesung über Ethik durchzudenken
versucht. In ihr geht er die verschiedenen Lebensalter, deren Aufbau und wechselseitige Prägung durch. Jedes
Lebensalter (pränatales Dasein, Geburt, Kindheit, der junge, der mündige, der ernüchterte, der weise, schließlich
der senile Mensch) ist einmalig, also nicht beliebig herstellbar, auch nicht wiederholbar; alle Lebensphasen
zielen auf das Ganze, kein Lebensalter ist um seiner selbst willen da: „In Wahrheit sind jede Stunde, jeder Tag,
jedes Jahr lebendige Phasen unseres konkreten Daseins, deren jede nur einmal kommt, da sie eine
unvertauschbare Stelle in dessen Ganzem bildet. Darin, daß jede neu ist, noch nicht da war, einzig ist und für
immer vergeht, liegt ja auch die Spannung des Daseins; der innerste Anreiz, es zu leben. […] Sie sehen, wie hier
die Dialektik von Lebensphase und Lebensganzem hervortritt. Jede Phase ist ein Eigenes, das weder aus der
voraufgehenden noch der folgenden abgeleitet werden kann. Andererseits ist jede Phase aber ins Ganze
eingeordnet und gewinnt ihren vollen Sinn nur, wenn sie sich auch wirklich auf es hin auswirkt.“, in: Guardini,
Romano: Gläubiges Dasein : Die Annahme seiner selbst. – Herausgegeben von Franz Henrich. – 3. Aufl. –
Mainz : Matthias-Grünewald-Verlag ; Paderborn : Schöningh, 1993, S. 119-121
566
Siehe Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, S. 170
567
Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, S. 171
205
Bezug zu anderem und dadurch Erfüllung meint.568 Das Danksagen soll die Nichtigkeit und
Qual, die das Leben zu überschatten drohen, übersteigen, indem es die Gabe über das Leid
stellt. Die Gabe des Daseins zählt weitaus mehr als Not und Kümmernisse, die sich (ob aus
berechtigter Sicht oder nicht, ob real oder eingebildet) zu ihm gesellen.
Wohl ist die Geburt ein markantes Moment der Gabe, diese bleibt allerdings ein
währender Prozess – uns wird ständig zu sein gegeben, das Seinsgeschenk ist nicht mit einem
Akt abgeschlossen. Ist der Geschenkgeber von aufrichtiger und verantwortungsvoller
Gesinnung, wird er, wie jeder Fördernde und Teilnehmende dem Empfänger verbunden
bleiben und versuchen, ihn für sich selbst und für die Mitwelt zu „befreien“. Er wird
Interesse am „Gelingen des Lebens“ bekunden, er wird zu helfen und beizustehen versuchen.
Das gelungene Dasein ist wohl nicht das eines Autokraten oder Souveräns, der seine
Selbstherrschaft unbedingt zur Geltung bringt, sondern dieses ist angewiesen auf konkrete
andere Menschen, in deren Wohlwollen ich mich geborgen weiß. Mit Henrichs Worten:
Und so muß das Gelingen, von dem gewußt ist, daß es weder erlistet noch erstritten
werden kann, auch zuerst im Lichte des Daseins erfahren werden, das ebenso
unverfügbar ist und der Ort des Geschehens der Bewegung, die um Gelingen
besorgt und die im Gelingen erfüllt ist. Im Lichte dessen also, daß ich selbst
mögliches non ens bin, erfahre ich nun allererst, was es heißt, daß Gelingen
gewährt ist.569
Die bezüglich Gabe und Dank angestellten Überlegungen zeigen, dass die eigene Existenz
nicht im Alleingang zu bewerkstelligen ist; darum wird nochmals die Frage nach dem
Empfänger – nun des Dankes – dringlich, es sind mehrere Adressaten denkbar. In
biographisch-biologischer Hinsicht sind es zunächst Eltern und Freunde, denen der Dank gilt.
Als Geborene sind wir Seiende, und zwar so, dass uns Dasein übereignet wird. An uns liegt
es, dein und mein Dasein anwesen zu lassen – im Bereich des Offenen.570 Hinter der
Seinsgabe steht das „Es gibt“, das weder als Schöpfer noch als Weltengrund angemessen
einholbar ist. Wie kann man allerdings dem, das sich entzieht, danken? Ist Danken nicht ein
intentionaler Akt, der einer Person als Instanz dargebracht wird? Solches hat Binswanger im
Visier, wenn er das „Mich-Dir-Schenken“ mit dem „Von-Dir-empfangen-werden“ in
Beziehung setzt, die er auch als Selbstmehrung des Eros bezeichnet – je wahrer wir einander
568
Aufschlussreich ist zu diesem Themenkomplex der Aufsatz von Wucherer-Huldenfeld Das Nichts als „Ort“
der religiösen Erfahrung. Das Phänomen des Nichts und der Aufweis des Daseins Gottes, in: ders.,
Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein : Ausgewählte philosophische Studien II. Atheismusforschung,
Ontologie, philosophische Theologie, Religionsphilosophie. – Wien [u.a.] : Böhlau, 1997, S. 305-344. Dort
weitere Literaturangaben vor allem zu den verschiedenen Auffassungen von „Nichts“ in den östlichen und
westlichen Philosophien.
569
Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, S. 171
570
Siehe dazu Heidegger, Zeit und Sein, S. 24
206
lieben und sein lassen, desto tiefer gelangen wir in unser je eigenes Selbst.571 Der Dank
ergeht an dich, die du mich in mein Selbstsein führst und mich dadurch mir gibst; im Dank
konstituieren sich Bewusstsein und -bleiben der Gabe, so kann sie auch erst recht gewürdigt
werden. Von der Seite des Beschenkten bedeutet der Dank die Investitur des Gebenden.
Was hat man sich unter Dank näher vorzustellen, welche konkrete Gestalt kann er
annehmen? Er ist zuerst mehr und anderes als die geläufige Höflichkeitsgeste, die manchmal
zur unverbindlichen Floskel herabsinkt und mit dem recht verstandenen Dank nur mehr den
Namen gemeinsam hat. Das Geschehen des Dankens ist so vielfältig wie die Danksagenden
und die Adressaten. Eine bereits angeführte Weise des Dankes für das Dasein ist die
Weitergabe des Lebens, hier wird die Gabe zur Aufgabe: wie wir uns in Eigensein geschenkt
worden sind, stehen auch wir in der Macht, andere in ihr Sein zu bringen, damit diese
eigenständig sein dürfen. Wir geben so, wie uns gegeben wurde – nicht anmaßendbeherrschend, sondern freigebend, erst so vermag anderes Dasein in sein Eigenstes zu
gelangen. Das ist dem Denken Heideggers geschuldet, es erinnert an sein Denken des
Ganzen und des Grundes, aus dem Seiendes hervortritt.572 Als Grund stellt man sich
üblicherweise eine causa efficiens vor, die Seiendes ins Werk setzt, Heidegger aber meint
anderes. Die Abhandlung Vom Wesen des Grundes entfaltet die Frage nach der ontologischen
Differenz: „Das Nichts ist das Nicht des Seienden und so das vom Seienden her erfahrene
Sein. Die ontologische Differenz ist das Nicht zwischen Seiendem und Sein.“573 Diese
Differenz gewährt Einblick in den Grund (Sein), der uns zu sein gibt und uns ins Offene
bringt. Der Dank würde sich unter dieser Bestimmung als Seinswahrung bzw. Zulassen des
Seins erweisen.574
Begreift man Dasein nicht bloß als eine – wenn auch ausgezeichnete – Form des
Lebens auf der Erde neben anderen (vegetatives und animalisches Leben), so kann der
Empfänger des Dankes jemand sein, der nicht notwendig weltimmanent bzw. kontingent ist.
Der Dank meint dann nicht mehr nur unmittelbar dich – als Mutter, Vater, Freund und
vertrauter, geliebter Mensch –, er wendet sich an ein uns umfassendes Seinsprinzip, an den
Grund. Ihm gilt, so Henrich,
571
AW 2, 118
Näheres dazu im Kapitel 4.2 Gemeinschaft und Selbständigkeit im Wir
573
Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 5
574
Dass die ontologische Differenz keine bloße Unterscheidung, sondern ein Bezug von Seienden zum Sein ist,
hebt Max Müller hervor: „Als alles gründender Grund ruht es [das Sein, Anm.] doch auch wieder im
Gegründeten, und diese ‚Reziprozität’ ist gerade eine der entscheidenden, wenn auch nicht leicht zu
erreichenden Ur-Erfahrungen. ‚Ur-Erfahrung’ nämlich, die erfahren wird, wenn das Denken versucht, seinen
‚Ursprung’ und den ‚Ursprung überhaupt’ zu denken, in welchem Versuch das Denken dann ‚glückt’, d.h.
erfahrend wird, wenn es ‚den Anfang’ und damit ‚seinen Anfang’ nicht als Setzung setzt, sondern ‚als Gabe
entgegennimmt’ und sich damit als im Anfang geschenkt erfährt, wie der späte Heidegger dann sagen wird.“, in:
ders., Existenzphilosophie, S. 85.
572
207
[…] die Dankbarkeit, in der sich unser Lebensgang unter Einschluß der Not zu
sammeln vermag […]. Denn in ihr [in der Dankbarkeit, Anm.] wird ein Grund
erfaßt, der unser Leben ermöglicht, aber nicht nur anfänglich ermöglicht, sondern
der es ebenso auch tragend durchherrscht.575
Aber wer wird schlussendlich dankend angesprochen? Der durchragende Grund, ein Gott,
oder – was der Erfahrungsnähe am ehesten entspricht – die geliebte Person, die einen
Sinnraum im gemeinsamen Dasein stiftet? Und: schließen die drei Adressaten, Konkurrenten
gleich, einander aus oder darf ich Gott und dem Menschen dankbar sein? Theunissen nimmt
dazu klärend Stellung: das Gegenüber, mit dem wir in Beziehung stehen, ist uns unter dem
Titel „Person“ vertraut. Der Grund, der zu sein gibt, ist indessen sensu stricto kein
Begegnendes wie es etwa ein innerweltlich Seiendes ist. Ein Grund kann nie
gegenüberstehen wie ein empirisch Wahrnehmbares, doch zeigt er sich in der
Grunderfahrung und nimmt darin Züge des Personalen an:
Aber das, was sich uns als Grund erschließt, kann im Prozess unserer Erfahrung
zum Gegenüber werden, so wie umgekehrt das uns als ein Gegenüber Begegnende
in den Grund gehen mag. Gewiss nötigt beides zu einem Einstellungswechsel. Das
religiöse Bewusstsein, das in Kategorien der Begegnung mit einem Gegenüber
denkt, muss sich, um eines Grundes ansichtig zu werden, zu einem philosophischen
bilden, das philosophische, das am Gedanken des Grundes orientiert ist, muss, will
es darin ein Gegenüber sehen, religiös werden. Das Religiöswerden des
philosophischen Bewusstseins setzt aber ebenso wie das Philosophischwerden des
religiösen ein Absolutes voraus, das an sich beides ist, Grund und Gegenüber.576
Grund bzw. Gott und der geliebte Andere sind als Adressaten des Dankes nicht zwei Seiten
derselben Medaille, sie sind voneinander geschieden im Sinne des Verhältnisses von
Schöpfer und dessen Kreaturen. In der Dankbarkeit zu einem konkreten anderen Menschen
mag sich der uns gemeinsame Grund zeigen, der dich und mich in eigenes Sein freigibt –
insofern geht das Begegnende „in den Grund“, weist ihn auf. So „rettet“ der Mensch das Sein
aus dem Fluss der Verborgenheit, des Vergessens (ἡ ή. In seinen behutsam formulierten
Überlegungen legt sich Henrich nicht auf einen letzten Empfänger des Dankes, auf den sich
alles Seiende im Grunde bezöge, fest; ob dieser nun Gott ist, ein namenloser Grund oder ein
unpersönliches Absolutes, das sich dem Dank zu entziehen scheint, bleibt unbestimmt.577
575
Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, S. 190f
Theunissen, Der Gang des Lebens und das Absolute, S. 354
577
„In einem damit ist aber auch einzusehen, daß aus einer Untersuchung über die vielgestaltige humane
Wirklichkeit des Dankes heraus gar nicht ohne weiteres darüber entschieden werden kann, ob wir in unserem
Lebensdank einem Absoluten zugewendet sind, das als gütiger Gott zu erfahren ist, oder ob es angemessen ist,
unser Leben in einer Dankbarkeit zu vollenden, die nach keiner Adresse sucht oder suchen müßte, wenn sie sich
nur recht verstünde.“, in: Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, S. 191. Der paradox anmutende Verzicht auf
einen Adressaten des Dankes lässt andererseits vermuten, Henrich lege den Schwerpunkt auf das Geschehen des
Dankes in die Gesinnung der Demut.
576
208
Eine Deutung im Sinne des Christentums liegt gewiss nahe, erlaubt dieses doch, den Grund
des Ganzen in der personalen Begegnung (zu Christus) zu gewahren.578
In der Dankbarkeit tritt in ausgezeichneter Weise eine Anerkennung intersubjektiver
Realität hervor, indem sie deren Grund zum Vorschein bringt und würdigt. So bekundet sich
der Dank für das Leben, für das Getragensein im Seinsganzen kaum in sprachlichen
Äußerungen (wenn man von Dichtung und religiöser Literatur absieht), sondern eher als
Grundhaltung. Zugleich enthält er eine Aussage über die Wertschätzung des Lebens: im
Dank zeigt sich die Annahme deines, meines, unseres gemeinsamen Daseins. Dass sich im
Dank eine – wie immer geartete – religiöse Dimension eröffnet, ist dabei nur konsequent.
Binswanger, zu dem abschließend zurückzukehren ist, sieht und respektiert die Dankbarkeit
als eine ursprüngliche Weise religiöser Praxis, er selbst kann sich expressis verbis nicht zur –
namentlich christlichen – Religion durchringen, obwohl er das Naheverhältnis zu ihr auch
nicht verschweigt, sondern geradezu sucht: das liebende Miteinander nennt seinen Grund und
Urheber nicht „[…] wie die Philosophen, das Absolute oder das Sein, sondern den Gott oder
Dich Gott […], getragen von dem Wissen, daß wir den Grund unserer Begegnung nicht nur
nicht selbst gelegt, ja auch nicht von uns selbst her ergriffen haben, sondern daß er uns
‚ergriffen’ hat.“579
578
Ein Beispiel sind die Selbstoffenbarungen Jesu in Wort und Werk in Joh 14, 6-7: „Jesus sagte zu ihm: Ich bin
der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich. Wenn ihr mich erkannt
habt, werdet ihr auch meinen Vater erkennen. Schon jetzt kennt ihr ihn und habt ihn gesehen.“
579
AW 2, 346f
209
9 Die Einzigartigkeit von Ich und Du im Namen
9.1 Zur Hinführung
Im Dank weiß ich mich als von Anderen Beschenkter, Angenommener; als jemand, der ohne
die Seinsgabe gar nicht für diese (und anderes) danken könnte. In der Geburt gelange ich
selbst als dieses Kind von diesen bestimmten Eltern zur Welt. Nur in einem von Einzelfällen
abstrahierenden Verständnis von Mensch und Natur wird konkret Hervorgebrachtes (eben
dieses Neugeborene als Kind dieser Eltern) in seiner einmaligen Einzigkeit übergangen, es
bleibt zählbarer Teil einer Gruppe von Gliedern. Es mag in den Natur-, auch noch in den
Sozialwissenschaften angehen, Individuen in ihren Eigenarten und Wesenszügen festzuhalten,
zu beschreiben, um sie dann ihren grundlegenden Mustern zuordnen zu können.
