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DISSERTATION Titel der Dissertation „Nur wo du bist, entsteht ein Ort.“ Das Ereignis der Begegnung in Liebe bei Ludwig Binswanger Verfasser Mag. Andreas Agreiter angestrebter akademischer Grad Doktor der Philosophie (Dr. phil.) Wien, 2014 Studienkennzahl lt. Studienblatt: A 092 296 Dissertationsgebiet lt. Studienblatt: Philosophie Betreuerin / Betreuer: Univ.-Prof. i.R. Dr. h.c. Dr. Peter Kampits Ein Wort des Dankes: Die hier vorgelegte Dissertation verdankt sich zunächst einmal der Sache selbst, also der Philosophie. Als Wissenschaft betrieben und an der Universität gelehrt ist sie damit bereits an den Forscher und Lehrer gebunden. Als Student habe ich das Glück erfahren, bei einigen von ihnen „in die Schule gehen zu dürfen“, namentlich möchte ich erwähnen Herrn Univ.-Prof. Dr. Peter Kampits, der, Mut zusprechend, Anstoß und Ansporn zum Nachdenken gab und dessen Seminare ein lebendiges, mitunter lebhaftes Philosophieren darstellen; weiters Herrn Univ.-Prof. Dr. Josef Rhemann, der als Kenner der philosophischen Anthropologie in der Rolle des Zweitgutachters tätig wurde. Schließlich Herr Univ.-Prof. Dr. Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld, O.Praem., der mir in Gesprächen das Denken Heideggers und Binswangers aufschloss. Ihnen danke ich herzlich. Wissen und Erkenntnis – und seien sie noch so gesichert – sind wertlos, wenn sie nicht im Gespräch überprüft, kritisiert und vertieft werden; dazu dienten die Seminare und das anschließende gesellige Zusammensein der Teilnehmer, bei ihnen möchte ich mich ebenfalls bedanken. Ich widme diese Arbeit meiner Mutter Elfriede Agreiter (1936-2005). Und diese menschlichere Liebe (die unendlich rücksichtsvoll und leise, und gut und klar in Binden und Lösen sich vollziehen wird) wird jener ähneln, die wir ringend und mühsam vorbereiten, der Liebe, die darin besteht, daß zwei Einsamkeiten einander schützen, grenzen und grüßen. (Rainer Maria Rilke) Liebe – lieben heißt: wollen daß das Geliebte sei, was es ist. (Martin Heidegger) Liebt euch, oder ihr geht zugrunde. (Pierre Teilhard de Chardin) Inhalt Einleitung 3 1 Das Ereignis der Begegnung 10 2 Eine Standortbestimmung zur Phänomenologie der Liebe 31 2.1 Das Denken der Begegnung und die Medizin 31 2.2 Martin Bubers Philosophie des Dialogs – ein Hintergrund 37 2.3 Heideggers Analyse des Mitseins als Basis für Binswangers 45 Begegnungsdenken 2.4 Die Position Binswangers 53 3 Miteinandersein in Liebe 63 3.1 Liebe und Sprache 63 3.2 Aufbau und Struktur der Grundformen 73 4 Die Welt des Dualis (liebendes Miteinandersein) 82 4.1 Der Eros 82 4.2 Gemeinschaft und Selbständigkeit im Wir 85 4.3 Räumlichkeit und Zeitlichkeit des Miteinanderseins 97 4.3.1 Zur Einführung 97 4.3.2 Miteinandersein als räumliches 100 4.3.3 Miteinandersein als zeitliches 108 4.4 Freundschaftliches Miteinandersein 122 5 Mitsein als personal-soziales 128 6 Dasein als Vereinzeltes 139 6.1 Einleitendes 139 6.2 Das Problem in der Philosophiegeschichte 143 6.3 Singularität im Sinne Binswangers 148 6.4 Rückblick 159 1 7 Die Diskrepanz zwischen allgemeinem und singularem Du in der Begegnung 160 7.1 Vorbereitendes 160 7.2 Daseinserkenntnis in Bezug auf die Grundformen 163 7.3 Konsequenzen 174 8 Gabe des Daseins in liebender Begegnung 177 8.1 Die Gabe als Thema der Philosophie 177 8.2 Selbstheit als Geschenk des Anderen 180 8.3 Geburt als Gabe des Seins 187 8.4 Dankbarkeit als Art und Weise des Empfangens der Daseinsgabe 198 9 Die Einzigartigkeit von Ich und Du im Namen 210 9.1 Zur Hinführung 210 9.2 Zur Philosophie des Namens 212 9.2.1 Das Konzept Binswangers: „Das Nehmen beim Namen. Die Historizität“ 212 9.2.2 Sprachphilosophische Überlegungen zum Namen und zum Nennen 217 im Anschluss an Wucherer-Huldenfeld Schlusswort 228 Literaturverzeichnis 236 Abstract (Deutsch) 249 Abstract (Englisch) 251 Lebenslauf 253 2 Einleitung Eine Arbeit, die das Miteinandersein und damit den Anderen in den Mittelpunkt rückt, hat sich nicht nur vor diesem Anderen (etwa einem Leser, Gesprächspartner oder einem geliebten Menschen) zu verantworten; es gilt zugleich, den ins Auge gefassten Themenkreis von Auslassungen der Tagesmode abzuzirkeln und ihn so zu schonen. Zweifellos ist die oder der Andere (i.e. der andere Mensch) Objekt vielerlei Betrachtungen und Spekulationen; so wird er in den Naturwissenschaften zu einem kalkulierbaren Gegenstand, Sozialwissenschaften verfolgen seine äußeren Beziehungen, die Ökonomie betrachtet ihn unter dem Aspekt des Wirtschaftens und des Geldes, was übrigens zu äußerst prekären Lehrmeinungen führen kann. Die Heilkunst wiederum sieht im Anderen den homo patiens, den es zu kurieren gilt. Ein und dasselbe Objekt – der Mensch – stellt sich unter verschiedenen Gesichtspunkten immer neu und anders dar; dies geschieht mit vollem Recht, solange allerdings der Andere als „Zweck an sich selbst“ geachtet wird. Es scheint zunächst eine plumpe Tatsache zu sein, dass der Mensch nie alleine existiert, wie Eugen Fink feststellt: Der Mensch lebt in Gemeinschaft, in Gemeinschaften der verschiedensten und mannigfaltigsten Art; keiner lebt „allein“ im Sinne von „unbezüglich“; sofern ein Mensch überhaupt ist, ist er schon aufgetan und aufgebrochen für das Mitdasein der Mitmenschen; er ist nie und niemals ein in sich verschlossenes, abgekapseltes „Subjekt“ [...]. Jeder ist Mitmensch, ob er will oder nicht, und als Mitmensch ist er der Andere des Anderen.1 Die Frage nach dem Menschen fächert sich also auf in die Frage nach dem Wesen des Menschen (die quidditas, ἡ φύσις, die Washeit bzw. die essentia) und nach dem, wer er sei – eben der Andere, der sich namentlich zu erkennen gibt. Von der Begriffsfrage (Frage nach dem Wesen des Menschen) gilt es die Frage nach der Person des Anderen (dieser Mensch da, der einmalig und unersetzbar über sich verfügt) abzuheben; in einem weiteren Gang kann schließlich nach dem je eigenen Selbstsein gefragt werden. Gesucht wird in diesem Zusammenhang ein solider Ausgangspunkt der philosophischen Anthropologie. Das unthematisch gegebene Vorwissen bezüglich des Menschen soll dabei ebensowenig zur Leitidee avancieren wie die Fokussierung auf ein willkürlich privilegiertes Phänomen des Menschlichen, zu dessen Gunsten anderes notwendig herabgewürdigt wird. Vielmehr wird versucht, das, was es mit dem Anderen und mit mir auf 1 Fink, Eugen: Existenz und Coexistenz : Grundprobleme der menschlichen Gemeinschaft. – Hrsg. von FranzAnton Schwarz. – Würzburg : Königshausen und Neumann, 1987, S. 21f 3 sich hat möglichst unverstellt zur Sprache kommen zu lassen. Dazu gehen wir am besten von uns selbst – von dir und von mir – aus, wie wir gemeinsam in dieser Welt da sind. Die Tatsache des gemeinsamen In-der-Welt-seins ist nicht zu dementieren, haben wir doch permanent mit anderen zu tun. Das Umkehrphänomen ist uns ebenfalls vertraut: in Perioden des Alleinseins oder gar der Einsamkeit erfahre ich die Abwesenheit anderer, die in dieser Abwesenheit selbst noch da sind.2 All das trägt den Charakter der Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit, sodass es müßig scheint, dem solcherart Vertrauten Beachtung zu schenken. Dennoch – ist das uns vermeintlich Vertraute so ohne weiteres klar und einleuchtend, gestattet es uns mithin einen sorglosen Umgang? Womit und mit wem wir tagtäglich Umgang pflegen, kann demnach zum Rätsel und Geheimnis werden, wenn wir z.B. gewahren, dass wir miteinander da sind und nicht nicht sind. Das sogenannte personal-dialogische Denken erblickt im Miteinandersein einen unbestreitbaren Ausgangsort der philosophischen Anthropologie; was ist unter „Miteinandersein“ näher zu verstehen? Geht uns das Miteinander in der Teilnahme an einer Massenveranstaltung (Großdemonstration, Rockkonzert, Fußballspiel) in seinem Wesen auf, in der viele Einzelne einer großen Idee anhängen? Oder ist Miteinandersein vorrangig ein Merkmal kleiner, überschaubarer Kreise, wozu man Familie und Freunde zu zählen pflegt? Ausgerechnet in intimen und vertrauten Verhältnissen offenbart sich zuweilen Sprachlosigkeit, die bis zum Desinteresse am Anderen reicht. Die Dialogphilosophie versucht nun, das Du (und das Ich) diesseits der Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit zu fassen; in einer authentischen Beziehung treffe ich kein privates, auch kein öffentliches Du, diese Scheidung erfolgt erst „später“, ist sie doch gesellschaftlich und kulturell bedingt. Die Termini Öffentlichkeit und Privatheit bezeichnen Kategorien, die das dialogische Denken bzw. die 2 Fink bemerkt dazu recht eindringlich: „Das Dasein ist nicht zuerst ‚einsam’ und dann in einer zusätzlichen Weise auch noch gemeinschaftlich. Die Gemeinschaft geht jeder Vereinzelung vorauf. Die ‚Einsamkeit’ hat bereits das Moment der Ausgrenzung aus der Gemeinschaft an sich. Die Grundphänomene sind Strukturprinzipien der Gesellschaft, sind Lebensfelder der Co-Existenz, der Co-Existenz im Totenkult, in der Wendung der Lebensnöte, in der Verteilung der Macht, im Zueinander der Geschlechter und in der Spielgemeinschaft der Spielgemeinde. Der Mensch ist von Hause aus im Raum der mitmenschlichen Bezüge, sie konstituieren gerade die Humanität als solche. Mit Absicht und Bedacht ist dieser gesellschaftliche Ansatzpunkt für die anthropologische Frage genommen worden. Es bedeutet eine unzulässige Abstraktion, von ‚dem’ Menschen zu sprechen und dabei das Modell der Individualexistenz vorauszusetzen. ‚Der’ Mensch ist kein geschlechtsloses Neutrum, das weder geboren und gezeugt wird, noch dem Tode geweiht ist, kein arbeitsloses Subjekt außerhalb jeder politischen Kampflage, abseits vom Spiel. Er ist auch kein ‚reines Bewußtsein’, weder im Sinne des Descartes als ‚res cogitans’, noch als ‚Erlebnisstrom’ im Sinne Husserls. Und noch problematischer sind die Ansätze bei einer vorausgesetzten Einzelseele, bei einem isolierten intelligenten Willen und dgl. Denn zu all dem gelangt man ja doch mittels einer Reduktion. Jeder Einzelne ist in eine gemeinsame Welt versetzt, in der er nicht nur mit anderem Seienden, mit Materie, Pflanzen, Tieren und Mitmenschen zusammen vorkommt, jeder Einzelne kann sich nur finden aus einem vorgängigen intersubjektiven Horizont her. Die Sozialität des Daseins ist keine Folge der Individualexistenz, sie ist bereits die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß Einzelne sich auf sich zurückziehen können.“, in: Fink, Eugen: Grundphänomene des menschlichen Daseins. – Hrsg. von Egon Schütz und Franz-Anton Schwarz. – 2., unveränderte Aufl. – Freiburg [u.a.] : Alber, 1995, S. 431f 4 Begegnung nicht wesensmäßig erschließen, das Du ist keine Figur der Gesellschaft.3 Ein als ursprünglich verstandenes Verhältnis zum Anderen sieht dieses vor der Unterscheidung öffentlich-privat. Das ursprünglichste Miteinandersein zeigt sich, wo und wann und insofern ein Mensch die/den Andere(n) zu eigenem Sein freigibt. Solches Miteinandersein ereignet sich in der Begegnung, d.h. in der Gegenwart des Gegenüberseins, wo ich mich auf die Einmaligkeit, die Nichtauswechselbarkeit und Unvertauschbarkeit eines Du einlasse oder schon eingelassen erfahre.4 Dialogisches Denken sieht den Sinn von Sein der Person in der Begegnung oder im Füreinander-dasein, welches gemeinhin Liebe genannt wird. Doch was will unter Liebe verstanden werden? Gewiss ist vorerst nur, dass ihr Begriff für Verständnisprobleme unter den Menschen Pate stehen muss – den einen ist sie größtes Gefühl und höchster Lebenszweck, den anderen ein hehres Ideal, den dritten dient sie als Vorwand, um in ihrem Namen Eigeninteressen durchzusetzen. Ein Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, diese Begriffskonfusion etwas zu entwirren zu versuchen; die Konzentration auf den Schweizer Psychiater Ludwig Binswanger (13.04.188105.02.1966) mag subjektiv erscheinen, willkürlich ist sie bestimmt nicht. Während andere Denker des Dialogs (so etwa Martin Buber, Gabriel Marcel, Ferdinand Ebner, Franz Rosenzweig, Eugen Rosenstock-Huessy, im Gefolge auch Emmanuel Lévinas) breitere Rezeption und Widerhall gefunden haben, ist die Publikationslage zu Binswanger aus dieser Perspektive eher bescheiden. Die Forschergemeinde, aber auch die Nachwelt beschäftigt sich mit seinem Werk vor allem unter dem fachlichen Blickwinkel der Psychiatrie, der Psychotherapie sowie der Medizingeschichte.5 Ein Ausgang von der medizinischen Fachdisziplin der Psychiatrie wird in dieser Arbeit nicht unternommen, sie beschränkt sich auf den philosophischen Gehalt des Werkes – namentlich auf das Miteinandersein in Liebe. 3 Dazu Peter Kampits, der mit Blick auf Gabriel Marcel, der wohl auch Binswanger gelten kann, konstatiert: „Das Fragen nach dem Anderen als einer zweiten Person und damit das Erschließen der zwischenmenschlichen Beziehung als einer personal-dialogischen bedeutet dann aber zugleich, daß nur in einer derartig gedachten Beziehung menschliches Miteinander wahrhaft bestehen und aufgebaut sein kann. Wo Strukturen, Sozialgebilde, Gesellschaft im ganzen als maßgebend und ursprünglich ausgegeben werden, kann die Beziehung zum Anderen nicht mehr in ihrer Unverfälschtheit in den Blick kommen. Der Andere bleibt dann spezifischer ‚Fall’ einer allgemeingültigen Struktur oder Verfassung.“, in: Kampits, Peter: Gabriel Marcels Philosophie der zweiten Person. – Wien : Oldenbourg, 1975, S. 14 4 Wucherer-Huldenfeld, Augustinus Karl: Ursprünglichkeit und Weisen des Miteinanderseins : Philosophische Vorüberlegungen zur Koinonia im Glauben, in: ders.: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein. Ausgewählte philosophische Studien I. Anthropologie, Freud, Religionskritik. – Wien [u.a.]: Böhlau, 1994, S. 336, hier S. 14 5 Dazu zählen unter anderem Condrau, Gion: Daseinsanalyse : philosophische und anthropologische Grundlagen ; die Bedeutung der Sprache ; Psychotherapieforschung aus daseinsanalytischer Sicht. – 2., überarb. Aufl. – Dettelbach : Röll , 1998 und Holzhey-Kunz, Alice: Leiden am Dasein : die Daseinsanalyse und die Aufgabe einer Hermeneutik psychopathologischer Phänomene – 2., durchges. Aufl. . – Wien : Passagen-Verl., 2001. – (Passagen Philosophie) 5 Nun ist Liebe im alltäglichen, durchschnittlichen Verständnis ein abgegriffenes Wort, in dessen Namen viel Schindluder getrieben wird. Es gilt daher, sich auf Ursprünglichkeit und Weise des Miteinanderseins zu besinnen und es von Verfallsformen und Deformationen abzuscheiden. Binswanger versucht, die Begegnung als Grundmodus menschlicher Existenz aufzuweisen; prägnant ist der Vorrang des Wir, das „vor“ dem Ich-selbst und Du-selbst besteht, es bildet gleichsam den keimenden Grund für dich und mich. Diese vorrangige Dualität im Wir entlässt Ich und Du, wobei präzise gesagt sein soll: das Ich ist offen für dich als der, der nur du sein kannst und sonst niemand – ich erfahre meine Einzigkeit, weil nur ich mich dir nähern kann wie sonst niemand. Diese radikale Idee des liebenden Miteinanderseins wird konterkariert durch das In-der-Welt-sein, durch die Weltgebundenheit; das Wir muss auch in der Welt „bestehen“, es muss diese aushalten können. Die Weltgebundenheit der Liebe zeigt sich in der Sorgestruktur des Daseins, wie sie Heidegger herausgearbeitet hat, Binswanger vermisst in diesem Konzept jedoch die Liebe, in der Ich und Du aneinander je selbst werden: „Je größere Wirklichkeit der Wirheit, umso größere Möglichkeit der Selbständigkeit von Mir und Dir.“6 Die Begegnung eröffnet der Existenz – deiner wie meiner – einen Raum, die einem gründenden Grund entspringt (das Wir der Liebe); somit erweist sich das Füreinander als Sinn und Aufgabe des Daseins schlechthin. Anzumerken bleibt, dass die Beziehung ein Wechselspiel von Nähe und Distanz, von Raum-geben und Raum-lassen für Eigenes ist. Zum Aufbau der Arbeit: Damit ist auch der Rahmen des vorliegenden Versuchs skizziert; auffällig ist der Primat der Wirheit, welche die liebende Freigabe in Eigensein (als Du und Ich) zu übertönen droht, denn es bietet sich das Paradoxon: wie ist Selbstsein möglich, ohne die liebende Wirheit aufgeben zu müssen? Dem in die Problematik einführenden ersten Kapitel folgt eines, in welchem eine Standortbestimmung zur Phänomenologie der Liebe unternommen wird. Dabei bildet das Begegnungsdenken im Kontext der Medizin einen Aspekt, der durch Verweise auf Bubers Dialogphilosophie und Heideggers Mitseinsanalyse ergänzt wird. Die Kapitel drei bis sechs bringen eine Darstellung der drei Grundformen menschlichen Daseins in ihren Grundlagen mitsamt deren möglichen Folgerungen. Die anschließenden Kapitel nehmen die – nun 6 Binswanger, Ludwig: Ausgewählte Werke 2. Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins. – Hrsg. von Max Herzog und Hans-Jürg Braun. – Heidelberg : Asanger, 1993, S. 111. Die vierbändige Werkauswahl wird zitiert als AW mit Bandangabe und jeweiliger Seitenzahl; im fortlaufenden Text als Grundformen abgekürzt verwendet. Noch ein Wort zur Schreibweise des Begriffes „Anderer“: dieser wird groß geschrieben, wenn es sich um den personalen Anderen, um das Du der Liebe handelt, während der oder die „anderen“ die Vielen oder den Dritten meint. 6 verschärfte – Diskrepanz zwischen allgemeinem und singularem Du in der Begegnung wieder auf. Die Dualität ist die intimste Form zwischenmenschlichen Seins und vom Dasein als sorgendes In-derWelt-sein abgeschieden. Gegenüber dem Dasein bringt Binswanger das Inder-Welt-über-die-Welt-hinaus-sein in Liebe in Anschlag; Dasein als sorgendes fördert nur Teilerkenntnis, die etwas als etwas begreift, erst Liebe eröffnet umfassende Erkenntnis, da sie von der Als-Struktur und von Verweisungszusammenhängen absieht. Liebe ereignet sich zwischen zwei konkreten Individuen im Raum und in der Zeit. Leider übergeht Binswanger das Eigene, Einzelne, je Deines und je Meines; er schwenkt vom konkreten zum allgemeinen Du („Zusammenfallen von Du und Duhaftigkeit überhaupt“7). Der Einwand sei gestattet: kann ich dich als „Duhaftigkeit“ lieben? Ist das nicht eine bloße Vorstellung des Du? Die „Duhaftigkeit überhaupt“ mag ein erkenntnistheoretisches Fundament sein, um anderen Akzeptanz und Aufmerksamkeit zu bieten, die „Duhaftigkeit“ soll – im Interesse Binswangers – den Widerstreit von Sorge und Liebe überbrücken. Unter der Hand allerdings mutiert ihm das konkrete Du zum absoluten – ich liebe dann das Allgemeine in dir. Je betonter Ich, Du, Wir als Generelles gedacht werden, umso verschwindender ist unsere Liebe. Vom geliebten Du bleibt im Extremfall nichts übrig. Paradoxerweise prägen Transmundanität und Antiindividualismus mitunter Binswangers Denken, der doch für Selbständigkeit in und durch Zweiheit plädiert. Im In-sich-stehen des Ich in fremdgegebener Selbständigkeit verdankt sich das Ich dem Anderen, der es auffordert, Ich – und eben nur dieses Ich – zu sein; Dasein erweist sich damit als Gabe. Einmaligkeit und Einzigartigkeit von Ich und Du sind Thema des achten Kapitels – Gabe des Daseins in liebender Begegnung, hierin erweist sich die Selbstheit als Geschenk des Anderen. Im Wir werden Liebende aneinander Du und Ich; ich schenke mich dir als jener, der unvertretbar ich bin und umgekehrt – du nimmst mich an, wie nur du dies zu tun vermagst. Das Geschenk ist die Anwesenheit des einen für den anderen. Die Gabe hält nicht an sich: der Schenkende will, dass der mit Dasein Beschenkte je er bzw. sie selbst sei – sei du und ausschließlich nur du – in der Terminologie Binswangers: in „Einsamkeit“. Gabe im tiefsten Sinn ist die Geburt eines Menschen, die als Geschenk erfahren wird. Das Kind ist wohl den Eltern gegeben, vor allem aber ist es sich selbst geschenkt und berufen, eine freie und selbstmächtige Person zu sein. Das Kapitel wird beschlossen mit einer Diskussion über den Dank als angemessene Form des Empfangens der Daseinsgabe. 7 AW 2, 241 7 Das abschließende neunte Kapitel gilt der Einzigartigkeit von Ich und Du im Namen. Binswanger wertet zuweilen das Besondere zugunsten des Allgemeinen ab, mit welchem Grund? Ist denn in der Liebe nicht stets ein konkretes, einzigartiges und unverwechselbares Du zugegen? Binswanger lässt das konkrete Du mit dem Wesen „Du-überhaupt“ zusammenfallen, woraufhin Michael Theunissen von einem „Rückfall in die 8 Transzendentalphilosophie“ sprach. Wer aber liebt ein Wesen, ein Allgemeines, in das sich ein konkretes Du verflüchtigt haben soll? Der geliebte Andere ist als solcher namhaft, hat also einen Namen, mit dem er gerufen wird. Einer Erörterung des Namenverständnisses bei Binswanger werden Überlegungen zum Namen und zum Nennen gegenübergestellt, die ich Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld verdanke. Der Name gibt keine Auskunft über seinen Träger, er enthüllt keine Sachverhalte, sondern ermöglicht, dass jemand zu Wort kommen kann, er meint die reale Gegenwart des Anderen, der Genannte weiß sich dann gerufen. Mit dem Namen ist das Heißen verbunden, dieses bedeutet ein Zulassen (und Gutheißen) des Seienden, das Seinlassen des namentlich Genannten. Der Name ist keine willkürliche Kennzeichnung, sondern meint das ureigenste Sein des Anderen. Damit ist nun auch die These der Arbeit umrissen: Liebe als Wille zum Sein des Anderen ereignet sich als Freigabe in Eigensein durch 1) Dualität, 2) Natalität und 3) Namhaftigkeit, wobei die beiden letzteren aus der Dualität erwachsen. Dem Konzept der Liebe, wie es von Binswanger entworfen wurde, steht nun eine Bewährungsprobe entgegen: 1) Liebe als Begegnung mit dem Anderen muss heraustreten aus ihrem theoretischen Rahmen, um dem konkreten, alltäglichen Leben standhalten zu können – hier werden wir auf wesentliche Ereignisse wie eben Geburt, Curricularität, Sozialität, aber auch auf defiziente Daseinsformen verwiesen. Kann das Konzept der Liebe dafür ein solides Fundament bilden? 2) Erweist sich die Begegnung in Liebe als ursprüngliche Form des Daseins, dann müssen alle übrigen Daseinsformen (das Dasein mit den anderen, Singularität) aus dieser ableitbar und daher begründbar sein. Das In-Beziehung-setzen dieser verschiedenen Daseinsmodi wird nicht zu umgehen sein, Brüche und Konvergenzen werden damit offenbar. Ziel der Arbeit ist es schließlich, zu sehen, ob Dissonanzen innerhalb des Binswangerschen Denkens unvereinbar nebeneinander stehen oder ob nicht diverse andere Standpunkte und Perspektiven seine Ansätze bereichern können. So bildet die Dissertation die Wiederaufnahme seiner Bemühungen, um sie erneut für das zu öffnen, welches Binswangers Denken in Atem gehalten hat. 8 Theunissen, Michael: Der Andere : Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. – Zweite, um eine Vorrede vermehrte Aufl. – Berlin ; New York : de Gruyter, 1977, S. 466-474 8 Ein Wort zum methodischen Vorgehen und zur Literatur: lassen wir uns auf ein Denken ein, so ist es geboten, jene Fragen, mit denen dieses Denken anhebt, interpretatorisch möglichst vorurteilsfrei und unverstellt abermals zu Gehör zu bringen. Dann erst kann der Fortgang eines Gedankenschrittes oder eines Problems verfolgt und mit anderen Positionen oder Einwänden konfrontiert werden. So erhebt Schaeffler das Fragen zu einer „ars bene interrogandi“: Fragen gehen aus Erfahrungen hervor, in denen das Wirkliche uns so begegnet, daß es uns zunächst, aufgrund seiner Befremdlichkeit, unserer Unwissenheit überführt. Dann kommt es darauf an, sich dieser Unwissenheit bewußt zu werden, sodann aber das sokratische Wissen von der eigenen Unwissenheit in gezielte Fragen zu übersetzen. Für den Versuch, aus unseren eigenen Erfahrungen die angemessenen Fragen zu entwickeln, kann es hilfreich sein, darauf zu achten, wie frühere Philosophen aus ihren Erfahrungen ihre Fragen entwickelt haben. [...] Einen vorgefundenen Satz verstehen heißt: ‚die Frage mitfragen, auf die er hat antworten wollen’, und eine Frage verstehen heißt: ‚sich an die Erfahrungen erinnern lassen, aus denen sie hervorgegangen ist’.9 Der Interpret muss sich mit dem zu Deutenden auf einem gemeinsamen Boden wissen, um von diesem aus Phänomene, Fragen und Erfahrungen sachgerecht auslegen zu können. Von Binswangers Schaffen trennt uns ein gutes halbes Jahrhundert, in dem kommentierende und kritisierende Stimmen aufgetreten sind. Zum bereits Publizierten ist zu sagen, dass sich eine Kluft zwischen den Naturwissenschaften und der Philosophie aufgetan hat. Forscher beider Disziplinen sind zuweilen zu Grenzgängen aufgefordert, die mancherorts fixe Positionierungen von Geistes- und Naturwissenschaft in Frage stellen bzw. diese überschreiten. Dies spiegelt sich in der Fachliteratur wider, die freilich auch einer subjektiven Auswahl unterliegt, zumal nicht alle denkerischen Bemühungen eingeholt werden können. Die Dissertation kann daher nicht philosophiehistorisch referieren, allerdings muss ihr des behandelten Themas wegen der Rückgriff auf die Tradition gestattet sein. Weder soll rezente Fachliteratur die herkömmliche dominieren noch sollen klassische Publikationen zu einem Kanon erhoben werden. 9 Schaeffler, Richard: Ontologie im nachmetaphysischen Zeitalter : Geschichte und neue Gestalt einer Frage. – Freiburg/Breisgau ; München : Alber, 2008, S. 16. Dass Erfahrung kein rein passives Erleiden des Er- oder Widerfahrenen, sondern in sich schon responsorischen Charakters ist, wird ebenfalls ausgeführt: „Was mich meinen Selbstgesprächen überläßt, in denen ich mich nur immer selber bestätige, ist keine Erfahrung. Aber was mich verwirrt und dadurch stumm macht, ist auch keine Erfahrung. Erfahrung ist, was mich entdecken läßt, was ich mir nicht selber hätte ausdenken können, mich aber zugleich zu einer Antwort auf das Entdeckte ruft, die nur ich selber geben kann.“, in: Schaeffler, Richard: Erfahrung als Dialog mit der Wirklichkeit : Eine Untersuchung zur Logik der Erfahrung. – Freiburg/Breisgau ; München : Alber, 1995, S. 313 9 1 Das Ereignis der Begegnung Die Frage nach Begegnung oder Beziehung ist eine alte und oftmals diskutierte. Ist sie damit aber schon nach allen Seiten hin erschöpfend beantwortet oder auch erst erreicht worden? Die Philosophie, die diesem Geschehnis nachgeht, beginnt demnach mit einer Frage. Eine Frage stellen hat zur Voraussetzung, dass etwas fraglich geworden ist, dass etwas der Frage würdig geworden ist. Die häufigsten Fragen lassen sich mühelos einer Antwort zuführen; die Frage etwa nach der Uhrzeit wird durch den Blick auf die Uhr gleich beantwortet. Diese und andere gängige Fragen – die mehr eine Auskunft als eine Antwort erfordern – sind durchaus geläufig und gerechtfertigt. Nach einem ähnlichen Schema verfahren wir, wenn wir nach intersubjektiven Beziehungen fragen, die uns vertraut sind. So kann man sich erkundigen, ob der Nachbar verreist ist, wann die Neuauflage eines Buches erscheinen wird usw. Auch die Befindlichkeit eines Arbeitskollegen ist es wert zu erfahren, um gegebenenfalls geänderte Dienstzeiten wahrnehmen zu können. In diesen Beispielen finden wir Beziehungen zwischen Subjekten, die sich im Bereich des Gesellschaftlichen manifestieren und welcher Bereich ohne wechselseitige Rede und Antwort nicht reibungslos ablaufen könnte. Der Kreis der Intersubjektivität schließt sich, sobald sämtliche ausstehenden Auskünfte kompetent erteilt worden sind. Frag-los bewegen wir uns in dem uns vertrauten Alltäglichen und daher Unverbindlichen. Soweit das Verständnis der mitmenschlichen Begegnungen, wie sie jeder von uns pflegt und kennt. Wirft man einen Blick unter das uns sich von selbst Verstehende, so ergibt dasselbe Phänomen, nämlich die Begegnung eben, ein anderes Bild. Nun zeigt sich das zunächst Unverständliche; das, das dem gewohnten Blick auf die Dinge bislang verborgen war. Was ist das, bzw. wer ist der, welchem ich in Anonymität und doch in unterschwelliger Bekanntschaft begegnet bin? Diese sich im unpersönlichen „Man“ versteckende Begegnung äußert sich in Bekanntschaft, oberflächlicher Freundschaft, zuweilen in schwelender Konkurrenz bis hin zur offenen Feindschaft. Die genannte und uns schon bekannte Unterschwelligkeit tritt zutage als ein Verwundertsein dem begegnenden anderen gegenüber: Derjenige, dem ich geglaubt und vertraut habe, wird mir auf einmal fremd, die gegenseitige Verlässlichkeit ist erschüttert. Dass diese Erschütterung sich plötzlich als negative Relation zum anderen herausstellt, ist nicht immer bestimmt und definitiv. Die Verwunderung über einen anderen Menschen kann in Gleichgültigkeit umschlagen, sie kann verschwinden, sie kann sich auch als Interesse am 10 anderen zeigen. Wieder steht die Frage nach der Qualität der Beziehung im Vordergrund, die uns danach fragen lässt, wer dieser Mensch ist, der mich verwundern lässt. Unter Beziehung oder Begegnung ist hier also nichts Statisches zu verstehen, welches sich, ist es einmal fixiert, beständig als Permanentes durchhält, mit dem man „rechnen“, welches man „zuordnen“ kann. Das käme einem Stillstand gleich, in dem in der Beziehung „nichts mehr weitergeht“ und die dadurch zerbricht. Einer Begegnung inhäriert wesentlich ein Wechselspiel, eine Dynamik, um ein Geschehen zu eröffnen, welches den Beziehungspartnern verschiedene Rollen anzunehmen ermöglicht. Die Dynamik der Beziehung wie deren Wechselhaftigkeit erfordern damit immer eine Neudefinition der Selbstkenntnis und auch der (Er)Kenntnis des anderen. Die Frage „Wer bin ich und wer bist Du?“ hat zwei Angesprochene – Ich und Du. Wiewohl das Ich die Frage nach dem anderen, dem Du stellt, ist es kein den anderen konstituierendes; das Thema der Intersubjektivität und Konstitution des anderen ist hier noch nicht spruchreif. Stattdessen soll vorweg gesagt sein, dass Ich und Du einander konstituieren, d.h. bedingen, und zwar in einem Raum, den beide einander gewähren und darin Ich-selbst und Du-selbst werden können. Dementsprechend bedeutet das folgende Problemkonstellation: aus und in dem Bereich des „Zwischen“ (inter) stehen zwei Personen bzw. Subjekte, die miteinander verbunden sind. Die Verbundenheit, also auch der Bereich des Zwischen stellen ein tragfähiges Fundament dar, auf dem sich Ich wie Du wechselseitig bedingen – will heißen: Einander-Gewähren aufgrund des gemeinsamen Bodens. Theoretisch lässt sich eine Zweisamkeit wohl denken, in der Praxis oder in der Lebenswelt ist diese Verbundenheit eines Ich mit einem Du keine exklusive, hier fordert – um mit Lévinas zu sprechen –, der „Dritte“ sein Recht ein. Bedenkenswert ist also dreierlei: der Bereich des die Intersubjektivität stiftenden Zwischen, das daraus hervorgehende Ich und Du und diese abschließend das Verhältnis von Ich bzw. Du zum Dritten oder, wie Binswanger sagt: zur Mitwelt. Methodisch etwas in die Irre führend hebt Binswanger in seinem Hauptwerk Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins sofort mit dem „Miteinandersein von Mir und Dir“ (so der Titel des ersten Kapitels) an, ohne zuvor einen Gedankengang zum „Thema“ Ich und Du oder Intersubjektivität gelegt zu haben. Er schließt sein Vorwort zu den Grundformen bloß lapidar: „Das Ziel der ‚Grundformen’ war nicht, eine Gegenschrift zu ‚Sein und Zeit’ sein zu wollen, sondern eine Phänomenologie der Liebe.