Wissenschaften, die sich auf instrumentell Herstellbares und auf die Steuerung desselben
verstehen, werden auf ein sich selbst gegebenes Dasein nicht stoßen. Die Divergenz lässt sich
damit erklären, dass Naturwissenschaften – vor allem aber die Technik – mit Hergestelltem,
Gemachtem zu tun haben – lateinisch factum. Sein als Gabe durch Natalität erfährt sich als
Geschaffenes – ens creatum. Dasein als geschaffenes ist nicht „produziert“, ist kein Resultat
eines Fertigungsverfahrens, sondern ihm ist sein je eigenes, einzigartiges Sein gegeben.
Die Philosophie der Begegnung und des Dialogs bedenkt – oftmals unkritisch – die
Grundbegriffe Wir, Ich, Du, der/die Andere, sie behandelt Personalpronomina als Substantiva.
Wenn auch vom Anderen die Rede ist, so meint diese Rede zumeist nicht dich als konkrete
geschichtlich-leibliche Person, die mein Gegenüber bildet; diesen vom Einzelnen
abstrahierenden Grundzug dialogischen Denkens weitet Binswanger auf die Liebe selbst aus:
Es gehört zum anthropologischen Wesen des liebenden Miteinanderseins, es ist einer
seiner phänomenalen Wesenszüge, daß es sich als „die Liebe“ metaphysisch zu
substanziieren neigt, welche Substanziierung ja schon in der grammatikalischen
Substantivierung vorbereitet ist.580
Im Verlauf seiner Untersuchung rückt Binswanger immer weiter vom Du in dessen
tatsächlich gegebener realer Gestalt ab, sodass das „Besondere an dir“, Eigenschaften und
Eigenheiten, die deine Einzigartigkeit mit ausmachen, nicht berücksichtigt werden und daher
ungewürdigt bleiben. Besonderes, Individuelles, über das nur du verfügst und niemand sonst,
wird zu einem austauschbaren Teil degradiert.
Das heißt, daß dem Besonderen, ja der Besonderheit als solcher, in der Liebe keine
selbständige Bedeutung zukommt, weder im Sinne des gedachten Sonderinhalts
(Besonderes im logischen Sinne), noch im Sinne des Einzelnen (Besonderes im
580
AW 2, 346
210
Seinssinne). Nur als „Teilinhalt“ einer wirhaften Totalität empfängt das Einzelne und
Besondere hier Sinn und Bestand [...].581
Binswanger argumentiert mit klassischen Begriffen, die eine lange und nicht immer
friktionsfreie
Tradition
haben
–
Ganzes-Teil,
Allgemeines-Besonderes,
Totalität-
Individualität, konkretes Du-allgemeines Du. Diese Gegensatzpaare als kontradiktorische
verstehen heißt aber, den phänomenalen Gehalt, um den es geht (Ich, Du, Wir), übersehen.
Dem konkret-leiblichen Du liegt ein allgemeines Du als Denk- und Erkenntnismuster
zugrunde – ich muss überhaupt schon anderes als anderes erkannt haben, um dich als jemand
Anderer erkennen zu können. Nicht weniger sieht sich das einzelne Ich in einem idealen „Ich
überhaupt“ „verkörpert“. Und das Besondere, das dem geliebten Menschen per Zufall
anhaftet, muss keine unwesentliche, wechselnde Eigenschaft dieser Person sein.582 Ist es, im
Rahmen einer Philosophie des Miteinanderseins zumal, nicht denkbar, dass gerade
„Besonderheiten“, Wesenszüge, Charakterspuren – allesamt Akzidentia, die mithin auch
nicht auftreten könnten – dich und mich derart prägen, dass wir ohne sie nicht so wären,
aufträten und lebten, wie wir dies eben tun? Sind persönliche Eigenheiten nicht das, wodurch
wir jeweils einzigartig und unvertauschbar sind, wenn sie auch nicht dem Wesen (ἡ ὐί)
oder dem Zugrundeliegenden (ὸὑί) im Sinne der Metaphysik zuzurechnen sind?
Freilich ist hier vor einer Begriffsverwirrung zu warnen, denn die eigentümliche
Natur eines Menschen (sein „Wesen“), die die Grundzüge des Wollens, Handelns und
Verhaltens bestimmt, ist wohl eher ein Studienobjekt der Psychologie denn der Metaphysik.
Wofür sich Philosophie hingegen wohl interessieren darf, ist der unklare Status von
allgemeinem und konkretem Ich bzw. Du. Binswanger wertet das Besondere zugunsten des
Allgemeinen ab, mit welchem Grund? Ist denn in der Liebe nicht stets ein konkretes Du
zugegen, oder, wie im zweiten Teil der Grundformen exponiert, rückt das einzelne Du – und
damit ein einzigartiger, unverwechselbarer Mensch – in den Rang eines abstrakten
Gegenübers? Und: ist ein Abstraktes, Generelles der Liebe fähig und bedürftig?583
Es scheint, dass sich liebendes Miteinander nur unter „transzendentalen
Subjektivitäten“ ereignet, zumindest lässt Binswangers Ausführung daran denken:
581
AW 2, 459
Das an der Substanz – oder in diesem Kontext richtiger: am Dasein, am Ich und am Du – zufällig, also nicht
notwendig Haftende bestimmt Aristoteles wie folgt: „Akzidens nennt man (1.) dasjenige, was sich zwar an etwas
findet und mit Wahrheit von ihm ausgesagt werden kann, aber weder notwendig noch in den meisten Fällen sich
findet [...].“, in: Aristoteles: Metaphysik : griechisch-deutsch ; Neubearbeitung der Übersetzung von Hermann
Bonitz. – mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Horst Seidl. – 3., verbesserte Auflage. – Hamburg :
Meiner, 1989, 1025 a14f
583
Hier ist wieder an das Zitat aus Hegels theologischen Jugendschriften zu erinnern: „Ein Gedachtes kann kein
Geliebtes sein.“, in: Hegel: Werke I, S. 362
582
211
Wir haben von Anfang an betont, daß die Duhaftigkeit oder Duheit überhaupt im
Sein der Liebe nicht möglich ist ohne Wirheit überhaupt, was immer auch heißt, ohne
Ichheit überhaupt, ohne diejenige Ichheit also, welche „von Gnaden“ der Duheit ist.
Nicht nur Du, auch ich wandle mich in der Liebe aus dem Seinsstand konkreter
Singularität oder Individualität in den Seinsstand dualer Wirhaftigkeit. Wie Du nur
geliebtes Du bist im Zusammenfallen Deiner als dieses konkreten Dus und Deiner als
Wesen Du-überhaupt, bin Ich nur liebendes Ich im Zusammenfallen Meiner als
dieses konkreten Ichs und Meiner als liebendes Ich-überhaupt.584
Theunissen konstatiert den „Rückfall in die Transzendentalphilosophie“585, in der das
singulare Du mit dem „Wesen Du“ eins ist. Wer aber liebt ein Wesen, ein Allgemeines, in
das sich ein konkretes Du verflüchtigt haben soll? In dieser Hinsicht kann Binswanger
Einseitigkeit und Selbstwiderspruch nicht leugnen. Letztlich bleibt ungeklärt, warum
Individuelles, damit schließlich auch das Einzigartige deines und meines personalen Seins
zugunsten des Allgemeinen unterdrückt wird586; gerade deshalb lohnt es, zu sehen, ob diese
Unterdrückung im Werk Binswangers konsequent durchgehalten wird. Die Kontroverse um
das konkrete und das allgemeine Du und Ich sowie die Priorität des Wir bzw. des Generellen
wird untergraben, sobald dein und mein Dasein als Gabe gefasst wird, die nur dir respektive
mir zukommt – in der Liebe zu dir bin ich nicht auswechselbar, weil eben du jene Person
bist, deren Sein ich in Liebe würdige und bewahre. Der geliebte Andere ist freilich kein
„irgendjemand“, sondern vielmehr vertraut und intim. Er ist als solcher namhaft, hat also
einen Namen, mit dem er gerufen wird.
Der Name spiegelt Eigenart und Vielfalt der Person. Was den Personennamen
zunächst von jeder Sachbezeichnung unterscheidet, ist der Charakter eines
Rufnamens, der sich einzig darin bewährt, daß einer auf ihn hört und antwortet.587
9.2 Zur Philosophie des Namens
9.2.1 Das Konzept Binswangers: „Das Nehmen beim Namen. Die Historizität“
Was an einem Namen ist so bemerkens- und bedenkenswert, dass sich die Philosophie ihm
zuwenden soll, schließlich werden wir alle bei unserem Namen genannt, antworten wir auf
584
AW 2, 587. Auf Seite 235 der Grundformen hingegen ist noch von einer „dialektischen Bewegung von
konkret-singularem und konkret-allgemeinem Du“ die Rede.
585
Theunissen, Der Andere, S. 466-474
586
Damit steht Binswanger nicht alleine da, so hat bereits auch Buber Ebners Denken als „akosmisch“ und
„ananthropisch“ charakterisiert, siehe dazu Casper, Das dialogische Denken, S. 237. Mit Blick auf Binswanger
und Harry Stack Sullivan schreibt Roger Frie: „Somit meint Binswanger, daß im Unterschied zur Fülle der
Erfahrung in der Ich-Du-Beziehung das individuelle Selbst eine defizitäre Seinsweise darstellen muß. Um die
Beziehung zwischen Liebe und individueller Existenz darzustellen, zitiert er den jungen Hegel: „das Zürnen der
Liebe gegen die Individualität“ [...]. Dieser Bezug auf Hegel ist typisch für bestimmte anti-individualistische
Tendenzen in Binswangers Werk. [...] Ich glaube allerdings, daß sowohl Binswanger als auch Sullivan dazu
neigen, die Bedeutung der individuellen Identität als zentralem Bestandteil unseres Selbstverständnisses zu
vernachlässigen.“, in Frie, Roger: Binswanger, Sullivan und die interpersonelle Psychoanalyse, in: LuziferAmor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse 29 (2002), S. 105-122, hier S. 118f
587
B. Waldenfels, Das Zwischenreich des Dialogs, S. 284
212
die Frage nach unserer Identität, indem wir uns vorstellen – mit dem Namen eben. Ein Blick
in die Grammatik gibt hier erste Sicherheit:
Mit den Eigennamen werden Lebewesen, Dinge u.a. bezeichnet, die so, wie sie sind,
nur einmal vorkommen, z.B. bestimmte Menschen, Länder, Städte, Straßen, Berge,
Gebirge, Flüsse, Seen, Meere, [...] menschliche Einrichtungen und geistige
Schöpfungen. Mit einem Eigennamen wird also etwas Bestimmtes, Einmaliges
benannt; er ist in der Regel einzelnen Lebewesen oder Dingen zugeordnet und
gestattet, diese zu identifizieren. Auch wenn viele Personen Peter, Müller, Schmidt
oder mehrere Orte Neustadt heißen, wird mit dem Eigennamen etwas Einmaliges
bezeichnet, denn jede Person und jeder Ort bleibt „Individuum“, d.h. ein bestimmtes
unteilbares Einzelnes[.]588
Der Name gewährt Identität und Unverwechselbarkeit; wird der Name im Gruß genannt, so
bedeutet das auch Erinnerung an den mit Namen Gegrüßten: der Gruß
[...] ist dazu bestimmt, gegenwärtige Erfahrung mit erinnerter Vergangenheit
zusammenzuschließen, den Gegrüßten mit demjenigen zu identifizieren, den der
Grüßende aus anderen Situationen schon kennt und dem er möglicherweise in
kommenden Situationen wiederzubegegnen hofft.589
Der Name ist sozusagen der Aufenthaltsort der Person, die diesen Namen trägt, der Gruß
„[...] stiftet durch Identifikation des Gegrüßten Kontinuität einer Erfahrungsreihe [...].“590
Gewährt für Schaeffler der Eigenname die Identität des anderen, so dient er Binswanger dem
„Haftbarmachen“, der „Greifbarkeit“ des anderen. Vermittels des Namens werde ich des
anderen habhaft; der Name verbürgt zwar die Identität, er liefert sie damit allerdings auch
meinem Zugriff aus. Das Namensverständnis Binswangers ist – das sollte nicht übersehen
werden – an seine Auffassung des Personbegriffes gebunden. In merkwürdiger Abwendung
von anderen Denkern der Begegnung eignet der Person zuvorderst nicht Einmaligkeit,
individuelle Substanz, Durch-sich-sein oder In-Beziehung-sein (Relationalität), eher rückt
Personalität in einen defizienten Seinsstand, wie Theunissen schreibt:
Für ihn [Binswanger, Anm.] nämlich ist personales Sein Sozialität im Modus der
Selbstentfremdung. Zwar teilt er mit Buber die Überzeugung, daß das Ich sein Selbst
erst im „liebenden Miteinandersein“ gewinnt, doch ist dieses für ihn nicht das
„personale Mitsein“, in welchem vielmehr der eine niemals das Selbst des anderen zu
588
Der Duden : in 12 Bänden; das Standardwerk zur deutschen Sprache. – Bd. 4 Duden, Grammatik der
deutschen Gegenwartssprache. – hrsg. vom Wissenschaftl. Rat der Dudenredaktion. – 6., neu bearbeitete Aufl. –
Mannheim [u.a.] : Dudenverlag, 1998, S. 196
589
Schaeffler, Das Gebet und das Argument, S. 109
590
Schaeffler, Das Gebet und das Argument, S. 110. Schaeffler weist dem Namen demnach einen
metaphysischen Rang zu: „Auch in dieser Sprachhandlung jedoch ist eine Aussage enthalten, die den Anspruch
auf Wahrheit erhebt: die Aussage nämlich, eine identische Person oder Sache könne in wechselnden Situationen
wiederbegegnen und dabei als die identische erkannt und angesprochen werden. Der Name benennt das
Beharrende im Wandel, das Identische in der Differenz von Begegnungssituationen und setzt dadurch jene
Differenz und jenen Zusammenhang, die in der späteren Sprache der Philosophie die Differenz und der
Zusammenhang von Substanz und wechselnden Formen ihrer Erscheinung heißen wird.“, in: Schaeffler, Das
Gebet und das Argument, S. 110
213
Gesicht bekommt, weil er ihn lediglich „bei etwas“ und „zu etwas“ nimmt, d.h. als
partikuläres Mittel zu seinen Zwecken gebraucht.591
Den Terminus „Personalität“ reserviert Binswanger für das „Mitsein von Einem und einem
(oder den) Anderen im Sinne des mitweltlichen Umgangs oder Verkehrs“592, wobei er diese
Form des Mitseins (die Pluralität) mit Beispielen unterlegt, die nahezu das Gegenteil
liebenden Miteinanderseins vorstellen. Die Grundstruktur des pluralen Modus bildet das
„Nehmen-von-etwas (oder Jemanden)-bei-etwas-zu-etwas“.593 Ich nehme den anderen (oder
irgendwen) bei etwas (bei einer Bestimmtheit, einem Charakterzug, bei einem Körperteil
usw.) zu etwas, d.h. ich verfolge damit ein Ziel, das zu erreichen mir der andere dienlich ist.
Binswanger spricht denn auch unumwunden von „Instrumentalisierung des ganzen
Menschen“594 – der andere ist von Relevanz, insofern er zu etwas zu gebrauchen ist. Als
jemand, der Zwecke erfüllt, verdient der andere Achtung und Anerkennung, allerdings bloß
in dem Rahmen, in dem er seine Rolle erfüllt. Damit ist das verknappte Personverständnis
Binswangers aufgedeckt; Person wird auf die Rolle reduziert, die sie in der sozialen Welt der
vielen Subjekte annimmt.
[...] Personen begegnen und umarmen sich nicht, blicken sich nicht ins Auge und
grüßen sich nicht, sondern treffen sich an, zeigen mit dem Finger auf sich, erblicken
und begrüßen sich; Personen sprechen auch hier nicht zueinander von- oder
übereinander [...].595
Nun sind alle Personen Träger eines Eigennamens, der für Binswanger im Prinzip lediglich
ein „Fremdname“ ist, weil ihn der Genannte von der Mitwelt erhalten hat, überdies ist er ein
„sprachlicher Kunstgriff“596. Die einzige Funktion des Namens besteht in der Identifizierung
seines Trägers, um ihn aus der Vielzahl der anderen herauszuheben und ihn so kenntlich, also
aufrufbar zu machen. Die Auffassung des Namens als Kunstprodukt verweist auf eine
Zivilisation bzw. Kultur, hier bezieht sich Binswanger ausdrücklich auf das Römische Recht
und übernimmt auch dessen Verständnis von (Rechts)Person:
Nimmt dieses, eine gesellschaftlich-staatliche Kultur voraussetzende Nehmen beim
Namen den Menschen noch als Träger und Ausüber einer juristischen Funktion, einer
gesellschaftlich oder staatlich festgelegten Rolle (persona), so nimmt es ihn mit
zunehmender Zivilisation immer mehr auch als „bloßen Namensträger“. Der Name
selbst wird dann bloßes (Schrift- oder Druck-)Zeichen innerhalb eines
gesellschaftlichen Verweisungszusammenhangs, so der Name im Polizeiregister oder
Telephonbuch, im Krankenhaus oder Gefängnis, um schließlich, wie im Hotel, durch
eine „bloße Nummer“ ersetzt zu werden.597
591
Theunissen, Skeptische Betrachtungen über den anthropologischen Personbegriff, S. 469
So der Titel des zweiten Kapitels des ersten Teils der Grundformen, in welchem der Name thematisiert wird.
593
AW 2, 249
594
AW 2, 282
595
AW 2, 243
596
AW 2, 296
597
AW 2, 297
592
214
Der Name fungiert hier als arbiträr etabliertes Zeichen, so kam z.B. die Familie Binswanger
überein, ihren Sohn Ludwig zu nennen und in Folge tat dies auch die Gesellschaft. Wiewohl
durch Konvention entstanden, „haftet“ der Name an dem von ihm Benannten, sodass er
gleichsam eine Biographie abgibt.
Im Namen haben wir die innere und äußere Lebens-Geschichte eines Menschen, den
Inbegriff dessen, was er erlitten, getan und geworden, mit anderen Worten was
„man“ oder was „die Geschichte“ von ihm erzählt und was man sich auf Grund
dieser Erzählung „von ihm denkt“, „vorstellt“ und „erwartet“. Der Name steht als
Ruf, fama, in engster Beziehung zur Geschichtlichkeit, sein Verhältnis zum
Namenträger ist in erster Linie ein historisches.598
Beim „Namen genommen zu werden“ meint zum einen den hoffentlich guten Ruf, den der
Genannte genießt, zum anderen offenbart der Name die Seinsweise der mitweltlichen
Zugänglichkeit und Zuhandenheit, die ihren Ort nicht im liebenden Miteinander haben: „Der
Andere, das bist längst nicht mehr Du, das ist aber auch nicht mehr eine andere Existenz,
sondern das ist Er, [...] der diesen bestimmten Namen trägt oder so „heißt“ [...].“599 Wenn
selbst bereits mein Name meine Biographie widerspiegelt und damit einem Ruf anderer
Antwort gibt, so ist es verwunderlich, dass ihm Binswanger so wenig Beachtung schenkt.
Immerhin erwähnt er, dass Kleinkinder von sich selbst in der dritten Person sprechen, ebenso
Infantile und gibt als Grund dafür an, diese könnten nicht mit sich selbst umgehen, hätten
also noch kein Selbstverhältnis oder eben keines mehr. Zwar ist mir mein Name von anderen
gegeben, doch bin ich es, auf den er getauft wurde und den ich fortan trage. Werde ich beim
Namen – bei meinem Namen – gerufen, so bin ich gemeint und dann habe auch ich zu
antworten. Das gilt nicht nur in meinem Mitsein als pluralem, sondern vielleicht allererst im
liebenden Miteinandersein von mir und dir. Statt im Namen die Gabe des Eigenseins durch
andere zu sehen, bescheidet sich Binswanger mit einem anonymen Ich und Du der Liebe:
„Die ‚Eigennamen’ der Liebenden heißen Ich und Du, ihr Ruf und Ruhm ist das ‚Wunder’
ihrer Liebe.“600
Selbst in einem von der Gesellschaft abgedichteten Modus der Dualität ist die
ausschließliche Nennung des Anderen als „Du“ kaum vorstellbar. Selbst die extreme
Exklusivität, in der sich ein Robinson Crusoe findet, kennt Namen, wie aus dem Taufakt des
Protagonisten hervorgeht: „[...] and first, I made him know his name should be Friday, which
was the day I saved his life [...].“601 Im Hintergrund der Argumentation Binswangers steht
598
AW 2, 300
AW 2, 271
600
AW 2, 302
601
Defoe, Daniel: The life and adventures of Robinson Crusoe. – Edited with an introduction by Angus Ross. –
Reprint. – Harmondsworth : Penguin Books, 1985. – (Penguin Classics), S. 209
599
215
Löwiths Auffassung, der Eigenname sei etwas bloß Äußerliches, Willkürliches, das nur der
Nennung und Spezifizierung dient:
Der sogenannte Eigenname ist [...] ein Fremdname, ein zunächst von anderen
gegebener und für andere bestimmter Name. Der wahre Eigenname einer Person ist
ausschließlich das persönliche Fürwort der ersten Person: „Ich“. [...] Der beste
Beweis für die Uneigentlichkeit auch des Rufnamens für einen selbst ist die
unwillkürliche Antwort mit „ich“ (bin da) auf die Frage eines andern, wer da sei.602
Hier sieht Löwith von der Intimität der Gesprächspartner ab; „Ich bin da“ zu sagen, anstelle
den Namen zu nennen, ist der Vertrautheit zuzurechnen, in ihr ist die Erwähnung des
Namens überflüssig, verrät doch bereits der Klang der Stimme ihren Sprecher. Einen
weiteren Bezugspunkt für Binswanger bildet Ferdinand Ebner, der jedoch einen gänzlich
anderen Zugang zum Problem des Namens hat. In einem Aufsatz im Brenner aus dem Jahr
1928, den Binswanger wahrscheinlich nicht gekannt hat, heißt es:
In der Ichhaftigkeit schlechthin seiner Existenz ist der Mensch namenlos, weiß er
nicht, wer er ist; seinen Namen – und sein Wissen um die Bestimmtheit seiner
Existenz – hat er in der Duhaftigkeit seines Ichs. Daher gibt er von Rechts und
Geistes wegen nicht sich selbst seinen Namen, sondern empfängt ihn, der dann für
seine „Person“ steht, für den er mit seiner Person einzustehen hat, von den andern.603
Das Ich als solches, als transzendentales etwa, ist ohne Namen, weil es sich nicht zu einem
Du verhält; ein empirisches, konkretes Ich hingegen ist primär ein passiv vom Du
angesprochenes, von dem es seinen Namen und die „Bestimmtheit seiner Existenz“ erhält.
Der so selbstverständliche Ausgang vom Ich bzw. cogito wird hier offensichtlich unterlaufen:
zugunsten eines Du, welches mich bestimmt und mich mit (meinem) Namen ruft. Ein
ähnlicher Gedanke findet sich bei B. Waldenfels, der von der Phänomenologie herkommt:
Zu einer bestimmten, namhaften Person wird das Ur-Ich erst in der
„Selbstdeklination“, in der Andere sich in mir konstituieren und ich mich selbst als
einer unter ihnen. [...] Daß diese Namensverleihung ursprünglich nur auf Andere
zurückgehen kann, weist hin auf das, was jeder in seinem Selbstsein Andern
verdankt; daß die Namensgebung sich erst in der Namensübernahme vollendet,
schließt jede einseitige Konstitution aus.604
Bei aller Verschiedenheit, die Ebner und Waldenfels trennt, sie kommen darin überein, dass
1) das Ich ursprünglich ein passiv Angesprochenes ist, welches 2) sein Selbstsein im Namen
Anderen schuldet (oder besser: verdankt). Darauf zielen allerdings auch die Bemühungen
Binswangers; lediglich in der Diskussion um den Namen bleibt er einseitig bei Löwiths
Auffassung. Er sieht im Namen nicht die Gabe des Eigenseins, sondern der Name ist ihm ein
Zeichen der Fremdbestimmung und nicht das Nennen der geliebten Person in deren
602
Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 20
Ebner, Schriften I. – Herausgegeben von Franz Seyr. – München : Kösel, 1963, S. 693
604
B. Waldenfels, Das Zwischenreich des Dialogs, S. 282-284
603
216
Eigenstem. Doch wandelt sich die Passivität der Namengebung in ein Tun, wie Casper mit
Blick auf Rosenzweig festhält:
Ich fange deshalb selbst an zu sprechen, weil ich mich als Angerufenen finde. Ich
fange deshalb an zu sprechen, weil ich den Anruf erfahre. Sei! Dieser Anruf meint:
Sei als du selbst, der du dich als dich äußerndes In-der-Welt-sein und angesichts des
Todes in die Zukunft hinein entwirfst. [...] Ich fange wie von selbst an, In-der-Weltsein vorzubringen. Ich selbst spreche.605
Beim Namen genannt zu werden lässt mich in gewisser Weise erst sein, indem ich dem
Anderen Antwort gebe. Im Namen ist die Person selbst in ihrer Einzigkeit gegenwärtig.
Binswanger kann dies nur deshalb übersehen, weil er die Namhaftigkeit der Person im
pluralen Modus bzw. im mitweltlichen Umgang ansiedelt. Im Folgenden wird deshalb der
Versuch unternommen, Bedeutung und Tragweite des Namens näher zu erschließen.
9.2.2 Sprachphilosophische Überlegungen zum Namen und zum Nennen im Anschluss an
Wucherer-Huldenfeld
Ist von Namen die Rede, so unterscheidet die Grammatik, wie schon erwähnt, Gattungsname
(nomen appellativum, etwa „der Tisch“) und Eigenname (nomen proprium), der auf ein
Einzelwesen zielt, das wohl an der Gattung teilhat, aber darüber hinaus noch „mehr“ oder
„anders“ ist. „Mit Eigennamen ist nicht notwendig eine solche Bedeutung verbunden, die
etwas besagt, was auch von anderen, vergleichbaren Wesen, ausgesagt werden kann.“606
Damit unterscheidet sich der Eigenname zusätzlich vom Funktionsnamen, der übrigens nur
von jemandem getragen werden kann, der auf einen Eigennamen hört. Überdies tragen selbst
Tiere und Pflanzen Namen, ohne jedoch jemals bei ihrem Namen gerufen werden zu können.
Dieser Umstand verdankt sich der botanischen Taxonomie Carl von Linnés, die später um
eine zoologische Nomenklatur erweitert wurde, Namen im hier angestrebten Verständnis
sind diese allerdings nicht.607
Wohl können aber Eigennamen und Gattungsbezeichnungen ineinander übergehen, so
wird aus ὁ έ(Fels, Stein) der Apostel Petrus und daraufhin der männliche Vorname
Peter. Standes- oder Berufsbezeichnungen werden gerne als Familiennamen herangezogen
605
Casper, Das Dialogische Denken, S. 126f
Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung zu einer Theologie des Namens Gottes, in: ders.,
Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein : Ausgewählte philosophische Studien II, S. 159-217, hier S. 162
607
Einen Vorläufer der gesamten wissenschaftlichen Nomenklatur stellt der Neuplatoniker Porphyrios dar, der in
seiner ἰή(Einführung in die Aristotelische Logik) eine Anleitung zur Kategorienschrift gibt. In ihr
werden fünf Allgemeinbegriffe verhandelt: Gattung (genus), Art (species), Unterschied (differentia),
charakteristisches Merkmal (proprium), zufälliges Merkmal (accidens). Zum Schluss tritt abrundend noch das
Individuum hinzu, das die Allgemeinbegriffe in sich konkretisiert. Siehe dazu: Friedrich Ueberwegs Grundriss
der Geschichte der Philosophie. – Die Philosophie des Altertums. – Herausgegeben von Karl Praechter. – 14.
Auflage. – Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1957, S. 610
606
217
(Graf, König, Bauer, Jäger). Eine diesbezügliche Ungenauigkeit zwischen Eigen- und
Gattungsnamen hebt noch nicht das Spezifikum des Namens auf: „Als das unbestreitbar
Besondere der Eigennamen gegenüber den Appellativen, den Begriffswörtern, bleibt das
erste Nennen.“608 Aus einigen Begriffsnamen werden zwar Eigennamen (so wird aus ὁ ἀή,
der Mann, der Vorname Andreas), das Nennen bleibt dennoch das Ursprüngliche.
Wucherer ortet in der Sprache eine Tendenz zu sauberer Begrifflichkeit, in der das
Allgemeine gleichsam an der Spitze steht, woraus sich hernach Konkretionen
herausdifferenzieren. Das führt folglich zu einer Geringschätzung des Namens – oder dessen,
der mit diesem Namen genannt wird: das Individuum ist ein Einzelfall des Allgemeinen.
Aufgabe und Funktion des Namens bestünden dann lediglich darin, den Einzelnen
(Namensträger) vor Verwechslungen zu schützen, er ist ein bloßes Erkennungsmal. Dabei ist
zu beachten, dass Sprache als verschriftlichte und in eine Grammatik gefasste ein
hierarchisches Regelwerk darstellt, die die gesprochene Sprache mit ihrem Umfang und in
ihrer Lebendigkeit nie zur Gänze einholen kann. Grammatik wie Schrift hinken sozusagen
stets hinterher, sie zeichnen nur auf bzw. analysieren, was zuvor längst schon stattgefunden
hat und mit jedem Wort neu anhebt: das Gespräch, in dem wir – du und ich – stehen, das wir,
nach Hölderlin, sind.