“10 Will man Binswangers Absichten recht verstehen, wird man nicht umhinkommen, die erwähnten Begriffe näher zu besehen. Ein Begriff wie „Liebe“ enthält etliche Konnotationen, deren 10 AW 2, 9 11 geläufigste bestimmt die der Begegnung oder Beziehung darstellt, weshalb es hilfreich ist, das Phänomen „Begegnung“ zu beleuchten. Ist von Begegnung die Rede, meint man zunächst meistens die in ihr stehenden Partner, das Ich und das Du also. Ein ursprünglicher Ansatz wäre jedoch die Frage nach dem „Wir“ oder dem „Zwischen“, innerhalb dessen sich die Begegnung ereignet. Der Begriff der Begegnung selbst ist allerdings ein unscharfer; klare Umrisse fehlen, daher ist es nicht sachgerecht, von „der“ Begegnungsphilosophie zu sprechen, sondern besser von vielgestaltigen Ausprägungen einer Philosophie der Begegnung. Von einer systematischen Philosophie wird demnach nicht die Rede sein können. Des weiteren erweist sich Begegnung als ein Grundmodus menschlicher Existenz, den der Mensch stets unthematisch – vor jeglicher Reflexion – vollzieht. Es geht also darum, das Unthematische zu thematisieren, über es Kenntnis zu erlangen. Josef Böckenhoff bemerkt dazu: Als vor der Erkenntnis liegende Tatsache läßt sich die Begegnung nur schwer, im strengen Sinn gar nicht beweisen, nur in etwa aufweisen, vielleicht nur vermuten. Theunissen sagt ausdrücklich, es könne sich nur um eine Vermutung handeln, denn er glaubt hier, an der Grenze der Philosophie angelangt zu sein.11 Während Dinge bzw. Objekte das reflexiv Ersterkannte sind, bildet die Beziehung das Fundament der Realität zwischen Menschen, die als vorbewusste Einheit erst nachträglich reflexiv erfasst werden kann. Die vorthematische Anfänglichkeit des Wir eröffnet den Raum jeder Begegnung, wie auch immer sich diese später gestalten wird – sei sie dann Liebe, Abneigung, Indifferenz oder Geschiedenheit. Wichtig ist zu sehen, dass das Wir nicht lediglich psychologisch, soziologisch oder gefühlsmäßig zu verstehen ist, sondern dass es in existentiellem Rang steht und einer dementsprechenden Logik folgt. Sich von Heidegger absetzend schreibt Binswanger: Wie zum existierenden Dasein die Jemeinigkeit gehört „als Bedingung der Möglichkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit“, so gehört zum liebenden Dasein die „Unsrigkeit“, und zwar als Bedingung der Möglichkeit von (dualer) Wirheit. Dasein kann für uns also nicht primär Seiendes sein, „das je ich selbst bin“, sondern nur Seiendes, das je Wir-selbst sind.12 Eine erste Ambivalenz kündigt sich bereits an, und zwar jene zwischen Individualität und Wir-Raum: Zwar müssen Ich wie auch Du zuvor schon konstituiert sein, um eine Begegnung stattfinden lassen zu können, erst in der Begegnung aber erlangen beide ihr volles Selbstsein: 11 Böckenhoff, Josef: Die Begegnungsphilosophie. Ihre Geschichte – ihre Aspekte. – Freiburg/München : Alber, 1970, S. 213. Richtungweisend und aufschlussreich: Theunissen, Der Andere 12 AW 2, 49f. Die hier deutlich werdenden Anspielungen an und Auseinandersetzungen mit Heidegger erklären sich aus der intensiven Beschäftigung Binswangers mit Heideggers Sein und Zeit und dessen anderen Schriften, die für Binswangers Werk maßgebend waren. Die Einflussnahme Heideggers auf Binswanger durchzieht das Werk des letzteren, weshalb darauf gesondert im Kapitel 2.3 Heideggers Analyse des Mitseins als Basis für Binswangers Begegnungsdenken eingegangen wird. 12 „Die Selbstheit dieses Ich und Du gründet also nicht im Dasein als je meinem und deinem, sondern im Dasein als unserem, mit anderen Worten im Sein des Daseins als Wirheit. Erst aus der Wirheit ‚entspringt’ hier die Selbstheit. Wir sind ‚früher’ als Ich-selbst und Du-selbst.“13 Das Wir bildet sich nicht als Summe der Addition von Ich plus Du plus deren Interaktionen, das Wir stellt den Ermöglichungsgrund von Ich und Du als einander Begegnende dar. Hier macht sich eine eigenartige Dialektik bemerkbar: Ich, Du, sowie das wirhafte Zwischen bedingen einander, das eine ist nicht möglich ohne das andere. Eine vorgängige Spaltung zwischen Ich und Du setzt das Objekt (das Du) und das Sprechen zum Du (oder besser: das Sprechen zu und mit dir) als Dialogpartner schon voraus. Das Ich erlangt genetisch später sein Selbstbewusstsein in der Reflexion am Du und durch das Du. Beide müssen also zuvor aus der Wirheit ermöglicht worden sein, um ein gegenseitiges AneinanderWerden zulassen zu können. Eine Binsenweisheit ist offensichtlich die Tatsache, dass der Mensch nicht (mit sich) alleine ist, sondern von einer fundamentalen Du-Gerichtetheit geprägt ist. Gegen diese wohl zweifellose Tatsache kann man nun einwerfen, dass es sehr wohl Menschen gibt, die sich in Einsamkeit, Abneigung, auch Hochmut anderen gegenüber isolieren; zum anderen ist auch das Bestreben nach Selbstbestimmung von einer Ablösung vom Du gekennzeichnet, diese Suche nach Autonomie kann auch die Flucht aus einem Abhängigkeitsverhältnis bedeuten. Dennoch wird ein absolutes, von allen anderen Sozialkontakten abgelöstes Ich nicht zu finden sein. Das absolute, d.h. empirisch nicht existente Ich ist insofern ein bloßer „frommer Wunsch“, der sich als Egozentrismus und damit als Asozialität herausstellt. Den schlagendsten Beweis gegen die Alleinheit des Subjektes findet man in der Sprache, die durch ihr Wesen wie durch ihre Phänomenalität per se auf einen anderen als Gesprächs- oder Dialogpartner hinorientiert ist. Demzufolge ist ohne Sprache kein Denken möglich – gleich wie und wohin sich das Denken näherhin entfalten mag. Durch Reflexion erlangtes Selbstbewusstsein meint Objekterkenntnis, diese wiederum ist durch personales Erkennen bedingt; am deutlichsten kommt dieser lebensgeschichtliche Werdegang des Erkennens in der Beziehung zwischen der Mutter und ihrem Kind zum Ausdruck: „Ich werde schon geboren von einem Anderen; ich weiß, daß ich mir nicht selbst das Sein gegeben habe, d.h. ich existiere nur von und mit Anderen.“14 Weiters zieht Böckenhoff Karl Barth heran, aus dessen Kirchlicher Dogmatik zitiert wird: Was Menschlichkeit ist, ist überall da noch nicht oder nicht mehr gesehen, wo dem Menschen eine abstrakte, d.h. eine von der Mitexistenz seines Mitmenschen 13 14 AW 2, 112 Böckenhoff, Die Begegnungsphilosophie, S. 218 13 abstrahierte, Existenz zugeschrieben wird. [...] Wer den Menschen für sich und also ohne den Mitmenschen sieht, der sieht ihn gar nicht. Wer den Menschen im Gegensatz oder auch nur in Neutralität zu seinen Mitmenschen sieht, der sieht ihn gar nicht. Auch wer des Menschen Menschlichkeit erst nachträglich, nur sekundär, nur in beiläufiger Ergänzung dadurch bestimmt sieht, daß er nicht allein, sondern mit seinem Mitmenschen existiert, sieht ihn gar nicht.15 Wie hier negativ bemerkt wird, ist das Erkennen von Objekten (im Unterschied zum Subjekt, zum Du) und das Verhalten zu oder Umgehen mit ihnen – also das, was Binswanger den „umweltlichen Verkehr“ nennt – im Miteinandersein verwurzelt.16 Während das Erfassen eines Objektes schematisierend-kategorisierend erfolgt, ist dem Ich die andere Person mit diesen Methoden nicht erschließbar, weil der andere die Objekterkenntnis und Wahrnehmung desselben seinerseits mir ermöglicht. Begegnung ist sachlichen Erkenntnisbezügen daher logisch, genetisch, psychologisch vorgeordnet, Personen haben gegenüber Objekten „Vorrang“, was nicht heißt, dass Personen nicht auch degradierend verdinglicht werden können, sowie auch Objekten anthropomorphisierend begegnet werden kann – man denke an Fetische oder Strömungen des Zeitgeistes, die suggerieren, Akzidentien als Substrate sehen zu müssen. Statt sich solchen Moden anheimzugeben, mag sich die Einsicht öffnen, nach der der Mitmensch ein Erstvertrauter ist. Damit das Ereignis der Beziehung in reicherem Umfang zur Geltung kommen kann, sind auf die verschiedentlichen Konkretionen derselben zu achten. Begegnung ist keine weltlose, sich abstrakt gestaltende. Das wird deutlich in der Tatsache, in der ein individuelles Ich auf ein ebensolches Du trifft – ein Faktum, dem von einigen Philosophen des Dialogs oft nicht entsprechendes Augenmerk geschenkt wurde. Das kann ein Grund für die Begegnungsphilosophie sein, ins Mythische, Pseudoreligiöse, nur mehr billig Poetische, daher ins Phantastische, Schwärmerische wegzudriften. Gerade wenn eine Beziehung sich als Liebe ereignet, ist sie durch Zeit, Raum und umweltliche Objekte vermittelt und mitkonstituiert. Keinesfalls darf Miteinandersein in Liebe mit dem allseits bekannten Verliebtsein gleichgesetzt werden, das sich in rauschhaft-euphorischen Zuständen äußert. Dennoch ist damit nicht gemeint, dass Verliebtsein nicht in Liebe münden kann. Ausgerechnet in seinem Antichrist schreibt Nietzsche: „Die Liebe ist der Zustand, wo der Mensch die Dinge am meisten so sieht, wie sie nicht sind. [...] Man erträgt in der Liebe mehr als sonst, man duldet alles.“17 15 Böckenhoff, Die Begegnungsphilosophie, S. 218 Siehe dazu AW 2, Erster Teil, zweites Kapitel, S. 239-270 17 Nietzsche, Friedrich: Der Antichrist, in: Ders.: Werke II. – Hrsg. von Karl Schlechta. – Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1997, S. 1183 16 14 Zwei Interpretationen lässt dieses Zitat zu: 1) Im Verliebtsein ist man „blind vor Liebe“, die Liebe verklärt mich wie den anderen auch; die Außenwelt verschwindet, wodurch die Liebenden selbstgenügsam ihre spielerische Zuneigung pflegen. Das, was bisher wichtig und bedeutend war, wird zugunsten der Geliebten vernachlässigt oder zumindest zweitrangig. Die durchaus wichtige, weil prägende Erfahrung der „ersten Liebe“ endet meistens in der ernüchternden und enttäuschenden Erkenntnis, dass die Geliebte bloß eine Vor-stellung war, dass dadurch der jeweils andere ver-stellt wurde. Der Begriff Ent-täuschung ist so zu verstehen: beide Verliebte sind sich ihrer Täuschungen bewusst geworden, wobei es hier Selbsttäuschungen und Täuschungen seitens des anderen gibt. Die Charakteristik des Verliebtseins ist nicht pejorativ zu sehen, zumal dieses ein wesentlicher Schritt in der persönlichen Entwicklung jedes Menschen ist. 2) Obiges Nietzsche-Zitat kann in dem Sinne ausgelegt werden, der sich dem Begriff der Liebe bei Binswanger annähert. Die Grundform menschlichen Daseins bildet die Dualität, das liebende Wir mithin, die Begegnung von Du und Ich, welches ein Wir eröffnet, aus dem Du und Ich heraustreten. Begegnung in Liebe kann dann sein ein rückhaltloses Offensein und Sich-Geben für den jeweilig anderen; weder Offensein noch Sich-Geben sind von einem Partikularinteresse am anderen geleitet. So bin ich offen für dich als jemand, der eben du bist und sonst kein anderer an deiner Stelle. Du kannst dich nicht in deinem Du-selbst-sein von anderen vertreten lassen – das ist deine Einzigartigkeit. Genauso geschieht es in umgekehrter Richtung: ich werde meiner Einzigkeit gewahr, weil nur ich mich dir nähern kann wie sonst niemand. Natürlich ist die Dualität – der Begriff sagt es bereits aus – von Exklusivität geprägt, was jedoch nicht ausschließt, dass selbst eine tiefe Liebesbeziehung zu Ende gehen kann. In der Ich-Du-Beziehung sind Partikulares, Alltägliches, Zufälliges nebensächlich. Relevant ist einzig das Wir, in dem Ich und Du einander begegnen; in dieser Hinsicht ist das In-der-Welt-sein als Sein-bei-den-Dingen bestenfalls zweitrangig. Binswanger hat hier Heideggers Begriff der Sorge im Hintergrund, in der die Jemeinigkeit des Daseins steht. Um auf das Nietzsche-Zitat zurückzukommen: auch das liebende Miteinandersein sieht die Dinge, die Welt nun mit anderen Augen, das ständig von Uneigentlichkeit im Man bedrohte Dasein erfährt im Miteinander seine Eigentlichkeit, die sich nur da durchhalten kann, wo sie nicht abgelenkt wird von Unwesentlichem, Störendem, das sich zwischen Ich und Du schiebt. So stellt sich die Begegnung als eine eigene Sphäre dar, die sich von der gewohnten, uns bekannten Welt abhebt. Problematisch ist an dieser Sicht der Liebe doch einiges: „Die Liebe ist völlig unbestimmt, sie kennt nur die fraglose Wahrheit des Herzens. Wie aber läßt sich 15 ohne Eigenschaften, ohne Gegenstand, ohne faßbare Tatsachen etwas fassen, beschreiben, beurteilen und sogar wissenschaftlich anwenden?“18 Binswanger muss seine radikale Idee einer liebenden Dualität zurücknehmen, um dem mit- und umweltlichen Umgang und Verkehr Raum gewähren zu können, zumal das liebende Miteinander nie gänzlich ohne Welt bestehen kann. Seine Konzessionen an die Weltlichkeit und Weltgebundenheit fallen manchmal halbherzig aus, dennoch schreibt er: Anderseits dürfen wir bei der phänomenologischen Aufhellung des liebenden Miteinanderseins das Phänomen der Welt als solches nicht überspringen, wie FEUERBACH es in seiner Philosophie der Zukunft getan hat, wo er – als Erster – das Miteinandersein von Ich und Du anthropologisch in seiner Eigenart beschrieben hat. Der Gruß, die Handschrift, die Stimme, das (welt-)räumliche Beisammen- oder Getrenntsein sind auch (um-, mit-)weltliche Bewandtnisganzheiten, beruhend auf ebensolchen Verweisungszusammenhängen oder Bedeutsamkeiten. Ja selbst die Liebe zu Gott ist nicht möglich, wo Gott nicht „aus der Welt“ erfahren wird. Und was von der weltlichen Erfahrung gilt, gilt erst recht von der weltlichen Bewährung der Liebe. Liebe findet sich in der Welt und bewährt sich an der Welt (des Besorgens).19 Das Dilemma von Liebe (Dualität) und Pluralität (Mitsein von vielen) bzw. der Widerspruch von der konkreten Welt und der Weltabgewandtheit in der Dualität wird dann erst aufgehoben, wenn die Ganzheit des Daseins als Dualität, Pluralität und Singularität gefasst wird. Die Gebundenheit des Miteinanderseins als Dualis – als Zweiheit – an die Welt und das sich in ihr Konkretisierende, d.h. Umstände, die nicht die Dualität begründen, aber auf die sie angewiesen ist, kommt vornehmlich in der Leiblichkeit des Daseins zum Ausdruck. Von Leiblichkeit ist Körperlichkeit zu unterscheiden. Ein Körper ist Untersuchungsgegenstand empirischer Wissenschaften, der in einem System von Koordinaten einordenbar ist; dieses System kann ferner physikalischer, mathematischer, soziologischer, juristischer, auch ideologischer Natur sein. Der Körper ist ein Feststellbares, Fixierbares, welches einer Untersuchung unterziehbar ist (wie es in der Medizin und in den Naturwissenschaften stattfindet), welches verwendet werden kann (so wie Menschen als Arbeitskräfte verwendet werden), und schließlich ist der Körper ein Etwas (man beachte das Neutrum, die Geschlechtslosigkeit des Nomens!), das zu etwas dienlich ist20, um einen Zweck zu verfolgen und diesen auch zu erreichen. Wie jedes belebte Wesen verfügt auch der Mensch über einen Körper, der unerlässlich für das Dasein und das In-der-Welt-sein ist. Unser Körper unterhält Vitalfunktionen, ohne die ein Leben gar nicht möglich wäre. Ist eine dieser Funktionen 18 Böckenhoff, Die Begegnungsphilosophie, S. 173 AW 2, 60 20 Die Dienlichkeit des Körpers, vornehmlich des Körpers des anderen erörtert Binswanger in den Grundformen im Kapitel über den mit-weltlichen Umgang des Einen mit einem Anderen, dazu mehr in: AW 2, 239-343. 19 16 traumatisiert (wie etwa eine Knochenfraktur, unzureichende oder übermäßige Nahrungszufuhr, daraus resultierende Organschäden u.ä.), wird die Integrität des Körpers bedroht. Fasst man den Begriff „Körper“ etwas weiter, dann erreicht man das Gesellschaftliche wie etwa die Arbeitsumgebung und das damit verbundene soziale Umfeld. So kann der Körper als Funktion verstanden werden, welche diversen Zwecken, Absichten und Zielen dienen kann, wobei diese Funktion wohl auch zweckentfremdend eingesetzt werden kann. Anders steht es um den Leib des Menschen. Zwar ist jeder Mensch ein Körper, doch niemand will sich durch seinen Körper vermittels dessen Funktionalität definiert wissen. Ein Gerät z.B. wird daraufhin geprüft, ob es tauglich ist in dem Sinne, ob es „zu etwas gut“ ist. Es geht hier um ein Ziel, das eingeholt werden soll. Bloße Körperlichkeit reicht jedoch nicht aus, um den Begriff der Leiblichkeit zu erfüllen. Leib ist qualitativ – nicht quantitativ! – „mehr“ als der Körper. Was der Leib im Unterschied zum Körper bedeuten kann, illustriert Heidegger in den Zollikoner Seminaren, die er gemeinsam mit Medard Boss21 gehalten hat. Dort ist u.a. von Trauer und Tränen die Rede. Was Trauer heißt, weiß der, der eine geliebte und geschätzte Person verloren hat, und doch verhält sich die Trauer nicht zu einem Gradmesser, der darüber Auskunft gibt, wie traurig eine Person ist. Auch die Tränen lassen sich nicht messen, schon gar nicht lässt sich das Weinen auf physiologische Zustände zurückführen, die wiederum nur die Beschaffenheit der Tränenflüssigkeit erklären, wodurch die leidende Person im Ansatz schon verkannt ist. „Bei der Tiefe einer Trauer fehlt vollends jeder Anhalt und Anlaß, sie quantitativ zu schätzen oder gar zu messen. Bei einer Trauer läßt sich immer nur zeigen, wie ein Mensch beansprucht und wie sein Welt- und Selbstbezug verwandelt wird.“22 Versteht man den Tränenfluss als eine Abfolge von chemischen Prozessen, die übrigens vom Körper vollzogen werden, dann kann man weder einen aus Trauer noch einen vor Freude Weinenden verstehen. Ein weiteres Beispiel zur Erhellung des Phänomens der Leiblichkeit ist das des Fensterkreuzes – ebenfalls in den Zollikoner Seminaren diskutiert: Ich zeige auf das Fensterkreuz, weil ich hinter (hier geometrisch-räumlich verstanden) dem Fenster etwas wahrnehme, das mich interessiert, enttäuscht oder fasziniert. Mit meiner Handbewegung möchte ich andere Anwesende auf diesen Vorgang aufmerksam machen. Die anderen werden aber nicht meine Hand anstarren, sondern ihre Aufmerksamkeit dahin richten, was „hinter“ 21 Heidegger, Martin: Zollikoner Seminare. Protokolle – Zwiegespräche – Briefe. – Herausgegeben von Medard Boss. – Dritte, um ein Register ergänzte Auflage. – Frankfurt/Main : Klostermann, 2006. Hier besonders die Seiten 105-115. 22 Heidegger, Zollikoner Seminare, S. 107 17 dem Fenster geschieht. Wäre diese Geste eine bloße Körpergeste, dann bekämen die anderen nur meine Hand zu Gesicht und nicht das, worauf die Hand verweist. Mit der Hand endet mein Körper, mein Leib hingegen erstreckt sich darauf, worauf die Hand verweist. Die Hand – als Körperliches – ist ein Mittel des Verweisens in einem entsprechenden Rahmen oder Zusammenhang, der mir aber nicht zugänglich ist, wenn ich leiblich nicht da bin, nicht in der Welt bin. Der Körper hört auf an der Haut. Wenn wir hier sind, sind wir immer in Beziehung zu etwas. Also könnte man sagen, wir seien immer über den Körper hinaus. Allein, diese Feststellung ist nur scheinbar richtig. Sie trifft doch nicht das Phänomen. Denn ich kann das Leibphänomen nicht in der Relation zum Körper bestimmen. [...] Beim Zeigen mit dem Finger auf das Fensterkreuz dort drüben höre ich nicht bei den Fingerspitzen auf. Wo ist denn die Grenze des Leibes? [...] Grenze des Leibens (der Leib ist nur insofern er leibt: Leib) ist der Seinshorizont, in dem ich mich aufhalte. Deshalb wandelt sich die Grenze des Leibens ständig durch die Wandlung der Reichweite meines Aufenthaltes.23 Wie Heidegger zeigt, bewege ich mich in der Zeit und im Raum, also in der Welt und in und mit meinem Leib. Menschliche Grundvollzüge wie Erkennen, Handeln, Fühlen sind leibliche, sie sind durch den Leib erst möglich. Der Leib fungiert also nicht als Schleier, hinter dem sich ein Personkern versteckt hält, sondern die Person ist leiblich da. Interessant ist hier ein Blick auf Rationalität, auf das Denken, durch das sich der Mensch erhaben wähnt. Der Vernunft (ratio) wird Besonnenheit, Fähigkeit zur Reflexion zugesprochen – das allerdings erweist sich als denkerischer Nachtrag zum Dasein als leibliches: als Dasein erweist sich unser Denken und damit unser Begegnen anderen gegenüber als Verhalten; leibliches Dasein agiert bzw. reagiert schneller, unvermittelter, treffender und unmittelbarer als Vernunft und Logik. So wird der andere nicht primär und ursprünglich als Körper wahrgenommen, der eigengestaltige Bewegungen ausführt, welche nachmalig nach Erkennen derselben interpretiert werden. Kein Mensch käme auf den Gedanken, angesichts eines wütenden Tobsüchtigen diesen nach den gebotenen Regeln der Wissenschaft hin zu analysieren, um herauszubekommen, warum ein Mensch sich derart gebärdet. Der Leib, nicht die rechnende Vernunft heißt mich die Flucht ergreifen. Ganz richtig zitiert Binswanger in diesem Sinn R. A. Schröder: Sehr gut und ohne alle philosophische Kunstausdrücke spricht dies R. A. SCHRÖDER einmal im Beispiel der Zeugen- und Gehilfenschaft bei einem unmittelbar geschehenden oder drohenden Unfall aus: „Wer kommt da schneller zu Hilfe, unsere auf logischen Vergleichsschlüssen beruhende Kunde [...] oder die Hand? Man könnte meinen und sagen, sie ‚denke’ schneller als unser umständlich zusammenrechnender Verstand; aber sie ist in diesen wie in vielen anderen Fällen nur das willigere Werkzeug unseres ursprünglichen Glaubens an die wirksamen Zusammenhänge alles Geschehens, denen Verstand und Vernunft überall mühsam 23 Heidegger, Zollikoner Seminare, S. 112f 18 nachhinken, ohne ihnen jemals im vollen Sinne des Wortes auf die Spur zu kommen.24 Im Hauptwerk Binswangers ist von der Leiblichkeit merkwürdigerweise selten die Rede; er teilt seinen Begriff der Leiblichkeit jeweils den drei Grundformen des Daseins zu.25 Mehr ist diesbezüglich in seinen psychiatrischen Schriften zu erfahren26; festgehalten kann dennoch werden, dass Binswanger das Phänomen Leib im Bereich der Mitweltlichkeit sowie in dem der Eigenweltlichkeit erörtert. Was allerdings Leib in der ursprünglichen Weise des Daseins (die Liebe) meint, kommt meistens versteckt zum Vorschein, größtenteils greift Binswanger auf Lyrik zurück, die er für seine Absichten in Anspruch nimmt, hier wiederum oftmals der Briefwechsel zwischen Elizabeth und Robert Browning mit Bezugnahme auf beider Schrifttum. Trotz der verhaltenen Ausführungen zum Thema Leib erkennt Binswanger den Stellenwert desselben, auch der durch den Leib gestiftete und ermöglichte Bezug zum anderen ist ihm klar: „Auch das Leib- und sogenannte Ich-Bewußtsein ist keineswegs ein monadisch abgeschlossenes; auch in ihm ist sich Einer der Anderen nicht nur ‚bewußt’, sondern ist Einer wesensmäßig Andere bedrängend und von ihnen bedrängt.“27 Die verwendeten Worte „bedrängend“ und „bedrängt“ weisen bereits auf die Räumlichkeit des Phänomens, das der Mensch selbst ist, hin: wer bedrängt mich und warum und wohin werde ich gedrängt? Die hier erwähnte Bedrängnis ist nicht als violente aufzufassen – selbst dies hätte einen anderen zur Voraussetzung, der bedrängt oder den man selber bedrängt. Der Leib, den jeder Mensch hat und der jeder Mensch ist, ist zu einer Selbstverständlichkeit heruntergekommen, sodass er gar nicht mehr als Leib erkannt wird; Körper und Leib werden als Synonyma verwendet, d.h. weder Körper noch Leib sind des Urteilens und Denkens fähig, wodurch beide, Leib wie Körper aus dem Menschsein herausfallen. Welche Tragfähigkeit der Leib besitzen kann, wenn man ihm sie zugesteht, sagt Nietzsche: „Leib bin ich ganz und gar, und nichts außerdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine große Vernunft, eine Vielheit mit einem Sinne [...].“28 Zum Leib gehören notwendig die Sinne, so etwa der Blick, er eröffnet die Präsenz des anderen und meine Präsenz ihm gegenüber. Das Sehen bedeutet die Offenheit für die Welt und leistet die Begegnung mit der Wirklichkeit des anderen. Wir kennen den liebenden, 24 AW 2, 249, Fußnote 3 Siehe dazu AW 2, 329-337, sowie 404-406 26 Diese finden sich in Band 1 (Über Ideenflucht sowie Drei Formen missglückten Daseins) und Band 4 (Der Mensch in der Psychiatrie) der Ausgewählten Werke. 27 AW 2, 331 28 Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, in: Werke II, S. 300 25 19 flehenden, auch bittenden Blick; dagegen steht der verachtende Blick, auch das „SchöneAugen-machen“ ist bekannt. Wohl weniger bewusst ist man sich der Tatsache, dass ein Blick Würde, Anerkennung und Achtung verleihen kann. Überhaupt ist hier mit Blick nicht der Zustand des menschlichen Auges gemeint; die natürliche Eigenschaft des Sehens ist freilich nicht unwesentlich, worum es aber tiefer geht, ist der Blick, das Sehenkönnen als Gerichtetsein auf den anderen, in Folge davon dann das Geöffnetsein für die Welt: In einzigartiger Weise kommt im Blick die Gegenseitigkeit der Begegnung zum Ausdruck. Dem Anderen ins Auge schauen ist – von pathologischen und medizinischen Fällen abgesehen – immer gleichzeitig, gegenseitig, ausschließend zweiseitig. Drei Personen können sich nicht in die Augen schauen. [...] Man wird sichtbar im sehenden Auge. Man öffnet sich darin. Anders den Andern anschauen ist inhuman.29 Der mich vom anderen treffende Blick kann ein anerkennender sein, auf jeden Fall ist mein Leib als erblickter ein objektivierter. Berühmt ist das Problem des Blickes, das Sartre aufgeworfen hat und demzufolge der Blick des anderen das Sein in Begegnung als Konflikt darstellt. Der Blick raubt dem Subjekt seine Leiblichkeit bzw. Ganzheit: „Erscheint also unter den Gegenständen meines Universums ein Moment der Desintegration eben dieses Universums, so nenne ich das das Erscheinen eines Menschen in meinem Universum.“30 Eine gegenteilige Ansicht vertritt Lévinas; bei ihm ist der Blick des anderen ein rufender, fragender, der das Ich zu sich (d.h. das Sich des Anderen) zitiert. Die Gegenwart des anderen stellt mein unbedarftes In-der-Welt-sein in Frage, indem es mich auffordert, Rechenschaft abzulegen.31 Von zentraler Bedeutung für jede Begegnung sind Sprache und Hören, zumindest in dieser Hinsicht sind die Philosophen des Dialogs einig: Für Ferdinand Ebner ist Sprache das „Vehikel“ der Ich-Du-Beziehung, für Martin Buber sind „Ich“ und „Du“ sogar Grundworte, die gesprochen einen Bestand stiften und Romano Guardini fasst Sprache als Sinnraum, in dem jeder Mensch lebt. Das Wesentliche in der Sprache ist weniger ein Akt, ein vollzogener, geäußerter Satz, obwohl Lautlichkeit und Artikulationsvermögen genauso wie die entsprechenden Körperorgane (Lunge, Larynx, Mund, etc.) unabdingbar sind. Selbst bei völliger physischer Intaktheit dieser Voraussetzungen kann ein Mensch viel reden, ohne jedoch etwas gesagt zu haben. Binswanger hat solch leeres Gerede als „Schwatzhaftigkeit“, 29 Böckenhoff, Die Begegnungsphilosophie, S. 272 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts : Versuch einer phänomenologischen Ontologie. – Herausgegeben von Traugott König. Deutsch von Hans Schöneberg und Traugott König. – Reinbek : Rowohlt, 1993. – (Philosophische Schriften ; 3), S. 461 31 Siehe dazu: Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit : Versuch über die Exteriorität. – Übersetzt von Wolfgang Nikolaus Krewani. – 2. unveränderte Auflage 1993. – Freiburg/Breisgau ; München : Alber, S. 103109 30 20 „Großmäuligkeit“, „unechte Großzügigkeit“ benannt.32 Das Phänomen des Sich-mitteilens wird damit ins Negative verkehrt (per-vertiert) – nicht der andere ist es, dem die Aufmerksamkeit zukommt, sondern ich bin es, der anderen forsch und brüsk Gehör abverlangt. Bei Heidegger besitzt die Sprache den Rang eines Existenzials, also ein das Dasein Konstituierendes. Eben dieses Konstituens stammt aus dem vorgängigen Mitsein. Sobald man über Sprache nachdenkt, passiert es oft, bloß den Vollzug des Sprechens im Auge zu haben, ohne sein Komplementärphänomen zu beachten – nämlich das Hören, das dem Sprechen bereits vorgeordnet ist. Das Hören bestimmt die Rede: Das Hören auf ... ist das existenziale Offensein des Daseins als Mitsein für den Anderen. Das Hören konstituiert sogar die primäre und eigentliche Offenheit des Daseins für sein eigenstes Seinkönnen, als Hören der Stimme des Freundes, den jedes Dasein bei sich trägt. [...] Das Aufeinander-hören, in dem sich das Mitsein ausbildet, hat die möglichen Weisen des Folgens, Mitgehens, die privativen Modi des NichtHörens, des Widersetzens, des Trotzens, der Abkehr.33 Auch wenn das Ich mit sich alleine ist, ist ein anderer gegenwärtig, so wenn sich das Ich andere Personen vergegenwärtigt, deren Präsenz bereits schon gewesen ist, oder erst noch kommen wird. Bereits das Selbstdenken trägt den Charakter des Dialogs, insofern das Denken person- und objektbezogen ist. Der allgemeine, alltägliche „Gebrauch“ der Sprache zielt auf deren Funktion; sie wird rechtmäßig angewendet, um Informationen, das Befinden des anderen und ähnliches – meist Unverbindliches – zu erfahren. Mit Buber kann man feststellen, dass Sprache als funktionale die Es-Welt wiedergibt.34 Verharrt der Sprechende in diesem Sprachmodus, dann begibt er sich in ein Gerede, wie es Heidegger ausdrückt, welches das Man erfüllt. Ein Gespräch zwischen Ich und Du, in dem beide füreinander – jeder für sich zum anderen sprechend und vice versa – da sind und einander Sprechen wie Hören gewähren und gelten lassen, ist im anonymen Man nicht möglich, zumal das Man das jeweils einzige Ich und Du gleichmacht, zu Unpersönlichem nivelliert. 32 Dies wird vor allem in AW 1 behandelt. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. – unveränderter Nachdruck d. 15. Aufl., an Hand der Gesamtausgabe durchgesehene Aufl. mit den Randbemerkungen aus dem Handexemplar d. Autors im Anh. – Tübingen : Niemeyer, 1986, S. 163. Siehe dazu auch: Pöltner, Günther: Was heißt Hören?, in: Daseinsanalyse 10 (1993), S. 149-161. Ferner interessant und aufschlussreich sind die Forschungen des französischen Otolaryngologen Alfred A. Tomatis, Der Klang des Lebens : vorgeburtliche Kommunikation – die Anfänge der seelischen Entwicklung. – Deutsch von Heiner Kober. Einf. und Bearb. von Sabina Manassi. – Reinbek : Rowohlt, 1998. – (rororo transformation ; 18791) 34 Siehe dazu den ersten Teil von Bubers Ich und Du, in: Ders.: Das dialogische Prinzip. – Orig.