Angemahnt wird daher eine Besinnung auf das tatsächliche Gespräch. „Das
möglicherweise in der grammatischen Sprachbetrachtung verschüttete Phänomen des
Gesprächs ist vorsichtig wahrzunehmen, weil nur dieses uns den Zugang zur
Ursprünglichkeit des Phänomens ‚Namen’ verspricht.“609 Die Bedeutsamkeit des Namens
tritt erst im Sagen, Sprechen, im Nennen hervor und nur im Gespräch erhält der Name seinen
Rufcharakter. Gemeinhin versteht man unter Gespräch eine kommunikative Situation, in der
sich mindestens zwei Sprecher befinden, von denen einer jedoch zunächst schweigend
zuhört. Damit wird dem Hören eine konstitutive Rolle im Gespräch zugewiesen. „[...]
gesprochen wird normalerweise nur, weil gehört wird [...]. Das, worumwillen einer spricht,
ist, daß er gehört wird.“610 Hören ist in diesem Sinn die Voraussetzung für das Sprechen,
wenn dieses nicht ziellos in die Irre gehen soll. Die Rede hebt erst dann an, sobald jemand
gegenwärtig und (mit Namen) ansprechbar ist. Vorrangig ist dann auch nicht, dass über
dieses und jenes geredet wird, sondern dass zwei einander etwas zu sagen haben. Diese
Gesprächspartner werden sicher auch über etwas zu berichten wissen, das ihnen genauso gut
608
Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 164. Im Nennen liegt schon ein erster Hinweis
auf das dialogische Ins-Dasein-rufen der Gabe.
609
Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 169
610
Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 169
218
ein unbeteiligter Dritter mitteilen kann (Informationen, Nachrichten oder ähnliches). Dass
aber sie miteinander sprechen und einander zuhören – dazu bedarf es keines Dritten, weder in
Gestalt eines Moderators noch eines beide verbindenden Themas. Sprache ist in erster Linie
weniger ein „Reden über ...“, eher ist sie ein „Reden zu ...“, ein „Reden miteinander“.
Die Namen unserer Sprache sind in der Sprache, in der wir sprechen, und noch
ursprünglicher gesehen, im Gespräch zuhause. Sprache hat da gegenüber allen
nachträglichen Abstraktionen, Verwendungen und Aufbewahrungsweisen die
Möglichkeit zur Leibhaftigkeit, zum Vollwort, zu vollem Ernst und unverbrüchlicher
Verbindlichkeit. Lassen wir uns vom methodischen Axiom leiten, wonach eine
Sprache ursprünglich nur dann und dort verstanden werden kann, wann und wo sie
sich in ihrer weitesten und tiefsten Möglichkeit zu zeigen und mitzuteilen vermag,
dann hat Sprache ihre ursprüngliche phänomenale Zugänglichkeit in der
Gesprächssituation, im Dialog. [...] Im Geschehen des Gesprächs, wann und wo
Menschen leibhaftig füreinander da und einander gegenwärtig sind, einander
anblicken, in der gegenseitigen Verbindung von Hörer und Sprecher nicht nur über
Gehörtes und Gesprochenes zur vollen Übereinstimmung kommen, sondern selbst,
persönlich, in der weltoffenen Weite ihres Selbst-seins übereinstimmen, da ist für ein
ursprüngliches Sprachverständnis der Erstzugang.611
In der für jedes echte Gespräch wesentlichen Selbstmitteilung geschieht so etwas wie
Selbstwerdung – vorausgesetzt, der Dialog ist authentisch und die Gesprächspartner üben
kein Rollenspiel. Das Gespräch ist daher auch identitätsstiftend, vor dem Wort des Anderen,
das an mich ergeht, kann ich mich nicht vertreten lassen; ich bin es, der es vernimmt und
meine Antwort
ist
gefragt.
Aufrichtigkeit
im
Dialog war nie und
ist
keine
Selbstverständlichkeit, allzu groß ist die Angst, sich in der Rede zu blamieren, etwas schon
Gesagtes zu wiederholen oder für sich und die eigene Sicht der Dinge einzustehen. Und doch
ist die Öffnung im Gespräch, selbst mit dem Risiko des Missverständnisses, die einzige
Weise, aus diesem Gespräch bereichert hervorzugehen, sich selbst wie den Anderen ein
Stück weit „erkannt“ zu haben. Gewissermaßen kommen wir erst im Dialog zur Welt:
Indem sie [die Gesprächsteilnehmer, Anm.] selbst zueinander sprechen dürfen und
selbst gehört werden – und nicht nur etwas gehört wird –, werden sie sich selbst
wiedergegeben, empfangen sie erst ein menschenwürdiges Dasein. Niemand kann ja
auf Dauer unangeredet und unbenannt sein. [...] Geschieht namentlicher Anruf, dann
heißt dies soviel, wie zum Sein (Da-sein in der Offenheit der Welt des
Miteinanderseins) gerufen werden.612
Ein Gespräch, ein vertrautes, intimes zumal, wird mit dem Nennen des Namens eröffnet;
dabei braucht nicht ständig der Name wiederholt zu werden, denn Name meint im weiteren
Sinn schon die Anwesenheit seines Trägers, des Benannten. Biographisch bzw.
psychologisch sind wir wohl in erster Linie passiv Angesprochene, die Sprache geht nicht
von mir aus (Ich als grammatikalisch erste Person), sondern vom Anderen (das Du als zweite
611
612
Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 171
Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 172
219
Person ist also die ansprechende, eigentlich erste Person). Das gilt bestimmt für die Welt des
Kindes, das in seiner Entwicklung auf andere bezogen und von ihnen abhängig ist. Dieser
Bezug zu Mitmenschen – vorausgesetzt, er ist von Zuspruch und Vertrauen getragen – hält
sich über das gesamte Leben hin durch, sodass der Erwachsene, die reife Person nun
ihrerseits die Initiative ergreift und andere auf deren Sein hin namentlich anzusprechen
vermag, d.h. sich ihnen mitteilend öffnet.
Mit Namen werden stets nur Personen genannt, jedes Individuum trägt seinen
Eigennamen, der nicht mit dem Begriff zu verwechseln ist. Begriffe sagen allgemeine
Merkmale einzelner Gegenstände aus; der Begriff ist „[...] eine allgemeine Vorstellung oder
eine Vorstellung dessen, was mehreren Objekten gemein ist, also eine Vorstellung, so fern
sie in verschiedenen enthalten sein kann.“613 Beim Begriff unterscheidet man den Inhalt
(Gesamtheit der Begriffsmerkmale) vom Umfang (die Gegenstände, von denen der Begriff
ausgesagt werden kann). Gemeinhin nimmt bei steigender Inhaltsfülle der Umfang ab.614
Während ein Begriff meistens mehrere Gegenstände unter sich versammelt, bezieht sich der
Name auf ein „Objekt“, und zwar qualitativ und nicht numerisch, weswegen auch mehrere
Menschen den selben Namen tragen können. Der Eigenname ist ein Begriff von höchstem
Inhalt (Intension), der sich in seinem Umfang (Extension) auf ein Exemplar beschränkt – der
Namensträger.
Der Stellenwert des Namens ist in der Logik, aber auch in der Sprachwissenschaft
nicht eindeutig und unumstritten. Zuweilen wird der Name dem Begriff zugeschlagen,
manchmal fungiert er als äußerlich angebrachtes Identifikationszeichen eines Dinges – beide
Auffassungen sind nicht gänzlich falsch, doch gehen sie am Wesentlichen vorbei.
Erkundige ich mich nach dem Namen, so suche ich eigentlich keine Auskunft über
etwas und von etwas zu erlangen, es wird kein Sachverhalt enthüllt, sondern es will
möglich gemacht werden, daß jemand (oder etwas) überhaupt erst zu Wort kommen
soll. Die Anrede ist keine Aussage, in der über einen Anderen etwas gesagt wird,
sondern sie pro-voziert seine Um- und Zuwendung. Spreche ich jemanden an, so rufe
ich ihn in meine (unsere) Gegenwart.615
Namentliche Nennung meint also die reale Gegenwart des Anderen, nicht bloß dessen
Vorstellung oder gar Einbildung. Der Name bildet den Raum der Anwesenheit des
Gerufenen, in dem dieser zur eigenständigen Antwort gerufen (pro-vocare) ist. Relevant ist
ein Name dann, wenn sich der Genannte gerufen weiß – wenn er seinen Namen hörend
613
Kant, Immanuel: Logik, in: ders.: Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. – Bd. 3. –
Schriften zur Metaphysik und Logik. – 5., erneut überprüfter reprograf. Nachdr. der Ausg. Darmstadt 1958,
Sonderausg. – Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998, A 139f
614
Ausführliches dazu bei Menne, Albert: Einführung in die Logik. – 5., unveränderte Aufl. – Tübingen ; Basel :
Francke, 1993. – (UTB für Wissenschaft ; 34), S. 26f
615
Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 180
220
vernimmt und übernimmt616 – und nicht nur verbal, sondern mit seinem Dasein als
Miteinandersein antwortet:
Im Gespräch, in dem wir einander verstehen lernen und nahekommen, hat das
Miteinanderreden seine größte Dichte und Tiefe: Sprechen wir zueinander, so
sprechen wir einander an, finden wir einander „ansprechend“ vor. Wir stehen
einander gegenüber und zueinander im Verhältnis von „Du“ und „Du“. Dieses
Weltverhalten in persönlicher Zuwendung, Aug in Aug, für-einander aufgeschlossen
und da, ist als ursprünglichstes „dialogisches“ Weltverhalten auch der ursprüngliche
Zugang zur Erfahrung der Sprache und damit des Namens.617
Was im ursprünglichen Weltverhalten, das einen Zugang zum Namen bahnt, wie
selbstverständlich scheint, stellt sich im näheren Blick nicht so klar und deutlich dar – ist der
namentlich genannte Andere ein Einzelfall eines Allgemeinen, ist er die Verkörperung einer
Idee, die „Mensch“ genannt wird? Wie steht es dann um die Entwicklung der Fähigkeiten,
die in diesem Einzelfall angelegt sind, trennen diese ihn von der Gattung? Was ist am
Einzelnen, in diesem Fall Du und Ich, so einzigartig, dass es sich gegen die Subsumierung
unter das Allgemeine sträubt? Im konkreten Menschen trifft viel in diskreter Weise
aufeinander: er vertritt die species homo sapiens sapiens, er bewohnt und teilt mit anderen
einen Erdteil, logisch weiß er sich als Einzelfall eines Allgemeinen oder er schätzt sich
glaubend als Abbild Gottes. All diese vorläufigen Bestimmungen dringen nicht zu dem vor,
das erst im Ruf des Namens gegenwärtig wird. Ein Einzelwesen, das zwar ein Exemplar
seiner Gattung darstellt, diese aber doch individuell übersteigt, ist begrifflich nicht einholbar
ohne von seiner Einzigkeit abzusehen. Für die Kontroverse Name-Begriff ergibt sich daher
folgendes:
Erblickt man im Namen einen Einzelbegriff, dann entsteht die ausweglose
Problematik, wie der Begriff für das gebildet werden kann, was nicht Exemplar einer
Gattung ist, ein nicht-identisch und nicht austauschbar Bestimmtes, eine vom
Allgemeinbegriff her gesehen niemals bestimmte und bestimmbare Negation.618
616
B. Waldenfels macht darauf aufmerksam, dass der Eigenname im Zeichen der „Ansprache“ steht und im
Gespräch verortet ist: „Der Rufname gehört in die Dimension der Anrede, die Benennung in die des Beredens.
Seiner Herkunft nach ist der Rufname ein Name, den der Antwortende empfängt, auf den er hört und antwortet
und mit dem er sich antwortend zur Stelle meldet [...], während die bloße Benennung dem Namensträger
anhängt wie ein Erkennungszeichen oder ein Etikett, das angibt, wer oder was jemand oder etwas ist. Es gibt
also eine Namensgebung, die einen Namensempfänger hat, dem der Name verliehen wird, und eine
Namensgebung, die keinen Empfänger hat und im strengen Sinne auch ohne den Gebefall des Dativs
auskommt.“, in: Waldenfels, Bernhard: Antwortregister. – Frankfurt/Main : Suhrkamp 1994, S. 259f. Während
also der Rufname einer ansprechbaren und antwortfähigen Person gebührt, ist die Benennung die Identifizierung
eines Objektes durch einen Außenstehenden, der mit dem Benannten weiter gar nicht in Beziehung treten muss.
Folgerichtig führt Waldenfels aus, dass das Benennen einem Funktionalisieren oder „In-Betrieb-nehmen“ des
Benannten gleicht. Auf S. 260 heißt es: „Mit der Funktionalisierung des Namens schwindet die Möglichkeit, daß
der Benannte durch die, sei es erotische, polemische oder religiöse Namensgebung gewissermaßen ins Dasein
gerufen wird als Geliebter, Befeindeter oder Auserwählter.“
617
Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 181
618
Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 183
221
Setzt man den Namen nicht mit dem Begriff gleich, so offenbart sich die „[...] den Namen
eigene Bedeutungslosigkeit; außer daß sie jeweils Einzelne(s) aus dem Bereich nennen,
lassen sie sich nicht verstehen.“619 Der Name bewahrt damit das Eigentliche der Person, das
ansonsten „unsagbar“ bliebe. Dennoch ist eine klare Grenze zwischen Kennzeichnung und
Name nicht zu sehen. Eine Präzision ist hier jedoch anzubringen: statt „Kenntlichmachung“
bzw. Identifikation kann angemessener von ontologischer Selbigkeit des zu Nennenden
gesprochen werden: „Soll etwas benannt [...] werden, so setzt dies voraus, daß der, die oder
das sich situativ Zeigende in seiner ontologischen Selbigkeit vorverstanden sein muß.“620 So
erfasst der Name das Unerschöpfliche der Person, „außerhalb“ des Genannten ist der Name
daher auch ohne Bedeutung.
Ein Problem scheint allerdings die unklare Trennung von Name und Kennzeichnung
doch darzustellen, denn der Name wird ja einem Täufling etwa nicht einfach „umgehängt“,
der Eigenname ist kein Namenschild wie es z.B. ein Volksschulkind trägt, d.h. der Name ist
kein Gegenstand, der nachträglich mit einem anderen Gegenstand verbunden wird. Gesucht
wird also der Zugang zum Phänomen des Namens oder Heißens. Offenkundig besitzt das
Gerufen-werden Priorität vor der Benennung von Dingen und Menschen im Sinne der
Regulierbarkeit und Kontrolle über sie, die Beziehung geht der Objektivierung voran. „Der
Name, den jemand hat, gehört ihm aber nicht wie sein Eigentum, denn er hört auf ihn, er
wird durch ihn zur Verantwortung gerufen, worin sein Leben sich als ‚verliehen’, als Gabe
erweist.“621
Heidegger verdeutlicht, was es mit dem Heißen auf sich hat, indem er das Wort
philologisch und philosophisch analysiert:
„Heißen“ bedeutet kurz gesagt: ‚befehlen’, vorausgesetzt, daß wir auch dieses Wort
in seinem angestammten Sagen hören. Denn ‚befehlen’ meint im Grunde nicht:
kommandieren und verordnen, sondern: anbefehlen, anvertrauen, einer Geborgenheit
anheimgeben, bergen. Heißen ist das anbefehlende Anrufen, das verweisende
Gelangenlassen. Verheißung besagt: einen Zuruf zusprechen, so zwar, daß das hier
Gesprochene ein Zugesagtes, ein Versprochenes ist. Heißen meint: zurufend in ein
Ankommen und Anwesen gelangen lassen; zusprechend daraufhin ansprechen.622
Anders als ein anherrschendes Befehlen bedeutet das Heißen ein Zulassen (und Gutheißen)
des Seienden in dessen Anwesen. Das im Heißen genannte andere Seiende ist zugleich
„geborgen“, es steht in Obhut – was nicht mit Bevormundung zu verwechseln ist, die den
619
Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 188
Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 190
621
Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 194. In diese Richtung weist auch B.
Waldenfels: „Jemand, der einen Namen empfängt, hat ihn nicht zu eigen, er wird ihm zugeeignet, indem er zur
Antwort aufgerufen wird.“, in: Waldenfels, Antwortregister, S. 261
622
Heidegger, Was heißt Denken?, zitiert nach Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 194
620
222
Anderen weder nennt noch ihn zu Wort kommen lässt. Unter Obhut lässt sich vielmehr das
Seinlassen des namentlich Genannten verstehen, der als jener hervortreten soll, der er – als
von anderen Gerufener – ist. „Liebende und verständnisvolle Anrede spricht den
Angeredeten auf sein Sein hin an: ermutigt, erweckt, heißt ihn zu sein, weil sie ihn zur Gehörsamkeit und zum Gehorsam gegenüber seinem ureigensten Sein ruft.“623 Ein Name ist
also keine willkürliche Kennzeichnung eines Seienden, das eben auch da bzw. vorhanden ist,
sondern meint das „ureigenste Sein“ des Anderen. Im Heißen, Nennen und Rufen gelangt der
Andere in seine Anwesenheit und im Nennen des Namens wird so auch die Gabe des Daseins
(i.e. der Namensträger) offenbar. Im Vortrag Die Sprache schließt Heidegger dies weiter auf:
Das Nennen verteilt nicht Titel, verwendet nicht Wörter, sondern ruft ins Wort. Das
Nennen ruft. Das Rufen bringt sein Gerufenes näher. Gleichwohl schafft dies
Näherbringen das Gerufene nicht herbei, um es im nächsten Bezirk des Anwesenden
abzusetzen und darin unterzubringen. Der Ruf ruft zwar her. So bringt er das
Anwesen des vordem Ungerufenen in eine Nähe.624
Erst im Ruf ist die genannte Person tatsächlich da, während Namenlose (Anonyme) keine
eigene Geschichte ausbilden können.625 Freilich dient der Name auch der identifizierenden
Bezeichnung von Einzelwesen – man denke an die Nomenklatur in der Biologie –, primär
jedoch ist er die Gegenwart des Gerufenen. Gegenüber einer Sprachlogik, die den höchsten
Sinn und Zweck der Sprache im Begriff, im Erfassen und Identifizieren von Seienden
erblickt (instrumentalisierende Sprachauffassung) wird die Verwurzelung der Sprache in der
Lebenswelt der Sprechenden (und Hörenden) geltend gemacht, ohne jedoch den Wert dieser
Sprachlogik schmälern zu wollen:
Echtes Begreifen, Urteilen und auch das argumentierende Aufweisen des Grundes ist
immer, wenn auch nicht ausdrücklich, ein Nennen, und zwar nicht nur, weil es als
Sprechen etwas ins Wort ruft, sondern vielmehr deswegen, weil es mit dem
Einmaligen und Einzigartigen zu tun hat, das nur ins Wort kommt, wenn es mit
Namen gerufen wird.626
Dementsprechend ist der Begriff, der von Einzelwesen allgemein Geltendes zur Aussage
bringt, etwas innerhalb der Sprache nachträglich, also sekundär Auftretendes. Im
Vordergrund steht die Gegebenheit bzw. Konkretion des faktisch Begegnenden – dieses
verlangt Aufmerksamkeit und Würdigung, nachträglich erst ist es als Exemplar eines
Allgemeinen interpretierbar, das in seinem Erscheinen an die Welt gebunden bleibt. Das
623
Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 196
Heidegger, Unterwegs zur Sprache, S. 21
625
Davon ist das Pseudonym zu unterscheiden, unter dem manche gezwungen sind zu leben, weil sie sonst
politisch verfolgt oder aber von der Justiz belangt würden. Das berühmteste Pseudonym im Interesse des
Eigenschutzes ist wohl der „Keiner“, „Niemand“ (ὖ), als der sich Odysseus bei dem Kyklop Polyphem
vorstellt.
626
Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 201
624
223
Nennen, mit ihm das Rufen des Namens (in die Anwesenheit oder Gegebenheit des Daseins)
erfolgt je in einer bestimmten Situation, die ihren eigenen Ort zu einer gewissen Zeit „hat“.
Wucherer-Huldenfeld nennt es das Verdienst B. Waldenfels’, diesen Zusammenhang
herausgestellt zu haben:
Aber selbst die Wörter, die aus dem Ganzen allgemeine Wesensarten und
Eigenschaften herausgreifen, die sich im Einzelding beliebig konkretisieren,
bewahren sich etwas vom Eigennamen, der das Konkrete selbst meint und nicht
etwas an ihm. Denn das Wort weist ja von sich aus zurück auf eine bestimmte,
eigentümliche oder typische Situation, in der es erstmals etwas bedeutete. Was aber
auf diese Weise anfänglich zu Wort kam und als solches auftrat, war noch ein
einzigartiges Ereignis, war noch kein exemplarischer Fall. Weil im Wort, konkret in
den Worten, diese Anfänge aufbewahrt sind, steckt in ihm mehr als ein allgemeiner
Sinn, bezeichnet es nicht bloß ein Allgemeines, sondern benennt auch ein
Einmaliges.627
In weiterer Folge hebt Waldenfels denn auch die Einzigartigkeit des Du (oder: deine
Einzigartigkeit) hervor, ohne das Allgemeine des je Anderen abzuwerten; dabei wahrt er die
Differenz von „Du“ und „Du schlechthin“. Das in der Beziehung, im Gespräch, in der Liebe
begegnende Du ist „[...] jeweils mein wirkliches Du, nicht der Fall einer allgemeinen
Wesensmöglichkeit, sondern die Wirklichkeit, die künftige Möglichkeiten eröffnet,
vergangene aufbewahrt [...].“628 Auch er kennt eine „Kontinuität der Erfahrungsreihe“, wie
sie von Schaeffler später so genannt wurde. Diese Kontinuität lässt sich – um Kontinuität
sein und bleiben zu können – nur am einmaligen Du konstatieren, wiewohl selbst dieses
einzigartige Du noch abstrahierbare Merkmale der Persönlichkeit trägt und Grundweisen des
Daseins mit sämtlichen anderen Menschen teilt. Die Fragesituation, ob das Allgemeine vor
dem Einzelnen Priorität besitze oder ob nicht doch im Singularen das Generelle erkannt
werde, entsteht nämlich nur dann, „[...] wenn man über dem allgemeinen Schema die
lebendige Beziehung vergißt, der es entnommen ist [...].“629 Der „lebendigen Beziehung“
dient das Allgemeine als Hintergrund, sie ist insofern auch ein Exemplum dessen, vor allem
auch deshalb, weil im begegnenden Du die gemeinsame Welt – nun neu und mit anderen
Augen gesehen – erscheint.630 Was sich im Generellen, ja sogar im Unscheinbaren durchhält,
ist das Selbstsein des Anderen.
627
B. Waldenfels, Das Zwischenreich des Dialogs, S. 287
B. Waldenfels, Das Zwischenreich des Dialogs, S. 291
629
B. Waldenfels, Das Zwischenreich des Dialogs, S. 293
630
Die Kontroverse um den Vorrang des Allgemeinen oder des Einzelnen ist auch durch die Faktizität der
Begegnung bedingt: ich begegne dir und nicht etwa einem Generellen, und zwar so, wie du eben bist. Ich stehe
damit also mit dir in einer Beziehung – und nicht mit irgendeinem anderen. Diese Situation wird zudem noch
durch die Zeit und den Raum konkretisiert, in dem ich dich antreffe. So erst wird die Begegnung zu einer
lebensgeschichtlich womöglich bedeutsamen. „Wie diese unsere Welt nicht bevorzugt ist auf Grund einer
besonderen Qualität, etwa als die beste aller Welten, sondern einzig deswegen, weil sie unsere wirkliche Welt
ist, so beruht auch die Ausschließlichkeit der Ich-Du-Beziehung, die einseitige Bevorzugung dieses Du nicht auf
einem qualitativen Vorzug, sondern zuvörderst auf der Jeweiligkeit seiner aktuellen und sich in gemeinsamen
628
224
Versteht sich der Mensch, oder verstehen Du und Ich einander als solche, die in ihr
Eigensein freigegeben und bei ihrem Namen gerufen werden, so sind sie „[...] in horchendvernehmender Offenständigkeit in die Rufbarkeit von allem eingelassen.“631 Der Ruf
allerdings erreicht nur die, die ihn anzunehmen bereit sind, also jene, die hören. Das äußerst
vielschichtige und komplexe Phänomen des Hörens ist Gegenstand zahlreicher
interdisziplinärer Untersuchungen632, darum hier nur einige Notizen, die die Bedeutung des
Hörens für das Begegnungsdenken aufzeigen mögen.
Die philosophische Tradition hat das Hören (als einen der fünf Sinne wie als
Phänomen) allzu lange nicht recht beachtet; es wurde lediglich als Komplementärphänomen
des Sprechens gehandelt, als rezeptiv-passive Reaktion auf ein Angegangen- bzw.
Angesprochenwerden. Der Fokus auf Sprechakte blendet die Antworten aus, obwohl
Sprechakte erst dann sinnvoll gelingen, nachdem sie ein Hörer entsprechend aufgenommen
hat. Während der Akt des Sehens Ursprünglichkeit, Authentizität, mithin eben Echtheit
beanspruchen darf, wird das lediglich Gehörte gerne auf die Qualität eines übelwollenden
Gerüchts herabgestuft. Das Hören repräsentiert damit eine abkünftige Weise der
Wahrnehmung, das Gesehene erst wird mit voller Geltung für wahr befunden. Doch selbst
das Sehen bedarf zuweilen der Unterstützung durch Zuhilfenahme eines weiteren Sinnes,
etwa des Greifens und Tastens, der die Gültigkeit der Evidenz bestätigen soll.633 Ist einmal
dem Gesichtssinn der Vorrang eingeräumt, so werden die anderen Sinne in ihrer Bedeutung
und Verlässlichkeit herabgestuft. Wer in diesem Zusammenhang die Eigenständigkeit des
Hörens betont, gerät selbst leicht in den Verdacht der „Hörigkeit“, die das authentische
Verstehen Meinungen anderer unterordnet.634 Das Seh- und das Hörfeld jedoch sind,
aufgrund der Verschiedenheit der Sinne, nie deckungsgleich: ein Gesehenes ist als solches
Lebensverhältnissen habitualisierenden Gegenwart. Jede Qualifizierung wäre ein Vergleichen und würde das
unvergleichbare Selbstsein des Andern aus dem Auge verlieren. Dieses Du ist im Augenblick der Zuwendung
das Du. Der Auftritt des Du ist im strengen Sinn grundlos, weil unvermittelt, grundlos wie das Sein der Welt,
Gegenstand des Staunens, nicht der Erklärung.“, in: Waldenfels, Das Zwischenreich des Dialogs, S. 294
631
Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 200
632
Aus der zahlreichen Literatur sei nur erwähnt: Espinet, David: Phänomenologie des Hörens : Eine
Untersuchung im Ausgang von Martin Heidegger. – Tübingen : Mohr Siebeck, 2009; ebenfalls
phänomenologisch orientiert: Pöltner, Was heißt hören? Theologisch Relevantes bringt Raymund Schwager zur
Diskussion: Hörer des Wortes : Eine empirische Anthropologie für die Theologie? (Karl Rahner – Alfred
Tomatis – René Girard), in: Zeitschrift für Katholische Theologie 114 (1992), S. 1-23. Anthropologisch
Fundamentales bei Tomatis, Der Klang des Lebens. Vorgeburtliche Kommunikation – Die Anfänge der
seelischen Entwicklung.
633
Eine Illustration dafür gibt der Ungläubige Thomas, der sieht und dennoch nicht glaubt, der also dem
Wahrgenommenen – dem Auferstandenen – überhaupt nicht recht zu entsprechen vermag.
634
Dazu B. Waldenfels, Antwortregister, S. 247: „Verwandt hiermit ist die Opposition gegen ein Hören, das die
Eigenheit des Verstehens fremden Meinungen opfert und in eine Abhängigkeit hineingerät, die sich in einer
Haltung des Gehorsams oder gar der Hörigkeit auswirkt. ‚Fides ex auditu’ ist so gesehen eine Formel, die eine
Fremdbestimmung zum Ausdruck bringt. [...] Hier bleibt zu fragen, ob nicht das Hören der Rede selbst
eingeschrieben ist bis hin zum Hören des eigenen Sagens, das aus dem Schweigen kommt.“
225
nicht schon ein Gehörtes (wenn man von Fällen der Synästhesie absieht). Doch damit ist das
Hören noch nicht rehabilitiert oder gewürdigt, denn selbst Sprechen und Hören, die gerne als
einheitlicher Wahrnehmungsakt aufgefasst werden, entfalten sich in verschiedenen
Erfahrungshorizonten – das, worüber gesprochen wird, muss nicht immer das zu Gehör
Gebrachte sein.
Waldenfels löst das Hören aus seiner scheinbaren Passivität, indem er in ihm eine
ursprüngliche Weise der Antwort erblickt: „Wir antworten nicht auf das, was wir hören,
sondern wir antworten, indem wir etwas hören.“635 Werden Hören und Antworten
solchermaßen identifiziert, dann sind sie nicht als (psychische bzw. physiologische) Reaktion
auf äußere Reize interpretiert, sondern zeigen sich als „horchend-vernehmende Offenheit“636
Phänomengetreu treffender muss man deswegen sagen: wir selbst hören – nicht das Ohr:
„Doch ausgestattet mit unseren Ohren hören wir durch das Ohr (als vermittelndes
Sinnesorgan). [...] Das funktionstüchtige Gehörorgan ist also nur eine relativ notwendige,
aber keinesfalls zureichende Bedingung für unser Hören.“637 Das Hören ist mehr und
qualitativ anders als eine bloße Funktion des Körpers; so kann selbst der nahezu taube
Beethoven noch tiefe Musik komponieren, weil er das „Wesen der Dinge“ zu hören vermag.