-Ausg., 7. Aufl. – Gerlingen : Schneider, 1994 33 21 Treffend bringt das Hölderlin auf den Punkt. Im Gedicht Mnemosyne (ύ zu Deutsch: Erinnerung, Bedacht) erfasst er die in die Irre führende Funktionalität einer bestimmten Auffassung von Sprache: Ein Zeichen sind wir, deutungslos, Schmerzlos sind wir und haben fast Die Sprache in der Fremde verloren. […] Lang ist Die Zeit, es ereignet sich aber Das Wahre.35 Der Titel des Gedichts ist nicht ohne Behutsamkeit gewählt; der Verlust von Erinnerung, Bedacht (d.h. das absichtslose Gespräch) führt uns als deutungsloses Zeichen vor, das jedes Sinnes und jeder Gerichtetheit (nämlich auf das Du) verlustig gegangen ist. Als Resultat dieser den anderen verfehlende Sprachlosigkeit sind wir schmerzlos, weil sich Ansprache und Zusprache nicht ohne Schmerz, das meint Angegangenwerden, Erleidnis, ereignen. Erleiden, nicht bloß medizinisch interpretiert, schließt Getroffensein, Hören und Antwortgeben ein.36 Die in der Fremde verlorene Sprache meint dann weiter die Trennung von Ich und Du, eine Zerrissenheit des Gesprächs, die zwar lange her ist und dementsprechend gedauert hat, die aber keinen ursprünglichen Zustand mehr aufweist. Hölderlin sieht in der „wiedergefundenen Sprache“ die Hoffnung, doch noch die Möglichkeit für das Ich und das Du, in Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit einander zu begegnen. In diesem Miteinander macht er das eigentliche, authentische Menschliche aus: „Lang ist / Die Zeit, es ereignet sich aber / Das Wahre.“ Binswanger verfährt ähnlich, auch er unterscheidet Sprache als Mittel zur Kommunikation von der Sprache in der und durch welche Ich und Du einander begegnen. Er setzt an bei der „Schiedlichkeit des Sprechens“, die von einer einseitig konstituierenden Intentionalität ausgeht.37 Unverbindliche Sprache wird hier in die Nähe der Sorge, des Man, der Anonymität gerückt, von welcher Binswanger den Dialog der Liebe abhebt. Ex negativo stellt sich die Sprache des liebenden Miteinander tatsächlich als Schweigen dar, insofern es ihr nicht um Allgemeines, Unverbindliches, Unverpflichtendes zu tun ist, d.h. also, Sprache dient nicht dem Informationsaustausch, in dem Fragender und Antwortender vertauschbar wären. Nicht, dass Liebende einander nichts zu sagen hätten, das wäre die Auflösung jeder 35 Hölderlin, Friedrich: Gedichte. – Erste Aufl. 1984. – Herausgegeben und mit Erläuterungen versehen von Jochen Schmidt. – Frankfurt/Main : Insel, S. 199f 36 Das Schmerzlose in Hölderlins Gedicht ist die ἀά – die Leidenschaftslosigkeit, Gelassenheit, die Teilnahmslosigkeit, die a-passio. Das Gegenteil dazu ist die (nicht passivisch zu verstehende) Rezeptivität, die Fähigkeit, aufzunehmen, am anderen teilzuhaben. 37 AW 2, 181 22 Beziehung; sie haben im Gegenteil sehr viel zu sagen, welches aber das noch Ungehörte, Unerhörte einschließt. So ist [...] die Wirheit im Lieben unartikulierte, undeterminierte, in einem Wort ungeschiedene, nämlich rein überschwingende Fülle, also Sprachlosigkeit, sprach-, ja atemlose Stille, eine Stille, die, als Daseinsbestimmung, keineswegs eine Negation oder Privation (ein Fehlen von Laut, Lärm, Geräusch oder Ton) bedeutet, sondern die höchst positive, „lautlose“ Erfüllung und Durchdringung des gesamten Daseins.38 Das Verständnis von Sprache zielt nicht auf die mediale Sprache oder Sprache als Instrument ab, Binswanger spricht von einem unmittelbaren „Daseinsgespräch“. Das bedeutet, das Dasein selbst steht im Gespräch, in diesem Sinn beschließt Hölderlin sein Gedicht Friedensfeier: „Seit ein Gespräch wir sind / Und hören können voneinander.“39 Hölderlin sagt nicht, wir führen ein Gespräch, sondern wir sind ein Gespräch. Sprache ist kein Akzidens, das dem Menschen mehr oder weniger zufällt und ohne die er ebenso existieren könnte. Bereits die Gerichtetheit eines Ich auf ein Du hat sprachlichen Charakter als Öffnung auf und Freisein für ein Du, auch wenn de facto keine lautliche Äußerung stattfindet. Die Sprachbegabtheit ist damit eine grundlegende, existenziale Kategorie. Von der Existenz des Menschen als Sprache, als im Dialog Stehender unterscheidet Binswanger zweckbestimmte Dialogformen und nennt deren drei: 1) der sokratische Dialog, in dem es um Eruieren, Klären und Vertiefen eines Sachverhaltes geht; 2) der Dialog des praktischen Verkehrs in Alltag und Gesellschaft, hier steht das Wort im Dienst der sozialen Bindung; 3) der narrative Dialog, dem es um die Feststellung eines Tatbestandes geht, sei dieser aus persönlicher Neugier oder aus sachlichem Interesse. Diese Weisen des Dialogs haben mit der Sprache in der Begegnung nichts gemeinsam: Der liebende Dialog ist an und für sich nicht nur ohne „sachliches“ Thema, sondern auch ohne Zweck. Als zweck-freier oder zweck-loser untersteht er weder einem sachhaltigen, noch einem eristisch-machtgierigen, noch einem gesellschaftlichen, noch einem historischen Zweck.40 Stets betont Binswanger die Verflochtenheit von Liebe und Sorge, d.h. die Weltgebundenheit der Liebe, die sich in den Sorgestrukturen des Daseins zeigt. Allerdings schwankt er ständig zwischen Liebe, wie sie sich in der Welt zeigt und manifestiert und einer Idee von Liebe, die das Ich bzw. das Du als in der Welt Auftretendes nicht thematisiert: Das liebende Gespräch „dreht sich“ nicht um ein thematisiertes Sachgebiet; es ist kein Etwas, kein „Gegenstand“, worüber die Liebenden „wahrhaft“ reden oder „wahrhaft“ schweigen, sondern es ist das Dasein als Heimat, Du-Ich, Wir, wovon sie wahrhaft redend und schweigend zeugen.41 38 AW 2, 179 Hölderlin, Gedichte, S. 163 40 AW 2, 191 41 AW 2, 192 39 23 In dieser Ambivalenz ist die Sprache der Liebe angesiedelt, und zwar in zweifacher Weise: „[…] als Nennung der Geliebten und als liebendes Gespräch (wozu auch der Liebesbrief und das Liebesgedicht gehören).“42 Nicht umsonst führt Binswanger sehr oft Liebesgedichte und Textpassagen namhafter Dichter an, neben Elizabeth und Robert Browning Goethe, Valéry, Shakespeare. So ist die Offenheit füreinander, in der die Begegnenden stehen, nicht deren eigenes Gesprächsthema, sondern der Hintergrund jedes Gesprächs. Natürlich hat in der IchDu-Beziehung das Wort einen eigenen, besonderen Stellenwert. Selbst wenn das geliebte Du über Alltägliches spricht, so ist dieses Sprechen von anderer Bedeutung als wenn jemand Dritter genau denselben Sachverhalt schildert. Liebende Zwiesprache geht gerne so weit, einen eigenen Sprachcode zu etablieren, dessen sich nur Ich und Du bedienen können: „Nicht was das Wort bedeutet, entscheidet hier, sondern daß Du es bist, die es ausspricht.“43 Die bislang erwähnten Phänomene der Begegnung wie Leiblichkeit, Körper, Sprache, Hören, die Beziehungsrelata Du und Ich, sowie die Liebe als solche erhellen das Ereignis der Beziehung als ein dynamisches, das erstarrt, sobald es als statisches aufgefasst wird. Jede Einmaligkeit von Ich und Du wäre damit preisgegeben, auch die Eigenart von Räumlichkeit und Zeitlichkeit, die die Liebenden einander gewähren und eröffnen, ist dann verdeckt.44 Umgekehrt soll die Betonung der Dynamik und des Wandels der Begegnung nicht dazu verleiten, anzunehmen, dass die Beziehungspartner sich in einem ständigen Umbruch befinden, was dazu führen würde, dass dem Ich und dem Du ihre Substanzialität genommen würde (vgl. sub-stare als jenes, das „darunter steht“, das das tragende Fundament bildet). In eine Begegnung kann erst jemand eintreten, der bereits Subjekt ist, Du eines Ich allerdings kann erst werden, der in der Beziehung steht. Das Paradox Selbstand des Ich (bzw. Du) versus Selbstwerdung im und am Du stellt Karl Löwith etwa wie folgt dar: Als „Du“ bist du mir gegenüber nicht dadurch selbständig, daß du dich auf dich selbst zurückziehen und dich so für dich selbst als (anderes) Ich bestimmen kannst, sondern deine Selbständigkeit kannst du mir positiv nur dadurch erweisen, daß du als zweite Person dich zugleich in erster Person zur Geltung bringst, wie auch andererseits Ich – die erste Person – zugleich als der Deine – in zweiter Person bestimmt bin. [...] indem wir zueinander im Verhältnis stehen, entdeckt sich in dieser zweiten Person eine selbständige „erste Person“, zeigst du dich mir als „Du selbst“. Dagegen bleiben wir uns als je für sich selbständiges Ich, das nur in der Weise des singularen „bin“ sein kann, unzugängliche, unmitteilbare Individuen.45 42 AW 2, 184 AW 2, 191 44 Siehe AW 2, 15-59 45 Löwith, Karl: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. – 2. unveränderter reprografischer Nachdruck der Ausgabe München 1928. – Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1969, S. 128 43 24 Begegnung setzt zwar ein schon konstituiertes Ich und Du voraus, in der Begegnung dann erlangen beide ihre Selbständigkeit, die sich am jeweiligen anderen bewährt oder bewahrheitet. Binswanger schließt gewissermaßen programmatisch daraus: „Es ist also zu zeigen, daß und wie Ich-selbst und Du-selbst – im Sinne der Liebe – sein können, ohne daß Wir – im Sinne der Liebe – aufhören zu sein.“46 Binswanger ist sich der Problematik bewusst, dass Ich und Du in beidseitige Abhängigkeit geraten können, womit ein gemeinsam gestiftetes Wir unmöglich wird. Andererseits ist ihm klar, dass das selbständige Du seine eigene Personalität geltend machen muss, ohne dabei jedoch die Wirheit zu gefährden. Dieses Paradoxon kommt wie folgt zum Ausdruck: „Je größere Wirklichkeit der Wirheit, umso größere Möglichkeit der Selbständigkeit von Mir und Dir, und je größere Wirklichkeit der Selbständigkeit von Mir und Dir, desto größere Möglichkeit der Wirklichkeit.“47 Die bis jetzt dargelegten Grundcharakteristika der Philosophie der Begegnung führen immer wieder zur Frage nach dem Konstitutionsverhältnis der Beziehungspartner. Eine unbedachte, reflexartige Begegnung ist eine durchaus natürliche und allgemeinverständliche, jedermann bekannt. Sie stellt somit kein Problem dar, das an oben genannte Themen rührt. Es geht um Fragen wie die nach dem Vorrang des Ich vor dem Du oder umgekehrt, es geht um Einheit als Wirheit gegenüber Vielheit in Singularität. Wohl gibt es für beide Positionen Gründe und Gegengründe, die diskutiert werden. Grundlage dieser Diskussion bildet eben aber die Tatsache, dass der Mensch mit anderen Menschen lebt – der Einwand, der Mensch lebe gegen seinesgleichen, fußt genau auf dieser Tatsache, dass nämlich ein Gegeneinander ein vorgängiges Miteinander zur Voraussetzung hat. Ein Alleinesein schließt Konflikte aus, weil ein anderer gar nicht anwesend ist. Der zwischenmenschliche Dialog spricht seinerseits gegen ein monadenartiges Dasein – der andere muss als einzigartiges Gegenüber da sein, damit eine Begegnung gestiftet werden kann. Ein wesentlicher Gedanke der Dialogphilosophie – das Miteinander – hat bekanntlich Feuerbach formuliert. In seinen Grundsätzen der Philosophie der Zukunft schreibt er in der Vorrede: „Die Philosophie der Zukunft hat die Aufgabe, die Philosophie aus dem Reiche der ‚abgeschiedenen Seelen’ in das Reich der bekörperten, der lebendigen Seelen wieder einzuführen [...].“48 Im weitern der Paragraph 61 aus den Grundsätzen: Der einzelne Mensch für sich hat das Wesen des Menschen nicht in sich, weder in sich als moralischem, noch in sich als denkendem Wesen. Das Wesen des Menschen 46 AW 2, 110 AW 2, 111 48 Feuerbach, Ludwig: Gesammelte Werke Bd. 9. Kleinere Schriften (1839-1846) – Herausgegeben von Werner Schuffenhauer. – 3., gegenüber der 2. durchgesehene Aufl. – Berlin : Akademie-Verlag, 1990, S. 264 47 25 ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten – eine Einheit, die sich aber nur auf die Realität des Unterschieds von Ich und Du stützt.49 Gemeinschaft, Sozietät, Binswanger würde sagen „Wirheit“, ist nicht gleichbedeutend mit Nivellierung, wie sie in Interessengruppen, Parteien, Ideologien und missverstandenen Religionen stattfindet. Eine gleichmachende Gemeinschaft (man denke an Heideggers Man) ist ebensowenig eine Gemeinschaft wie eine, in der jedes Mitglied die eigenen Interessen hervorkehrt. Hier haben wir es mit fehlgeleiteten Vorstellungen von Wirheit zu tun; eine sinnvolle und sinnstiftende Gemeinschaft ist erst da konstituiert, wenn Ich und Du (eventuell andere – Dritte) das jeweils Eigene mit- und einbringen, um so die Integrität des Einzelnen im Gemeinsamen zu bewahren. Insofern in der Begegnung das Ich sein Eigenes, das nur das Ich und sonst niemand anderer hat, mit-teilt, wird das Ich ein Ich-selbst; dasselbe – die Ich-selbstWerdung – erfährt dabei das Du. In der Offenbarung des Selbst geschieht Wahrheit in der Begegnung; Lévinas nennt die Selbstoffenbarung des Ich „Antlitz“: „Das Von-Angesicht-zuAngesicht kündigt eine Gesellschaft an und gestattet gleichzeitig, am getrennten Ich festzuhalten.“50 Beharrt man strikt auf der Selbständigkeit von Ich und Du, dann belastet dies die Gemeinschaft; hebt man den Raum des „Zwischen“ als Absolutes hervor, so drohen Ich und Du im Wir zu amalgamieren. Doch ist das eine Scheindialektik, weil das Verhältnis zwischen Menschen die Logik verlässt und diese übersteigt. Der Mensch ist weder ein logisch greifbares noch berechenbares Seiendes. Mittels der Logik oder naturwissenschaftlicher Methoden an den Menschen herangehen, heißt, ihn zum Objekt, zur Sache zu machen und ihn dadurch zu verfehlen. Vor allem und gerade die Philosophie der Begegnung neigt zu einer Verbegrifflichung dessen, was sie aus den Begriffen heraustreten lassen will, welches bedeutet, dass Phänomene wie Ich und Du, Beziehung, Wirheit, Liebe sich schwer aus einem gedanklichen Schema herausholen lassen, in welches wir selbst sie gebracht haben.51 Eine treffende Charakteristik des dialogischen Denkens gibt Böckenhoff wie folgt: 49 Feuerbach, Gesammelte Werke Bd. 9. Kleinere Schriften, S. 338f Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 91 51 Dass sich das Ereignis des Einander-Begegnens im Nachhinein schwer in Worte fassen lässt, ist nicht zu bezweifeln. Wie kann ich das mir Widerfahrende adäquat zur Sprache bringen? Das mag gelingen, indem ich persönlich Erlebtes zu Objektivem abstrahiere und damit unter den Anspruch des Allgemeinen bringe, wozu ich eine vergegenständlichende Wortwahl nutze. Dass aber damit das sich Ereignende – die Begegnung – oft verfehlt wird und wir uns dessen bewusst sein müssen, dürfte in der Philosophie des Dialoges bekannt sein. Die Intensität einer Begegnung, ob sie bereichernd oder enttäuschend war, erschließt sich uns erst nach dieser; dennoch sind es wir, die dieses Resümee zu ziehen haben. Das Ereignis, das in der Begegnung erst möglich geworden ist, muss sozusagen „festgemacht“ werden, ihr „Fließcharakter“ (der „Gedankenfluss“) muss in Worte gefasst werden, die objektiv mitteilbar sein können. Mit Blick auf Ferdinand Ebner sagt Wucherer-Huldenfeld: „Im Sichaussagen und Ansprechen der ‚aktuellen Existenz’ ist das Geschehen noch nicht vermittelt kon-statiert, distanziert als etwas fest-gestellt. Das Geschehen als ‚bin’ und ‚bist’ hat irgendeinen Vorrang, eine 50 26 Der Ansatz dieses neuen Denkens, den wir in der Priorität des Wir vor dem Ich sehen, ist zwar keine willkürliche, aber doch im allgemeinen eine rational unbewiesene Behauptung. Von verschiedener Seite her konnte uns diese Grundthese empirisch nahegebracht werden. Erkenntniskritisch ist sie weder beweisbar noch eigentlich zugänglich. [...] Im Ganzen gesehen fehlt ein logisch klarer Beweis der Begegnungsphilosphie – was von ihrem eigenen Standpunkt aus wohl zu verstehen ist –, in vielen Punkten jedoch läßt sich ein Aufweis nicht bestreiten. Es gibt vielleicht doch mehr, als beweisbar ist.52 Selbst wenn die Philosophie des Dialogs Gefahr läuft, unwissenschaftlich zu arbeiten, so wäre gerade ihre Unwissenschaftlichkeit – was nicht mit Irrationalität oder Willkür zu verwechseln ist –, ein Hinweis darauf, mit wem sich die Philosophie überhaupt einlässt – mit dem Menschen. Will die Philosophie den Einzelwissenschaften (Teil)erkenntnisse des Phänomens „Mensch“ zubilligen, dann ist es offensichtlich, dass sie selbst zu anderen Methoden greifen muss, als es die Einzelwissenschaften tun. Darin etwas Arbiträres sehen zu wollen, ist selbst bereits mit ungeklärten Vorurteilen beladen. Der Versuch, im anderen den Menschen in den Blickpunkt zu bekommen, wird von den Naturwissenschaften vielseitig belächelt. Die empirischen Wissenschaften – im angloamerikanischen Sprachraum passend als hard sciences benannt – pflegen ein mathematisches Verständnis der Welt, welches Vermessung und Berechnung des (dem Forscher) Gegebenen im Visier hat, wodurch das Individuelle generalisiert wird, was nichts anderes zur Folge hat, als dass das Einzelne, Unwägbare, letztlich das Persönliche außer Betracht fällt. Diese Herangehensweise führt dazu, dass der Mensch als Mensch nicht erkannt wird. Klar ist es möglich, etwas am Menschen festzustellen oder zu diagnostizieren, das Diagnostizierte ist im ungünstigsten Fall eine Krankheit, nie jedoch ein Mensch. Binswanger als Begründer der Daseinsanalyse gewährt dem Menschen einen breiteren Raum, wenn er versucht, den psychisch Erkrankten nicht nur als solchen, sondern als Mitmensch zu verstehen, woraus sich erst eine heilsame Beziehung zwischen Arzt und Patient bilden kann. Vor allem die Seelenheilkunde soll sich bewusst sein, dass der Kranke – der andere – nur aus der Begegnung verstanden werden kann. Begegnung, die das Wesen des anderen zulässt, fordert keine Gegenständlichkeiten oder Objektivierungen; so schreibt der Schweizer Psychiater Alois Hicklin: Aus dieser Sicht wird nämlich der Mensch als derjenige verstanden, der Begegnung ist. Das, was das Wesen des Menschen ausmacht, ist damit nicht einfach etwas Gegenständliches – ein Körper, der an der Körperoberfläche endet und der dann mit anderen Körpern und Dingen über irgendwelche physikalische Kräfte in einem Energieaustausch steht und sich dann in seinem Innern aus diesen Aussensignalen eine innere Welt abbildet. [...] Der Mensch ist gerade nicht ein isoliertes psychisches Ursprünglichkeit vor allem beharrenden Sein [...].“, in: Ders.: Personales Sein und Wort. Einführung in den Grundgedanken Ferdinand Ebners. – Wien [u.a.] : Böhlau, 1985, S. 43. 52 Böckenhoff, Die Begegnungsphilosophie, S. 423 27 oder physisches Subjekt, dem sich dann sekundär bei Auftauchen von Aussenobjekten noch so etwas wie eine Beziehung hinzugesellt. Vielmehr ist der Mensch gar nicht, es sein denn als ein „in-Beziehung-Stehender“.53 Der Begegnung wesentlich ist der Offenheitsraum, in dem die Beziehungspartner einander begegnen. Hier kann nun sinnvoll von einer Existenz des Menschen gesprochen werden, wenn die Herkunftsbedeutung des Begriffes Existenz klar wird: Existenz von ex(s)istere, das „Herauskommen“, „zum Vorschein kommen“, „Aus-stehen“, „Offen-halten“ meint. Existenz steht aus seinem eigenen Grund hervor, indem sie sich dessen besinnt und sich ihm gegenüber offen verhält, um den Grund „empfangen“ zu können. In seinen Beiträgen zur Philosophie betrachtet Heidegger den Grund und den Zugang zu ihm; der Grund gründet, er wird erreicht, indem er als gründender Grund belassen wird. Sieht man mit Binswanger den Modus der Dualität als ursprüngliche Weise des Miteinanderseins, dann ist der Ursprung jener Grund, der gründet und der uns gründet und uns uns gibt.54 Darf man schon sagen, dass dieser Grund das Du und das Ich trägt und beide in das entlässt, was sie sein, woraus sie existieren können? Das Wissen um den Grund, der uns ins Offene trägt, versteht sich nicht von selbst, obwohl wir uns in diesem Offenen aufhalten, vor dem wir uns allerdings auch verschließen können. Ist dieser Grund ein schaffender, schöpferischer, der uns ruft, der zu sein, der wir (in principio) schon sind – als In-Beziehung-Stehende? Schließlich könnte ein Grund auch ein zerstörender sein, der letztlich an sich selbst zugrunde geht. Wohl auch Hicklin erblickt diesen Grund als freigebend: Dieses tiefe und existentielle Aufeinanderangewiesensein vom Begegnenden und dem Menschen, [...] dieses Einssein und doch Anderssein umreißt das tiefste Geheimnis dessen, was wir als Begegnung umschreiben. Es umreißt dermaßen die gesamte Existenz des Menschen [...], es umfasst so sehr den Sinn und das Wesen menschlichen Existierens, dass dessen Leben in solchem Masse sinn-los zu werden droht, als es sich dieser seiner menschlichen Aufgabe zu entziehen versucht.55 Hicklin sieht im Füreinander Sinn und Aufgabe des Daseins schlechthin; beide Partner sind in einer Beziehung sehr ungleichartig und doch gleichberechtigt und damit von selbem Rang. Sobald einer den anderen dominieren will, ist der wechselseitige Raum des Offenseins zerstört: So beinhaltet Offensein und Begegnung immer sowohl eine Annäherung im Hinzugehen auf etwas, ein Ent-gegen-gehen, als auch ein Sich-nicht-auffressen- 53 Hicklin, Alois: Begegnung und Beziehung. Ein Versuch, zu umschreiben, was Frei-sein in Beziehungen sein könnte. – Bern : Benteli, 1982, S. 29f 54 Siehe dazu: Heidegger, Martin: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). – Herausgegeben von FriedrichWilhelm von Herrmann. – 3. unveränderte Aufl. 2003. – Frankfurt/Main : Klostermann, S. 307. Zum Thema Dialog und Miteinander: Wucherer-Huldenfeld, Augustinus Karl: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein. Ausgewählte philosophische Studien I, darin besonders der erste Teil. 55 Hicklin, Begegnung und Beziehung, S. 30 28 lassen vom Begegnenden, also ein Stück Abstand, Distanz, ein Stück – gegen – als Entfernung. Begegnung als ein „Gegen“ im zweifachen Sinne.56 Will der Mensch dem Sinn und der Aufgabe seines Daseins gerecht werden – als Sein in Beziehung –, müssen Selbstand und Freiheit von Ich und Du gewahrt sein, die sich in der Begegnung entfalten können. Das Vermögen, eine Beziehung eingehen und diese pflegen zu können, setzt die Freiheit und Eigenständigkeit der anderen Person voraus, alles andere wäre eine zwanghafte oder willkürliche Form von Beziehung. Hier unterscheidet sich die echte von einer nur scheinhaften Begegnung. Dem Mediziner Frederik Buytendijk zufolge ist eine Begegnung echt, „[...] soweit sich in ihr ‚das unergründliche Geheimnis des Anderen, die Verhülltheit seines Daseins, die Unbestimmtheit seiner in der Freiheit verwurzelten Existenz offenbart.’“57 Das Geheimnis, das der andere birgt, ist keine irrationale Mystifikation, sondern das Ich ist gerufen, den anderen in der Offenheit der Begegnung sein zu lassen. Das Sein-lassen des anderen setzt eben bereits Selbständigkeit und einen bestimmten Grad an Unabhängigkeit voraus, also eine schon vorher eingetretene „Selbstfindung“. Selbständigkeit und dadurch Beziehungsfähigkeit setzt die Anerkennung des anderen als Eigenständigen voraus. Auf der anderen Seite steht die Unfähigkeit, auch der Unwille zur Begegnung, sofern das Ich oder das Du sich in Zerstreuung, Abwechslung, Diversität – kurz: in Nichtverantwortung – verliert. Diese eben genannten Daseinsweisen erinnern wiederum an das Man, aus und in dem sich die anonyme, zahllose Masse konstituiert. Eine Auflösung des Man ist nicht durch Kontaktnahme mit jedem Anonymen aufhebbar, dennoch stellt es eine Gefahr für Beziehung wie für Selbstwerdung dar: „Innerlich verarmt ist nur jener Mensch, der nur mehr auf der Kontaktebene und gleichzeitig auf jener der weitgehenden Beziehungslosigkeit existieren kann.“58 Beziehung in ihrer Eigentlichkeit ist nur als Wechselspiel von Nähe und Distanz möglich, d.h. Inter-esse, emotionale Zuwendung bei gleichem Gegenübersein, Raum-geben und Raum-lassen für das Eigene, Persönliche – dies gilt sowohl für das Ich wie für das Du. In diesem Ineinander, wohl auch „Durch-ein-ander“ von Nähe und Distanz ist Selbstand möglich. Wieder ist Binswanger am Wort, für den sich aus der Wirheit, der liebenden und der freundschaftlichen, die Konstitution von Ich und Du ereignet, sei diese Wirheit eine 56 Hicklin, Begegnung und Beziehung, S. 34 Rencontre/Encounter/Begegnung. Contributions à une psychologie humaine dédiées au Professeur F.J.J. Buytendijk. – Utrecht/Antwerpen : Uitgeverij het Spectrum, 1957 (mit einem Vorwort von M.J. Langeveld), S.12 58 Hicklin, Begegnung und Beziehung, S. 58 57 29 schicksalhafte, oder, idealiter, eine liebende, wobei beide einander nicht ausschließen.59 Binswanger überreicht Nietzsche das Wort: Liebe und Zweiheit. – Was ist denn Liebe anders als verstehen und sich darüber freuen, daß ein andrer in andrer und entgegengesetzter Weise als wir lebt, wirkt und empfindet? Damit die Liebe die Gegensätze durch Freude überbrücke, darf sie dieselben nicht aufheben, nicht leugnen. – Sogar die Selbstliebe enthält die unvermischbare Zweiheit (oder Vielheit) in einer Person als Voraussetzung.60 Aus der Abhebung vom Wir gewinnt das Ich sein Selbst, was ja nicht heißen muss, dass das Ich vorher „ein Nichts“ oder ein verkümmertes Subjekt war. Das soll heißen, das Ich tritt in jedem Fall aus der Beziehung als ein anderes Ich heraus, mag es dann geläutert, enttäuscht, bereichert, geliebt und liebend oder auch den anderen okkupierend sein; die Beziehung wird von nun an eine andere sein. Damit will gesagt sein, dass jede Beziehung die an ihr Teilnehmenden als Neue, Veränderte entlässt. Dieser Dynamik, die eine Begegnung trägt, ist zuzurechnen, dass Ich und Du immer neu einer Selbstfindung unterworfen sind; dieser Selbstwerdungsprozess ist möglicherweise das schwerste und wichtigste, das dem Menschen aufgetragen ist. Das Fortschreiten des Selbstwerdens kann sich nicht als Zirkularität abspielen, welche Stillstand bedeuten würde, sondern – als Postulat formuliert –das Ich wird am Du ein Selbst und umgekehrt, diesen Vorgang nennt Binswanger Liebe. Bleibt man bei Binswangers Interpretation der Liebe als Prozess des Ich-Werdens, welches zugleich ein Du-Werden heißt, kommt man nicht umhin, einen Blick auf jene zu werfen, aus deren Gedanken Binswanger schöpft, dementsprechend muss Bedacht auf jene Denker des Dialogs genommen werden, die ihn motivierten und ihn in seinem eigenen Denkweg bestärkten. In einem Brief an Richard Hönigswald vom 06.02.1947 vermerkt er dazu: „Bei der langen Arbeit an dem Buch [die Grundformen, Anm.] hat es mich doch sehr überrascht, wie sehr das Problem der Liebe von den Philosophen vernachlässigt worden ist, mit wenigen Ausnahmen.“61 59 AW 2, 212 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, in: Werke I, S. 767 61 Briefe und Briefstellen, in: AW 3, 316 60 30 2 Eine Standortbestimmung zur Phänomenologie der Liebe 2.1 Das Denken der Begegnung und die Medizin Das explizite Vorhaben, den Begriff der Liebe zu durchleuchten, nimmt Binswanger in den 1942 erschienenen Grundformen in Angriff. Die dafür notwendigen Denkbemühungen liegen – wohl durch das Thema bedingt – nicht klar strukturiert und systematisch vor, wodurch eine Interpretation gut beraten ist, bei dem nachzufragen, welches Spuren zum Komplex Liebe aufdecken helfen kann. Dass dieses Unternehmen Umwege wie Irrtümer inkludiert, ist selbst beinahe notwendig, denn manches Ziel lässt sich erst durch Aberrationen erreichen, welche erneut Fragen eröffnen. Wenn auch darin ein Sinn der Philosophie zu sehen ist, so dürfte im Suchen dieses Weges ein „wegweisender“ Anfang gefunden worden sein. Es wird nach dem zu fragen sein, was Binswanger in seiner ärztlichen Tätigkeit bewegt, den Patienten nicht nur als zu Behandelnden aufzufassen, denn gerade das wirft er der damaligen zeitgenössischen Psychologie und Psychiatrie vor. Wissenschafts- und Medizingeschichte belegen „Paradigmenwechsel“, „Methodendiskussionen“ bis hin zur „kopernikanischen Wende“. Als das sich darin Durchhaltende ist der Mensch als der, der das zu Beschreibende beobachtet und dokumentiert. Das sich in diesen Prozessen Ändernde sind Zufälligkeiten, Zustände, nicht eingerechnete Umstände, aber auch unbeabsichtigte Irrtümer der Wissenschaft, die wiederum vom Menschen betrieben wird. Im Falle der Medizin ist der Mensch Subjekt wie Objekt, d.h. Arzt und Leidender. Der Mediziner forscht nach Gründen, Ursachen, Erscheinungsweisen der Krankheit, deren Prognose und Heilungsmöglichkeiten. Etliche – „geläufige“ – Erkrankungen sind durch Aufdecken ihrer Ursachen kurierbar; anderen Krankheiten kommt man jedoch nicht dadurch bei, wenn diese von einem bestimmten Sinn geleitet werden, der zugleich dessen Ziel darstellt. Wird man dieses Sinnes der Krankheit nicht gewahr, so droht die ärztliche Heilpraxis zu einer reinen Symptombehandlung zu verkommen. Die Psychiatrie betreffend – und um sie ist es Binswanger zu tun –, äußert sich diese Version der Behandlung darin, psychisch Erkrankten Psychopharmaka zu verabreichen, ohne einen unterschwelligen Sinn verschiedener Krankheiten aufzuklären, der sich durch die Wahl der Medikation wohl eher verdeckt als zeigt.62 Diese therapeutisch wichtige Tatsache hat Binswanger ernst genommen: 62 Die Sinnhaftigkeit der Verschreibung sofort- und hochwirksamer Remedia wie Neuroleptika, Anxiolytika, Antidepressiva ist nicht zu bezweifeln und nicht mehr wegzudenken, dennoch sollte man nicht vergessen, dass eine reine, isolierte Pharmakotherapie selten zu einer Heilung führt. Erstes und wichtigstes Prinzip, wenngleich es stets hervorgehoben, allerdings selten tatsächlich betrieben wird, bildet das Gespräch zwischen Patient und Arzt. So schreibt Medard Boss – ein Schüler Binswangers – knapp: „Jede Therapie, auch die geringfügigste, ist 31 Wenn mein Thema nun aber lautet „Der Mensch in der Psychiatrie“, so soll damit von vornherein zum Ausdruck gebracht werden, daß der Grund und Boden, auf dem die Psychiatrie als eigenständige Wissenschaft Wurzel zu schlagen vermag, weder die Anatomie und Physiologie des Gehirns noch die Biologie ist, weder die Psychologie, Charakterologie und Typologie überhaupt noch auch die Wissenschaft von der „Person“, sondern – „der Mensch“. Das klingt sehr einfach, ist aber heutigen Ohren noch schwer zugänglich.63 Der zitierte Aufsatz wurde im Jahr 1956 publiziert, in einer Zeit also, in der sich Binswanger vermehrt klinischen Studien widmete. Den Sinn und damit das Ziel des Satzes erfassen wir, wenn uns klar wird, dass das vermeintlich Selbstverständliche das zugleich am schwierigsten Fassbare ist. Demnach ist das Differenzierteste und Komplexeste, dem der Mensch in seinen Forschungen nachgeht, der Mensch selbst. Der Orientierungsverlust, der sich in der Wissenschaft zeigt (Medizin, Anthropologie, Natur- wie Geisteswissenschaften), führt naturgemäß zu einer Methodendiskussion, auch zu Kompetenzstreitigkeiten und daraus resultierenden Grabenkämpfen, wie nun dem Forschungsobjekt Mensch seitens des Forschungssubjekts, welches ebenfalls der Mensch ist, beizukommen sei. Objektiv, dem Allgemeinen verpflichtet und intersubjektiv nachvollziehbar sind Konstanten, die am Menschen feststellbar sind; was den Menschen von jedem anderen Menschen trennt und hervorhebt, ist das Individuelle, durch welches ein Mensch der ist (oder werden könnte), der er und nur er sein kann. An letzteres reicht die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie für Binswanger nicht heran. In seiner ersten großen Schrift Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie aus dem Jahre 1922 heißt es bereits im ersten Satz: Im Fortgange unserer psychiatrischen Aufgabe nämlich entfernen wir uns immer mehr von der anschaulichen Wirklichkeit, von der psychologischen Person also, und dabei tritt unser Weg nach zwei Richtungen auseinander: der eine führt zu dem Begriff der Seele, des seelischen Funktionszusammenhangs oder des seelischen Organismus’, der andere zu dem Begriff des neurophysiologischen Zusammenhangs und so zum Gehirn oder zur Gehirnrinde.64 Sicher ist es ein Verdienst Binswangers, darauf hingewiesen zu haben, seelische Geschehnisse oder die Erlebnisse einer Versuchsperson nicht auf deren hirnphysiologische Prozesse zurückzuführen, also elektrochemische Interaktionen als Grund und Ursache menschlicher Verhaltensweisen anzugeben. Wäre dies der Fall, so ließe sich ohne Umstände erklären, warum ein Ich ein Gefühl der Fremdheit, Erwartung, Gleichmut, auch deshalb im Grunde immer schon Sozialmedizin.“, in: Ders.: Grundriß der Medizin und Psychologie. Ansätze zu einer phänomenologischen Physiologie, Psychologie, Pathologie und Therapie und zu einer daseinsgemäßen Präventiv-Medizin. – 3., gegenüber der zweiten unveränderte Aufl. – Bern [u.a.] : Huber, 1999, S. 570. 63 Der Mensch in der Psychiatrie, in: AW 4, 57 64 Binswanger, Ludwig: Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie. – Nachdruck der Ausgabe Berlin 1922, S. 1 (unveränderter Lizenznachdruck Springer-Verlag o.J.) 32 Widerwärtigkeit angesichts eines anderen empfindet. Dieser Empfindung geht ein naturwissenschaftlich nicht erklärbarer Vorgang voraus, denn dieser müsste wiederum auf Sinneswahrnehmungen rekurrieren, die ja die Naturwissenschaft zu erklären sucht. Auf solche Art und Weise wird das zu Erklärende bereits vorausgesetzt – eine petitio principii, die auf einer falschen Methodenwahl fußt: Nicht mein Gehirn (welches ein medizinischer Begriff ist und das ich nie zu Gesicht bekommen werde) bestimmt mein Verhalten zu denen, die mir begegnen; die Gebärde meines Verhaltens wie überhaupt jedes Verhalten trägt in sich schon den Charakter einer Antwort dem mir Gegenübertretenden, ist geprägt von bereits geschehenen Begegnungen, Erwartungen, Enttäuschungen, Hoffnungen, sowie von meiner wie des anderen Gestimmtheit. Diese täglichen Erfahrungen, die darum nicht schon selbstverständlich sind, werden in einer mathematischen Gleichung nicht zu fassen sein. Um ein Beispiel zu nennen: eine Umarmung, ein Kuss oder der Händedruck sind bekannte Phänomene, die räumliche Nähe (oder Distanz) der Umarmung ist messbar, die Kraft der Hand, die eine andere drückt, ist ebenso messbar, weil physikalischen Gesetzen gehorchend, selbst der leibliche Ort, den der Kuss trifft, ist geometrisch darstellbar. So ist die Naturwissenschaft mittels ihrer Methoden dahin gelangt, obige Phänomene für sie ausreichend zu erklären. Was allerdings nicht erklärt wird, ist das, wonach gar nicht gefragt worden ist: ist die Umarmung eine Geste des Abschieds oder der Ankunft? Ist der Kuss ein sich im Leib öffnendes Sein des einen mit dem anderen oder ein Judaskuss, der mittels unterschobener bzw. verleugneter Leiblichkeit den Geküssten anderen ausliefert? Äußert sich in der Kraft des Händeschüttelns eine gönnerhafte Geste oder ist sie der Ausdruck des Dankes, des Respekts dem anderen gegenüber? Als Vorergebnis kann damit gelten: die Anwendung verschiedener, mitunter einander ausschließender Methoden führt zu divergierenden Resultaten bezüglich ein und desselben Phänomens – hier eben der Mensch. Im Aufsatz Lebensfunktion und innere Lebensgeschichte kommt Binswanger darauf zu sprechen.65 Der Begriff „Lebensfunktion“ ist ein bezeichnender, zumal „Leben“ und „Funktion“ auf eine durch die Technik bestimmte Sicht des Lebens hinweisen. Zum einen ist Leben quantitativ-funktional bestimmt, zum anderen bedeutet „Lebensfunktion“ den Lebenszusammenhang als ein Ganzes und Umfassendes des Lebens. Einen unscharfen Kontrapunkt dazu bildet die „innere Lebensgeschichte“, die den Kern der Person bildet: „Den Quellpunkt oder das Zentrum solcher Erlebnisse [i.e. der 65 Dieser Vortrag wurde im Erscheinungsjahr von Sein und Zeit (1927) in der Gesellschaft „Die Hirnrinde“ (sic!) gehalten, nun publiziert in AW 3, S. 71-94. 33 Lebensfunktionen, Anm.] nennen wir die (geistige) Person, den inneren geistigen Zusammenhang ihrer Erlebnisgehalte aber ihre innere Lebensgeschichte.“66 Zwar zeigt sich hier eine Korrelation von biologischen Mechanismen, sich äußernd als Lebensfunktionen und deren Aufhebung und Verarbeitung in der Lebensgeschichte, dennoch relativiert Binswanger seine Behauptung zugunsten der inneren Lebensgeschichte, die normierend auf die naturwissenschaftlich zu sehende Lebensfunktion wirkt. Seine Ausführungen zeigen, dass die Bandbreite der Methoden, die am selben Objekt angewendet werden, eine ebensolche Breite an Ergebnissen zutage fördert. Wie aber steht es dann um den Menschen als solchen, will heißen, um den Menschen, der ein Ich zu sein beanspruchen darf und gleichwohl um jenen, der als ein Du selbiges Recht hat? Welchen Rang nimmt die Intersubjektivität vor allem in der Wissenschaft ein und mit welchen Mitteln lässt sie sich erschließen? Nun darf man Binswanger selbst ohne Zweifel als Arzt betrachten; in der Zeit seiner Tätigkeit im Sanatorium Bellevue war es Brauch, dass Ärzte mit ihren Patienten in dem Sinne zusammen „wohnten“, indem beide auch abseits der üblichen Visite und Therapien einander begegneten und Umgang pflegten. Somit entstanden neben den rein ärztlichen Kontakten durchaus auch private: Ärzte, Pfleger und Patienten thematisierten nicht nur die jeweiligen Krankheitsbilder, abseits davon wurden kulturelle Diskussionen geführt. Entsprechend nobel und vornehm wurde diese Heilanstalt ausgestattet und geführt, zu deren Klienten Adlige, entsprechend Betuchte oder auch Künstler wie Gustaf Gründgens oder Ernst Ludwig Kirchner zählten. Eine weitere Patientin war Bertha Pappenheim, die als Anna O. in die Medizingeschichte einging.67 Zu diesem medizinischen Milieu, aus dem das Problem der Intersubjektivität entsprang und das Binswanger weiter erschließen wollte und das ein wesentlich geistig geprägtes war, gesellte sich ein intellektuelles Niveau, dessen Wirkung in seinen Publikationen Niederschlag gefunden hat. Meist sind es Bezüge zur und Anspielungen auf Literatur, während dagegen Zeitgenössisches, Politisches etwa, im Hintergrund steht, selbst Briefe verraten darüber nur Weniges.68 Mag Binswangers Schrifttum einen gewissen 66 Lebensfunktion und innere Lebensgeschichte, in: AW 3, 73f Einen kleinen Überblick diesbezüglich gibt der Herausgeber des ersten Bandes der Ausgewählten Werke im Vorwort. 68 Treffend merkt Friedrich Heer dazu an: „Der deutsche Psychiater Bumke erinnert uns: ‚Ein echter Dichter bereichert die Psychologie und Psychopathologie mehr als 100 Laboratorien und 1000 Gelehrte. [...] Der savant bête: das ist der zur ‚Bestie’ werdende amusische, unerotische ‚reine’ Wissenschaftler, der die Dichtung verpönt, sie nicht anerkennt als erste und letzte schöpferische Selbstfindung des Menschen.’“, in: Heer, Friedrich: Das Wagnis der schöpferischen Vernunft. – 1. Aufl. – Stuttgart [u.a.] : Kohlhammer, 1977, S. 353. Der Briefwechsel Binswangers ist teilweise in AW 3, S. 301-356 abgedruckt. Einer eigenen Publikation ist der Briefwechsel mit Freud vorbehalten: Freud, Sigmund ; Binswanger, Ludwig: Briefwechsel 1908-1938. – Herausgegeben von 67 34 hermetischen Charakter zeigen, ist es angeraten, dieses auf eventuelle Verweise hin durchzusehen. Sein Berufsethos legt er u.a. im Vortrag Über Psychotherapie aus dem Jahre 1934 dar; darin geht es weniger um analytische Deutungen oder Fachspezifisches, vielmehr hat er das Handeln des Arztes zum Thema. Was Binswanger hier schreibt, scheint zunächst simpel, dieses wird sich alsbald jedoch in der Psychotherapie wie in jedem authentischen Gespräch als Bewährungsprobe erweisen: Die Möglichkeit der Psychotherapie beruht also nicht auf einem Geheimnis oder Mysterium, wie Sie hörten, überhaupt auf nichts Neuem oder Ungewöhnlichem, sondern auf einem Grundzug der Struktur des Menschseins als dem In-der-Welt-sein (HEIDEGGER) überhaupt, eben dem Mit- und Füreinandersein.69 Hier formuliert Binswanger die Bedingung der Möglichkeit nicht nur der Psychotherapie, sondern jedes Gesprächs, das von einer Selbstaussage der Gesprächspartner getragen ist. Sonach gilt der Satz, den er seinen Kollegen in die Hand gibt, für alle anderen ebenso. Soll Psychotherapie also nichts Neues, Wesensfremdes sein, sondern im Miteinandersein gründen, so ist es bezeichnend und fragwürdig, warum Menschen überhaupt der Therapie bedürftig sind. Mit pädagogischem Sinn fährt er fort: das gemeinsame Mitsein als In-derWelt-sein geht auch den Arzt an – er hat zur Welt keinen anderen Zugang als der Patient selbst, [...] denn was uns existenziell das Nächste ist, wir selbst und unser Verhältnis zu den Mitmenschen, kommt uns theoretisch immer erst zuletzt in den Blick; theoretische Schau und theoretisches Fragen nämlich brauchen Distanz, Abstand, brauchen ein festes, „ruhiges“ Auge, das sich über unser „zerstreutes“, „unruhiges“ alltägliches Sein erhebt.70 Gilt dieser Aufsatz zwar als fachinterner, ist er gerade umso nutzvoller, insofern wir aus der Wissenschaft vom und über den Menschen etwas extrahieren, das Binswanger in den Grundformen forcieren wird. Dort wird denn vom Miteinander in Liebe die Rede sein; was dieserart später dargestellt wird, liegt bereits keimhaft in der Beschreibung des Verhältnisses von Arzt und Patient vor. Das Wesen des Dialoges bildet das Vertrauen, mit dem der Kranke an den Arzt herantritt. Auf dieses Vertrauen soll und darf der Arzt bauen und hoffen. Voraussetzung dafür wiederum ist die Krankheitseinsicht, die selbst jedoch noch keine Heilung darstellt. Das Wesen der Begegnung ist hier vorgezeichnet: Dieses Vertrauen ist das Geschenk, das der Kranke dem Arzt als unerlässliche Bedingung jedes psychotherapeutischen Aktes macht und das Sie um so weniger erhalten, je mehr Sie darum werben; denn es liegt, wie das Geschenk aller echten Gerhard Fichtner. – Frankfurt/Main : Fischer, 1992. Die Korrespondenz wird kommentiert in: Binswanger, Ludwig: Erinnerungen an Sigmund Freud. – Bern : Francke, 1956. Intimitäten oder für die Publikation ursprünglich nicht Vorgesehenes darf man hier freilich nicht erwarten. 69 Über Psychotherapie, in: AW 3, 207 70 Über Psychotherapie, in: AW 3, 207 35 Kommunikation, jenseits von Absicht, von Mittel und Zweck, von Ursache und Wirkung. [...] Dazu kommt ein Weiteres: Der Arzt muß das Vertrauen des Kranken erwidern können, ihm auch seinerseits das Geschenk menschlichen Vertrauens entgegenbringen [...].71 Binswanger verlangt von seiner eigenen Wissenschaft sehr viel, die Medizin soll dem Leidenden Achtung und Respekt gewähren, ohne die eine Heilung gar nicht statthaben könnte und die damit das Fundament der ärztlichen Wissenschaft bilden. Alles andere wäre ein Abweichen von der Sphäre des Menschlichen. Der Arzt selbst hat zu bedenken, dass er es nicht mit einer Krankheit, sondern mit einem Kranken zu tun hat. Wird auch der Kranke dessen gewahr, ist es ihm möglich, das heilende Vertrauen zulassen zu können. Wohl sind diese Forderungen bzw. Empfehlungen angesichts des Zeitmangels in heutigen Arztpraxen in der Tat schwer umsetzbar, viele Ärzte (und auch Patienten!) wehren sich gegen tiefschürfende Anamnesen oder Gespräche, welches zur Folge hat, dass die Person des Kranken erst recht nicht erkannt wird oder zur Rede steht. Der Charakter der Begegnung reduziert sich auf das bloße Wahrnehmen dessen, das „fehlt“ bzw. krankhaft ist.72 Doch ist Begegnung und erst recht eine tiefere Beziehung zum anderen der Raum, in dem erst zur Sprache kommen kann, wie es um meine und deine Stimmung steht, wie es um dich steht, was unser Miteinander für uns bedeutet. Das beschränkt sich nicht auf Krankengeschichten, die Mitleid heischend erzählt und gehört werden, sondern umfasst uns als jene, die zur Gänze miteinander in einer gemeinsamen Welt da sind. Gemeinsames In-der-Welt-sein heißt auch gemeinsame Sinngebung für mich und den anderen, gerade auch, wenn das Leid, genauso wie die Freude oder das Wohlgestimmtsein zugelassen und für den anderen geöffnet wird. In dem Vortrag Über Phänomenologie aus dem Jahre 1922 bahnt sich dieser personale Grundzug der Beziehung an. Betrachtet man – wenn auch unbeteiligt – eine Beziehung oder einen anderen selbst, so sind deren Ausdrücke, Akte, Gesten, Kundgaben immer auf den Hintergrund der jeweiligen Person bezogen. Eine Handlung wird nicht als solche aufgefasst, sondern ich beziehe mich in der Handlung auf den, der sie vollzieht, d.h. auf den anderen, auf die durchführende Person. Im Phänomen des Tuns und Lassens des anderen eröffnet sich mir der Einblick in seine Person, das umgekehrt meine Antwort, sei sie 71 Über Psychotherapie, in: AW 3, 211 Sinn und Ziel vorliegender Arbeit besteht nicht darin, etwaige Kommunikationsmängel zwischen Arzt und Patient aufzudecken, diese gibt es gewiss, doch wird deren Erörterung hier nicht angestrebt. Worum es geht – das den Weg Weisende –, ist das Ich-Du-Verhältnis überhaupt, hier exemplarisch geschildert. Diese Arbeit ist darum auch keine medizinhistorische, allerdings muss in ihr auf Binswangers Beruf und Beweggründe Bedacht genommen werden. Daraus sich ergebende Akzentuierungen oder teilweise Einseitigkeiten und Wiederholungen werden dabei in Kauf genommen. 72 36 Rede oder Tat, einfordert.73 Mit jedem einzelnen Erlebnis, das ein anderer schildert, gibt dieser seinen eigenen persönlichen Hintergrund preis, vor dem es sich ereignet. Freilich schließt das nicht aus, dass der andere bzw. ein Patient nicht die Wahrheit sagt, weil er dann seinen persönlichen Hintergrund in anderer, verstellender („verlogener“) Weise uminterpretiert. So ist niemand der Wahrheit näher als der, der sie leugnet, der eben lügt. In der Person offenbart sich ein Grund, ohne dessen Achtung oder Beachtung der andere in seinem Wesen (Wesen als So-sein gefasst) verfehlt wird; bezogen auf einen Kranken kann das eine Beeinträchtigung seiner Heilung zur Folge haben. Z.B. wird ein Unfallchirurg eine Knochenfraktur behandeln, ohne notwendig nach deren Ursache fragen zu müssen. Anders aber wird er sich zu einem Verunfallten verhalten müssen, wenn dieser Verletzungen aufweist, die auf Fremd- oder Autoaggression hinweisen. Dann wird er einen anderen Fachkollegen zurate ziehen, zumal nun die ganze Person des Patienten zutage tritt mit ihrer Geschichte, ihren Entwicklungen, sozialen Kontakten und ähnlichem. Dieses schlichte Beispiel zeigt, welchen Stellenwert Achtung vor und Ernstnahme des anderen gerade im heiklen Bereich der Psychiatrie einnimmt. 2.2 Martin Bubers Philosophie des Dialogs – ein Hintergrund Zumal Binswangers Werk auch Wirkung außerhalb der Medizin ausgeübt hat, ist nun Gelegenheit, jene zu Wort kommen zu lassen, die Binswangers Gedankengang begleitet haben; wenig verwunderlich ist, dass das dialogische Denken Pate gestanden hat, überdies Heidegger. Zwar liegt seitens Binswangers keine Selbstanzeige vor, in der er den Werdegang seiner Gedanken dokumentiert und entwickelt hätte, so lassen sich doch Briefstellen, Zitate, Verweise und Bezüge ausmachen, aus denen die ihn prägenden Zeitgenossen hervorgehen.74 Sind Äußerungen bezüglich der Ich-Du-Beziehung und den daraus resultierenden Konsequenzen in der Zeit vor dem Erscheinen der Grundformen eher verstreut, implizit in Fachartikeln zu finden, so lassen diese keine systematischen Rückschlüsse zu; ausdrückliche Stellungnahmen sind erst den Grundformen zu entnehmen. Der damals wegweisende Eugen Bleuler schreibt eingangs in seinem Lehrbuch der Psychiatrie: 73 „Das Wesentliche nun bei der phänomenologischen Betrachtung solcher psychopathologischer Phänomene ist das, daß Sie niemals ein isoliertes Phänomen erblicken, sondern immer spielt sich das Phänomen ab auf dem Hintergrund eines Ich, einer Person, anders ausgedrückt, immer sehen wir es als Ausdruck oder Kundgabe einer so und so gearteten Person. In dem speziellen Phänomen gibt die betreffende Person von sich Kunde, und umgekehrt sehen wir durch das Phänomen in die Person hinein.“, in: Über Phänomenologie, in: AW 3, 58 74 Anspielungen auf Buber, Husserl, Heidegger, Psychologen wie Philosophen und Literaten finden sich allesamt in der vierbändigen Werkauswahl. Die äußerste Belesenheit, die man ihm getrost zusprechen muss, bedingt zum Teil auch seine oftmals unsystematischen Gedankengänge. Weiters muss sich jede Interpretation bewusst sein, dass Binswanger mehr Aufsätze denn Monografien veröffentlicht hat, was ebenfalls dazu führt, bestimmte Themenkreise in engerem Umfeld abzustecken. 37 Die größte Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung haben nicht die materiellen Lebenserfahrungen und Lebensnöte, sondern diejenigen, die sich aus unseren Beziehungen mit den Mitmenschen ergeben: Nach unserem heutigen Wissen ist es nicht das Erdulden von Schmerz, Hunger, Kälte, Hitze oder von anderen materiellen Entbehrungen und auch nicht körperliche Überanstrengung, ja nicht einmal das Ausstehen von unmittelbarer Lebensbedrohung oder umgekehrt das Genießen von materiellem Wohlbehagen, was in erster Linie unsere Persönlichkeit formt. Viel nachdrücklicher und folgenschwerer wirkt es sich aus, wie wir im Kreise der Mitmenschen eingegliedert sind, ob wir uns geschützt und geborgen fühlen, ob wir umgekehrt das Glück empfinden dürfen, das im Schenken von Schutz und Geborgenheit an andere liegt, ob wir lieben und achten und geliebt und geachtet werden [...].75 Der Bleuler-Schüler Binswanger bleibt bei dieser Feststellung nicht stehen, vielmehr nimmt er sie zum Anlass, sie zu erweitern. Im Vorwort zu den Grundformen legt er dar, warum diese kein Fortsetzungsband zur Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie sein können: letztere rezipierte Husserl, Heideggers Sein und Zeit eröffnete zudem neue Perspektiven. Erstens ist es Löwith, der das Mitsein von Einem und einem Anderen thematisiert, hier fehlt Binswanger das liebende Miteinandersein von Mir und Dir; zur Grundform menschlichen Daseins als Liebe gelangt er durch die Lektüre Bubers.76 Das Ziel der Grundformen bildet die Analyse des liebenden und freundschaftlichen Miteinanderseins in Abhebung vom lediglich unverbindlichen Umgang mit und Kontakt zu anderen. Auf diese Stufenordnung des menschlichen Miteinander verweist vorab das Inhaltsverzeichnis des Buches. Mit dem Namen Martin Buber ist zugleich ein wichtiger Abschnitt in der europäischen Geistesgeschichte gemeint. Seine Philosophie des Dialoges wurzelt in einer Sensibilität für diverse Sprachen, deren „Inhalte“ und vor allem in jenen, die sich sprachlich kundgeben.77 Bekanntheit erlangte er mit seiner Schrift Ich und Du (erschienen 1923), in der er seinen Grundgedanken dargelegt hat: der Dialog. Mag die Lektüre der Schriften Bubers den Eindruck hervorrufen, der Autor bediene sich eines suggestiven, literarischen oder deskriptiven Sprachstils, welches durchaus zutrifft, dann darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Dialogphilosophie den Rezipienten an-spricht, also doch appellativen Charakter trägt. Dies ist durch ihre Methode vorgegeben, zum anderen ist es ihr „Inhalt“, demzufolge der Angesprochene (der Leser, der Mitphilosophierende) eben nicht zum Thema gemacht werden kann, ansonsten er nicht mehr der Angesprochene ist, sondern der, über den 75 Bleuler, Eugen: Lehrbuch der Psychiatrie. – Neubearbeitung von Manfred Bleuler. Unter Mitwirkung von Jules Angst [...] – 15. Aufl. – Berlin ; Heidelberg ; New York : Springer, 1983, S. 7 76 Vgl. AW 2, 2f 77 Aus der reichhaltigen Sekundärliteratur zu Buber sei hier vor allem verwiesen auf Casper, Bernhard : Das Dialogische Denken : Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner und Martin Buber. 2. Auflage. – Freiburg/Breisgau ; München : Alber, 2002. – (Alber-Reihe-Philosophie) 38 gesprochen wird. Diesen Unterschied fasst Buber in die zwei Wortpaare Ich-Du und Ich-Es; nach Buber sind beide Wortpaare Grundworte, die den Grund des Menschen (Ich und Du) offenbaren. Menschliches Sein ist dergestalt als Beziehung angelegt, die erst durch ein Du stattfindet, das einem Ich entgegentritt. Die beiden Wortpaare bilden dem Menschen die Welt; dieselbe Welt, in der sich der Mensch aufhält und bewegt, gerät in zwei völlig verschiedene Deutungskategorien – abhängig davon, ob er sich dem anderen zuwendet („Du spricht“) oder ob er eine Aussage über ein Es bzw. Etwas tätigt.78 Der Vorrang der Frage nach dem Du ist bereits von Beginn an herausgestellt, daher ist es folgerichtig, die Begegnung hervor- und abzuheben von Vorkommnissen, Begebenheiten, Erfahrungen, die sich zwar in der Welt ereignen, aber dennoch nicht an Gehalt und Reichtum heranreichen, die in der Begegnung mit dem Du eröffnet sind, wobei der Gehalt, der in einer Begegnung aufgehoben ist, nicht mit Informationsfülle oder Ereignishaftigkeit zu verwechseln ist: „Wer Du spricht, hat kein Etwas, hat nichts. Aber er steht in der Beziehung.“79 In-der-Welt-sein wird als Sein-inBeziehung gedeutet, sodass „[...] die Wirklichkeit nie für sich, sondern immer nur als die Wirklichkeit der Beziehung denkbar sei.“80 Zwar begegnet mir in der Es-Welt das andere – eben als Objekt, Zustand, Konstanten und Variablen, allen ist mehr oder minder gemein, dass sich dieses andere messen lässt und es sich meinen Berechnungen fügt, weiters steht dem Ich auch die Möglichkeit zu, sich all dem gelassen-gleichgültig gegenüber zu verhalten. Indifferent kann sich zum Du jedoch nie ein Ich verhalten – es gibt keine Wahlmöglichkeit zwischen Verhalten und Nicht-Verhalten, zwischen Teilnahme und Gleichgültigkeit, hier verlieren Wollen und Absichten ihre Gültigkeit. [So ist] die Welt [des] Grundwortes Ich-Du, gerade dadurch gekennzeichnet, daß Sein in ihr den Charakter der Anderheit, eben den Charakter des durch das „gegen“ in „Begegnung“ angedeuteten Gegenüber gewinnt. Diese ursprüngliche Anderheit des Anderen, dem ich begegne, ist unableitbar.81 Begegnen Ich und Du einander, ohne den jeweils anderen unter den Aspekt der Es-Welt zu bringen, so ist diese Beziehung eine unmittelbare und unableitbare, alles andere wäre eine Form der Relation, die von einem der zwei Beziehungsrelata hergeleitet worden sein müsste. Insofern lässt sich die Beziehung gar nicht ableiten oder bewirken. „Das Du begegnet mir 78 Buber, Das dialogische Prinzip, S. 7 Buber, Das dialogische Prinzip, S. 8 80 Casper, Das dialogische Denken, S. 266 81 Casper, Das dialogische Denken, S. 268 79 39 von Gnaden – durch Suchen wird es nicht gefunden. Aber daß ich zu ihm das Grundwort spreche, ist Tat meines Wesens, meine Wesenstat.“82 Der Begriff Gnade – ein der Theologie entnommener – soll das Unverfügbare der Beziehung und der einander Begegnenden anzeigen, weder die Begegnung noch das in ihr hervortretende Du lassen sich seitens des Ich bewerkstelligen, herbeiführen; ein Du untersteht nicht der Befehlsgewalt des Ich. Ist dies der Fall, welches ja tatsächlich beobachtbar ist, kippt die Struktur der Beziehung so um, sodass das Du verdinglicht wird, womit aus dem Du ein Es wird. Meint eine rückhaltlose Beziehung von einem Menschen zu einem anderen die vollzogene Fülle der Begegnung, so kann das als äußerster Sinnhorizont menschlichen Daseins gelten. Dieser Breite des Wirklichkeitsbegriffs werden die Begegnenden in ihrem gemeinsamen In-der-Welt-sein wohl kaum entsprechen können; Buber spannt das Dasein zwischen zwei Achsen, die Welt des Du und die des Es, die als Pole fungieren, zwischen denen das Dasein pendelt. Du-Welt und Es-Welt widersprechen einander in einer Weise, die es nicht erlaubt, in beiden Welten verortet sein zu können. Polemisch könnte man umdeuten: wer nur in der Beziehung steht, hat ebenfalls nichts. Einem permanenten In-Beziehung-sein droht unweigerlich der Verfall ins Anonyme, Statische, Interessenlose, ins Gleichgültige, folglich ebnen sich Du und Ich gleicherweise in ein Es, in ein Etwas ein, das damit ein Nichts wird. Wer nur an das Du glaubt, glaubt letztlich nichts, weder dem Du noch anderen Menschen.83 Das Dilemma, das sich zwischen der Welt des Ich-Du und des Ich-Es entwickelt, bleibt Buber nicht verborgen, recht bald sagt er konzedierend: „Das aber ist die erhabene Schwermut unseres Loses, daß jedes Du in unsrer Welt zum Es werden muß.“84 Sind Du und Es nach Belieben austauschbar, dann wäre diese Grundentscheidung sinnlos und brüchig, es geht auch nicht um ein „Absinken“ des Du in ein Es, sondern darum, das Du nicht als isoliertes, absolutes und damit unerreichbares wahrzunehmen.85 Sieht man von einer sich 82 Buber, Das dialogische Prinzip, S. 15 Im Allgemeingermanischen bedeutet Gnade „Gunst“, „Wohlwollen“, das auch im Bittsatz „Du mögest unterstützen!“ formuliert werden kann. In der hebräischen Bibel kommt Gott diesem Anruf zuvor, indem er von sich sagt, er sei da: „Ich bin der ‚Ich bin da’.“. (Ex 3,14) Auf den ersten Blick ist dies eine für den anderen unverbindliche Tautologie, gemeint ist aber nicht die Existenzbehauptung Gottes, der sein Volk durch seine Präsenz knechtet, sondern weil er da ist, soll auch der Mensch da sein – nicht in Abhängigkeit und Hörigkeit, sondern als Dasein, dem es gegeben (geschenkt) ist, zu sein. Insofern ist das Dasein begnadet, es steht in der Gunst Gottes. Ähnlich auch die Aufforderung Gottes: „Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen.“ (Dtn 30,19) So versteht Binswanger ebenso das Dasein als Gabe, Geschenk, Gnade, freilich in Bezogenheit auf das Du: „[...] von wem es [das Dasein, Anm.] be-gabt, beschenkt, begnadet wird, von wem aus es sich also versteht, [...] ist das Dasein oder ‚Leben’ selbst als das heimatliche Du – bist Du.“, in: AW 2, 136f. 84 Buber, Das dialogische Prinzip, S. 20 85 Michael Schmidt übersieht, dass nur ein Du zu einem Objekt werden kann; in den wenigsten Begegnungen haben wir ausdrücklich ein Du vor uns. Zwar setzt jede Beziehung – sei sie auch noch so oberflächlich und flüchtig –, ein Du voraus, doch können gemeinsame (!) Ziele und Unternehmungen nicht realisiert werden, 83 40 exklusiv gebenden Zweiheit, die gerade deshalb dem Anspruch des Daseins als In-der-Weltsein – und das heißt auch: der Es-Welt – nicht gerecht werden kann, ab, ist es nur redlich, die Welt der Dinge, derer der Mensch bedürftig ist und mit denen er umzugehen hat, in ihrer Bedeutung wahr- und ernst zu nehmen. „Und in allem Ernst der Wahrheit, du: ohne Es kann der Mensch nicht leben. Aber wer mit ihm allein lebt, ist nicht der Mensch.“86 Die Auffächerung des Daseins als In-der-Welt-sein und Sein-in-Beziehung durchzieht auch das Werk Binswangers, doch sind die Unterscheidungen der Begegnungen mit anderen (bei Buber fallen sie allesamt unter den Bereich des Du oder des Es) wesentlich feiner herausgearbeitet. Mag die Begegnung auch eine marginale sein, so verbleibt sie vor dem Hintergrund des Dialogs, der das wie immer geartete und wohin auch gerichtete Handeln sowohl des Ich wie des Du allererst ermöglicht. Bubers gedankliche Intentionen zielen auf die ausschließliche, „reine“ Du-Begegnung. Schmidt pflichtet Buber bei: Bubers Auffassung von Eigentlichkeit impliziert eine Öffnung des Selbst, indem die Beziehung zum Anderen ermöglicht wird. Eigentlichkeit vollzieht sich hier als unmittelbare ganzheitliche Beziehung von Mensch zu Mensch, als eigentliche Wesensbeziehung. [...] In beiden Sphären [Ich-Du und Ich-Es, Anm.] ist die Haltung des Ich ausschlaggebend, durch welche der Bezug aufgebaut wird, da das Es durchaus eine Person sein kann, ein Etwas, das allerdings nicht als Du begegnet. [...] Das Verbindende in diesen beiden Sphären bleibt hier das Ich [...].87 Was Schmidt zugleich an Heidegger kritisiert – Solipsismus, Isolation des Ich (und damit auch des Du!), Konstitution des Daseins seitens des Ich – soll von Buber vorab schon korrigiert worden sein, allerdings ist Schmidt etwas entgangen: Öffnung des Selbst ist zwar nur in Beziehung möglich, was aber geschieht, wenn sich mir der andere verweigert oder entzieht? Ein eigentliches Dasein rückt vom Man ab und spricht sich einem anderen zu, der zu ebensolchem eigentlichen Dasein gerufen ist. Die Heidegger unterstellte A-Dialogizität, nach der das Man alles und jeden nivelliert, kommt erst da zustande, wo Heideggers Bemühung um das Dasein als In-der-Welt-sein übergangen wird. Letztlich wird dann dem Subjekt eingeräumt, Begegnendes als Du oder als Es konstituieren zu können, womit die Philosophie des Dialoges beendet wäre. indem beide Beziehungspartner in ihrem jeweiligen Ich-sein verharren (d.h. wechselseitiges Du bleiben), ganz gleich, ob es sich um Geschäftsbeziehungen, Arbeitsverhältnisse, selbst Partnerschaften (gerade bei diesen) handelt. Schmidt: „Buber grenzt das Es, die Objektsphäre, scharf vom Du der dialogischen Sphäre ab; das Verbindende in diesen beiden Sphären bleibt hier das Ich, aus anthropologischer Perspektive betrachtet letztlich der Mensch, der durch seine Haltung Seiendes in der Welt als Du oder Es konstituiert.