Umgekehrt und uns viel geläufiger ist das Überhören des Anderen oder das Weghören,
welches an Menschen ohne entsprechenden Befund einer Hörbeeinträchtigung auffällt. Dass
diese nicht „zuhören“, liegt nicht am durchaus tauglichen Ohr. Um angemessen hören zu
können, bedarf es mehr als eines einsatzbereiten Organs, denn das Hören ist mehr als das
bloße Registrieren von Umweltgeräuschen – es ist „eine existenzielle und existenziale Weise
unseres Weltbezugs“638.
Warum hören wir aber überhaupt? Gewiss wäre es bequemer, manches ungehört zu
übergehen, dann wäre jedoch auch unser Weltbezug abgeschnitten und verkürzt, denn indem
wir hören, verhalten wir uns zur Welt und zu dem in ihr Begegnenden.639 Alles ist sprachlich
durchherrscht; selbst Unbelebtes oder Vegetatives geht uns in einer Weise an, die
Sprachcharakter trägt. Um es wieder mit Gadamer zu sagen: „Sein, das verstanden werden
kann, ist Sprache. [...] So reden wir [...] ja überhaupt von einer Sprache, die die Dinge
635
B. Waldenfels, Antwortregister, S. 250
Wucherer-Huldenfeld, Augustinus Karl: Philosophische Theologie im Umbruch. Erster Band :
Ortsbestimmung : Philosophische Theologie inmitten von Theologie und Philosophie. – Wien : Böhlau, 2011, S.
236
637
Wucherer-Huldenfeld, Philosophische Theologie im Umbruch, S. 235f
638
Wucherer-Huldenfeld, Philosophische Theologie im Umbruch, S. 237
639
Gadamer bemerkt dazu: „Die Sprache ist nicht nur eine der Ausstattungen, die dem Menschen, der in der
Welt ist, zukommt, sondern auf ihr beruht, und in ihr stellt sich dar, daß die Menschen überhaupt Welt haben.
Für den Menschen ist die Welt als Welt da, wie sie für kein Lebendiges sonst Dasein hat, das auf der Welt ist.“,
in: Gadamer, Hans-Georg: Gesammelte Werke I : Hermeneutik : Wahrheit und Methode. – 1. Grundzüge einer
philosophischen Hermeneutik. – 6. Auflage. – Tübingen : Mohr, 1990, S. 446f
636
226
führen.“640 Im mitweltlichen Umgang, erst recht im liebenden Miteinander bedeutet das
Hören das „Einräumen“ der „Räumlichkeit des Einander, des Ich und Du“.641 Im Einräumen
eines Hörraumes, im Platzmachen für dich bildet sich der Raum, den Liebende einander
gewähren; sie bilden als Wir-Raum eine „Heimat“, wie Binswanger betont.642
Phänomenologisch pointierter formuliert es Wucherer-Huldenfeld:
Dass wir überhaupt hören, weil wir uns selbst immer schon auf das Selbstsein, das
ein Miteinanderdasein ist, verstehen. Hören ist seinem Wesen nach ein Horchen, eine
Weise offenständigen Eksistierens, ein Horchen auf das, was ist, was sich uns als
Seiendes in seinem Sein zuspricht. [...] Wir hören erst wahrhaftig und einander zu
nach Maßgabe unserer Anteilnahme an der Welt und am Selbstsein Anderer, d.h.,
wenn wir einander selbst mitteilen, einander unser Wesen eröffnen und schenken.
Ursprünglich hören wir, wenn wir einander zuhören, mit dem Gehörten mitgehen,
ihm „gehorchen“ und in der Offenheit des Horchens so da und anwesend sind, dass
wir ganz Ohr füreinander werden.643
640
Gadamer, Gesammelte Werke I : Hermeneutik : Wahrheit und Methode, S. 478. In unnachahmlicher Weise
hat Francis Ponge diese Poetik der Dinge vorexerziert, wenn er mit phänomenologischem Gespür das Wesen
eines alltäglichen Gebrauchsgegenstandes, eine Seife etwa, zur Sprache kommen lässt und es damit dem Leser
zu Gehör bringt.
641
AW 2, 72
642
So in den Grundformen: „Wenn die Liebenden sich einander einräumen, sind sie nicht unendlicher ‚Raum
und Weite’ schlechthin im Sinne der schlechten Unendlichkeit, sondern ‚Heimat von Mir und Dir’, und schon
das heißt gestalthafte Unendlichkeit. Daß sie auf dem Grunde dieser Einräumung sich einander schenken,
bedeutet schon eine Entfaltung dieser Einräumung und Ewigung der Wirheit in die liebesdialektische
Bewegungsgestalt von Einsamkeit und Zweisamkeit, von Ich-selbst und Du-selbst: Wirheit.“, in: AW 2, 122
643
Wucherer-Huldenfeld, Philosophische Theologie im Umbruch, S. 238
227
Schlusswort
Die Grundstrukturen liebenden Miteinanderseins zeichnen, wie Binswanger sie dargelegt hat,
keinen geradlinigen, „eindimensionalen“ Umriss des Menschen bzw. des Ich und des Du,
dazu ist das Phänomen „Mensch“ zu vielgestaltig und zu komplex, dementsprechend
beschränkt er sich auf die Grundformen menschlichen Daseins. Philosophiehistorisch reiht er
sich damit in die Linie des dialogischen Denkens ein, das seinen Ausgang nicht bei einem
isolierten „Ich denke“ nimmt, welches den Boden jeglicher Erfahrung bilden soll. Umgekehrt
dringt auch ein Ausgang vom gesellschaftlichen Sein nicht zum Du und zu dessen Bezügen
zum Ich vor. Der Andere wird demnach auf einer außergesellschaftlichen Ebene angesiedelt,
und zwar so, dass die zwischenmenschliche Beziehung nunmehr ontologischen Rang hat.
Begegnung und Beziehung sind dem Menschen nicht äußerlich, sie sind nichts Beiläufiges,
das man entweder pflegen oder bleiben lassen kann. „Der einzelne Mensch ist nicht durch
sich selbst, er ist immer schon durch die Beziehung zum andern, zum Du, konstituiert.“644
Indem Binswanger mit dem liebenden Miteinandersein von mir und dir einen
unhintergehbaren Ausgangspunkt wählt, suspendiert er nicht nur ein selbstbezügliches
Subjekt, er schließt auch die Gesellschaft als Konstituens des Ich und des Du aus. Vielmehr
etabliert er sein Konzept in der Auseinandersetzung mit Ebner, Löwith und Buber, allen voran
aber mit Heidegger. Ergründet die Dialogphilosophie das Wesen der Begegnung, so bietet
Heideggers Denken ein solides Fundament für die tatsächliche Welthaftigkeit ebendieser
Begegnung. Binswanger spannt sozusagen das dialogische Denken mit dem Seinsdenken
Heideggers zusammen. Die Folgen davon sind bekannt: Binswanger erkennt sein
„anthropologisches Missverständnis“ der Existenzialanalytik, gleichwohl sucht er die Liebe
ontologisch zu verankern. Heideggers Reaktion ist ebenfalls bekannt: äußert er sich anfangs
positiv und erfreut über die Rezeption seines Denkens, so wird der Ton zunehmend kritischer,
deutlich tritt dies in den Zollikoner Seminaren zutage. Anlässlich des Erscheinens der
Grundformen würdigt Heidegger deren Autor ob des Phänomenreichtums, der in ihnen
vorgestellt wird, ihm bleiben aber auch die anthropologischen Bestrebungen Binswangers
nicht verborgen. In einem Brief vom 24.02.1947 versichert Heidegger gegenüber Binswanger:
Trotzdem Sie Ihren Weg klar abgrenzen gegen den Versuch, der einmal
Fundamentalontologie hiess, trotzdem Sie innerhalb dieser Abgrenzung über S. und
Z. [Sein und Zeit, Anm.] hinaus in einen höheren Bereich des Menschlichen
vordringen, wird man bei der üblichen Art, die mit Namen, Titeln und Richtungen
644
Pannenberg, Wolfhart: Anthropologie in theologischer Perspektive. – 2. Aufl. – Göttingen : Vandenhoeck &
Ruprecht, 2011, S. 174
228
rechnet, zunächst an der törichten Vorstellung hängen bleiben, dass Sie die
abgewandelte Begriffssprache von S. u. Z. in die Psychopathologie übertragen und
durch Philosophie die Wissenschaft gefährden.645
22 Jahre später revidiert Heidegger in einem Gespräch mit Medard Boss seine frühere
Auffassung:
Das völlige Mißverstehen meines Denkens verrät Binswanger am krassesten durch
sein Riesenbuch ‚Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins’. In ihm glaubt
er, die Sorge und Fürsorge von ‚Sein und Zeit’ durch einen ‚dualen Seinsmodus’ und
durch ein ‚Über-die-Welt-hinaus-sein’ ergänzen zu müssen. Damit bekundet er aber
lediglich, daß er das grundlegende Existenzial, Sorge genannt, als eine ontische
Verhaltensweise im Sinne eines trübsinnigen oder bekümmert-fürsorglichen
Benehmens eines bestimmten Menschen verkennt. [...] In solchem In-der-Welt-sein
als Sorge gründen deshalb auch alle ontischen Verhaltensweisen der Liebenden wie
der Hassenden wie des sachlichen Naturwissenschaftlers usw. gleich ursprünglich.646
Sorge als Existenzial hat einen ontologischen Stellenwert, daher bietet die Daseinsanalytik
„keine bloße Beschreibung ontischer Daseinsphänomene“647. Solch eine bloße Beschreibung
ist auch für Binswanger nicht ausreichend, um das Phänomen des Menschlichen angemessen
würdigen zu können; ihm geht die Diskussion um die Eigentlichkeit des Daseins nicht weit
genug. Wo Heidegger vom Dasein als je meines spricht, ergänzt Binswanger dieses um das
Dasein als je deines und unseres. Eigentlichkeit fasst Binswanger als Einsamkeit, in der das
geliebte Ich bzw. Du zu sich selbst kommt – sie ist keine isolierende, sondern in ihr bin ich
mir in Eigensein gegeben. Man kann mit Angela Zabulica die seltenen Hinweise auf ein
genuines Miteinandersein und die „fehlende Beteiligung der Anderen“648 bedauern, doch
trifft dieser Einwand nicht das Denken Heideggers, das sich als Seins- und Grunddenken
versteht. Dass es ihm darin auch um den Menschen geht, beweist gerade die existenziale
Analytik (da auch die Todesanalyse). Einen weiteren, durchaus populären Kritikpunkt bildet
die Faktizität; Dasein wird als Seinmüssen, als widrige Last interpretiert. Hier wird allerdings
ein Ergebnis der Daseinsanalytik (eben die Faktizität) existenziell verstanden. Die Tatsache,
dass uns Sein überantwortet ist, erscheint erst auf pessimistischem Hintergrund
bedrückend.649 An dieser Stelle berühren Heidegger und Binswanger einander – dem Dasein,
dem es um sein Sein selbst geht, wird Sein zugesprochen, gewährt – es darf sein.
645
Briefe und Briefstellen, in: AW 3, 340. Unter dem „höheren Bereich“ darf man wohl die liebende Dualität
vermuten.
646
Heidegger, Zollikoner Seminare, S. 286
647
Heidegger, Zollikoner Seminare, S. 151
648
Zabulica, Angela: Endlichkeit und Mitsein : Ludwig Binswangers kritische Auseinandersetzung mit der
existenzialen Analytik am Beispiel der Fallstudie Ellen West, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 5
(2006), S. 285-323, hier S. 297
649
Wucherer-Huldenfeld nimmt in der Faktizität einen ethischen Anspruch wahr: „Der schlichte Anspruch zu
sein, die Herausforderung zu werden, der du bist, und zwar auf Grund dessen, was nur du – und niemand anderer
– zu sein (und nicht zu sein!) vermagst. Dass es Sein gibt und du zu sein hast, d.h. dass es dir gegeben ist, besagt,
es ist die aufgegeben, Auf-gabe. [...] Dass wir nichts anderes als nur zu sein haben, heißt dann erst: dass es dem
229
Zwar geht natürlich auch die Daseinsanalyse [...] davon aus, daß das Dasein seinen
Grund nicht selbst gelegt hat, hingegen weiß sie von einer Freiheit zum Grunde, einer
Freiheit im Sinne der Selbstverantwortung [...], und weiß sie von der Gnade der
freien Begegnung von Ich und Du in der Liebe. Wie immer man diese Freiheit
metaphysisch oder religiös verstehen will, die Daseinsanalyse hält sich an die
Tatsache, daß das Menschsein nicht nur ein Seinmüssen, sondern auch ein
Seinkönnen und Seindürfen, ein Geborgensein im Sein als Ganzem ist.650
Eine weitere Parallele bei allen Differenzen zu Heidegger zeigt sich in der Singularität oder
im Sein-zum-Grunde: das liebende Ich (und desgleichen das Du), das aus dem Wir in
Einsamkeit heraustritt, besinnt sich seines Grundes, den es vom Du empfangen hat; aus einer
weiteren Perspektive denkt Heidegger das Sein als Grund des Seienden. Das Dasein, das
umwillen seiner und des geliebten Du existiert, verdankt sich dem Grund, der ihm Sein
zuschickt. Der Grund spaltet sich scheinbar in „zwei Gründe“ (das Sein, welches zu sein gibt
und das liebende Wir), der Grund der Singularität und der Grund der Dualität ist einer: „Der
Grund als meiner und der Grund als unserer ist gleicherweise Geheimnis. Der Unterschied
kann daher nur in der Weise des Seins zum Grunde hier und dort gelegen sein.“651
Auf die Bezüge Heideggers zum Begegnungsdenken kann hier nicht in gebührender
Weise eingegangen werden, einige Anmerkungen sollen jedoch auf seine Bedeutung
hinweisen. Dasein als In-der-Welt-sein ist nicht nur besorgend beim Zeug, sondern vor allem
ist es Mitsein; stets betont Heidegger, das Sein mit Anderen sei ontologisch verschieden vom
Sein zu nicht daseinsmäßigen Seienden. Das eigentliche Selbstsein des Daseins führt nun
nicht, wie man vermuten könnte, in Isolation oder Solipsismus, vielmehr bildet es das
eigentliche Sein mit Anderen.