“, in: Schmidt, Michael: Ekstatische Transzendenz. Ludwig Binswangers Phänomenologie der Liebe und die Aufdeckung der sozialontologischen Defizite in Heideggers „Sein und Zeit“. – Würzburg: Königshausen und Neumann, 2005. – (Epistemata ; Würzburger wissenschaftliche Schriften ; Reihe Philosophie , Band 367), S. 108. 86 Buber, Das dialogische Prinzip, S. 38 87 Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 102-108 41 In der Tat lässt sich eine strikte Separation von Begegnung (Du-Welt) und Erfahrung (Es-Welt) nicht durchhalten, wie ist eine Begegnung dann überhaupt möglich, wenn sie redlich diesen Titel tragen kann? „Ich“ und „Du“ müssen ein Selbst sein – das bedeutet noch keine Begegnung, erst sie befähigt beide Subjekte, einander Begegnende zu sein. Für Ich und Du stellt sich Begegnung als etwas Unverfügbares dar, das somit auch eine Machtposition nicht erlaubt. Dass jedoch ein Machthaber per se eigenorientiert ist und damit die Beziehung zu einer Selbstbereicherung verkommen lässt, ist damit nicht ausgeschlossen – vorausgesetzt man betrachtet die Begegnung als Mittel zu eigenen Zwecken. Im Anschluss an Theunissen88 schreibt Casper: Das sich ereignende Ereignis der Begegnung konstituiert so durch sein Sich-Ereignen überhaupt erst die beiden einander Begegnenden als einander Begegnende. Und sie konnten dies auch beide aus eigener Macht nicht werden. Das heißt aber, das Zwischen der Begegnung, die reine Gegenwärtigkeit der sich ereignenden Begegnung, zeigt sich gegenüber den einander Begegnenden als das seinsmäßig Frühere.89 Dieses sich ereignende Ereignis blieb Buber nicht verborgen; so ist es in der Es-Welt das jeweilige Ich, welches sich diese aneignen, zunutze machen kann, sofern dazu das Ich mächtig und befähigt ist. – Anders das Ereignis der Beziehung: Die Welt, die dir so erscheint, ist unzuverlässig, denn sie erscheint dir stets neu und du darfst sie nicht beim Wort nehmen; sie ist undicht, denn alles durchdringt alles. [...] willst du sie übersehbar machen, verlierst du sie. Sie kommt und kommt dich hervorlangen; erreicht sie dich nicht, begegnet sie dir nicht, so entschwindet sie; aber sie kommt wieder, verwandelt.90 Zum Unverfügbaren – hier die Begegnung – kann ich mich nicht nicht verhalten; zwar kann ich tiefer in den Dialog treten, ihn aber auch übergehen oder abbrechen, doch das setzt schon Beziehung voraus. Öfters ist in diesem Zusammenhang von „Gegenwart“, „Gnade“, „Gabe“ die Rede, welches noch kein Abgleiten in Religiöses oder gar Irrationales und daher Unverständliches meinen muss. Das Reden über uns Unverständliches, d.h. sich begrifflich Entziehendes macht folglich unsere Sprache unsicher. Im Sein in der Begegnung würde sich so Wahrheit ereignen, die wir – obwohl der Logik verpflichtet – nicht einholen können. Dazu meint Casper spröde und sicher: „Über die Wahrheit selbst kann man nicht verfügen. Sie entzieht sich dem besitzenwollenden Zugriff.“91 88 Theunissen, Der Andere, S. 273 Casper, Das dialogische Denken, S. 272 90 Buber, Das dialogische Prinzip, S. 36. Zur Unverfügbarkeit der mich treffenden und mich betroffen machenden Erfahrung siehe: Wiplinger, Fridolin: Der personal verstandene Tod. Todeserfahrung als Selbsterfahrung. – 3. Auflage – Freiburg/Breisgau [u.a.] : Alber, 1985, S. 16-22. 91 Casper, Das dialogische Denken, S. 274 89 42 Bubers Philosophie des Ich und Du führt konsequent in eine der Welt abgewandten Exklusivität, denn das Du tritt nur mittels der Ausblendung der Es-Welt hervor, insofern ist die Negation des Es das Nichts, welches sich einer verdinglichenden Erfahrung entzieht: „Wer Du spricht, hat kein Etwas, hat nichts. Aber er steht in der Beziehung.“92 Mit Erfahrung ist die Erfahrung eines Gegenstandes gemeint, der in seiner Passivität dem Erfahrenden zugeschlagen wird, wodurch das Ich Verfügungsgewalt besitzt, die jedoch vor einem unerreichbaren Du versagen muss. Erfahrung ist darum fernab von einem Du, weil stets gerichtet auf den Gegenstand, auf ein Es. Vor dieser begrifflichen Strenge und Engführung verblassen das Du, das Ich sowie die Erfahrung selbst, die nicht immer nur auf einen Gegenstand bezogen ist. Das Reduzieren des Erfahrungsbegriffes wird umgangen, sobald sich Beziehung „unmittelbar“ ereignet, d.h. ohne Zweck oder Vorwegnahme eines nur vorgestellten oder gewünschten Du.93 Die scharfe Trennung von Begegnung mit dem Anderen und Erfahren der Gegenstände der Es-Welt hat Buber die Problematik der „Alternativik“ bereitet94, nach welcher beide Sphären – und damit die Gerichtetheit des Ich – in einem kontradiktorischen Verhältnis zueinander stehen. In-der-Welt-sein gestaltet sich demnach als In-Beziehung-sein oder als subjektives Erfahren der Es-Welt; ein Mittleres ist nicht gestattet, da das Du nie zugleich ein Es sein kann. Daraufhin gesteht Buber doch „[...] die erhabene Schwermut unseres Loses, daß jedes Du in unsrer Welt zum Es werden muß.“95 Nun kann man einwenden, das Du werde abgewertet zugunsten des Es, womit eine unversöhnliche Polarität entsteht; dieses Doppelverhältnis ist Buber bekannt, ohne es allerdings zu problematisieren. Wie und in welcher Weise tritt Buber als „Gewährsmann“ Binswangers auf? Beider Grundgedanken kreisen um das Problem des Anderen und den Bezug zu ihm. Während Buber zuweilen religionsphilosophisch argumentiert (was auch Binswanger nicht fremd ist), sind die Zugänge Binswangers an dieses Thema insofern lebensweltlich relevant, als er durch seine berufliche und wissenschaftliche Tätigkeit den Mitmenschen doch konkreter, d.h. angemessener vor Augen hat. Ein Blick in sein Werk legt dies nahe, in diesem erläutert er 92 Buber, Das dialogische Prinzip, S. 8 Wiplinger hingegen hat eindringlich darauf hingewiesen, was er ursprüngliche Erfahrung nennt: eine Erfahrung, die wir nicht machen, sondern die wir durchmachen, erleiden – in diesem Sinne „positiv“ erdulden; in seinem Buch geht es gerade um die Erfahrung, die mich zurückverweist auf mich selbst, die mir das offenbart, das ich durch mich selbst nicht hätte erblicken können. Hier zählt die Erfahrung des Todes eines geliebten Menschen zu den radikalsten. 94 Casper, Das dialogische Denken, S. 283: “Entweder ich begegne oder ich erfahre. Ein Übergang von der einen Weise des In-der-Welt-Seins in die andere kann, jedenfalls wenn ich von dem begegnenden und erfahrenden Ich ausgehe, nicht angegeben werden. Dieses Entweder-oder hat dann die Meinung aufkommen lassen, Buber wolle das Es, die Welt des Erfahrens und Gebrauchens, abwerten zugunsten des Eigentlichen, das ja die Ich-DuBeziehung sei.” 95 Buber, Das dialogische Prinzip, S. 20 93 43 Fallbeispiele seiner Patienten, deren Beziehungen sich nicht in eine Du-Welt fügen wollen bzw. können, ohne sich darum schon im Es-Bereich zu bewegen. Zwar gleiten die Patienten mitsamt ihren Krankheiten nicht in das Es ab, das wäre für Binswanger unvorstellbar und entmenschlichend, trotz allem legt er eine Palette an menschlichen Schicksalen und Zeugnissen offen, die auf profunde Menschenkenntnis schließen lässt. Beiden gemein ist der Fokus auf das Subjekt als Ich und auf das Subjekt des Anderen als Du, die man als dialogische Grundkonstanten benennen kann. Erst aus Übereinkunft im Grundgedanken, im Konsens, können sich Differenzen, Ergänzungen und Entwicklungen herausbilden. So entwirft Binswanger eine breite Auffächerung von Intersubjektivität, die Buber unter das Grundwort Ich-Es stellen würde; spricht Binswanger etwa vom „Mitsein von Einem und einem Anderen“, ist dieses keine exkludierende Zweierbeziehung mehr. Hier finden sich Ich und Du im „mitweltlichen Nehmen-bei-etwas“; jener, der „bei etwas genommen wird“, dient zu etwas zugunsten des Ich: Die Anderen, das sind jetzt nicht mehr Diejenigen, auf die alle Umwelt als die stets Auch- und Mitdaseienden verweist, sondern Diejenigen, die aus diesem Hintergrund des Auch- und Mitdaseins hervorgezogen und ihrerseits bei etwas genommen werden. [...] Der Andere, das bist längst nicht mehr Du, das ist aber auch nicht mehr eine andere Existenz, sondern das ist Er, „jene Person“, „Jemand“, der diesen bestimmten Namen trägt oder so „heißt“, der sich an diesem bestimmten Ort befindet, und der von dieser bestimmten Beschaffenheit („Griffigkeit“) ist oder sich so „verhält“.96 Der andere ist hier „greifbar“, von „Beschaffenheit“, was heißen will, er ist zu etwas „zunutze“, er kann Absichten erfüllen, die ich hege, er steht in der Struktur des Um-zu, in der er sein zweckfreies Dasein und zugleich die Würde als Du eines anderen Ich einbüßt. Das ist das gängige, weil oft wiederholte Argument jener Philosophie des Dialogs, welche das brauchend-gebrauchende In-der-Welt-sein ignoriert. Mehr noch: ein totales Sein-lassen des anderen, in dem sich seine Zweckfreiheit bewähren soll, drängt nicht nur mich ab, sondern vielmehr den, um den es mir geht – das Du. Setzt man Bubers Sphäre der Ich-Du-Welt mit Binswangers Begriff der Liebe gleich, erreicht man weder den einen Denker noch den anderen. Bubers Überlegungen unternehmen den Versuch, der Frage nach dem Anderen den Boden zu bereiten, Binswanger – von Heidegger kommend – muss dieselbe Frage neuerlich stellen, weil er sich vor dem Konzept Heideggers zu verantworten hat. Der Bestimmung des Menschen als Dasein, das in der Welt ist, wird die wegweisende Trennung von Du- und EsWelt in deren Komplexität und Vielstimmigkeit schwer gerecht. 96 AW 2, 271 44 2.3 Heideggers Analyse des Mitseins als Basis für Binswangers Begegnungsdenken Binswanger modifiziert, variiert und korrigiert die Ansätze Bubers. Liebe als Ereignis der Begegnung eines Ich mit einem anderen ist kein akosmisches Prozedere; die Gedanken Heideggers, die Binswanger aufnimmt, fordern den Willen zur Differenzierung, dementsprechend klar heißt es in folgendem Zitat, dass Liebe (bzw. das Grundwort Ich-Du) und Sorge bzw. der Wechsel vom Du in ein (zu besorgendes) Es notwendig und deshalb nicht widersprüchlich ist: Liebe ist nicht eine aus der Sorge „stammende“ Illusion oder Phantasmagorie [...]. Liebe an und für sich nämlich könnte weder das Sein überhaupt, noch sich selbst verstehen, noch auch sich betätigen und bewähren; denn was sowohl das Seinsverständnis als die Betätigung und Bewährung „im Sein“ erst ermöglicht, ist die Endlichkeit, die „Sorge“.97 Bevor jene Grundbegriffe Heideggers erörtert werden, die in Binswangers Denken Eingang gefunden haben, kann man mit Helmuth Vetter fragen: „Hat Heidegger mit einigen Philosophen, die zur dialogischen Philosophie gezählt werden, einen Dialog gepflegt? Man wird diese Frage wohl verneinen müssen.“98 Je wirkmächtiger sich ein Denken entfaltet, desto breitere Kreise zieht es, demzufolge wird Heidegger aufgenommen und fortentwickelt; Aufnahme, Weiterführung bis hin zu Skepsis oder Ablehnung tun dem Denken jedoch keinen Abbruch. Dass Heidegger die Frage nach dem anderen verworfen oder ignoriert hätte, sollte man füglich nicht behaupten. In einem Brief Heideggers vom 24.02.1947 an Binswanger heißt es: Die tatsachensüchtige Wissenschaft sieht weder die Sache (den unscheinbaren Bereich des nächsten und eigentlichen menschlichen Begegnens), noch die Tat, dass Sie den Schritt aus der Subjekt-Objekt-Beziehung zum In-der-Welt-sein getan haben.99 Fünfzehn Jahre später, am 10.11.1962, teilt Binswanger ihm mit, dass das Verhältnis zwischen Daseinsanalyse und Phänomenologie kein „Entweder-Oder“, sondern ein „Sowohlals-Auch“ darstellt.100 Damit soll die strikte Abhebung der Du-Welt von der Es-Welt relativiert werden. Die strenge Trennung beider Bereiche ist allerdings erst dann durchzuhalten, wenn man das menschliche Wesen bloß einem der beiden Bereiche zuordnet, wodurch man dem Menschen selbst wiederum nicht gerecht werden kann. Binswanger gibt in den Grundformen Punkte an, die sein Denken tragen, sie sollen nun umrissen werden, der Fokus liegt vornehmlich auf dem ersten Teil von Sein und Zeit. 97 AW 2, 240. Auf die Wechselseitigkeit von Sorge und Liebe hat Binswanger bereits im Vorwort zu den Grundformen aufmerksam gemacht. 98 Vetter, Helmuth: Heidegger im Kontext der dialogischen Philosophie – mit Blick auf Eberhard Grisebach, in: http://sammelpunkt.philo.at, Abrufdatum: 01.01.2012 99 Briefe und Briefstellen, in: AW 3, 340 100 Briefe und Briefstellen, in: AW 3, 347 45 Mit dem In-der-Welt-sein ist zunächst kein räumliches Sich-befinden gemeint, das dementsprechend „geortet“ werden könnte – es ist keine Sache. Gleichsam unvermittelt stellt Heidegger das Sein in der Welt (Dasein) als Existenzial vor, es ist kein weltloses Subjekt, dem die Welt fremd wäre. Das In-Sein deutet Heidegger als Sein-bei, Sich-aufhalten bei den Dingen; Dasein ist vor allem mit anderen. „Es ist nicht ein Ich, das erst noch die Beziehung zu anderen Menschen aufnehmen müsste, sondern primär im Mitsein mit anderen.“101 Wenngleich Heidegger beteuert, keine Anthropologie schreiben zu wollen, zeigen seine Erörterungen doch eine Wendung zu dieser.102 Der Begriff „Welt“ ist ein belasteter und vielseitig interpretierbarer, in Sein und Zeit wird „Welt“ für jenes reserviert, das sich als Horizont des jeweiligen Seienden zeigt. Als Folge wird von der „Welt des Technikers, Mathematikers“ (die ihrerseits schon Welt in gewisser Weise voraussetzen als „Welt in der Welt“, die wissenschaftlich auswertbar ist) abstrahiert, um sie als Weltlichkeit vorzustellen. Dieses durch ein Adjektiv gebildete Substantiv bezeichnet die Seinsart des Daseins – die sich freilich auch ändern kann –, d.h. die Weise, wie sich Dasein in seiner Welt verhält. Den befremdlich anmutenden Begriff „Weltlichkeit“ verdeutlicht Heidegger anhand der Analyse der Umwelt, in der verschiedene Seiende begegnen, mit denen wir Umgang pflegen. Diese Dinge sind nicht nur „da“, vielmehr bedienen wir uns ihrer, um Zwecke oder Absichten zu erreichen. Seiendes steht nicht isoliert in meiner Welt, das In-der-Welt-sein heisst ja bereits Sein-bei-innerweltlichBegegnendem. Diesem steht das Dasein nicht indifferent gegenüber, im Anschluss an die griechische Philosophie spricht er von den Seienden als Dingen (ὰά), in welchem Terminus sich der „besorgende Umgang“ (ἡᾶ) mit ihnen ankündigt.103 Zunächst hat Heidegger das im Auge, was im alltäglichen Leben begegnet, womit das Dasein bereits bekannt und vertraut ist und womit es Tätigkeiten verrichtet, um etwas zu machen – dieses im Alltag Begegnende ist das Zeug, das auf anderes verweist, oder aber auch auf den, der mit ihm umgeht, der es benutzt.104 Ein Zeug steht nie alleine für sich, denn dann wäre es ein bloßes Vorhandenes, das es sensu stricto gar nicht gibt, denn: 101 Pöggeler, Otto: Der Denkweg Martin Heideggers. – 4. Aufl. 1994 – Stuttgart : Neske, S. 53. Pöggeler bezieht sich hier auf Sein und Zeit, S. 55. 102 Das bezeugen etwa die Zollikoner Seminare, Vom Wesen des Grundes, Über den Humanismus, weiters seine Schriften über die Technik und über die Dichtung. 103 Heidegger, Sein und Zeit, S. 68. Der besorgende Umgang ist nicht zu verwechseln mit Machbarkeit im Verständnis neuzeitlicher Technik, die Sorge verweist nächstens auf das Mitsein. 104 Heidegger, Sein und Zeit, S. 68 46 [...] jedes Zeug ist immer etwas, das man braucht, um etwas anderes damit zu machen. Dieses „Um-zu“ ist der Verweisungscharakter des Zeuges: ohne den Zeugzusammenhang, das „Zeugganze“, gibt es auch das einzelne Zeug nicht.105 Da Zeug nicht als Isoliertes fungieren kann, daher in einem Zeugzusammenhang steht, fällt es zunächst nicht auf im Sinne einer Sonderstellung, die es innehat. Der Funktionszusammenhang des Zeugs wird sichtbar, sobald dieser gestört wird und gemeinsam mit ihm die Welt.106 Nun kann mit Recht gefragt werden, was die Zeug-Analyse überhaupt mit dem Verständnis von Mitsein zu tun hat, um das es hier geht; fürs erste soll gelten, dass das In-der-Welt-sein mit seiner Umwelt in vertrautem Umgang steht. „Worin Dasein in dieser Weise sich je schon versteht, damit ist es ursprünglich vertraut.“107 Das erstlich Vertraute ist dem Dasein nicht fremd, es braucht sich dessen nicht zu bemächtigen, um es sich aneignen und so verstehen zu können. Das Vertrautsein mit der Welt und dem in ihr Begegnenden offenbart ein vorthematisches Wissen um sich und die Welt; in einem Vorgriff kann man sagen, dass die Vertrautheit – oder besser: das Vertrauen – auf anderes Dasein trifft. Ist es verfehlt, zu behaupten, die Zeug-Analyse habe vorbereitenden Charakter, um die Analyse des Mitseins einzuleiten und zu erhellen? „[...] wird die Welt erfahren vom Verweisungs- und Bedeutsamkeitszusammenhang her, wie er für die Existenz ist, dann kann sie gedacht werden als der Bereich eines Sinngeschehens.“108 Diesem Sinngeschehen gilt die Analyse des Mitseins. Der Fortschritt der Gedanken folgt in Sein und Zeit einer phänomenologischen Methode, die jenes in den Blick bekommen will, das von sich her, unabhängig vom Betrachter, Kunde gibt, deshalb scheint es angezeigt, nicht bloß die Phänomene zu untersuchen, die offenkundig zutage treten, sondern ebenfalls deren Begleitphänomene. Nichts anderes ist mit der zeughaften Struktur des Um-zu gemeint: wäre Zeug nur darin verstanden, dass es zu etwas taugt, ohne dabei jenen mitzubedenken, der dieses Zeug bedient, es verwendet, mit ihm umgeht, so wäre die Betrachtung der Um-zu-Struktur des Zeugs wenig zielführend. Will man den Verweisungszusammenhang des als Zeug Begegnenden nicht ins Unendliche treiben, so muss eine Instanz erkannt werden, die den Relationen des Seienden gegenüber offen ist und diese sich selbst begegnen lässt. 105 Luckner, Andreas: Martin Heidegger: „Sein und Zeit“: Ein einführender Kommentar. – 2. korrigierte Auflage – Paderborn ; Wien [u.a.] : Schöningh, 2001. – (UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher; 1975: Studienkommentare zur Philosophie), S. 41 106 Luckner, Martin Heidegger: „Sein und Zeit“, S. 44: „Für die Analyse des In-der-Welt-seins ist damit festzuhalten: Nur weil das In-der-Welt-sein im Besorgen mit der Welt schon vertraut ist, ist die Störung möglich, durch die allererst deren Verweisungszusammenhang phänomenal zugänglich wird.“ 107 Heidegger, Sein und Zeit, S. 86 108 Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, S. 54 47 Die Verschränkung von umweltlich Begegnendem (Zeug, zu bearbeitendes Material, Utensil, ...) und jenem, der dieses ins Werk setzt, zeigt Heidegger anhand eines bekannten Beispiels: der Acker, wird von jemandem bestellt (der Bauer), um Früchte ernten zu können, ein Buch wird von einem Autor geschrieben, um seine Leserschaft zu unterhalten u.ä. Immer steht ein Ding (Acker, Buch) mit jemandem (Bauer, Autor) im Verbund, um das Geschöpfte (die Frucht, das Buch) jemandem (dem Käufer bzw. Leser) geben zu können. Die so im zuhandenen, umweltlichen Zeugzusammenhang „begegnenden“ Anderen werden nicht etwa zu einem zunächst nur vorhandenen Ding hinzugedacht, sondern diese „Dinge“ begegnen aus der Welt her, in der sie für die Anderen zuhanden sind, welche Welt im vorhinein auch schon immer die meine ist.109 Das meint, dass ich – verweisungsbedingt – den anderen in seiner Welt antreffe, die er mir überantwortet, mit mir teilt oder die er mir entzieht. Das uns, dir und mir Zuhandene steht so im Zeichen des anderen, sodass wir füreinander offen sind und deine und meine Welt in einer nunmehr gemeinsamen aufeinander treffen. Im Entwurf des Miteinander schließt sich Binswanger an die Ursprünglichkeit von Mitsein, wie es Heidegger versteht, an, indem er zwar den Verweisungszusammenhang wahrnimmt, in ihm aber den Bezug zum anderen stärker akzentuiert: Ja schon die Rede von der Jemeinigkeit des Daseins bekommt ihren vollen Sinn erst aus der gleichursprünglichen Jedeinigkeit, d.h. aus der ursprünglichen Daseinsverfassung des Daseins „in erster und zweiter Person“. HEIDEGGER spricht nur von Mitsein mit Anderen als der Mit-Welt und vom Mitdasein Anderer als anderer Existenzen oder anderer Selbst, das weder aus dem einen noch aus dem anderen ableitbare Du der Liebe wird übergangen.110 Begegnung mit dem anderen wäre durch das Zeugganze und den Verweisungszusammenhang bei Heidegger vermittelt, und zwar so, dass das Geschehen der Begegnung in seiner Ursprünglichkeit nicht zutage treten kann. Diesem Einwand kommt Heidegger insofern zuvor, als er das Dasein des anderen nicht als Zuhandenes (Verfügbares, Berechenbares) fasst, sondern als Dasein, welches in Eigensein freigegeben werden soll; diesen Akt nennt er Fürsorge. „Das Seiende, zu dem sich das Dasein als Mitsein verhält, hat aber nicht die Seinsart des zuhandenen Zeugs, es ist selbst Dasein. Dieses Seiende wird nicht besorgt, sondern steht in der Fürsorge.“111 Mit diesem Satz stehen wir schon im Zentrum der Gedanken Binswangers; dieser sieht in der Analyse des Mitseins, wie sie Heidegger gegeben hat, das Fundament des eigenen Denkens. Welcher Gestalt ist das Fundament nun genauer? Dasein ist als solches mit anderen, gerade in der Einsamkeit ist Mitsein erfahrbar, insofern andere als Abwesende anwesend sind; hier ist nicht von Isolation bzw. Solipsismus 109 Heidegger, Sein und Zeit, S. 118 AW 2, 56 111 Heidegger, Sein und Zeit, S. 121 110 48 die Rede – dies ist erst aufgrund eines vorgängigen unthematischen Mitseins möglich: erst weil ich mit anderen da bin, kann ich mich von diesen absentieren. Die Frage nach dem anderen schließt jedoch die Frage nach dem Dasein, das je ich selbst bin, mit ein, der eine ist so nicht ohne andere, was Heidegger zuerst negativ definiert. So bestimmt er das Selbst als Man-selbst, das sich in der Anonymität verliert, d.h. weder zu sich selbst, noch gar zu anderen gelangt. Dasein wird negativ als ein im Man zerstreutes bestimmt, aus dem heraus es sich „sammeln“ kann zur Eigentlichkeit seines Selbst mit seinen Möglichkeiten, oder in dem es verbleiben kann. Leider bleibt unerwähnt, dass die Sammlung in die Eigentlichkeit bzw. das Verharren im Man bereits eine Entscheidungsfreiheit voraussetzt, die im Man nicht möglich ist, sondern die sich erst in der Eigentlichkeit vollziehen kann. Wohl ist zu bedenken, dass die zwei Modi nie isoliert für sich erscheinen, der Verfall in das Man ist kein (rein) psychisch und ethisch zu interpretierender. Mit dem durchaus stimmigen Begriff des Man bezeichnet Heidegger das allen vertraute alltägliche Miteinandersein, welches allzu oft einem Nebeneinander gleicht. „Man“ ist ein nebuloser, opaker Begriff, der trotzdem jedem geläufig ist – gerade diese Tatsache bildet den Inhalt des Begriffes. Das Man zeigt sich als Durchschnittlichkeit, als Nivellierung der Eigentlichkeit des Daseins, kurzum als „öffentliches Leben“, das das Miteinandersein von Ich und Du nicht zulässt. Ein Dasein geht im anderen Dasein auf, das selbst kein anderer mehr ist. So wird aus allen ein Niemand.112 Die Kapitel über das Man vermögen auch deshalb zu faszinieren, weil sich jeder darin erkennt, auch und weil jeder einen Teil dieses Man darstellt. Der solcherart weit gefasste Begriff des Man beraubt das Dasein seines Eigenstandes, sodass sich Dasein nicht als Eigensein durchhalten kann, das Man offenbart „[...] eine wesenhafte Tendenz des Daseins, die wir die Einebnung aller Seinsmöglichkeiten nennen.“113 Will philosophische Anthropologie das Wesen des Menschen in seinem So-sein aufschließen, will sie ihn als ῶό fassen, dann wäre Heideggers Befund ein fataler, sieht er doch im Man ein Existenzial, das ursprünglich zur Verfassung des Daseins gehört. So ist zu vermuten, dass das Man einen – wesentlichen – Aspekt des Daseins (meines wie deines) bildet, ohne aber dieses Dasein rein und ausdrücklich bestimmen oder beherrschen zu können. Dagegen zeigt sich im Man-selbst das uneigentliche Selbst, damit eine Gespaltenheit des Daseins in Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit. Das eigentliche Selbst 112 Von hier aus gelangen die Erläuterungen der Um-zu-Struktur und des Zeugzusammenhangs zu ihrer Bedeutung. Dem Dasein begegnet Seiendes von der Struktur der Zeughaftigkeit im Sinne der Dinge (τὰά), die im besorgenden Umgang stehen. Das wiederum setzt eine Form von Eigentlichkeit, d.h. sich orientieren könnendes In-der-Welt-sein voraus. Gerade die Fähigkeit, sich zu orientieren, geht im Man verloren. 113 Heidegger, Sein und Zeit, S. 127 49 ist laut Heidegger das „eigens ergriffene Selbst“114, welches sich aus der Zerstreuung aus dem Man zurücknimmt und sich sammelt. Theunissen weist darauf hin, dass diese Vereinzelung in das je Eigentliche erst das Miteinandersein ermöglicht und fragt zugleich, „[...] wie Vereinzelung und eigentliche Vergemeinschaftung sich konkret zusammendenken lassen.“115 Vereinzelung bedeutet das Ergreifen des eigenen Selbst, das aus dem Man oder der Unwahrheit bzw. der Verborgenheit (ἀ-ή) gerettete Dasein, allerdings setzt die Gefahr des Verfallens an das Man – der Verlust des Selbst also – voraus, dass sich das Dasein vorgängig als ein Ganzes begriffen haben muss. Bekanntlich mündet diese Gefahr bei Heidegger in die Angst des Daseins (genitivus subiectivus), die das Dasein auf sich selbst verweist. Von einem Mitdasein, das mir in meiner Angst beistehen könnte, ist hier übrigens nie die Rede, soll doch gerade die Angst das Dasein vor sich selbst stellen, um es zu sich selbst zu bringen; Angst soll so als principium individuationis fungieren, damit sich Dasein als ganzes, ungeteiltes erfährt, sie „[...] wirft das Dasein auf das zurück, worum es sich ängstet, sein eigentliches In-der-Welt-sein.“116 Merkwürdig wird man diese Ausführung wahrnehmen, in der von einer Angst die Rede ist, in der das Dasein „zu sich“ gebracht werden soll. Angst kann wohl kein Wegweiser in mein eigentliches Dasein sein, noch kann mir ein anderer in ihr beistehen, sobald sie so gedeutet wird, als die wir sie alle schon erfahren haben und dies auch weiterhin tun werden – als eine Art der Stimmung, die Unwohlsein, Abneigung bestimmten Situationen gegenüber hervorruft. Wenn das In-der-Welt-sein gleichbedeutend mit einem „In-der-Angst-sein“ ist, wäre ersteres lediglich negativ gezeichnet; ins Positive gewendet würde Angst dasjenige bezeichnen, worum es dem Dasein geht – eben um nichts geringeres als sein Dasein selbst in Eigentlichkeit und Freiheit. Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens. Die Angst bringt das Dasein vor sein Freisein für [ ...] die Eigentlichkeit seines Seins als Möglichkeit, die es immer schon ist. Dieses Sein aber ist es zugleich, dem das Dasein als In-derWelt-sein überantwortet ist.117 114 Heidegger, Sein und Zeit, S. 129 Theunissen, Der Andere, S. 178 116 Heidegger, Sein und Zeit, S. 187 117 Heidegger, Sein und Zeit, S. 188. Vgl. dazu Luckner, Martin Heidegger: „Sein und Zeit“, S. 83; sehr differenziert Pöggeler, der die Eigentlichkeit des Daseins in der Übernahme der Geworfenheit (Faktizität) sieht, für die das Dasein nicht zur Verantwortung gezogen werden kann, weil es sich nicht selbst ins Dasein gebracht hat. Biologisch-anthropologisch schulde ich meinen Eltern Dank, dass sie mir mein Dasein geschenkt haben, es mir zu sein gegeben haben. „Das Dasein muß als es selbst durch die Übernahme seiner Geworfenheit jener Grund sein, den es doch nicht selbst gelegt hat, als den es sich vielmehr immer schon vorgeben lassen muß.“, in: Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, S. 60. 115 50 Doch nicht nur Angst vermag das Dasein in sein Eigensein zu bringen, Heidegger treibt sein denkerisches Unternehmen ins Extreme – er sieht im „Vorlaufen zum Tode“ die Vereinzelung und damit auch die Einmaligkeit, Unwiederbringlichkeit, Einzigkeit der Existenz, die Unvertretbarkeit des Daseins. Wohl kann ich für den anderen „in den Tod gehen“, doch kann ich ihm den seinen nicht abnehmen, seinen Tod sterben. Warum diese Paradoxie Tod versus Dasein? Beide schließen gemeinhin einander aus; doch lässt die Frage die Erweiterung zu, wenn man das Mitsein gleichsam in die Frage stellt. Aus dem bisher Gesagten folgt, dass ich in Betracht des Todes mich als einzig wahrnehme, sub specie mortis bin ich dessen gewiss. Das biographisch Letzte (der Tod) wandelt sich so zu dem, das mich von Anfang an in Anspruch genommen hat. Dieses (vermeintlich) Letzte weist mich in die Möglichkeit dessen, die zu ergreifen ich fähig bin, um die Eigentlichkeit meines Daseins zu erreichen.118 Indem das Dasein sein Eigenstes, d.h. sich selbst ergreift, belässt es anderem Dasein die Möglichkeit, sich selbst in Eigentlichkeit wahrzunehmen; Zurücknahme des Selbst gewährt dem anderen Raum, um in sein eigenes Dasein gelangen zu können. Das Gewahren des Eigenen soll dafür bürgen, „[...] daß das Ergreifen des Eigensten allererst den Blick freigibt für das Fremdeste des Fremden – als das Eigenste des Anderen.“119 Meinen Blick freigeben bedeutet das Aufgeben meiner Position des indifferenten Beobachters, weshalb ich – mich zurücknehmend – dem, der mit mir da ist, Eigensein zubillige. Wie steht es um das Dasein, das sich selbst und ebenso dem anderen gerecht werden will? Mitsein – so Heidegger – steht in der „Fürsorge“, wobei „Sorge“ gerade das Sein mit anderen kennzeichnet. Wie ist Sorge näherhin zu verstehen? Während Objekte bzw. Sachen, mit denen das Dasein umgeht, von mir besorgt werden, stehe ich im Verhältnis zu anderen im Modus der Fürsorge; auch dieser Begriff ist weit gefasst: erstens die einspringende (und damit die uneigentliche) Fürsorge, durch die dem anderen dessen Sorge abgenommen wird, sie „auf sich nimmt“, um für ihn Aufgaben des Daseins zu übernehmen. Das ist kein missverstandener Altruismus, als der er interpretiert werden könnte, vielmehr scheint es, dass die vormals einspringende Fürsorge zu einer beherrschenden wird, wodurch der andere entmündigt und in seinem Eigensein behindert wird: „Dieser [der andere, Anm.] wird dabei aus seiner Stelle geworfen, er tritt zurück, um 118 Aufschlussreich wäre eine Erörterung griechischer bzw. neutestamentlicher Auffassungen des Begriffes der Zeit. So meinen die apokalyptischen „letzten Dinge“ (ὰἔnicht die Dinge, die üblicherweise damit konnotiert werden, sondern die sich uns zeitlebens bereits zutragen. Hingegen meint der ό den Zeitpunkt, um eine Entscheidung zu treffen, dem eine Zeit des Überlegens und Abwägens vorangegangen sein sollte; wieder anderes bedeutet die ἀή, die „reife“, „fruchtbare“ Lebenszeit des Menschen. Eine überaus detaillierte Analyse der diversen Formen der Zeit gibt Theunissen in seiner Studie über Pindar: Pindar : Menschenlos und Wende der Zeit. – Zweite, durchgesehene Aufl. – München : Beck, 2002 119 Theunissen, Der Andere, S. 179 51 nachträglich das Besorgte als fertig Verfügbares zu übernehmen, bzw. sich ganz davon zu entlasten.“120 Meistens ist diese Form der Fürsorge im Alltäglichen zu beobachten, wenn z.B. berufliche Tätigkeiten delegiert werden oder unverbindliche Hilfeleistungen beansprucht werden. In dieser Folge wäre es durchaus denkbar, dass das Dasein ein anderes gänzlich unter seine Macht stellt und in ihr behält, wie es in wirtschaftlichen oder sozialen Verhältnissen der Fall ist. Gerade das Gegenteil zur einspringend-beherrschenden stellt die vorspringendbefreiende Fürsorge dar. In dieser ist es dem Dasein darum zu tun, den anderen in dessen Möglichkeiten zu sich selbst zu bringen, ihn für sich zu befreien: das Dasein „[...] verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden.“121 Selbstsein des einen wie des anderen Daseins bedeutet, das Eigene tun und nicht dem anderen Möglichkeiten nehmen, die er ergreifen kann, bzw. mich an seine Stelle setzen, um ihn zwecks Steigerung oder Erhöhung des eigenen Seins zu entmachten.122 Hier ist Selbstsein derart verstanden, dass sich ein Ich zum anderen als bloßer Gegenstand verhält, um den anderen dem Ich zuschlagen zu können. Vermittels dieser Assimilation vermag das Ich seinen Selbstand aufrecht zu erhalten und ihn auszudehnen. Zwar konzediert Heidegger diese pervertierte, in ihr Gegenteil verkehrte Form der Fürsorge, gut kann er sie jedoch nicht geheißen haben. Das eigentliche Selbstsein erblickt Heidegger in dessen Erschlossenheit durch Übernahme der eigenen Möglichkeiten innerhalb der Faktizität des Daseins; er redet hierbei nicht dem Solipsismus das Wort, weil die Erschlossenheit (die „Bedeutsamkeit“) meiner Welt und des mir Begegnenden – die Offenheit der anderen und Offenheit für andere – mein Dasein zur eigentlichen Existenz führt, oder, wie Kampits in Bezug auf das Mitsein sagt: Nur dann aber, wenn ich eben im Ergreifen der äußersten Möglichkeit des Daseins zum eigentlichen Seinkönnen gelange, wird jener Horizont erschlossen, aus dem ich „eigentlich“ erst zum Anderen gelangen kann, indem ich ihn „sein“ lasse.123 Ebendiese Gedankengänge stehen in der Literatur zu Heidegger bisweilen im Hintergrund, dennoch nimmt es nicht wunder, wenn der Philosophie angrenzende Fachwissenschaften diese Thematik näher untersuchen. Bestimmt findet man in Heideggers Werk keine direkte, systematische Ausarbeitung des Phänomens des Menschen als Wesen des Dialogs, als Ich 120 Heidegger, Sein und Zeit, S. 122 Heidegger, Sein und Zeit, S. 122 122 Johannes Vorlaufer bringt einen interessanten Beitrag zum Verhältnis von Eigentlichkeit des Daseins und der vorspringenden Fürsorge, die den anderen in seinem Sein be-lässt: Vorlaufer, Johannes: Das Sein-Lassen als Grundvollzug des Daseins : eine Annäherung an Heideggers Begriff der Gelassenheit. – Dt. Erstausgabe. – Wien : Passagen-Verl., 1994. – (Passagen Philosophie), S. 138 ff. 123 Kampits, Peter: Sartre und die Frage nach dem Anderen : Eine sozialontologische Untersuchung. – Wien ; München : Oldenbourg, 1975, S. 80 121 52 und Du, wenn diese mehr oder minder beiläufig als zufällig begegnende Mitmenschen gesehen werden. An dieser Stelle nun kommt Binswanger zu Wort; ist er tatsächlich dem dialogischen Kreis zuzurechnen, nimmt er ferner Heideggers Denken ernst, muss er dies ausweisen.124 2.4 Die Position Binswangers Ein erstes Zeichen der Rezeption Heideggers besteht in der Übernahme des Schemas des Inder-Welt-seins, in dem sich Dasein auf sein Selbstsein hin übersteigt.125 Sodann erweitert er den Begriff der Sorge unter Bezugnahme auf seine „positive Kritik“ an Heidegger, um den Begriff des Daseins „umwillen Unserer“, das er, ebenfalls breit interpretierbar, mit Liebe umschreibt. Grundlage der noch nicht näher definierten Liebe bildet das In-der-Welt-sein, das „[...] gleichursprünglich die eigenweltliche, mit- und umweltliche Verfassung des Menschseins in sich begreift.“126 Liebe trägt hier den Charakter eines Postulats, mit ihr erst erfährt sich Dasein und Sein mit anderen in seiner Ganzheit; das bedeutet seinerseits einen Mangel im bloßen In-der-Welt-sein. Der Inhalt der Forderung erfüllt sich, sobald die Struktur der Sorge überschritten wird auf einen Daseinsboden, auf dem Partner einander begegnen können ohne in eine Objektivierung des anderen zu geraten. In diesem Sinn wird Liebe als eigentliche Daseinsform genannt, was wiederum voraussetzt, dass Mitsein in der Fürsorge ausgeschöpft ist, ohne einer Ergänzung durch die Liebe bedürftig zu sein. Die Termini Dasein, In-der-Welt-sein, Mitsein – die übrigens konvertibel sind –, müssen daher in den Begriff der Liebe eingespannt werden. Der erste Teil der Grundformen bemüht sich, ein Konzept dessen vorzulegen, was Liebe heißen mag: eine über die Grenzen der Sorge hinausreichende Grundform des Daseins, wobei Sorge auf Alltäglichkeit, Unabhängigkeit, Unverbindlichkeit reduziert wird. Entsprechend radikal und unvermittelt wird die Liebe ins Spiel geführt. Geht bei Heidegger das Mitsein aus dem eigenen Ganzseinkönnen hervor, so setzt Binswanger anstelle des eigentlichen Selbst „[...] das duale Wir-selbst im Sinne des Miteinanderseins von Mir und 124 Interessant ist, dass die nachfolgende Daseinsanalyse Heidegger ein größeres Augenmerk schenkt, als es Binswanger selbst getan hat, ohne sich explizit von der Daseinsanalytik getrennt zu haben. Zu nennen ist hier vor allem Medard Boss. 125 „Zum Überstieg gehört einerseits das, woraufzu der Überstieg erfolgt, anderseits das, was im Überstieg überstiegen oder transzendiert wird; das erstere nun, das woraufzu der Überstieg erfolgt, nennen wir Welt, das letztere, das, was jeweils überstiegen wird, ist das Seiende selbst, und zwar gerade als dasjenige Seiende, als welches das Dasein selbst ‚existiert’! Mit anderen Worten: Als Transzendieren, als Überstieg, konstituiert sich nicht nur ‚Welt’ – sei es als bloßer Weltdämmer, sei es als objektivierende Erkenntnis –, sondern auch das Selbst.“, in: Über die daseinsanalytische Forschungsrichtung in der Psychiatrie, in: AW 3, 233. Binswanger übernimmt hier zentrale Stellen aus Heideggers Vom Wesen des Grundes. 126 Über die daseinsanalytische Forschungsrichtung in der Psychiatrie, in: AW 3, 259 53 Dir, das Wir der Liebe.“127 Freilich ist die Interpretation der Wechselseitigkeit des sorgenden Daseins und des liebenden Miteinander hier unzureichend, zumal beide ineinander spielen, wie es im zweiten Teil der Grundformen dargelegt ist. In diesem nämlich wird die Radikalität der Liebe, die sich der Gebundenheit an die Welt enthoben meint (Liebe als Inder-Welt-über-die-Welt-hinaus-sein), der unausweichlichen Realität der Sorge gegenüber gestellt. In aller Abgeschiedenheit, in der sich liebendes Miteinander ereignet, geschieht dieses doch in der Welt, ist es also auch sorgendes In-der-Welt-sein. Diesem Verständnis bleibt Binswanger treu, nicht ohne es zu modifizieren. Wollen wir diese Wahrheit der Liebe denkend erfassen, was immer nur heißen kann, uns ihr von der Sorgestruktur aus nähern, so können wir uns [...] nur stützen auf das vom Sorgestandpunkt der ratio aus nicht nur „irrationale“, sondern durchaus überrationale oder metalogische „Verhältnis“ von Ich und Du im Wir.128 Der oftmals eingebrachte Vorwurf gegen die Philosophie des Dialogs, sie sei unwissenschaftlich oder verrate ihren eigenen Standpunkt – mithin sich selbst –, ist da unangemessen, wo die Bezugnahme Binswangers auf Heideggers Denken außer Acht gelassen wird. Etwas umständlich gelangt Binswanger dahin, liebendes Miteinander und in Fürsorge stehendes Dasein in Einklang zu bringen. Dazu bedient er sich des Begriffes der Daseinserkenntnis. In der Daseinserkenntnis endlich bin Ich nie nur mich dem Gegenstand gegenüber behauptendes, erkennendes „Subjekt“, sondern vor allem Teilglied liebender Wirheit, [...] müssen Seinsteilnahme und Seinsurteil in eine höhere Einheit eingehen, müssen Liebe und Urteil sich einigen in der Seinsidee, dem „Logos“ des Seins oder dem Seinsverständnis. Erst dann ist der Widerspruch zwischen Liebe und Sorge überwunden oder versöhnt.129 Ein weiterer Gedanke Heideggers ist der des Sein-lassens oder der „Gelassenheit“. Das Seinlassen kündigt sich in Sein und Zeit im Phänomen der Sorge an, hat dort jedoch noch die Doppeldeutigkeit von einspringend-beherrschend und vorspringend-befreiend im Rahmen des Mitseins. Sein-lassen erinnert in der allgemeinen Auffassung an ein negativ behaftetes „Bleiben-lassen“, an etwas, mit dem man „nichts zu tun haben will“. Gerade das Gegenteil will Heidegger aber ausdrücken: es geht um das Lassen des Seienden als solches, das es ist. Im Vortrag Zeit und Sein, gehalten 1962, heißt es: „Im Hinblick auf das Anwesende gedacht, zeigt sich Anwesen als Anwesenlassen. [...] Anwesen lassen heißt: Entbergen, ins Offene bringen.“130 Seinlassen fordert weiter, das Sein zuzulassen, wobei hier das Sein vor allem das 127 AW 2, 59 AW 2, 500 129 AW 2, 506 130 Heidegger: Zeit und Sein, in: Ders.: Zur Sache des Denkens. – Gesamtausgabe. – 1. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. – Band 14: Zur Sache des Denkens. – Herausgegeben von FriedrichWilhelm von Herrmann – Frankfurt/Main : Klostermann, 2007, S. 9. Bemerkenswert ist der Bezug zu antiker 128 54 Eigensein wie das des anderen in den Mittelpunkt rückt, ihm Raum und Zeit zu gewähren (zu schenken). Das Sein des anderen zulassen ist nichts anderes, als ihn in seinem Eigensein, das nur ihm, sonst niemandem zukommt, zu würdigen und ihn darin zu fördern. Kann hier nicht eine Verallgemeinerung bei gleichzeitiger Konkretion der vorspringend-befreienden Fürsorge gesehen werden? Vorsicht ist geboten vor dem Verständnis von Sein; es geht nicht um etwas greifbar Vorhandenes, das neben dem Dasein eben auch anzutreffen ist wie Zufälliges, nicht zum Dasein Gehörendes. Das Sein ist kein Seiendes, sondern das, das sich Seiendem zuspricht, sich ihm (dem Seienden) gibt. Das übernimmt Binswanger, in seiner Wahn-Studie bezieht er sich expressis verbis auf Heideggers Vom Wesen der Wahrheit, Dasein verhält sich zum Mitsein in dreierlei Weise: 1) als Seinlassen des Seienden, 2) als Sich-den-Seiendenüberlassen, 3) als Sich-einlassen-auf-das-Seiende.131 Das Sein-lassen des anderen verweist seinerseits auf Freiheit, der sich das Dasein verweigern kann, die es missachten kann, der sich das Dasein aber auch überantworten kann im Verhältnis zu sich und zu Mitseienden. Interpretiert man Freiheit als Eigenmächtigkeit, Verfügungsgewalt über sich oder andere, gerät man unversehens in die Willkür, die das Seinlassen in ein Sein-müssen, in Apathie dem Ganzen des Daseins gegenüber, oder in ein Nicht-sein-dürfen pervertiert. In der Studie über Schizophrenie ist es ähnlich formuliert: „Dieses Seinlassen ist aber keineswegs das Selbstverständliche und Bequeme, vielmehr stellt es, wie gerade unsere Fälle, und zwar auf defiziente Weise, die allerpositivste Tätigkeit dar.“132 Was hier von an Schizophrenie Erkrankten ausgesagt wird, gilt ebenso jenen, die nicht unter Gemüts- oder Geisteskrankheiten leiden; Seinlassen bildet die Grundform meines wie deines Daseins, also unser gemeinsames Sein. Darum bezeichnet Binswanger das Lassen als „allerpositivste Tätigkeit“ – es ist kein passiver Zustand, in dem zwei Subjekte verharren, das wäre kein gemeinsames Sein, sondern erinnert an ein dem Man verfallendes Dasein. „Positiv“ bedeutet wörtlich das lateinische ponere – setzen, legen, stellen: Dasein verhilft dem Dasein zum Eigensein, sich zu „setzen“, sich als Sein in Eigenstand zu stellen. Dasselbe widerfährt dem Dasein durch den Anderen – er gewährt mir (seinen) Raum, der so der unsrige wird. Zwar spricht Binswanger hier vom Wir der Liebe, vom Eros, der sich als Philosophie und Theologie; die lateinische revelatio (Entbergen, Offenbaren) bedeutet, den Schleier (velum) wegziehen, also die Sache als solche zum Vorschein bringen lassen, als die, die sie ist. Damit geht ein Entbergen dessen einher, was zuweilen verborgen war. Heidegger erinnert an die ἀ-ή Wahrheit –, das, was aus dem Fluss des Vergessens (ή gerettet und geborgen wurde. 131 Wahn, in: AW 4, 433 132 Wahn, in: AW 4, 335 55 Mehrung des Habens durch das Geben ereignet133, trotz dieses Vorgriffes wird deutlich, worauf das Seinlassen hinaus will: als Grundform menschlichen Daseins ist es reziprokes Miteinandersein, welches Seinspartnern verhilft, in eigenes Sein zu gelangen, in das es ohne den anderen nicht gelangen könnte. Mein mir vom Anderen ermöglichtes Dasein, Selbstverantwortung und Autonomie erweitern meinen Daseinshorizont, geben mir bislang unbekannte Möglichkeiten preis, öffnen mein Dasein erneut zu einer jetzt gemeinsamen Welt. In freier Anlehnung an Heraklit bezeichnet Binswanger dieses Verhältnis von Ich und Du als Eros, der sich selbst mehrt, indem Daseinspartner einander mit-teilen. Diese Selbstmehrung der Liebe geschieht, wenn sich Daseinspartner füreinander öffnen, um einander zu beschenken. Das Miteinander in Liebe, die sich selbst steigert, umfasst allerdings mindestens zwei Menschen, die jeder für sich genommen ein Selbst bilden. Wie und als welches ist dieses Selbst zu verstehen? Es geht um das „[...] Sich-Selbst des Einander, des Daseins als unserem, als Deinem und Meinem, dieses Und natürlich nicht in additivem Sinne, sondern phänomenologisch verstanden.“134 Voraussetzung der Beziehung im Einander von Ich-selbst und Du-selbst ist das Seinlassen, das den ursprünglichen Sinn der Liebe offenbart. Weder hat hier Liebe mit unbändiger Leidenschaft noch mit kritikloser Vergötterung oder submissiver, selbstentmündigender Abhängigkeit zu tun, sondern um das Worumwillen menschlichen Daseins, das je eigentlich ist auf dem Grund des Wir, [...] daß wir das In-der-Welt-sein zwar auch als ein Sein verstehen, darin es dem Dasein um es selbst geht, daß wir dieses Selbst aber nicht nur in dem faktischen IchSelbst des Daseins als je meinem, deinem, seinem zu erblicken vermögen, sondern auch in den jenem Selbst ontologisch vorgelagerten Möglichkeiten des Wir-selbst, des Daseins als „unserem“, als Ur-Begegnung.135 Erweist Heidegger das Dasein als Mitsein, so folgt und übertrifft ihn Binswanger in der Definition des Daseins, das in einer „Ur-Begegnung“ steht, d.h. vor aller Einzelerkenntnis in der Begegnung den anderen erkannt hat. Eine Beziehung – soll sie im und durch den Ursprung geschehen – weist jede Deutung ab, die die Ursprünglichkeit bereits voraussetzt. Wo und wie zeigt sich der Ursprung einer Beziehung? Zunächst als Seinlassen des Seienden, des Du, das ohne vorgängige Interpretation, ohne Vorurteil einem Ich begegnet. Bei einem konkreten Zusammentreffen von Ich und Du bedeutet das mitunter das Fallenlassen von Vorstellungen, Erwartungen oder Wünschen, die der Andere meinerseits erfüllen mag, eventuell hegt der Andere ähnliche Absichten mir gegenüber. Auf dieser Stufe ist Seinlassen 133 AW 2, 18; mehr zu dem Thema im Kapitel 4.1 Der Eros AW 2, 65 135 AW 2, 88 134 56 ein passives – es nimmt sich zurück, sodass der Andere in möglichst unverstellter Form da sein kann. So überlässt sich das Dasein Anderen, genauer: dem Du. Das Abblenden von Einstellungen, die das Sichtfeld einengen, eröffnet dem Ich eine neue Welt, die meine Welt in einem anderen Licht erscheinen lässt, wobei es vom Geschehen der Begegnung her gleich ist, welche Richtung sie einschlägt – vom Ich oder vom Du aus. Mag eine Begegnung fehl gehen oder sich als indifferente herausstellen – Grundlage dafür ist, sich dem Anderen überlassen zu haben. Als dritten Schritt in der Begegnung führt Binswanger das Sich-einlassen-auf-dasSeiende an, welches eigentlich dem Sich-überlassen vorangeht. Hier ist endlich das Ich gefordert, das eigene Sein ins Spiel zu bringen, die Beziehung mitzutragen; wurde zuvor dem anderen Raum zugesprochen und gebilligt, ist jetzt in umgekehrter Weise das Ich jenes, dem widerfährt, was vorher dem anderen gegolten hat. Lasse ich mich auf dich ein bedeutet: ein mündiges, konstituiertes Subjekt geht bewusst und tatwirkend in die Beziehung, der sie sich zuvor schon überlassen hat. Wohlgemerkt: ein Dasein, laut Heidegger In-der-Welt-sein, tritt in eine Begegnung, die darin den anderen lässt, damit er derjenige werden kann, der er im Keim bereits ist, den ich dazu bringen kann, der er (für mich) ist. Reserviert Binswanger den Begriff der Liebe als exklusives Miteinander, so führt er in seinen fachspezifischen Schriften Bemerkungen an, die diesem Begriff breiteren Raum geben. Der Schwierigkeiten, Brüche und Disparitäten, die das Miteinandersein durchkreuzen, ist er sich bewusst, wenn er feststellt: „Obwohl oder gerade weil der eigentliche Modus des Menschseins, ist der duale Modus der versteckteste, ja erdrückteste.“136 Ungeachtet dessen, dass die Grundform des liebenden, einander Wert schenkenden Daseins uns oft verborgen bleibt, notiert Binswanger, dass „[...] es ja kaum einen Menschen geben wird, in dem kein Keim von Liebe zu entdecken ist.“137 Bestimmt ist es irreführend und verfehlend, in Heidegger einen Dialogiker sehen zu wollen, damit würde er missverstanden werden; dennoch führt er uns zu einem Denken, in dem der Andere Platz hat. Niedergelegt hat er diese Gedanken in Vom Wesen des Grundes, aber auch in den Zollikoner Seminaren, die er mit dem Schweizer Psychiater Medard Boss gehalten hat. Darin zeigt sich der Einfluss, die seine Daseinsanalytik auf diverse Wissenschaften ausübt. Insbesondere medizinische Begriffe und Problemkreise werden in ihnen entfaltet, so etwa die Bestimmung der Zeit, die Leiblichkeit, psychologische Themen (Ich, Bewusstsein, Es, etc.), pathologische Phänomene, aber auch das östliche Denken. 136 137 Der Fall Ellen West, in: AW 4, 152 Der Fall Ellen West, in: AW 4, 152 57 An einigen Stellen der Seminare wird auf Binswanger verwiesen, aus denen jedoch wenig Neues im Verhältnis Heideggers zu Binswanger zu gewinnen ist. Heidegger betont das ursprüngliche Mitsein des Daseins, darin pflichtet ihm Binswanger schließlich bei, letzterer will der Sorge die Liebe zugesellen – hierin sieht Heidegger kein Problem, sondern vielmehr darin, dass Binswanger [...] nicht sieht, daß die Sorge einen existenzialen, das heißt ontologischen Sinn hat, daß mithin die Analytik des Daseins nach dessen ontologischer (existenzialer) Grundverfassung frägt und keine bloße Beschreibung ontischer Daseinsphänomene geben will.138 Worum es in Sein und Zeit geht, sind die Bestimmungen des Daseins hinsichtlich seines Seins; im Unterschied dazu verfolgt Binswanger das Beschreiben von Phänomenen (vorrangig das der Liebe) am bestimmten, konkreten Dasein – er bewegt sich demnach im Bereich des Ontischen bzw. in der philosophischen Anthropologie. Laut Heidegger konzentriert sich Binswanger allzu sehr auf Dasein als Sorge, die er durch die Liebe ergänzt, dagegen erweitert Heidegger den Begriff der Sorge auf die Offenheit des Daseins: „Es [das Dasein, Anm.] ist als Sein des ‚Da’ die Ortschaft alles Begegnenden.“139 Um den Charakter der Wechselseitigkeit der Begegnung zu betonen, spricht Heidegger gar von einer „Du-DuBeziehung“, zumal ein Ich-Du immer bloß von mir gesprochen werden kann, sodass das Du nicht „zur Sprache“ kommen kann.140 Bei allen Differenzen und gegenseitiger Kritik kann gesagt werden, Binswanger bemühe sich um eine eigenständige Bewältigung des Problems des Mitseins. Dieses wird insofern ergänzt, als er das Phänomen der Liebe als Ereignis zweier konkreter Existenzen auffasst, die sich als Liebende bestimmt nicht als Dasein bzw. als In-der-Welt-sein verstehen, sondern als solche, die in Liebe füreinander da sind. Diese „weltliche“ Liebe, die sich sehr wohl im Alltäglichen, Unscheinbaren zeigt und bewährt, sucht man bei Heidegger vergebens. Nochmals sei darauf hingewiesen, dass Binswangers Forschung ihren Standpunkt in der Psychiatrie und er sich selbst nie für einen Philosophen gehalten hat, wie er Heidegger schriftlich mitgeteilt hat.141 Wie aus den Fallstudien hervorgeht, hat er die vielfältigsten Weisen des Miteinanderseins kennengelernt, so verwundert es nicht, dass er die akademische Philosophie aus einer gewissen Distanz betrachtete. 138 Heidegger, Zollikoner Seminare, S. 151 Heidegger, Zollikoner Seminare, S. 240 140 Heidegger, Zollikoner Seminare, S. 263. Verkannt werden die Ausführungen Heideggers von M. Schmidt, der im Dasein einen egoistischen Zirkel zu sehen meint: „So zeigt sich auch für das eigentliche Miteinander die Unbezüglichkeit des Daseins, seine eigentliche Einsamkeit in seiner Stellung als solus ipse in der Welt. Heideggers Analyse des Mitseins, in dem der Bezug zu Anderen geklärt werden sollte, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein existenzialer Solipsismus, dem die Vereinzelung eines um sich selbst bekümmerten Daseins als inhärente Setzung eingeschrieben ist.“, in: Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 87. 141 Brief an Martin Heidegger vom 17.06.1954, in: Briefe und Briefstellen, in: AW 3, 345 139 58 Bilden die Struktur der Sorge und das Miteinander in Liebe ein Dilemma, so versucht Binswanger, dieses im zweiten Teil der Grundformen zu lösen, indem er beiden einen berechtigten Rang zuteilt. Scheint Liebe sich akosmisch – weltflüchtig – zu absolutieren, ist sie dennoch, will sie sich redlich bezeugen, an die Sorge gebunden. Das Seinsverständnis Heideggers und die Idee des Miteinanderseins müssen nicht unbedingt einander ausschließen. Nicht zuletzt spricht auch Heidegger von einer ontischen Bestimmung des Daseins als ein faktisches Ideal desselben, welche Tatsache eine „positive Notwendigkeit“ bildet.142 Stellt Binswanger dem In-der-Welt-sein als besorgendes das Miteinandersein in Liebe entgegen, so bezieht er sich auf Löwiths Schrift Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen; in diesem Werk sei eine „feinsinnige Analyse“ des Mitseins gegeben, „[...] das liebende Miteinandersein von Mir und Dir aber noch nicht gewürdigt [...].“143 Welcher Art ist die Analyse, in der die Liebe nicht aufscheint? Im Gang seiner Untersuchung legt Löwith seine Bezüge zu Heidegger offen, er geht von einer allgemein gehaltenen Strukturanalyse über das Miteinandersein als solches bis zur gegenseitigen Selbständigkeit. Wie Heidegger geht auch er von der Umwelt aus, die sodann der Mitwelt untergeordnet wird, diese wiederum offenbart sich dem, der sein Verhältnis zu ihr reflektiert. Zu sich selbst zurück kehrt der Mensch aber zumeist nicht von „Objekten“, sondern von Subjekten, d.h. von Seinesgleichen [...]. Durch das Dasein Anderer ist das eigene schon allein dadurch von Grund aus und ohne sein Zutun ein für allemal bestimmt, daß es ohne das Dagewesensein bestimmter Anderer überhaupt nicht da und nicht so wäre wie es ist [...].144 Welt, vornehmlich die Welt mit anderen, ist nicht nur vom Du geprägt, sondern das Sein der Person bestimmt sich durch sämtliche Verhältnisse zu den anderen, so bin ich etwa Schüler meines Lehrers, Bruder meiner Schwester, Kreditgeber eines Schuldners. In diesen intersubjektiven Bezügen fungiere ich als Person, ich übe demnach eine Funktion aus, die über mein Eigensein bzw. meine Individualität noch nichts aussagt; so wäre es z.B. völlig gleich, wem ich Kredit gewähre oder wessen Schwester ich Bruder bin, die Beziehungspartner sind im Grunde austauschbar und damit als Mitmenschen variabel. Was zählt, ist lediglich das Verhältnis zu ihnen. Das die Beziehung tragende Verhältnis wandelt sich, insofern menschliche Begegnungen Veränderungen unterworfen sind – so kann etwa der Schüler zum Lehrer seines Lehrers werden, wie auch das Kind die Pflegschaft seiner Eltern übernehmen und 142 Heidegger, Sein und Zeit, S. 310 AW 2, 3 144 Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 1 143 59 dadurch das Verhältnis umdrehen kann. Löwith – hier stimmt er mit Heidegger überein – stellt sich die Mitwelt als Strukturzusammenhang dar, die daher auch vermittelt sein muss.145 Der Begriff Mitwelt umfasst zahlreiche Phänomene, von denen besonders eines Beachtung findet: das des Zwischen von Ich und Du, ihr Verhältnis zueinander, welches auch von Binswanger in Anschlag gebracht wird. Löwith übernimmt die Grundgedanken des Dialogs, wenn er das Verhältnis von Ich und Du in Exklusivität, also unter Ausschluss der Mitwelt ansiedelt, die die Dualität stört, [...] weil nur eine Person in zweiter Person sich mit der von allen anderen unterschiedenen ersten Person vereinigen kann. [...] Mit Dir kann ich daher auch nie „allgemein“ zusammensein, denn Du bestimmst mich stets als Ich.146 Will sich Gemeinsamkeit durchsetzen, muss sie sich der Gesellschaft der anderen entschlagen; um die Dualität zu wahren, bilden Ich und Du ihre „eigene“ Welt, die sich privativ-apolitisch der Welt des gemein-alltäglichen Mitseins enthält. Isoliert sich die Welt des Ich-Du, so lässt sie die Welt der anderen neben sich nicht zu, sie tritt „in Konkurrenz“ zur umweltlich besorgten Mitwelt. An dieser Stelle aber korrigiert sich Löwith selbst: der konsequente Ausschluss der anderen kommt dem Ausschluss der gesamten Welt gleich, deren Untergang mit dem Aufgang der exkludierenden Welt des Ich-Du einhergeht.147 Seine Konzession geht dahin, dass Ich und Du auch in der Welt der Alltäglichkeit begegnen können – wo, wenn nicht in der Welt soll eine Begegnung stattfinden? Wie es scheint, ist das In-der-Welt-sein mit der Zweckhaftigkeit des umweltlich Begegnenden deckungsgleich.148 Zurecht deutet Gadamer darauf hin, dass in der alleinigen Konzentration auf die Sache oder den Zweck das Verhältnis zum Anderen verloren geht, er spricht von einer „[unmenschlichen] Abstraktion aus der ursprünglichen Menschlichkeit mitweltlicher Verhältnisse.“149 Dem zweckgebundenen Einander-gebrauchen stellt Löwith das zweckfreie Füreinanderdasein entgegen. Der Trennung von zweckhaftem Miteinander, in dem Menschen gemeinsam ein Ziel verfolgen, und mitweltlicher Begegnung von Ich und Du trägt Löwith darin Rechnung, wenn er zwischen „Individuum“ und „Person“ differenziert: ersteres ist unteilbare, sich nicht mitteilbare Substanz, im Verhältnis zum anderen ist der Mensch Person150; er verhält sich zu 145 Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 48 Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 55 147 Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 57 148 Siehe dazu das unter 2.3 Heideggers Analyse des Mitseins als Basis für Binswangers Begegnungsdenken Gesagte. 149 Gadamer, Hans-Georg: Ich und Du (K. Löwith), in: Gesammelte Werke 4 : Neuere Philosophie ; 2. – Unveränderte Taschenbuchausgabe. – Tübingen : Mohr, 1999. – (Uni-Taschenbücher ; 2115), S. 234-239, hier S. 236 150 Siehe Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 51, sowie Theunissen, Der Andere, S. 424 146 60 anderen als persona, als Rolle oder Maske, die sich dem Du öffnet, wobei hier entgegengehalten werden kann, dass sich das Ich vom Du her definieren lässt: „[...] denn Du bestimmst mich stets als Ich.“151 Das Verhältnis allerdings zum das Ich definierenden Du ist keineswegs klar, demgemäß ist auch von „Zweideutigkeit“ die Rede, die daraus hervorgeht, dass Ich und Du wechselseitig einander bedingen. Ungeklärt bleibt hier jedoch die Frage nach der Stabilität dieser Beziehung und die Frage, welcher Art die Substanz (als das sich Durchhaltende) einer Person ist, die durch den Anderen jeweils neu bestimmt wird – obendrein noch: wer bestimmt das Verhältnis selbst? Nimmt das Dasein nur mehr seine Personalität als Rolle wahr, die sich als Verhältnis ausdrückt, wie steht es dann um das Dasein selbst? Demnach würde die Personalität die Individualität (beide Begriffe hier auf ein und denselben Menschen bezogen) verdrängen: „Je mehr aber die Verhältnismäßigkeit wächst, desto mehr schwindet die Individualität.“152 Ist der Begriff der Person ein relationaler, so ist er durch intersubjektive Verhältnisse bestimmt; wenn Löwith den Menschen als „Für-sich“ (Individuum) und zugleich auch als Person im Sinne von „Für-den-Anderen“ versteht, so ist die Möglichkeit und die Gefahr gegeben, dass das Ich-Du-Verhältnis eine ungewollte Eigenbewegung verfolgt, er nennt dies die „Verselbständigung des Verhältnisses“.153 Was geschieht in ihm und wohin führt es? Das Ich wird sich in seiner Beziehung zum Du auf dieses vorbereiten, sich auf es „einlassen“; nun kann es durchaus geschehen, dass der eine in seiner Rollenhaftigkeit dem anderen zuvorkommen will, d.h. Möglichkeiten unterbreiten will, die eigentlich der andere ergreifen möchte oder die ihm mindestens zustehen. Was Heidegger einspringend-beherrschende Fürsorge nennt, wäre bei Löwith eine Weise des Herrschens über den anderen, wenn er sich selbiger Methode bedient. Dann geht es weder um mich noch um dich, sondern um unser Verhältnis, das sich als zweideutiges zeigt, zumal ich mich zu dir verhalte und zu diesem Verhältnis: Die primäre Zweideutigkeit des eigenen Verhaltens zum anderen ist also reflektiert, indem sich einer in seinem Verhalten (zum anderen) zum Verhältnis verhält. Sich im Verhalten zum Verhältnis verhalten, das besagt: ich verhalte mich zu einem anderen von vornherein im Hinblick auf sein mögliches Verhalten zu mir.154 Sehr einleuchtend führt Löwith vor, was geschieht, wenn sich intersubjektives Verhalten nicht auf den anderen bezieht, sondern lediglich auf sich selbst bzw. auf den, der sich zum anderen verhält. Dass dadurch jeglicher Dialog von Anfang an unterdrückt wird, ist 151 Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 55 Theunissen, Der Andere, S. 431f 153 Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 82 154 Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 79 152 61 offensichtlich, Löwith stellt diese reflexive Zweideutigkeit auch treffend dar: „Am Ende der Diskussion wird dann ein jeder gerade von den Argumenten getroffen, mit denen er zuvor seinen Partner schlagen wollte.