Die Entschlossenheit zu sich selbst bringt das Dasein erst in die Möglichkeit, die
mitseienden Anderen „sein“ zu lassen in ihrem eigensten Seinkönnen und dieses in
der vorspringend-befreienden Fürsorge mitzuerschließen. [...] Aus dem eigentlichen
Selbstsein der Entschlossenheit entspringt allererst das eigentliche Miteinander, nicht
aber aus den zweideutigen und eifersüchtigen Verabredungen und den redseligen
Verbrüderungen im Man und dem, was man unternehmen will.652
Für Binswanger jedoch ist erst dann von eigentlichem Selbstsein die Rede, wenn dieses sich
selbst vom Du empfängt.653 Was Heidegger der Sphäre der vorspringend-befreienden
Fürsorge zuschlägt, stellt sich bei Binswanger als Miteinandersein in Liebe heraus, die das
geliebte Du in seinem Sein belässt und es würdigt und fördert. Der der Heideggerschen
Dasein um gar nichts anderes gehen kann als um dieses Sein des Daseins selbst, und zwar in allem, was es sein
kann (Seinsverständnis, Seinkönnen), in allem, was es besorgt und wofür es für sich und Andere in Sorge ist.“,
Wucherer-Huldenfeld, Das ursprünglich Ethische im Ansatz von Heideggers „Sein und Zeit“, in: Esterbauer,
Reinhold (Hrsg.): Orte des Schönen : Phänomenologische Studien. Für Günther Pöltner zum 60. Geburtstag. –
Würzburg : Königshausen & Neumann, 2003, S. 217-237, hier S. 233
650
Der Fall Ellen West, in AW 4, 168
651
AW 2, 435
652
Heidegger, Sein und Zeit, S. 298
653
Vgl. AW 2, 116
230
Ontologie entnommene Gedanke des Sein-lassens ist für das dialogische Denken in
sämtlichen Ausformungen von grundlegender Bedeutung. So spannt Detlev von Uslar die
Frage nach dem Du mit der Frage nach dem Sein zusammen, das Mitsein von Ich und Du
wird unter deren Bezug zum Sein betrachtet. Das Sein, das dir zu sein gibt, ist jenes, welches
sich auch mir zuspricht: „Nur wenn beide in dem Selben gründen, aus dem Selben
ermöglicht werden, kann eigentliche Begegnung möglich sein.“654 Die Begegnung findet
demnach umwillen des Seins statt, dass in ihr zwei Menschen aufeinander zugehen, scheint
nachrangig zu sein.
Diese Sicht erinnert an Binswangers Tendenz zur Verallgemeinerung des Konkreten;
statt einem einzelnen Du begegne ich einem generellen Du oder der Duhaftigkeit überhaupt.
Innerster Grund und höchstes Motiv einer Beziehung ist nicht das Du, noch das Ich (also das
„Wir“), sondern das Sein:
Darum kann auch das Wesen der Begegnung des Daseins zum Dasein, sofern das
Dasein in ihr eigentlich sein kann, nicht der ontische Bezug eines ontischen Ich zu
einem ontischen Du sein [...]. Sondern das Wesen der Begegnung ist, daß das Dasein
in ihr eigentlich eksistieren, das heißt, zum Sein sein kann. Die Begegnung muß,
wenn sie eigentlich sein kann, das Seinsverhältnis des Daseins zum Sein des Du
selbst sein.655
In diesem Verständnis bildet das Du lediglich den äußeren Anlass zur Begegnung mit dem
Sein.
Zuletzt ist in diesem Kontext nochmals auf Fridolin Wiplinger hinzuweisen, der sein
personal-dialogisches Denken zu einem guten Teil Heidegger verdankt. Auch er erkennt den
Vorrang des Seins vor allem Ontischen an. Um in einen Dialog treten, um überhaupt lieben
zu können, muss sich das Sein vorgängig bereits „personal geoffenbart“656 haben:
Wenn also aus der Erfahrung des mitmenschlichen DU gezeigt wird, daß im Dialog
des Wahrheitswesens die Begegnung mit dem Sein Du-haften Charakter habe – dann
muß angenommen werden, daß allem zuvor schon das Sein selbst im LOGOS als DU
erschienen ist.657
Dialogisches Denken steht damit nicht nur unter dem Anspruch des Anderen, sondern auch
noch – vorgängig – unter dem des Seins, dem es zu entsprechen hat. Seinserfahrung ist
sodann gleichermaßen Erfahrung der Liebe.
Dann müßten wir dort am reinsten und tiefsten das Sein erfahren, wo wir dem
mitmenschlichen Du am reinsten und tiefsten begegnen, die unbedingteste Hingabe
leisten, das kühnste Wagnis, den freiesten Sprung, wo wir am deutlichsten die
654
Uslar, Vom Wesen der Begegnung, S. 96
Uslar, Vom Wesen der Begegnung, S. 97
656
Wiplinger, Dialogischer Logos : Gedanken zur Struktur des Gegenüber, in: Philosophisches Jahrbuch 70
(1962), S. 169-190, hier S. 188
657
Wiplinger, Wahrheit und Geschichtlichkeit : Eine Untersuchung über die Frage nach dem Wesen der
Wahrheit im Denken Martin Heideggers. – Freiburg/Breisgau ; München : Alber, 1961, S. 373
655
231
Erfahrung der Einzigartigkeit machen: in der Liebe. Und doch: was hier eigentlich
und zuletzt erfahren wird, ist weder das konkrete, einzigartige Du, noch das in ihm
sich offenbarende Du-hafte Sein, – sondern die Liebe selbst, der dialogische LOGOS
in seiner Inkarnation [...] – die Inkarnation der Liebe in Fleisch und Blut.658
Während bei Uslar stärker noch als bei Wiplinger der Seinsgedanke ins Zentrum rückt, lässt
sich bei Binswanger eine Absetzbewegung beobachten, die ihm die kritische Reaktion
Heideggers einbrachte. Dessen Interesse gilt der Verfassung des Daseins als In-der-Weltsein, das nach dem Sinn von Sein fragt. Die Bedeutung, die der Mensch bei ihm innehat, ist
darum nicht vernachlässigt oder an den Rand gerückt659, das bezeugt schließlich seine
Analyse der Existenzialien. Hier wäre auch der Ort gewesen, um mit Binswanger in ein
fruchtbares Gespräch zu treten, wenn dieser dem Begriff des Daseins als Sorge das liebende
Miteinander ergänzend gegenüberstellt. Die anthropologische Umdeutung ontologischer
Termini führt nicht zwangsläufig zum Scheitern seines Bestrebens, das letztlich den
Menschen in den Blick rücken möchte. Indem der duale Modus der Liebe als grundlegende
Form des Daseins aufzuweisen versucht wird, erscheint das Dasein als sorgendes nunmehr
als abkünftige Weise des In-der-Welt-seins.
Aber diese Frage [nach dem Menschsein in seinem Vollsinn, Anm.], obgleich
anthropologisch verfaßt, erhebt sich auf die ontologische Höhe der
Existenzialanalytik und macht dem Dasein als „Sorge“, als „Jemeinigkeit“ und
„Faktizität“ den ersten Rang streitig. Das Wesen des Menschen ist erst dann
angemessen bestimmt, wenn der liebenden Begegnung, dem „dualen Modus“ der
ontologische Vorrang eingeräumt wird.660
Liebe als fundamentale Seinsweise übersteigt das Dasein in dessen Faktizität und
Endlichkeit, wobei Liebe nicht als Gefühl, Gestimmtheit oder seelischer Zustand zu
identifizieren ist. Liebe äußert sich zwar immer als Liebe zu einem konkreten Du, ihr liegt
die „’Wahl’ des Daseins als Wirheit, als Erschlossenheit des Herzens, als Begegnung“661
zugrunde. Wo Heidegger von eigentlichem Selbstsein in Jemeinigkeit spricht, geht für
Binswanger „das Dasein im Sinne der Liebe auf im unbegrenzten, uneingeschränkten, kurz
im unbedingten Sein mit-einander“.662 Beiden geht es um das Selbstsein in Eigentlichkeit,
um den letzten bzw. ersten Ursprung; dass die Antworten derart divergieren, lässt sich auch
mit dem Hinweis auf Binswangers ärztliche Tätigkeit erklären. Psychotherapie – wie
658
Wiplinger, Dialogischer Logos, S. 187
Eine Trennung zwischen Ontologie und Anthropologie hält er freilich streng durch: „Ein ganz anderes
Problem ist, wie jeweils für die einzelnen, faktisch ontisch-existenziellen Möglichkeiten des einzelnen Daseins
das Mitdasein des Du relevant ist. Das sind aber Fragen der konkreten Anthropologie.“, in: Die Grundprobleme
der Phänomenologie. – Frankfurt/Main : Klostermann, 2005. – (Klostermann Seminar ; 16), S. 394
660
Arlt, Gerhard ; Zenka, Tadeusz: Liebe und Erkenntnis : Zur Daseinsanalyse Ludwig Binswangers, in: Kühn,
Rolf ; Petzold, Hilarion (Hrsg.): Psychotherapie und Philosophie : Philosophie als Psychotherapie? – Paderborn :
Junfermann, 1992. – (Reihe Innovative Psychotherapie und Humanwissenschaften ; 50), S. 257-282, hier S. 267
661
AW 2, 238
662
AW 2, 61
659
232
Binswanger sie versteht – wendet sich in der Einheit von Sorge und Liebe dem
Leidtragenden zu, sie ist „ärztlicher Dienst an der (als Inbegriff der seelischen
Lebensfunktionen gedachten) Seele eines Mitmenschen“.663 Auf die Frage, wie
Psychotherapie möglich sei, antwortet er, sie beruhe „auf einem Grundzug der Struktur des
Menschseins als dem In-der-Welt-sein (HEIDEGGER) überhaupt, eben dem Mit- und
Füreinandersein.“664
Binswanger war kein unkritischer, orthodoxer Heideggerianer, ob seine Rezeption
deswegen schon ein „Missverständnis“ bildet, welches ihn in die Irre schickt, darf nun, am
Schluss der Arbeit, bezweifelt werden. Weiters ist mit Arlt und Zenka zu fragen, „[...] ob bei
Heidegger selbst das Verhältnis von Anthropologie und Ontologie so eindeutig ist, wie es oft
dargestellt wird.“665 Fragt man philosophierende Zeitgenossen Heideggers, wie dieser das
Verhältnis zwischen dem Ich und dem Anderen gefasst hätte, erhält man zuweilen recht
eindeutige Antworten, so lesen wir bei Gabriel Marcel:
Zu dem In-der-Welt-sein gehört mit Sicherheit die Pluralität. Handelt es sich aber
dabei um eine Pluralität von Subjekten? Ich bin mir dessen nicht ganz sicher. Hier
sehe ich nicht, daß Heidegger, der so oft von Erschlossenheit und von Entfernung
spricht, wenn er die Wahrheit meint, daß also Heidegger sich je dafür interessiert
hätte, was man „Öffnung auf den Anderen hin“ nennen könnte. Es war denn auch
diese Dimension der Liebe, die der Psychiater und Philosoph Binswanger den
heideggerschen Kategorien hinzufügen wollte.666
Neben Marcel ist Lévinas zu nennen, dessen Werk von Achtung und Wertschätzung des
Denkens Heideggers getragen ist; lapidar und präzise konstatiert er: „Bei Heidegger hat das
Dasein niemals Hunger.“667
Eine Spannung im Denken Binswangers wird allerdings gerade dort offenbar, wo es
um das ihm Wesentliche geht – in der Liebe zum Du, das in der Gefahr steht, als einzelnes,
konkretes zugunsten eines allgemeinen „Du überhaupt“ abgewertet zu werden. Mit diesem
Problem steht Binswanger nicht alleine da, vor allem Ebner und Buber legen den Akzent auf
ein absolutes Du, das sie mit Gott identifizieren. Dadurch aber verblasst der mir begegnende,
konkrete andere Mensch. Denkt man die Absolutsetzung konsequent weiter, so gerät der
geliebte Andere zu einer Chimäre, zum Abglanz des Absoluten oder zu einem bloßen
Durchgangsmoment. Freilich ist der Andere dann auch nicht mehr Zweck an sich selbst,
wodurch im Extremfall die Gefahr einer Du-Vergessenheit droht. Zwar warnt Binswanger
663
Über Psychotherapie, in: AW 3, 206
Über Psychotherapie, in: AW 3, 207
665
Arlt/Zenka, Liebe und Erkenntnis, S. 278f
666
Marcel, Gabriel: Werkauswahl III. Unterwegssein : Ansätze zu einer konkreten Philosophie, Dialog mit
Zeitgenossen. – Mit einer Bibliographie herausgegeben von Peter Grotzer. Nachwort von Theodor-Bernhard
Wolf. – Paderborn : Schöningh, 1992, S. 298
667
Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 191
664
233
vor einem „Verharren in der Beschränktheit auf das einzelne Faktum oder auf die bloße
Idee“668, doch ordnet er wiederholt das Besondere, Individuelle und eben damit Einzigartige
des Du dem Generellen unter. Andererseits betont er, die Selbstheit von Ich und Du erwachse
aus dem Wir. Meint Liebe fördernde Freigabe in je eigenes – deines und meines – Sein, so
kann dein Eigensein, das unvertretbar dir und niemandem sonst gegeben ist, nicht an einem
allgemeinen Du gemessen werden. Meine Liebe zu dir betrifft erstlich dich und mich und
kein Du-überhaupt oder ein Eidos „Du“. In einem so verstandenen Du erblicke ich nicht den
Menschen, den ich liebend bei mir weiß. Um diese missliche Diskrepanz zu umgehen, könnte
allenfalls Max Müllers Definition der Person als Konkretion des Ganzen herangezogen
werden:
Dies aber nennen wir gerade „Personalität“: daß das Übereinzelne in der Einzigkeit,
daß das Ganze in der Innerlichkeit und im verinnerlichenden Gange erst sich selbst
hat. [...] So ist Person das Ereignis der Gegenwart des Ganzen im Endlich Einzelnen,
welches dadurch in seiner Einzelheit unendlich bedeutsam und damit endlich und
absolut wird; in diesem Sinne ist Person „Da-sein“.669
Der Vorrang des einzelnen, konkreten Du (und des Ich) vor einem bloß gedachten
allgemeinen kommt dann zum Ausdruck, wenn das Dasein – deines wie meines – als Gabe
empfangen wird. Binswanger plädiert für Selbständigkeit in und durch Dualität, im In-sichstehen in fremdgegebener Selbständigkeit verdankt sich das Ich dem Anderen, der es
auffordert, Ich, und eben nur dieses Ich, zu sein. Vom Gabecharakter des Daseins ist in den
Werken Binswangers öfter und an zentralen Stellen die Rede, umso merkwürdiger mutet es
an, dass er das Thema nicht entfaltet hat. Liebe als Du-Gegründetheit, die mir Sein gewährt,
zeigt sich in der Annahme seiner selbst. Allerdings interpretiert Binswanger die Liebe im
Rahmen der Reziprozität: ich schenke mich dir als jener, der unvertretbar ich bin und
umgekehrt schenkst du dich mir, wie es nur du zu tun vermagst. Der Schenkende will, dass
der mit Dasein Beschenkte je er/sie selbst wird: sei du und ausschließlich nur du.670 In ihrer
tiefsten Bedeutung wird die Gabe wohl in der Geburt eines Menschen erschlossen, der sich
selbst gegeben ist. Leider hat sich Binswanger dazu nicht geäußert. Mit Rückgriff auf die
Religionsphilosophie wurde die Geburt gedeutet als Freigabe in Selbstsein, welches sich
allerdings einer Abhängigkeit von Anderen verdankt. Dabei meint Abhängigkeit nicht
Unfreiheit, Repression oder Unmündigkeit, sondern die Abhängigkeit gewährt gleichwohl
Selbstand: wird sich ein Mensch gegeben, so wird ihm zu Dasein in Eigensein verholfen. Der
Mensch ist als geborener natürlich von den natürlichen Voraussetzungen (Zeugung, Geburt,
668
AW 2, 503
Müller, Max: Person und Funktion, in: Philosophisches Jahrbuch 69 (1962), S. 371-404, hier S. 396
670
Nochmals sei an Pindar und dessen III. Pythische Ode erinnert: „Meine Seele, strebe nicht nach
Unsterblichkeit, das Mögliche schöpfe aus in deiner Bemühung.“, in: Oden, S. 105
669
234
Erziehung) abhängig, und doch ist er sich so gegeben, dass er Neues anfangen lassen kann
und Eigenes hervorzubringen gerufen ist. Das solcherart nicht mehr mit Kategorien des
Allgemeinen fassbare Ich bzw. Du unterläuft in seiner Konkretion Schematisierungen und
Generalisierungen. In seiner Einzigkeit ist der Andere (und bin ich) jedoch namhaft. Erst im
Namen kann der Gerufene zu Wort kommen und sein Eigensein zum Austrag bringen.