“155 Nennt Binswanger Löwith einen Philosophen, der ihm wichtig ist, stellt sich die Frage nach Löwiths Bedeutsamkeit; Böckenhoff stellt Löwiths Denken – trotz aller Unterschiede – in die Nähe Heideggers156, ähnlich urteilt Theunissen, der in seinem Denken einen „vermeintlich originären Beitrag zur Dialogik“157 ausmacht. Den „vermeintlichen Beitrag“ sucht Binswanger mit der Phänomenologie der Liebe zu ergänzen. Mit Bezugnahme auf obige Ausführungen kann mit Gadamer resümiert werden: Daß die Orientierung an der Verhältnisbestimmtheit des Ich für Löwith ein Motiv von grundsätzlicher, philosophischer Tragweite darstellt, wurde schon eingangs betont. Die durchgeführten Analysen lassen aber weniger die positive philosophische Absicht der Untersuchung hervortreten, als daß sie in begrifflicher Präzision die Reflexionsproblematik der mitweltlichen Verhältnisse ausarbeiten [...].158 Die kurzen Darstellungen Bubers, Heideggers und Löwiths sollen dazu dienen, den Gedankenkreis Binswangers zu verdeutlichen; ist Binswanger ein wissenschaftshistorischer Status in der Medizin zugewiesen, so mag sich zeigen, welchen Beitrag er zum Bedenken des Dialogs beisteuert. Seine Leistungen in der Wissenschaft sind mittlerweile anerkannt, auch wenn sie heute nicht immer an erster Stelle genannt werden; in seinem Denken tritt das eine oder andere Motiv stärker hervor, jeweils neue Akzente betonend. Stets nur über ein Thema nachzudenken kann ein Zeichen der Unbedarftheit sein, es kann aber auch Zeugnis für unbeirrbares und beharrliches Eingehen auf ein Phänomen sein – in diesem Fall der Andere. 155 Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 79 Böckenhoff, Die Begegnungsphilosophie, S. 141 157 Theunissen, Der Andere, S. 413 158 Gadamer, Ich und Du (K. Löwith), S. 239 156 62 3 Miteinandersein in Liebe 3.1 Liebe und Sprache Bedenkt Binswanger die Philosophie des Dialogs, liegt es nahe, sein Verständnis von Sprache zu besehen. Dass Menschen miteinander sprechen, ist ein Gemeinplatz; die so verstandene Sprache bildet ein Kommunikationsmittel, dessen wir uns bedienen, um vorwiegend Informationen zu geben und zu erlangen. Das erfordert heutigentags moderne Technik, die den Informationsaustausch allererst möglich macht – erinnert sei hier nur an elektronische Datenträger, die eine schier unüberblickbare Menge an Informationen, Nachrichten aus diversen Wissensgebieten zur Verfügung stellen. Ob all das noch von profundem Wissen zeugt, kann bezweifelt werden, stammen doch die meisten Unterweisungen aus zweiter Hand und damit aus nicht ausgewiesener Quelle. Damit ist das Wissen kein gesichertes, daher möglicherweise manipulativ bzw. suggestiv, also unseriös. Diese Auffassung von Wissen und Sprache kann Binswanger nicht im Sinn gehabt haben.159 Das Sprechen ist keine Abfolge von Lautäußerungen, die zwischen Denken und Welt vermitteln. Binswanger erinnert an den Prolog des Johannesevangeliums, demzufolge im Anfang das Wort war, ohne das nichts hätte werden können. Wo Sprache ist, ist Welt, und gleichwohl ist auch die menschliche Sprache in einem seit NIETZSCHE und HEIDEGGER genau bestimmbaren Sinne des Wortes weltschöpferisch. [...] Nun ist es ein Grundzug des menschlichen Seins, daß alle diese schier unübersehbaren Weisen, in denen ihm das Seiende zugänglich wird, zu Worte kommen, daß ihnen Worte zuwachsen.160 Analog zum Schöpfungsakt Gottes stiftet menschliche Sprache die menschliche Welt. Gemeinhin ist die Sprache – vielleicht sogar jede als solche definierte – die lautliche Darstellung von Gedanken, in weiterem, daraus folgendem Sinne auch die Äußerung eigener Stimmungen, Absichten, Gefühle. Die Sprache ist nie nur ein Reden über etwas, also objektbezogen, sondern umfasst wesentlich den Sprechenden und den hörend Antwortenden. Während für die analytische Philosophie Sprache geradezu im Zentrum ihrer Bemühungen 159 Hat Sprache ihrem Wesen nach das Ziel, etwas über etwas in Erfahrung zu bringen, so stellt sie sich als System dar, in dem das zu Wissende im Vordergrund steht, nicht aber der, der gefragt wird, also der, mit dem ein Gespräch geführt wird. Dieser rückt in die Rolle dessen, der Informationen, Auskünfte weitergibt, in dieser Funktion ist er prinzipiell auswechselbar. Von Sprache, die sich in Liebe und von Liebe, die sich sprachlich kundgibt und darin hält, ist in diesem Verständnis nicht die Rede. Sprache wäre nichts anderes als eine Auskunftei. 160 Über Sprache und Denken, in: AW 3, 275f 63 steht, geht es der Dialogphilosophie darum, den Menschen als sprachlich verfasstes Wesen zu sehen.161 In der Sprache, die wir sind, ereignet sich die uns gemeinsame Welt – gemeinsam, weil wir auf demselben Boden stehen, einander ebenbürtig –, different, weil uns erst im Gespräch das uns Unterscheidende klar wird. Die Welt bildet damit das Gesamte des sprachlich verfassten Seins, wie sich Seiendes im Ganzen offenbart. Nicht erdabgewandte Seelen sind es, die untereinander kommunizieren, diese hätten einander nichts zu sagen, vielmehr spricht der Mensch als leiblicher, er gestikuliert, er führt seine Argumente ins Feld, er gesteht seine Schwächen ein und behauptet seine Stärke. Die vollständige Ausprägung findet sich im vollzogenen Gespräch. Der Mensch ist nur „Mensch“ im Miteinander-Sprechen, in der Verständigung von Ich und Du als Wir auf dem Grunde einer gemeinsamen sprachlichen Welt oder, wie wir mit HEIDEGGER sagen, eines gemeinsamen sprachlichen Weltentwurfs. Sprache ist kein bloßes „Austauschmittel“, sondern Miteinandersein in einer Welt möglicher Verständigung. [...] Wenn der Mensch nur Mensch ist durch Sprache, so bedeutet Mensch jetzt also sowohl den Einzelnen als die Gemeinschaft, sowohl Leib als Seele, sowohl lebendige Gegenwart als geschichtliche Vergangenheit, sowohl Dialog als Monolog, also sprachliche Verständigung sowohl mit andern als mit sich selbst.162 In und durch Sprache sind Menschen miteinander da; wiederholt jedoch betont Binswanger den Stellenwert, den das Schweigen im Gespräch einnimmt. Er fasst es als Zuhören auf, das bereitwillig das Aufnehmen und Akzeptieren des Gesprächspartners anzeigt und dadurch schon eine Weise der Antwort ist. Schließlich ist hier auch der Ort, Widerspruch zulassen zu können; die rechte Pflege von Schweigen und Reden müsste dahin leiten, den Raum des Dialoges vom Dreinreden, Drauflosreden, Nieder- und Überreden, vor Geschwätz zu bewahren. Sprache ist mithin kein Medium, mittels dessen ich Daten über Sachverhalte einer (mir fremden) Welt einhole, sondern nährt sich vom Zuhören, Schweigen und Reden: „Glaube aber nicht, daß es 161 Neben dem berühmten Diktum Aristoteles’, nach dem der Mensch das Wesen ist, das das Wort hat (wobei erst recht gefragt werden kann, ob nicht das Wort den Menschen „hat“), ist noch einmal Hölderlin in Erinnerung zu rufen: „Seit ein Gespräch wir sind und hören können voneinander.“ Nicht führen wir ein Gespräch, wir sind das Gespräch selbst, indem (und in welchem) wir im Raum des Dialogs den Anderen zulassen und vernehmen. Öffne ich mich dir, gebe ich dir Raum, Aufmerksamkeit und die Bereitschaft, dich selbst zu öffnen, nicht nur um etwas von dir preiszugeben, sondern damit du dich ins Gespräch bringst. 162 Über Sprache und Denken, in: AW 3, 279. Der Monolog, vor allem der im Drama auftretende, ist kein Gespräch, weil die Ansprechperson gerade nicht anwesend ist, oder weil der Monologisierende Unbedeutsames herspricht. Monolog als dramatische Form fordert den Zuschauer heraus, sich dem Monologisierenden zu „stellen“. Der Monolog, also die Rede eines Einzelnen, zieht die ungestörte Aufmerksamkeit des Publikums auf sich, darin kommt er einer Konfession, einer Brandrede, einem verborgenen Unsinnigen gleich, die ein Einzelner sich selbst nicht gestattet. Ein Selbstgespräch gilt nicht mir, wenn ich es nicht zugleich anderen eröffnen kann, wodurch sich Redekunst in Dialog wandelt und sich gerade dann als Kunst erweist. 64 genügt, daß du dich verständlich ausdrückst; du musst auch lernen, dir oder andern zuhören zu können; denn ‚Redenkönnen und Zuhörenkönnen sind gleichursprünglich’.“163 Für jede Begegnung, erst recht für das Miteinandersein in Liebe, ist Sprache unabdingbar. In den Grundformen verortet Binswanger die tatsächlich gesprochene Sprache in der Struktur der Sorge bei Heidegger, anders aber die Liebe, die von Schweigen geprägt ist, worunter naturgemäß gerade nicht das Schweigen als Gesprächsverweigerung, als hartnäckiges Verharren im Eigenen oder apathische Interesselosigkeit verstanden wird. Als konkrete ist die Liebe auch auf die lautliche Sprache angewiesen, sie bezeugt sich im Nennen des Namens der Geliebten. „Nicht daß jeder Mensch nun einmal diesen Namen führt“, sagt POS, „sondern daß er eben diesen Namen führt und der Name als ein Moment seines Wesens entgegentritt, ist die eigentliche ‚Leistung’; nicht negative Abhebung von einem Hintergrund von Personen, die ich ohne Namen verwechseln würde, sondern unmittelbare positive 164 Beziehung zu seinem eigenen Wesen ist die ursprüngliche ‚Leistung’.“ Zwar steht der Mensch nicht nur in der Liebe, sondern auch in der Welt als zu besorgende, die Sprache der Liebe und die des In-der-Welt-seins müssen demnach verschiedene Konturen tragen; um nicht die eine Sprache gegen die andere auszuspielen, warnt Binswanger vor der „Verpfändung des Wortes“165 zum Schaden der Liebe: „Nicht was das Wort bedeutet, 163 Über Sprache und Denken, in: AW 3, 289 AW 2, 298. Die durch das Nennen des Namens akzeptierte Präsenz des Anderen schildert Heimito von Doderer in gelungener Weise: gegen Schluss der Strudlhofstiege begegnet der Protagonist Melzer endlich seiner Liebe Thea Rokitzer: „Wie sagte sie also? Wir wissen Melzers Vornamen nicht. Nein, der Autor weiß den Vornamen seiner Figur nicht, er weiß ihn wirklich nicht [...]. Jener war einfach ‚der Melzer’, immer. Was brauchte der einen Vornamen? Aber jetzt benötigt er ihn, damit die Thea Rokitzer den Namen aussprechen kann, so daß diese Membrane von zwei oder drei Silben sich baucht, ja fast zum Platzen spannt unter dem Andrang eines ganzen zweiten Lebens, das da hineinwill. Sie wird diesen Namen aussprechen, wie ihn von da an nie mehr ein anderer Mensch aussprechen kann, denn sie wird in diesen Namen münden. So wird Melzer endlichen seinen Namen zu Recht bekommen, denselben, der am Taufschein gestanden hat, dem Autor unbekannt. So wird Melzer gewissermaßen erst zur Person, ja, zum Menschen.“, in: Doderer, Heimito von: Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre. – 12. Auflage. – Deutscher Taschenbuch Verlag : München, 1993, S. 892f. (Kursivschrift im Zitat vom Verfasser A.A.) Die Nennung eines Namens ist keinesfalls eine beiläufige Äußerung. Wer sich auf einen Namen beruft, erkennt den Genannten als Autorität an und kann in „seinem Namen“ handeln, der Benannte ist in bestimmter Weise für dieses Handeln haftbar und verantwortlich. Der Name belegt den persönlichen Kontakt, die Identität dessen, auf den man sich bezieht, daher kann ein Name – damit der Namensträger, also die entsprechende Person – „veruntreut“ werden. Der Name, der die Person ist, tritt als Bürge auf, der dem Nennenden seinen Ruf gewährt. Nicht umsonst kennt die Rechtsprechung das Delikt des Rufmordes, falls der Name „unachtsam“, unter falschem Vorwand ins Spiel gebracht wird. Höchste Prägnanz erlangt der Name im Exodus, wenn Moses Gott nach dessen Namen fragt. Der Unbenennbare antwortet lapidar und bezeichnend: „Ich bin der ‚Ich-bin-da’.“ (Ex 3,14) Die reine Anwesenheit ist bereits der Name dessen, der dadurch gar nicht mehr genannt werden muss, weil er ohnehin da ist. In weltlichem Zusammenhang begegnen Adjektive wie „namenlos“, „namhaft“, „anonym“, im Kriegsgrab findet der „namenlose Soldat“ seine letzte Ruhe. In Betracht der philosophischen Theologie sind zu erwähnen Casper, Bernhard: Das Ereignis des Betens. Grundlinien einer Hermeneutik des religiösen Geschehens. – Freiburg/Breisgau ; München : Alber, 1998. – (Phänomenologie : 1 ; Bd. 3), und Schaeffler, Richard: Das Gebet und das Argument : Zwei Weisen des Sprechens von Gott; eine Einführung in die Theorie der religiösen Sprache. – 1. Aufl. – Düsseldorf : Patmos, 1989. – (Beiträge zur Theologie und Religionswissenschaft). Vorliegende Arbeit widmet das Kapitel 9 der Einzigartigkeit von Ich und Du im Namen. 165 AW 2, 190 164 65 entscheidet hier, sondern daß Du es bist, die es ausspricht.“166 Er sieht im Wort der Liebe Geschenk und Gnade, die er in der Sorgestruktur des Daseins vermisst. „Die sprachliche Urform dieses Geschenks aber ist die Poesie. Nur sie wagt das ewige Wagnis, die Artikulation der Welt als Sorge auch sprachlich zu überschwingen [...].“167 Die Poesie, wie jede Ausgestaltung der Kunst, ist der dem Alltag verhafteten Sprache enthoben, stattdessen bietet sie dem Wir-sein im Miteinander die Möglichkeit des Ausdrucks. Deutet man Sprache nicht primär als lautliche Kundgabe, dehnt sich ihr Begriff aus, sodass Sprache unter mehreren Aspekten betrachtet werden kann, so als linguistisches, psychologisches, logisches, pädagogisches Phänomen. Von dieser Vieldeutigkeit abgesehen, soll hier einem Gedicht Baudelaires nachgegangen werden, in dem der Dichter den Moment der Liebe in ein Dauerhaftes zu verwandeln sucht. Das Gedicht, erschienen 1860, gehört dem Zyklus „Pariser Bilder“ innerhalb der Blumen des Bösen an: Der Straßenlärm betäubend zu mir drang. In großer Trauer, schlank, von Schmerz gestrafft, Schritt eine Frau vorbei, die mit der Hand gerafft Den Saum des Kleides hob, der glockig schwang; Anmutig, wie gemeißelt war das Bein. Und ich, erstarrt, wie außer mich gebracht, Vom Himmel ihrer Augen, wo ein Sturm erwacht, Sog Süße, die betört und Lust, die tötet, ein. Ein Blitz ... dann Nacht! – Du Schöne, mir verloren, Durch deren Blick ich jählings neu geboren, Werd in der Ewigkeit ich dich erst wieder sehn? Woanders, weit von hier! zu spät! soll’s nie geschehn? Dein Ziel ist mir und dir das meine unbekannt, Dich hätte ich geliebt, und du hast es geahnt!168 Die grammatikalische Zeitform, in der das Gedicht gehalten ist, das Präteritum, weist als Formgestalt auf den Gedichtinhalt. Das Geschehen des Vorübergehens ist abgeschlossen und damit beendet. Was der Leser als ein Vergangenes, Abgeschlossenes erfährt, wird sich beim Lesen als durchaus Aktuelles herausstellen. Der erste Absatz stellt dem Leser die Szenerie vor: es geht laut bis zur Betäubnis zu, recht unvermittelt findet sich der Leser in den Pariser 166 AW 2, 191 AW 2, 193 168 Baudelaire, Charles: Les fleurs du mal : französisch/deutsch = Die Blumen des Bösen. – Übers. von Monika Fahrenbach-Wachendorff. Anm. von Horst Nina. Nachw. und Zeittafel von Kurt Kloocke. – Stuttgart : Reclam, 1998, S. 193. Die Ausführungen zu Baudelaire sind einer Hausarbeit des Verfassers entnommen: „Leben und Lesen ohne Poesie?“ – Bedeutung und Nutzung von Lyrik in den Öffentlichen Büchereien Wien, Projektarbeit im Rahmen der hauptamtlichen Ausbildung für Bibliothekare, 2008, S. 18-20, abrufbar unter http:// www.bvoe.at/aus-_und_fortbildung/projektarbeiten_suche, Abrufdatum: 05.04.2014 167 66 Straßen des 19. Jahrhunderts wieder, in denen Baudelaires Gedicht angesiedelt ist. Wie in der Sekundärliteratur169 erwähnt, macht Baudelaire oft die Großstadt und die in ihr lebenden Menschen zum Inhalt seines Schreibens. Der „Straßenlärm“ ist in der Stadt allgegenwärtig. In diesem Trubel verliert sich der Einzelne, er kann hin- oder auch wegsehen, er bleibt Teil der nicht definierbaren Masse. Unvermittelt kommt eine Frau die Straße entlang, die diesem anonymen Aneinander-vorbei-gehen durch ihre nicht näher definierte Präsenz entgegensteht. Das unverbindliche Vorbeigehen wird von Baudelaire nun herausgenommen, um einer alltäglichen Geste etwas zu geben, das Individuelles zeigt. Im Vorübergehen der Passanten, in dem sich versteckt auch Freude, Fröhlichkeit oder Desinteresse äußert, nimmt der Erzähler eine Hand wahr, die das Bein „entblößt“. Jetzt erleben wir die Annäherung an die fremde Frau, die sich dennoch in einer etwas zaghaften Beschreibung erschöpft. In vier Zeilen beschreibt der Dichter den Zustand der unbekannten Gestalt, der eine ebenso anonyme Frau begegnet. Allein die Annäherung, das Heraustreten und die Überwindung des betriebsamen Hintergrundes ist Thema des ersten Absatzes. Der vage Moment der Begegnung mit der Vorübergehenden wird keineswegs als „Augenzwinkern“ abgetan. Indem Baudelaire einen (anonymen) Sprecher zu Wort kommen lässt, lädt er den Leser ein, die Verse auf sich selbst zu beziehen, handelt es sich im Verlauf des Gedichtes doch um ein sehr intensives Verhältnis. Der dadurch angesprochene Leser wird seinerseits mit Erfahrungen mit bisherigen Begegnungen, Liebschaften, mit dem, was „sein hätte können“ konfrontiert. Wenn die Frau den Saum hebt, der „glockig schwingt“, zeigt sie Offenheit bis hin zu Zärtlichkeit und Erotik. Im nächsten Quartett stellt der Dichter die Dame vor. Das ihr zugesprochene „gemeißelte Bein“ verweist auf die Beständigkeit einer Statue, die permanent in dieser Pose verbleibt – die Schönheit der Dame ist nicht zeitlich begrenzt, sondern gehört wesentlich zu ihr. Der Betrachter ist beeindruckt von der Schönheit, die er zunächst an ihrem Bein ausmacht. Das Bein gehört einerseits zum Bestehenden, in dem Alltägliches sich verliert, zum anderen offenbart die Schönheit der Dame eine Sphäre außerhalb der Anonymität. Dem Leser mag scheinen, er selbst erstarre, wenn das Ich die betreffende Strophe vorträgt. In eine Gleichmacherei kommt keine Persönlichkeit, damit auch keine Schönheit. Durch diese Beschreibung der Frau fällt auch der Betrachter aus der unbekannten Masse der Großstadt heraus. 169 So z. B. Friedrich, Hugo: Struktur der modernen Lyrik : Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. – Mit einem Nachwort von Jürgen von Stackelberg. – Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 2006. – (rowohlts enzyklopädie ; 55683), S. 35-58 67 Mitten in dem Wirbel der Stadt erstarrt der Betrachter, eine fixierende, auch sexuelle Konnotation können wir hier mitdenken. In der Vorübergehenden öffnet sich in den Augen ein Himmel, in dem „ein Sturm erwacht“. Ein Himmel kann wolkenlos, heiter, bewölkt, strahlend, aber eben auch unheilschwanger und stürmisch sein. Die Kombination von Himmel mit Sturm kann mehreres meinen: Belebung, Wasser, Fruchtbarkeit, dann auch Zerstörung, Vernichtung, Bedrohung, Katastrophe. Die Alternative von Heil und Unheil drängt sich dem Ich auf, das Ungewisse und Unbestimmbare in der Begegnung der beiden lässt zweierlei offen: „Süße, die betört und Lust, die tötet“. Das Ich schwankt zwischen „Süße“, Liebe und Vertrautheit und potentieller Tödlichkeit der Beziehung. Das Tödliche wird nicht wörtlich zu nehmen sein; eine Beziehung ist auch dann tödlich, wenn sie leer ist, wenn die Partner einander nichts zu sagen haben, oder wenn sie nur gegen den Anderen sprechen. Es ist also in dieser zweiten Strophe über die Qualität der Beziehung noch nichts entschieden. Im dritten Absatz geschieht die Zäsur: der Sturm am Himmel wandelt sich zum Blitz, der eine kurze Nacht unterbricht – das verweist auf eine kurze Helle, die die Nacht durchfährt und in der die Schöne hervortritt. Vermittels ihres Blickes empfindet sich der Passant „neu geboren“, die Begegnung scheint also grundlegend und fruchtbar sein zu können. Diese „Neugeburt“ wird in der nächsten Zeile allerdings wieder zurückgenommen, die zugleich Wunsch und Frage ist: „Werd in der Ewigkeit ich dich erst wieder sehn?“ Ewigkeit bedeutet hier auch Endlichkeit, es ist ein Wechselspiel von „jetzt nicht“ und „vielleicht später“. Die Begegnung, die später statthaben soll, wird durch die Flüchtigkeit der Gesten wiederum nivelliert, die Schnellebigkeit verbietet die Hoffnung auf ein „später“. Baudelaire betont das, indem er durchwegs die Mitvergangenheit verwendet. Der dritte Absatz ist insgesamt ein einziger Fragesatz; eine Frage, die zugleich ein Begehren ist. Hier heißt es, aufmerksam zu sein: die Kommunikation zwischen dem Ich und der Vorübergehenden ist einseitig – sie kommt nicht zu Wort. Es findet in dem Gedicht kein mündlicher Dialog statt, es gibt keine Schilderung dessen, was die Passantin empfindet, sie gibt keine Antworten auf die an sie gerichteten Fragen. Bleibt sie deshalb der städtischen Anonymität verhaftet? Ist das „Raffen des Saumes“ unbewusst und daher bloßer Zufall? Oder „zupft“ sie sich für ihren Gatten zurecht, wobei das einem zufällig Begegnenden nolens volens auffällt? Im letzten Absatz wird der Gedanke an eine Begegnung verworfen. Sie wird in einen anderen, fiktiven Ort zu einer unbestimmten Zeit projiziert. Das Auflehnen gegen den unbefriedigenden Zustand mit der schroffen Forderung „soll’s nie geschehn?“ geht einher mit der Verweigerung des Aktuellen. Zugleich erleben wir einen Rückgang in den status quo: die 68 divergierende Zielgerichtetheit ist nicht nur örtlich gemeint, sondern vor allem emotional, soweit das in der herrschenden Anonymität zum Ausdruck gebracht werden kann. In der Schlusszeile zeigt sich die Wendung und Auflösung der Situation des Ich. Dieses Ich gibt gleichsam ein Geständnis ab, damit aber auch einen Ausdruck des Wollens. Der letzte Vers „Dich hätte ich geliebt und du hast es geahnt!“ ist ein irrealer Wunschsatz; ein Ahnen von Liebe vonseiten der Vorübergehenden wird im gesamten Gedicht nur ein einziges mal erwähnt, und das im abschließenden Satz. Baudelaire äußert mit keinem Wort das Erleben und Befinden der Frau, die Gefühle des Ich erfahren keine Antwort. Zuletzt bleibt nur mehr die – wenn auch vergebliche – Forderung „Liebe mich!“, imperativisch durch ein Rufzeichen betont. Baudelaires Verse stellen den Versuch dar, aus der Masse der in Paris Vorüberziehenden einen Menschen ausmachen zu können, mit dem man eine Beziehung aufnehmen möchte. Da aber im Man jedes Dasein – das heißt: alle – niemand ist, ist über die Verwirklichung einer Begegnung noch nichts entschieden, obwohl die Schlussverse in Resignation münden. Die Anonymität des vortragenden Ich schließt den Leser mit ein, der sich damit alsbald selbst mit diesem Ich identifizieren kann – auch die, die „vorüberging“ ist eine uns vertraute Figur. Der Leser nimmt an, dass das Ich die Vorübergehende nicht direkt, lautlich vernehmbar „anspricht“, dennoch bleibt er in der Sprache, ohne die er sein Erlebnis gar nicht wahrnehmen oder denken könnte. Auch das Schweigen der Frau bezeugt noch kein Desinteresse oder herablassendes Gehabe, möglicherweise empfindet sie dem Mann gegenüber Ähnliches. Just in dieser Situation stellt sich dar, dass auch eine noch so flüchtige, vage Begegnung immer noch eine Begegnung ist – ganz gleich, ob sie kurz oder lange währt, intensiv ist oder an der Oberfläche verbleibt. Literatur unternimmt mit der Liebe den Versuch, Undefinierbares zu umschreiben. Scheut man nicht, von abgeschmackter Liebespoesie auszuscheren, so gerät man in ein kaum zu überblickendes Feld von Lyrik, aber auch zu anderen Literaturgattungen, die sich mit dem liebenden Miteinander auseinandersetzen. In den Grundformen wird der Dichtung der Platz zugewiesen, die Liebe und deren Verstehen zu wahren. Aus diesem Grund erwähnt und zitiert Binswanger die großen Dichter, die „[...] eine Ordnung und ein Verständnis im Rückgang auf das phänomenologische Wesen der Liebe, auf den reinen Überschwang [...]“170 ausdrücken. Der Stellenwert der Literatur bezeugt weniger eine kulturhistorische Legitimation, sondern eher den Grundwert, aus dem Dasein existiert. Max Herzog sieht im wiederholten Zitieren von Literatur eine Form des Zwischenmenschlichen selbst: „Wir finden in der Form des Zitats 170 AW 2, 175 69 bereits die Anfänge einer Phänomenologie der Intersubjektivität vorgezeichnet [...].“171 Herzog ist zuzustimmen, insofern jede Interpretation – sei sie die von Lyrik oder von Philosophie – sich auf dem Boden dessen wissen muss, das sie interpretierend verstehen will. Erst vom gemeinsamen Standpunkt aus ist Kritik (in der Bedeutung des ί, cernere – scheiden, trennen, sichten, hervorheben) redlich und zulässig. In ebensolchem Sinn gilt dies für das Miteinander im Wir, aus dessen Raum sich Ich und Du herausdifferenzieren. Neben Baudelaires Gedicht, das die „scheiternde“ Begegnung zeichnet, steht Rilkes Lied aus dem Malte Laurids Brigge172, in diesem gewinnt der Bezug des Ich zum Du deutlich konkretere Züge: Du, der ichs nicht sage, daß ich bei Nacht weinend liege, deren Wesen mich müde macht wie eine Wiege. Du, die mir nicht sagt, wenn sie wacht meinetwillen: wie, wenn wir diese Pracht – ohne zu stillen in uns ertrügen? [...] Sieh dir die Liebenden an, wenn erst das Bekennen begann, wie bald sie lügen. [...] Du machst mich allein. Dich einzig kann ich vertauschen. Eine Weile bist dus, dann wieder ist es das Rauschen, oder es ist ein Duft ohne Rest. Ach, in den Armen hab ich sie alle verloren, du nur, du wirst immer wieder geboren: weil ich niemals dich anhielt, halt ich dich fest. Zum Zusammenhang: das Lied wird in Gesellschaft solo gegeben. In einem Augenblick der Stille hebt die junge Sängerin mit starker und voller Stimme an. Dem Schweigen der Zuhörenden geht die erste Strophe voran und nimmt dieses vorweg. Es ist ein Schweigen, das kein Nichtsagen kundgibt – es ist ein behutsames Schweigen, es ist Nacht –, sondern den Schlafenden in seiner Ruhe belassen will. Einerseits ist die Nacht finster, sie verneint den hellen Tag, Zweifel und Angst finden in ihr einen fruchtbaren Raum. Das in der Nacht sich findende Ich weint, nicht nur um seinetwillen, auch um die, die es schützend bewacht. Das Weinen deutet auf eine Begegnung mit etwas Neuem, mit einem Anderen. So weinen wir, wenn wir Geschätztes und Geliebtes verlieren, auch dann, wenn uns 171 Herzog, Max: Weltentwürfe : Ludwig Binswangers phänomenologische Psychologie. – Berlin ; New York : de Gruyter, 1994. – (Phänomenologische Forschungen ; 17), S. 98 172 Rilke, Rainer Maria: Werke in drei Bänden. Dritter Band. – Ausgewählt und herausgegeben vom Insel Verlag. – Frankfurt/Main ; Leipzig : Insel Verlag, 1991 S. 336 70 Überraschendes überkommt – mithin das, das wir nicht geplant und einstudiert haben. Die Wiege, die mich „müde macht“, kann die Erfahrung des Anderen sein, der mich „erschöpft“, dessen Begegnung derart „lähmt“, dass ich keinen Selbstschutz aufbringen kann. Zudem macht die Wiege müde, wodurch sie im Schlaf eine Herberge bietet. Die folgende Strophe widmet sich dem Du, das vom Ich wahrgenommen und erfahren wird. Schweigen bleibt das leitende Motiv – „sie“ sagt mir nicht, dass sie wacht, sie bezeugt im Stillen, in Verschwiegenheit ihre Präsenz für mich. „Sie“ sagt zwar nichts, aber sie sagt nicht nichts, d.h. sie verneint mich nicht, stellt mich nicht ins Nichts, sondern akzeptiert mich. Rilke sieht in dieser Beziehung die Pracht, die, ohne zu „stillen“, nicht ertragbar ist. Die Frage lässt wieder Zweifel und Hoffnung zu: was heißt „Pracht“, „Stillen“, „Ertragen“? Das „Stillen der Pracht“ erinnert an das Stillen des Säuglings, der durch Stillung zugleich beruhigt und genährt wird; das Stillen bedeutet also vor allem Pflege, Obhut und Fördern des Heranwachsenden. Im Gedicht ist das Wachsende, das nur auf fruchtbarem Boden reift, die Beziehung der Liebenden. Befriedigung durch Stillen wiederum verweist auf den Anderen, der Sorge zu tragen hat. Die dritte Strophe setzt abrupt mit einer resignierenden Diagnose an, so würden die Liebenden nach ihrem Geständnis zu lügen beginnen, was offensichtlich einen Widerspruch bildet. Etymologisch ist „lügen“ mit „leugnen“ verwandt, beide Worte haben ihren Hintergrund in der Sprache, wodurch sie sich vom eingangs dargestellten Schweigen der Liebe unterscheiden. Ein Bekennen, das die Lüge zum Grund hat, wird sich alsbald als Gerede, Unaufrichtigkeit und Uneigentlichkeit erweisen, somit verkommt das Bekenntnis zum Anderen zu einem Verkennen des Anderen, zur bloßen Illusion oder falschen Vorstellung, die in beidseitigem Betrug mündet. Die Interpretation des Gedichtes wird von Rilke selbst unterstützt – so pausiert die Sängerin nach dieser Strophe, und Stille umfängt das Publikum. Diesem ist der Gedichtinhalt offenkundig unangenehm: sie stoßen aneinander, entschuldigen sich dabei unverbindlich und schicken sich an, die Abendgesellschaft weiterhin wie gewohnt zu pflegen. Da setzt allerdings die Sängerin wieder ein, um die Schlussstrophe vorzutragen: „Du machst mich allein, dich einzig kann ich vertauschen.“ – Eine Beziehung stellt man sich so wohl nicht vor. Gemeint ist die Individuation, die Einzigartigkeit der Liebenden, die in wechselseitiger Achtung und Seinlassen geschieht. Das Seinlassen des Anderen zeigt sich im „Vertauschen“ des Du: es werden je neue Seiten des Du in verschiedenen Blickwinkeln sichtbar, die zuvor nicht da waren. Soll eine Begegnung Bestand haben, dann wird sie sich auf diese wechselnden Perspektiven hin prüfen lassen müssen. Dieses Wechselspiel von Stabilität und Variabilität drückt sich in der folgenden Zeile aus: konstantes Miteinandersein ist der Grund für die 71 Vielfältigkeit der Begegnung mit der selben Person, die ein „vergehendes Rauschen“ oder einen „flüchtigen Duft“ darstellt. Die letzten drei Zeilen wiederholen das Gesagte und bringen es zum Abschluss. Die, die ich „in den Armen verloren“ habe, verweist auf vorangegangene Beziehungen, die keinen Bestand hatten. Dann aber die Beziehung, wie sie der Leser kennengelernt hat: „du wirst immer wieder geboren“ – Du bleibst nicht in dem von mir definierten Rahmen, sondern wirst geboren aus dem Raum, den wir einander schenken und gewähren und damit für wahr halten. Rilke wählt einen Begriff, der nie folgenlos ist: „geboren werden“ bedeutet durch Andere in eine neue Welt hineingetragen werden.173 Zwar ist diese neue Welt verletzbar und brüchig, deswegen aber nicht schon ohne Bestand, wie aus der Schlusszeile klar wird: „weil ich niemals dich anhielt, halt ich dich fest“. Anhalten kann meinen: 1) ich halte mich an dir an aus Uneigenständigkeit, Unmündigkeit oder durch Inbesitznahme seitens irgendeines andern, oder 2) Anhalten als Stoppen, Festhalten, Hindern, In-Gewahrsam-nehmen. Beide Punkte können ausgeschlossen werden, zumal Rilke sie ja verneint. Der Schlussvers kann als Freigabe des Anderen gelten, der Andere ist eben nicht in seinem Eigensein angehalten und gehindert. Weil ich dich in deiner Entfaltung nicht störend beeinflusst habe, darf ich dir so begegnen, wie eben nur du bist bzw. sein kannst. Umgekehrt werde auch ich meiner Einzigkeit gewahr, indem ich dir zu deinem Eigensein verhelfe. Poesie bildet die „sprachliche Urform“174 der Begegnung, wenn sie auch der alltäglichen Sprache der Liebe enthoben ist, bleibt sie dennoch Sprache, Binswanger sieht in der Poesie sogar die „Schwester der Liebe“175. Wenn Binswanger so häufig die Lyrik heranzieht, um dem Phänomen Liebe auf den Grund zu gehen, stellt er auch den außerordentlichen Charakter des liebenden Miteinanderseins in den Vordergrund. Doch läuft er dabei Gefahr, Liebe als überweltliches, akosmisches Geschehen zu begreifen, das mystisch-religiöse Züge trägt. Heinz Vetter bemerkt dazu: Sein [Binswangers, Anm.] Anliegen, in einer phänomenologisch-ontologischen Betrachtung die reine Form der Liebe zu beschreiben, lässt ihn ein idealistisches Bild der Liebe zeichnen. Die so beschriebene reine Form der Liebe kommt im konkreten menschlichen Zusammenleben kaum vor, oder dann höchstens in ganz seltenen Augenblicken des Lebens. Sie ist als ein Pol des dialektischen Widerspiels von Liebe und Sorge zu verstehen.176 173 Nochmals ein Blick auf die Etymologie von „gebären“: wir finden das Wort im althochdeutschen giberan, im altiranischen bharati, im Lateinischen (ferre), zuvor im Griechischen (φέ in der Bedeutung „streuen, ausschütten“; im Altkirchenslawischen hat es die Bedeutung von „sammeln, lesen, wählen“. Gebären ist also austragen, zu Ende tragen, damit ein neuer Anfang freigegeben wird. 174 AW 2, 193 175 AW 2, 140 176 Vetter, Heinz: Die Konzeption des Psychischen im Werk Ludwig Binswangers. – Bern ; Frankfurt/Main ; New York ; Paris: Lang, 1990. – (Europäische Hochschulschriften : Reihe 6, Psychologie ; 313), S. 91f 72 Handelt es sich in der Liebe um etwas Ephemeres und damit vielleicht um etwas Unverbindliches, das uns doch allen zuteil werden kann, oder ist sie das Fundament des Daseins, oder, um mit Binswanger zu sprechen: „Nur wenn Dasein an sich schon den Charakter der Begegnung hat, anders ausgedrückt, nur wenn ‚Ich und Du’ schon zu seiner Seinsverfassung gehören, ist Liebe von Dir und Mir überhaupt möglich.