Das Miteinandersein in Liebe bildet den Umfang der vorliegenden Arbeit; als
Ausgangspunkt dafür bot sich Binswangers Phänomenologie der Liebe an; der Vielfalt und
Komplexität des Phänomens gemäß spricht er dem liebenden Wir Priorität zu, als ob es etwa
gälte, ein Axiom der Liebe zu deklarieren. Die Vorherrschaft des Wir und – damit
einhergehend – die Tendenzen zur Verallgemeinerung hingegen drohen das aus dem Wir
hervorgehende, in Eigenstand freigegebene Ich und Du zu nivellieren oder zu absorbieren,
sodass es letztendlich gleichgültig ist, welches Du dem Ich ein Du ist. Die Neigung zur
Generalisierung, die Binswanger pflegt, birgt in sich die Gefahr des Irrweges, denn die Liebe
ist kein akosmisches Geschehen, hat sie sich doch als Grundform in der Welt zu bewähren.
Die Weltlichkeit des liebenden Miteinander hat sich als ursprüngliche Weise des Daseins
gerade in Hinblick auf die Geburt und auf die Seinsgabe gezeigt. Die Namhaftigkeit
wiederum würdigt den Anderen als Einzigartigen, dessen Seinsgabe allein ihm zukommt. Die
erwähnten Zweifel und Fragwürdigkeiten sollen Binswangers Bemühungen keineswegs
schmälern: dass er Ernst macht mit der Frage nach der Begegnung mit dem Anderen, der mir
weder als Exemplar einer Gattung noch als Glied einer Klasse noch als fremder Körper
gegenübertritt, sondern als jemand, den ich in einem ursprünglichen Zugang als Du
wahrnehme. Als grundlegende Weise des Daseins ist die Liebe der Wille zum Sein des
geliebten Anderen, welcher Wille sich als Freigabe in Eigensein vollzieht.
235
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Über Psychotherapie (1934)
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Band 4: Der Mensch in der Psychiatrie. – Herausgegeben von Alice Holzhey-Kunz
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Regenbogen und Uwe Meyer. – Hamburg : Meiner, 1998. – (Philosophische Bibliothek ; Bd.
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Kadi herausgegeben von Helmuth Vetter. – Hamburg : Meiner, 2004. – (Philosophische
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Philosophisches Jahrbuch
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Abrufdatum: 06.09.2012
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www.daseinsanalyse.at/joomla/images/DOKUMENTE/Existentialien.pdf,
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Vetter, Helmuth: Heidegger im Kontext der dialogischen Philosophie – mit Blick auf Eberhard
Grisebach, abrufbar unter:
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248
Abrufdatum:
Abstract
Die Frage nach der Begegnung oder der Beziehung zwischen Menschen ist eine alte und
oftmals diskutierte. Ist sie damit schon nach allen Seiten hin erschöpfend beantwortet oder
auch erst erreicht worden? Beziehungen zu anderen erscheinen beiläufig und nebensächlich,
sodass eine Verbindlichkeit in der Begegnung verdeckt wird. Lassen sich Arten der
Begegnung freilegen, die dich und mich in unserem Eigensein betreffen oder dieses gar
begründen? Das gewöhnliche Geschehen der Begegnung ist also auf dessen Fundamente hin
zu prüfen, dem vermeintlich Selbstverständlichen ist auf den Grund zu gehen.
Das bedeutet zuerst, die Frage nach dem Anderen zuzulassen, sich dieser Frage und
dem Anderen zu stellen. Der Mitmensch ist in mannigfacher Weise anwesend, sei er ein
Bekannter, der Nachbar oder jener, mit dem wir eine innige Beziehung pflegen – das Du. Für
das Miteinandersein von Ich und Du reserviert Binswanger den Begriff Liebe bzw. Dualität:
„Obwohl oder gerade weil der eigentliche Modus des Menschseins, ist der duale Modus der
versteckteste, ja erdrückteste.“ Unter diesem modus dualis versteht Binswanger jene
Daseinsweise, die den Ursprung jeden Daseins bildet und den er in seinem Hauptwerk
Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins ausgiebig erschöpft – der Begriff der
Liebe. Damit setzt er sich dezidiert von Heidegger ab, der, so Binswanger, die Sorge als Sein
des Daseins versteht. Dem hält er das In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-sein entgegen,
welches nicht im zu Besorgenden aufgeht. Binswanger tritt nicht in Opposition zu Heidegger,
beabsichtigt er doch eine „Phänomenologie der Liebe“, diese wird sich zuweilen als
Akosmismus
bzw.
Weltflucht
erweisen.
In
diesem
Sinn
darf Binswanger dem
Begegnungsdenken zugeordnet werden, das sich ihm durch seine Tätigkeit als Psychiater und
Therapeut erschloss. Liebe bedeutet ihm nicht bloß das Füreinander zweier Liebender oder
eine Paarbeziehung, sondern generell die Grundform des Daseins als Aufruf zum und
Freigabe in eigenes Seinkönnen. Dementsprechend weitet sich das Verständnis von Liebe. Ist
dieser Begriff auch abgenutzt und verbraucht, so vermag er sich dennoch Gehör zu
verschaffen: „Und doch scheint der duale Modus auch in dieser Daseinsgestalt hindurch, wie
es ja kaum einen Menschen geben wird, in dem kein Keim von Liebe zu entdecken ist.“
Dem Konzept der Liebe, wie es von Binswanger entworfen wurde, steht nun eine
Bewährungsprobe entgegen:
1) Liebe als Begegnung mit dem Anderen muss heraustreten aus ihrem theoretischen
Rahmen, um im konkreten, alltäglichen Leben standhalten zu können – hier werden wir auf
wesentliche Ereignisse wie Geburt, Curricularität, Sozialität, defiziente Daseinsformen und
249
Tod des geliebten Menschen verwiesen. Kann das Konzept der Liebe dafür ein solides
Fundament bilden?
2) Erweist sich die Begegnung in Liebe als ursprüngliche, also die den Grund legende
Form des Daseins, dann müssen alle übrigen Daseinsformen, -weisen (das Dasein mit den
anderen, Singularität) sowie -möglichkeiten aus dieser ableitbar und daher begründbar sein.
Das In-Beziehung-setzen dieser verschiedenen Daseinsmodi wird nicht zu umgehen sein,
Brüche und Konvergenzen werden damit offenbar. Ziel der Arbeit ist es letztlich, zu sehen, ob
Dissonanzen innerhalb des Binswangerschen Denkens unvereinbar nebeneinander stehen oder
ob nicht diverse andere Standpunkte und Perspektiven seine Ansätze bereichern können. So
bildet die Dissertation die Wiederaufnahme seiner Denkbemühungen, um sie erneut für die
Frage nach dem Du, dem Ich und nach dem Wir zu öffnen.
Zum bereits Veröffentlichten zu diesem Thema ist zu sagen, dass sich eine Kluft
zwischen Naturwissenschaft und Philosophie aufgetan hat. Forscher beider Disziplinen sind
zuweilen zu „Grenzgängen“ aufgefordert, die mancherorts fixe Positionierungen von Geistesund Naturwissenschaft in Frage stellen bzw. diese überschreiten. Dies spiegelt sich in der
Fachliteratur wider, die freilich auch einer subjektiven Auswahl unterliegt, zumal nicht alle
denkerischen Bemühungen eingeholt werden können. Die Dissertation kann daher nicht
philosophiehistorisch referieren, allerdings muss ihr des behandelten Themas wegen der
Rückgriff auf die Tradition gestattet sein. Weder soll rezente Fachliteratur die herkömmliche
dominieren noch sollen klassische Publikationen zu einem Kanon erhoben werden. Eine sich
womöglich zeigende Forschungslücke ergibt sich aus dem Thema selbst: wie verhalten wir uns
zu dem uns Angehenden – dem Anderen, dem Du? Diesbezüglich kann nur auf konkurrierende
und kommentierende Stimmen hingewiesen werden, die Binswanger begleiteten, diskutierten
und weiterentwickelten. So wird die Arbeit nicht den Anspruch erheben, eine Lücke zu
schließen, wohl aber, Gräben nicht zu verbreitern oder zu vertiefen.
Zur Darstellung der Forschungsmethodik: Gefordert ist das (möglichst vorurteilsfreie)
Sich-Einstellen auf den Denker, um ihm auf „gleicher Augenhöhe“ begegnen zu können. Erst
von da aus kann der Fortgang des Problems verfolgt werden und mit anderen Positionen sowie
Einwänden konfrontiert werden. Eine totale Kontrastellung ist ebenso unangebracht wie eine
unkritische Eulogie.
250
Abstract (Englisch)
The question of the encounter or the relation between people is old and often discussed. Has it
been answered in all respects adequately or has it at least been reached? Relations with others
seem casual and secondary, so that an obligation is covered in a relationship. Can kinds of
encounters be exposed which concern you and me in our own being-in-the-world or which
even found this? Usual relations are to be examined on its foundations, the putatively natural
is to be gone on the reason.
This indicates first to admit the question after the other, to position oneself to this
question and to the other. The person is present in manifold ways, he is a friend, the
neighbour or that with whom we maintain an intimate relationship – the You. As for the
being-together of me and you, Binswanger books the concept love or “Dualität” (duality):
„Although or just because the real mode of the being, the dual mode is the most hidden, the
most crushed one.“ Binswanger interprets the dual mode as the way of existence which forms
the origin of every existence. The concept of love is unfolded very broadly in his major work
Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins (Basic Forms and the Realization of
Human “Being-in-the-World”). He presents a counterpart to Heidegger, who puts being-inthe-world as care (Sorge). Human existence is “more” or other than care, it is being-in-theworld-beyond-the-world (“In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-sein”), that does not dissolve
into concern (Besorgen). He does not decidedly oppose Heidegger for he intends to establish a
“phenomenology of love”. For this reason, Binswanger’s philosophy sometimes seems to be
unworldly, turned off concrete circumstances respectively. In this sense, Binswanger may be
assigned to the philosophy of dialogue which he was confronted with due to his profession he was a psychiatrist and therapist. To him, love means not only the “each other” of two
lovers or a pair-relation, but in general the basic form of being as a call to the release into
being as one specific and unique self (mine as well as your self). Therefore, the understanding
of love widens. May this concept be worn and used, it still makes itself heard: „And,
nevertheless, the dual mode is kept up in this form of existence as there will be hardly anyone
who is not able to receive and donate love.“
The idea of love as sketched by Binswanger will be put to the test:
1) Love as an encounter of one and the other must leave the theoretical frame in order
to match concrete, everyday life – this points to relevant events like birth, the life-cycle,
socialization, deficient forms of existence and death of the beloved person. Can love form a
solid foundation?
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2) Binswanger interprets loving relation as the original and deepest form of beingtogether, hence all other forms of existence (friendship, plurality, singularity) must derive
from it. These different modes of being might diverge from each other or reveal dissonances.
The aim of the doctoral thesis is to show alternative points of views and perspectives to enrich
his approaches or starting points. The question concerning the You, the I and the “We” has to
be asked again; for this reason, we have to ponder on his thoughts and ideas.
Concerning former publications on this subject, it is to be said that a gap between
natural sciences and philosophy has opened. Researchers of both disciplines are requested
now and again to "cross borders" which questions fixed scientific results of both humanities
and natural sciences. This is evident in the specialist literature which is, admittedly, subject to
personal and individual choice, since not all intellectual efforts can be taken into account.
Neither should recent literature dominate the customary one, nor should relevant publications
represent a canon. A probable interdisciplinary gap arises from the theme itself: how do we
perceive ourselves in view of the one who I face – the other, the You? This puts a focus on
competing and commenting voices which accompanied and discussed Binswanger’s thoughts,
trying to achieve further developments. Thus the work will not raise the claim to close a gap,
but it shall neither widen nor deepen ditches.
To the representation of the research methodology: The demand on a (very
unprejudiced) self-adjustment to the thinker enables to meet him on the „same eye level“.
This is the way, the progress of problems and questions can be pursued and get confronted
with other positions as well as objections. A complete contraposition is as inappropriate as an
uncritical eulogy.
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Lebenslauf
Andreas Agreiter
Geburtsdatum: 30.04.1974
Geburtsort:
Wien
Zivildienst geleistet von 02.1999 bis 01.2000 beim Österreichischen Arbeiter-Samariterbund
Bildungsgang:
1980-1984: Besuch der Volksschule in Wien
1984-1992: Besuch des naturwissenschaftlichen Realgymnasiums GRG III
Reifeprüfung mit ausgezeichnetem Erfolg abgelegt
1992-1994: Studium der kombinierten Religionspädagogik (röm.-kath.) sowie der Anglistik
und Amerikanistik an der Universität Wien
1994-1998: Studium der Philosophie und Fächerkombination ebendort
Kommissionelle Prüfung mit Auszeichnung bestanden
1999:
Würdigungspreis des Bundesministers für Wissenschaft und Verkehr
seit 2007:
Doktoratsstudium der Philosophie
Berufstätigkeit:
Neben Studentenjobs und Aushilfstätigkeiten (u.a. bei der Post, am Flughafen WienSchwechat, beim Verkehrsverbund Ost-Region) Nachtlaseroperator bei AZ BertelsmannDirect,
Praktikum
beim
Wiener
Passagen-Verlag
und
Archivtätigkeit
beim
Privatfernsehsender ATV seit 2001 Bibliothekar bei den Öffentlichen Büchereien Wien.
Veröffentlichungen:
“Der Mensch, der das Recht hat, über sich selbst zu verfügen, der kann über alles verfügen
und hat auch das Recht dazu; aber niemand hat das Recht, über sich selbst zu verfügen.”
Versuch einer Darstellung des Werkes Thomas Bernhards, in: kacakyayin 35 (2006), S. 28-30
(Türkische Übersetzung: Thomas Bernhard’ in eseri üzerine bir deneme)
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Zum Phänomen des Todes mit Rücksicht auf ein Gedicht R.M. Rilkes, in: kacakyayin 36
(2006), S. 34-36 (Türkische Übersetzung: R.M. Rilke’ nin bir siirinden esinlenerek ölüm
üzerine)
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