“177 3.2 Aufbau und Struktur der Grundformen Die Lektüre des Hauptwerkes Binswangers ist keine leichte. Er selbst bezeichnet es in einem Brief als „dicken Wälzer“178 und stellt die Frage: „Warum halst sich der Mensch so etwas auf?“179 Der Leser mag den Eindruck haben, Binswanger wage es, die Protagonisten der Dialogphilosophie unter sich zu versammeln, um aus ihrem Denken eine Summe extrahieren zu können. Demgemäß sind seine Überlegungen zum Teil fragil, weitschweifig, nicht immer konsistent, auf der anderen Seite ist sein Schaffen dem Menschen gewidmet, aus dessen Kenntnis der Autor zu schöpfen weiß. Diese Menschenkenntnis erwächst ihm aus der ärztlichen Tätigkeit wie aus seinen Kontakten zu Künstlern, Philosophen und Wissenschaftern. Man sollte Binswanger nicht als Kompilator abtun, der das zuvor bereits Gedachte bloß referiert und dadurch die Sekundärliteratur bereichert; vielmehr führt die Auseinandersetzung mit anderen dazu, Eigenes von Fremdem zu scheiden. Die Rede von Adepten- oder Epigonentum ist also fehl am Platz.180 Binswanger selbst weist den Grundformen einen großen Stellenwert für seine eigene weitere Entwicklung zu – das belegt schon deren zwanzigjährige Entstehungszeit, zudem hat er sie seinem verstorbenen Sohn Robert gewidmet; auch das belegt, dass das Werk keine Gelegenheitsarbeit ist. Zum Einstieg in die Grundformen ist daher ein Aufriss der Problematik hilfreich. Die erste oder ursprüngliche Form des Daseins bildet die dialogische, er nennt sie Dualität, Miteinandersein, Wirheit im Lieben. Sie nimmt die Vorrangstellung ein, die nicht psychologische Gestimmtheit oder Verhalten meint – diese haben erst im liebenden Miteinander ihre Wurzeln. Diese, sozusagen „reine“ Form der Liebe ist nicht weltlich fundiert, obwohl sie sich als „weltliche Liebe“ ereignen und bewähren muss, um 177 AW 2, 73 Mitteilung an Rudolf Alexander Schröder vom 08.01.1942, in: Einleitung der Herausgeber, in: AW 2, XV 179 Brief an Erwin Straus vom 20.01.1939, in: Einleitung der Herausgeber, in: AW 2, XV 180 Das Kreisen um das als ungefragt bekannt Vorausgesetzte ermöglicht erst das Entdecken des Neuen am Alten. So ist auch das Studium der Geschichte der Philosophie nicht nur das Betreiben von Geistesgeschichte, sondern Voraussetzung, die eigenen Positionen und Lehrmeinungen kennen zu lernen. Mit Recht schreibt Wilhelm Windelband, selbst ein Philosophiehistoriker: „Darum ist die Geschichte der Philosophie das wahre Organon der Philosophie, aber nicht die Philosophie selbst.“, in: Windelband, Wilhelm: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. – 18. Aufl., unveränd. Nachdr. der 6. Aufl. – Tübingen : Mohr, 1993, S. 567 178 73 überhaupt Liebe sein zu können. In diesem Sinn spricht Binswanger vom Miteinander als „In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-Sein“181. Nun liegt die Vermutung nahe, es handle sich hier um irrationale, schwärmerisch-naive Liebesmystik; Binswanger unterstreicht mit dem „Über“, dass Liebe die besorgende Welt übersteigt. Sie hat nichts mit einem transzendenten Jenseits gemein, sondern baut auf der Welt der Sorge auf, wiewohl beide voneinander unterschieden sind. Stehen Ich und Du einander in Liebe gegenüber, so tun sie das in der Welt, ganz gleich, ob man Welt mit Heidegger als Verweisungszusammenhang interpretiert, sie als zufälligen Ort des Aufeinandertreffens zweier Seienden sieht oder schlicht naturwissenschaftlich als Planet wahrnimmt. Liebe hat sprichwörtlich ihren Ort und ihre Zeit: in der Begegnung eröffnet sich die Welt des Wir, dieses ist nicht nur allenthalben empirisch bemerkbar, Binswanger bezeichnet sie als grenzenlose, die dennoch Nähe und Heimat bedeutet. Grenzenlos verweist auf die Freiheit für und zur Geliebten hin, sie ist also keine räumliche – auch keine psychisch-gedankliche – Einengung, der „unbeschränkte Raum“ des Wir konzentriert sich auf ein Du. Nur „wo du bist, entsteht ein Ort“182. Der Ort symbolisiert Leben, in ihm hat die Gemeinschaft ihren Platz, der Raum wird mit der Geliebten identifiziert: sie ist der Ort, zu dem das Ich strebt. Binswanger fügt hier gleich eine Präzision an: „[...] da Du nicht bist, ohne daß Ich bin, sind das oberste Raumprinzip Wir.“183 Das oberste Raumprinzip realisiert sich, sobald Ich wie Du gleichermaßen einander Raum – im Sinne von Aufmerksamkeit, Gegenwart, Geduld – schenken und gewähren. Um dem Einwand einer einseitig konstituierenden Intentionalität zu entgehen, bemüht Binswanger das (geometrische) Beispiel der Ellipse, deren Brennpunkte Du und Ich bilden.184 In der Ellipse sind die Brennpunkte nie deckungsgleich, ansonsten sie ein Kreis würde, sie definieren erst die Ellipse. Bleibt man bei diesem Bild, fällt auf, dass Ich und Du als Brennpunkte nicht deckungsgleich sein können, dass Distanz zwischen beiden besteht. Und das ist es, was hervorgestrichen wird und in weiterer Folge interpretatorische Schwierigkeiten mit sich bringt. Das Feld, bzw. der Raum, in dem Ich und Du angesiedelt sind, stellt sich als Zwischen dar und soll gleichermaßen einen Wir-Raum bilden. Ob das Wir den jeweiligen Beziehungspartner bedingt und konstituiert oder ob umgekehrt ein selbständiges Ich und Du in Gemeinschaft treten, ist unentschieden. Im ersten Teil der 181 AW 2, 452 Binswanger entnimmt dies den Portugiesischen Sonetten Elizabeth Barrett-Brownings: Barrett-Browning, Elizabeth: Liebesgedichte. – Englisch und deutsch. – Übertragen von Rainer Maria Rilke. – Mit einem Nachwort von Felicitas von Lovenberg. – Frankfurt/Main : Insel, 2006, S. 21. 183 AW 2, 20f 184 AW 2, 21 182 74 Grundformen plädiert Binswanger für ersteres, der zweite Teil legt die konstituierende Instanz des Ich nahe.185 Insofern liebende Begegnung Offenheit und Freiheit für den Anderen bedeutet, so muss dieser Offenheit Raum zugestanden werden – vom Ich wie vom Du –, ohne den Begegnung nicht aufgebaut werden kann. In Abhebung von der naturwissenschaftlichen Vorstellung des Raumes führt Binswanger den Begriff des Wir ein und verdeutlicht ihn mit zwischenmenschlichen Gesten, die allesamt nichts mit dem geläufigen Begriff des Raumes zu tun haben: so zeigt sich erst in der Räumlichkeit des Einander die Bedeutsamkeit des Grußes, des Händedruckes, des dankbaren Blickes.186 Die Neigung Binswangers, Liebe wie sämtliche Formen des Miteinander ex negativo zu umschreiben, hat die Konsequenz, Vergleiche in Anschlag bringen zu müssen, die das unklar Definierte (und das ist Liebe zumal) erläutern sollen. So äußert sich der gemeinsame Raum als „gemeinsames Wir“ oder „Heimat des Einander“. Der Abkehr von der herkömmlichen Interpretation des Raumes entsprechend, ist der Wir-Raum grenzenlos, weil das Wir die Welt des Besorgens, der Intentionalität, auch die Sphäre des Man hinter sich lässt. An deren Stelle und Bedeutung rücken Vertrautheit, Nähe, Heimat.187 Dem Verfall an das Man wird durch den Wir-Raum Einhalt geboten, und zwar so, dass Grenze und Beschränkung seitens des Uneigentlichen aufgehoben werden. Heimat ist in diesem Sinn ein „unendlicher Raum“: so ist die geliebte Person geometrisch (d.h. messbar) weit entfernt, in meiner Liebe und Verbundenheit allerdings bin ich bei ihr und mit ihr. Trotz physischer Distanz, trotz des Daseins beim zu Besorgenden sind Ich und Du in ihrem gemeinsamen Raum. Wenn Liebende einander Raum gewähren, schenken sie einander auch Zeit. Die liebende Begegnung im Wir ist nicht mit einer objektivierenden oder berechnenden Vorstellung von Zeit konstatierbar. Zwar feiern Ehepaare ihren Hochzeitstag, man erinnert 185 Diese Interpretation vertreten Heinz Vetter, Max Herzog, Friederike Rothe (Probleme pastoraler und psychologischer Theorienbildung aufgezeigt am Beispiel der Daseinsanalyse Ludwig Binswangers. – Innsbruck, Univ., Diss., 1990). Dem liegt ein Vorstoß Karl Peter Kiskers zugrunde, in dem von einer „phänomenologischen Wende Ludwig Binswangers“ die Rede ist. Dieser Kategorisierung widerspricht Binswanger nicht, wie er in seinem letzten Buch Wahn einräumt (siehe AW 4, 429). Populär wurde diese Deutung durch Theunissen, der von einem „Rückfall in die Transzendentalphilosophie“ spricht (Theunissen, Der Andere, S. 466). Um Licht in diese Diskussion bringen zu können, bedürfte es der Klärung der Frage, ob Binswanger je Transzendentalphilosoph war, oder ob die lange Entstehungszeit der Grundformen für solche „Wende“ verantwortlich zu machen ist. Zuzüglich dazu ist nicht zu vergessen, dass die Schrift über Wahn im Jahre 1965 publiziert wurde und eine klar berufsbezogene Arbeit darstellt. Zuletzt: besagt ein Widerspruch oder „Rückfall“ die gänzliche Vernichtung des zuvor Geschriebenen oder ist es ein Erweis dafür, die Frage an das Phänomen stets neu zu stellen, immer verbunden mit dem Risiko, es aus einem anderen Blickwinkel zu sehen? Keine Interpretation ersetzt schließlich das Erfahren dessen, das gedeutet wird, weil selbst das zu Deutende verschiedentlich widerfährt. 186 AW 2, 72 187 Binswanger hat hier das Konzept Heideggers vor Augen, in welchem das Gewissen dem Dasein seine Unheimlichkeit in der selbst-losen Verlorenheit und Uneigentlichkeit vorführt, siehe dazu Heidegger, Sein und Zeit, S. 274-277. 75 sich an den Abend des ersten Rendezvous, das heißt jedoch nicht, dass die Liebe mit jenem Tag begonnen hat – das wäre Willkür oder reiner Zufall. Wie der Raum ein unendlicher ist, also einer, der nicht durchmessen werden kann, so ist die Zeitform der Liebe der „präsenzerfüllte, ewige Augenblick der Liebe“188. Wie kann ein Augenblick von ewiger Dauer sein? Was beabsichtigt Binswanger, wenn er der Zeit und dem Raum Unendlichkeit attestiert? Kann hier noch von zwischenmenschlicher Liebe gesprochen werden, die mit Recht ihr „hier und jetzt“ einfordert? Zum einen soll Liebe das „Alltägliche“ in seiner flüchtigen Gegenwart überdauern, zum andern muss sie ein konstitutives Moment des Miteinander sein. Es lässt sich nicht leugnen, dass Binswanger ein romantisiertes Ideal der Liebe pflegt, das belegt vor allem sein Rückgriff auf die Liebesdichtung, die wohlgemerkt keine verkitschte ist. Doch will er damit die Eigenzeitlichkeit der Liebe hervorheben: die Zeit der Liebe verläuft nicht chronologisch, sie ist so nicht messbar – weder ihre Dauer noch ihr Sinn, ihr Gehalt. Aufgrund dieser Achronizität spricht Binswanger von „ewiger Dauer“, Liebe unterwirft sich nicht der messbaren Zeit. Darum betont er ihre Unwiederholbarkeit – die Liebe ist als solche einmalig, sie wird nicht herbeigeführt oder bewerkstelligt, daher sie sich auch der Verfügungsgewalt von Du und Ich entzieht. Die Formulierung ewiger Augenblick der Liebe ist irreführend, Michael Schmidt macht auf Kierkegaard aufmerksam, der an die Übersetzung aus dem Lateinischen erinnert: „Auf lateinisch heißt es [der Augenblick] momentum, und die Ableitung des Wortes (von movere) drückt nur das bloße Verschwinden aus.“189 Unserer Ansicht nach zählt Liebe aber zu etwas Standhaftem, zu etwas, das dem Menschen einen Boden bereitet und damit Konstanz und Vertrauen ausdrückt. Binswangers doppeldeutige und unsichere Begriffswahl tritt hier offen zutage. Eine genauere Kenntnis des von ihm Gemeinten wird in der weiteren Entwicklung der Grundformen deutlich. Die Beschlagwortung des Phänomens Liebe mittels der Begriffe Wir, Zeit, Raum, ewiger Augenblick ist vom Standpunkt des Beschreibenden ein Hilfsmittel, um Nichtsprachliches oder Unaussprechbares zu verstehen zu geben. Ist das liebende Miteinandersein begrifflich schwer fassbar, so gibt Binswanger Beispiele für jenes Miteinander, das er das „freundschaftliche Miteinandersein“ nennt. Dieses ist ein Sein mit Anderen, das sich als „abgemilderte“ Form der Ich-Du-Beziehung zeigt. Die andere ausschließende Begegnung des Ich mit dem Du wird in der Freundschaft erweitert, in ihr 188 AW 2, 38 Kierkegaard, Sören: Der Begriff Angst. – Aus dem Dänischen übersetzt von Gisela Perlet. – Mit einem Nachwort herausgegeben von Uta Eichler. – Stuttgart : Reclam, 1992. – (RUB ; 8792), S. 103, dazu Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 163 189 76 zeigt sich eine Form der Liebe, die nicht den ewigen Augenblick bzw. die Grenzenlosigkeit der Welt beansprucht, sondern ein schlichtes „Geben und Nehmen“ anzeigt. Darunter versteht Binswanger die Weise, „[...] in der das Dasein sowohl an der Selbstheit Rückhalt hat, als auch an der Wirheit Halt findet.“190 Die Selbstheit, die der Liebe entspringt, ist in der Freundschaft schon vorausgesetzt, ebenso die Wirheit, hinzu kommt das „Halt-finden“, das Amikalität ausdrücken soll. Freundschaftliches Miteinander ist uns als „Teilen“ geläufig – wir stehen unter einem gemeinsamen Anspruch, dem wir uns aus freien Stücken unterwerfen, sei es die Arbeit, das Schicksal oder der gemeinsame Geburtsjahrgang. Genauer besehen kann dieses Teilen den Gestus der Zuwendung, der Empathie annehmen, so teile ich mit Dir Deinen Schmerz, Deine Sorge, Dein Wohlsein; das heißt natürlich nicht, dass mir meine Sorge abgenommen wird – das käme einer Entmündigung gleich –, sondern dass ein Du anwesend ist, in dessen Gegenwart sich das Ich getraut, ein Ich zu sein und entsprechend verantwortlich zu handeln. Genauso ist mein Wohlsein erst dann eines, wenn Du dabei bist; Freude, Angst oder Ärger gibt es nicht, wenn diese kein Gegenüber treffen. Binswanger meint nicht das billige Wort, demzufolge nur geteiltes Leid ein halbes sei. Teilen bedeutet das Teilen und Mehren des Inder-Welt-seins. Was hier geteilt wird, ist das jeweilige gemeinsame Sein(-in-der-Welt), das hantierende Sein-zu-etwas, das genießende, verzehrende, blickende, sehende, hoffende, erkennende Sein-in-der-Welt oder Sein-zu-Welt.191 Die Form des Miteinanderseins als „Teilen-mit“ hat vor dem Partikularinteresse die Ich-DuRelation zur Grundlage. Doch das Du des Freundes ist eines, das nicht meinesgleichen ist, das nicht im Sonderstatus des Geliebten steht. Das Motto des einander freundschaftlich freigebenden Miteinander findet sich bei Nietzsche: „Was ist denn Liebe anders als verstehen und sich darüber freuen, daß ein andrer in andrer und entgegengesetzter Weise als wir lebt, wirkt und empfindet?“192 Das zweite Kapitel der Grundformen bleibt dem Satz Nietzsches treu, insofern es sich in diesem um den mitweltlichen Umgang mit anderen handelt; wohl treffen wir hier den anderen an, allerdings um ihm eine Rolle zuzuweisen. Diese Form der Koexistenz nennt Binswanger den pluralen oder personalen Modus bzw. das „Nehmen-bei-etwas“. In diesem etwas künstlichen Begriff drücken sich intersubjektive Distanz, Absichtlichkeit und Bezweckung aus: der andere ist „greifbar“, „in Griffweite“, er fügt sich in den Handlungsspielraum des Ich. Während liebendes Miteinandersein von Exklusivität, 190 AW 2, 202 AW 2, 206 192 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, in: Ders., Werke I, S. 767 191 77 Separation und von eigener Räumlichkeit und Zeitlichkeit gekennzeichnet ist, so stellt sich der plurale Modus als einer dar, der uns vertrauter und geläufiger zu sein scheint als die Dualität der Liebe.193 Was Binswanger mit dem Umgang mit den anderen meint, ist schlicht der alltägliche Verkehr mit Menschen, der in engerem Sinn keine Beziehung darstellt, sondern das Zusammentreffen; diese ist nicht gänzlich unverbindlich: dem subjektiven Nehmen-bei liegt ein Erkenntnisinteresse zugrunde. Der andere wird zum Gegenstand des von mir zu Besorgenden; ich bediene mich seiner Fähigkeiten, Kenntnisse und Erfahrungen, um das von mir Beabsichtigte von ihm verwirklichen zu lassen. Insofern fungiert er als Objekt, das unter meiner Handhabe steht – ich fixiere oder determiniere ihn. Binswanger spricht von der [...] Vergegenständlichung Deiner, Deiner Verwandlung in ein Er (Sie) oder gar Es, in ein gegenständliches Individuum oder „Objekt“, womit natürlich auch Ich nicht mehr Ich bleibe – da Ich in der Liebe ja nur von Gnade Deiner bin –, sondern womit Ich Subjekt einer Rolle werde, Subjekt des Nehmens-bei-etwas, etwa der Rolle des Besitzers, Beherrschers, Ge- und Verbrauchers, des Genießers und Beobachters usw.194 Dass hier keine Begegnung in liebender Dualität stattfindet, verrät die Wortwahl Er, Sie, Es; ein personaler Bezug ist nicht zu entdecken. Das Gegenüber, wie auch das Ich, nimmt die Gestalt einer Rolle an, in der wir aufgehen. Rollenhaftigkeit impliziert Maskierung, beinhaltet die Möglichkeit des Rückzugs oder des Scheinens. Die Situation trägt Züge der intersubjektiven Unverbindlichkeit, auch wenn der andere zur Rechenschaft gezogen werden kann (wenn er etwa einer Vereinbarung nicht nachkommt). Die bisher genannten Grundformen bilden die Dualität (liebendes Wir) und die Pluralität bzw. Personalität (Mitsein von einem und einem oder den anderen); in beiden Beziehungskonstellationen geht es vorrangig um das Du bzw. den anderen. Das Subjekt oder Ich-selbst ist Thema des dritten Kapitels der Grundformen, Das Zu-sich-selbst-sein und das eigentliche Selbstsein. Darin werden Beispiele angegeben, die das singulare Dasein verdeutlichen. So setzt sich Binswanger mit der aristotelischen und der christlichen Selbstliebe auseinander, erstere ist von ethischer, letztere von theologischer Relevanz. In 193 Der Grund dafür liegt im Ausgang vom Alltäglichen. In ihm begegnet das bloß Durchschnittliche, das Herkömmliche, welches leicht durchschaubar und erfahrbar ist. Anders die Dualität, in der uns Ungewöhnliches, nahezu Weltabgeschiedenes oder Akosmisches widerfährt. Die Abseitsposition des liebenden Miteinanderseins ergibt sich auch aus dem programmhaften Charakter der Binswangerschen Darstellung der Liebe. 194 AW 2, 145. In dieser Textstelle tritt der Bezug zu Bubers Es-Welt, wie auch Löwiths Betonung der Rolle, die das Subjekt innehat, deutlich hervor. Die vielfältigen Auffassungen, die sich den Begriff Person zueigen machen, zeichnet Michael Theunissen nach: Skeptische Betrachtungen über den anthropologischen Personbegriff, in: Rombach, Heinrich (Hrsg.): Die Frage nach dem Menschen : Aufriss einer philosophischen Anthropologie ; Festschrift für Max Müller zum 60. Geburtstag. – Freiburg/Breisgau [u.a.] : Alber, 1966, S. 461490. 78 jedem Fall ist die Singularität, die Einzigkeit und Einmaligkeit ausdrückt195, eine besondere, zumal es nicht um Miteinandersein in Liebe oder Mitwelt geht, sondern um die Eigenwelt, die man bei der Lektüre bislang vermisst hat. Indes ist die Eigenwelt keine gänzlich von der Mitwelt abgekappte: ich werde mir im Verhältnis zu mir selbst der Rollen und Positionen bewusst, die das Mitsein prägen und die umgekehrt wieder das Mitsein bestimmen. Im Abstreifen diverser Rollen aus deren Situationsgebundenheit ist ein Vordringen zum eigentlichen Selbstsein, das „Sein zum Grunde (als meinem)“196 möglich. Diesem meinem Sein auf „den Grund gehen“ zu können, bedarf es nicht nur des Absehens der eigenen Rollen (personae), sondern auch einer beinahe monastischen Selbsteinkehr, die sich jeden Standpunktes und der Diskursivität entledigt hat. Nach dieser Abkehr von Mit- und Umwelt sieht sich das Individuum (vom Ich kann ohne ein Du wohl nicht mehr die Rede sein) auf sich selbst und damit auf seinen Grund verwiesen, der offenbar wird, selbst wenn er ein verdeckter, „versteckter“ Grund ist. Hier spricht wieder Heideggers Vom Wesen des Grundes, es handelt sich um eine „[...] ‚gegründete’ Seinsweise, d.h. um eine solche, die von einem Grund ihres Seins ‚weiß’, und sei es auch nur, daß sie nach einem solchen frägt.“197 Gerade doch oder wegen der Frage zeigt sich der Grund als Geheimnis, er liegt „im Sein überhaupt“ und soll gleichwohl das Unergründliche sein. Binswanger erinnert an Max Stirner, dessen Einziger die Urheberschaft über sich selbst proklamiert. Stirners Beharren auf Autarkie leugnet die Tatsache, „[...] daß Selbstsein nur möglich ist als ‚Sein zum Grunde’, das heißt immer, als Sein zu einem das Selbstsein erst gründenden und begründenden Sein.“198 Das Fragen nach dem Grund als Geheimnis meiner, der sich der Bemächtigung entzieht, gewährt das Ergreifen der mir zugeeigneten Möglichkeiten. Diese sind keinesfalls als Wirkungen einer Ursache zu sehen: der Grund ist als entzogener keine reale Ursache, wie sie im mechanistischen Weltbild fungiert. Der Fehler liegt nahe, mittels einer (ziellosen) Frage eine wohlwollende Antwort zu erzwingen; das Fragen bedeutet in der Absicht Binswangers, sich für die eigenen Möglichkeiten, für das Eigensein offen zu halten. Dass das Dasein nicht seinen eigenen Grund gelegt hat, sagt der Geschenkcharakter des Grundes: akzeptiere ich meinen Grund, bin ich durch ihn bereichert, bin ich mir selbst gegeben.199 195 AW 2, 345 AW 2, 406 197 AW 2, 407 198 AW 2, 417. Das Gegründetsein von oder in einem Anderen – sei es das Du oder Gott – lässt Binswanger offen; indem er hier beide als Gründer ausschließt, bleibt ihm eben nur das „Sein überhaupt“, womit nichts Konkretes eingeholt werden kann. Mit Heidegger ist nur zu sagen, dass der Grund sich uns „zuspricht“, weil er uns aus sich heraus sein lässt, und zwar dich und mich. 199 Vgl. Theunissen, Der Andere, S. 464 196 79 Die im ersten Teil behandelten Weisen des Daseins kehren im zweiten Teil wieder, allerdings nicht als voneinander gesonderte, sondern in deren Verflechtung, dazu dient der Terminus „psychologische Erkenntnis“200. Mit diesem Begriff will Binswanger liebende Begegnung und mitweltliches Nehmen-bei-etwas, also Liebe und Sorge, in Einklang bringen. Er stellt der liebenden Erkenntnis, die sozusagen unvermittelt ihr Du in Akzeptanz und Anerkennung im Wir-Raum erkannt hat, die diskursive Erkenntnis zur Seite, die auf Einzelnes oder Bestimmtes am Du gerichtet ist. Bislang Konträres – Liebe und Sorge – werden in eins gesetzt: psychologische Erkenntnis bedeutet [...] Einheit von Ich-Duhaftigkeit und Bestimmtheit (Determiniertheit), von Begegnung und mitweltlichem Nehmen-bei-etwas. Demnach bedeutet die Daseinserkenntnis eine völlig neue Seinsweise, eine völlig eigenartige Verwurzelung im Sein. Diese Seinsweise läßt sich nicht verstehen als Abdankung der Liebe zugunsten der Nichtigkeit der Sorge und als bloßer Umschlag vom praktischen ins theoretische Entdecken, sondern nur als „Emporhebung“ der Nichtigkeit der Sorge überhaupt in die „Positivität“ der Begegnung.201 Die „völlig neue Seinsweise“, die Binswanger proklamiert, ist jedoch so neu nicht, sie wurde uns schon im ersten Teil der Grundformen vorgestellt. Dort spielte sie die Opponentin der Sorge, die das Miteinandersein vor dem Verfall an das Man und vor dem Verbleib bei innerweltlich Seienden bewahren soll. Dementsprechend harsch fällt dort auch die Kritik an Heidegger aus, die gegen das In-der-Welt-sein als Sorge polemisiert. An gleicher Stelle konzediert Binswanger, auch liebendes Dasein müsse der Welt der Sorge verpflichtet bleiben. Nun, im zweiten Teil, gelangt Binswanger dorthin, wo er schon einmal war, nämlich zu dem Standpunkt, dass Liebe und Sorge einander bedingen, wobei die Mundanität, die Geworfenheit der Existenz zu ihrem Recht kommen. Unversehens kommt der Begriff der Negation ins Spiel, der beiden Seinsweisen gerecht wird, wenn sie nur einen „dialektischen Wechselprozeß“202 einführt. Im Zuge des Wechselprozesses ist liebendes Erkennen kein irrationales, gar naives Akzeptieren des mir Begegnenden – hier kann ansonsten von ausweisbarer Erkenntnis nicht gesprochen werden; Liebendes In-der-Welt-sein gewahren wir im geduldigen Verweilen bei Dir, welches Du mir gegenüber in Anspruch nimmst, als meine vermögende Bereitschaft, mich Dir auszusetzen und dieses zuzulassen und auszuhalten. So muss ich redlich dem Du in angemessener Weise entgegentreten: die so gefasste psychologische Erkenntnis 200 AW 2, 453 AW 2, 453 202 AW 2, 536 201 80 [...] lehrt, daß Ich nur erkennen kann, wo Ich liebe, woran Ich teilnehme und womit Ich im Einvernehmen bin. Wer am Sein als Ganzem teilzunehmen vermag, vermag – der Möglichkeit nach – alles zu erkennen.203 Der Umschlag des psychologischen Erkennens in ihr Gegenteil – das Verkennen, das NichtAnerkennen – geschieht dann, wenn der Andere als dinghafter Gegenstand wahrgenommen und „behandelt“ wird. Binswanger hält dafür den Begriff „diskursive Erkenntnis“ bereit.204 Wie man das Du wohl nie in seiner Losgelöstheit von der Welt und deren Bezügen wird wahrnehmen können, so ist auch der Verfall von einem Du zum bloßen Es nicht denkbar. Beide Formen sind wahrlich unangepasste Weisen, die im Zusammenleben wohl selten anzutreffen sind, und wenn, dann tragen sie Züge des Pathologischen. Menschliches Dasein muss die Spannweite der liebenden und diskursiven Erkenntnis aushalten, muss in ihr lieben und erkennen können, d.h. sich als Bürger zweier Welten verstehen. 203 204 AW 2, 458f Siehe AW 2, 309 und 391 81 4 Die Welt des Dualis (liebendes Miteinandersein) 4.1 Der Eros Binswanger bemüht sich, eine Phänomenologie der Liebe darzustellen, es verwundert daher nicht, dass er den Begriff „Eros“ verwendet. Beide Begriffe – Liebe wie Eros – sind im wahrsten Sinn “zweideutig“, der Leser der Grundformen wird aber das, was wir oberflächlich unter „Eros“ verstehen, in ihnen vergeblich suchen. Binswanger bezieht sich auf den altgriechischen Eros (ὉἜ), der nicht nur die sinnliche Liebe, Lust, das Verlangen ist, sondern auch deren Urheber, der Liebesgott, Sohn der Aphrodite. In beiderlei Gestalt ist Eros aus dem Symposion Platons bekannt, in ihm entwickelt Sokrates das Wesen des Eros.205 Er ist weder schön noch hässlich, nimmt also im Geschlechterbegehren eine Mittelstellung ein, auch weil er kein Gott, aber auch kein Mensch ist – also eine doppelte Zwitternatur. Des Eros Aufgabe liegt im Hervorbringen des körperlich und geistig Schönen, welches wiederum auf das Gute verweist, das sinnlich wahrnehmbare, daher begehrenswerte Schöne ist nicht das Endziel, vielmehr der Ausgangspunkt, das Gute in Gestalt der Idee zu erkennen. Laut Mythos ist Eros der Nachkomme des Ponos (ὁ όArbeit, Mühsal, Not, Pein und der Penia (ἡ ί Armut, Dürftigkeit); er verkörpert also gleicherweise Arbeit und Armut, die damit eine wechselseitige Bereicherung bilden: Armut kann erst durch Arbeit wettgemacht werden. Diese beiden – Armut und Arbeit, Mühsal – kennzeichnen denn auch das Wesen des Menschen; dem Mythos zufolge war die ursprüngliche Konstitution des Menschen die des Mannweibs, der (die) den Göttern konkurrent zu werden drohte, woraufhin das doppelgeschlechtliche Wesen in Mann und Frau getrennt wurde. Die nunmehr getrennten Hälften streben jedoch zueinander, um sich so wieder vereinigen zu können. Gelingt dies nicht, so ist mindestens noch eine „platonische Beziehung“ möglich, also freundschaftliches Miteinandersein. Binswanger illustriert mit dem Beispiel des Eros das menschliche Zusammensein, dies zeigt sich im Aufbau der Grundformen: so bildet das Wir – Binswanger nennt es die „unerschöpfliche Fülle“206 – die ursprüngliche, erste Weise des Daseins, die Ich und Du wieder zu erreichen suchen. Dieses Bild widerspricht der Tendenz, das eigene Ich im Anderen zu finden, was zur Selbstliebe im und durch den Anderen führen und damit eine Fehlform der 205 Platon: Sämtliche Dialoge. – In Verbindung mit Kurt Hildebrandt [u.a.] hrsg. und mit Einl., Literaturübersichten, Anmerkungen und Register versehen von Otto Apelt. – Band III. – Hamburg : Meiner, 1993, 201D-212C 206 AW 2, 63 82 Liebe darstellen würde, die de facto jedoch vorkommt und von Binswanger nicht als unmoralisch verworfen wird. Auch ist es unangemessen, die „ungeschiedene Fülle“ in einem konkreten Du zu finden, denn das bedeutete den Ausschluss sämtlicher anderer. Die Konkretion und Konzentration auf ein einziges empirisches Du umgeht Binswanger, indem er das freundschaftliche Miteinandersein als ebenso legitime Ausdrucksform der Liebe ausweist. Umschreibt der Eros die Sehnsucht von Ich und Du, zueinander zu gelangen, so verbleibt er doch nicht in diesem Bestreben, Ich und Du genügen einander nicht wie etwa Funktionsteile eines größeren, dominierenden Ganzen, das als solches die Liebenden in seine Anonymität absorbiert. So bleibt es nicht bei einem Zu-einander, sondern dieses steigert sich, die Beziehung intensiviert sich, sodass deren Partner einander schenken und bereichern. Binswanger spricht vom „sich selbst mehrenden“ oder „steigernden“ Eros (ἒἑὸὔDas Reflexivpronomen führt hier in die Irre, denn es bezieht sich auf den Eros als solchen, alleinigen – indes widerfährt meinem und deinem Dasein die Steigerung, der die Sehnsucht den Boden bereitet hat.208 Ist von Selbstmehrung des Eros im Wir die Rede, liegt das Fehlverständnis einer gemeinsamen, Ich-Du-haften Selbstaufblähung, der Wille zur Beherrschung der Mitwelt nahe, gerade darauf macht Binswanger aufmerksam: das Wir ist kein „leeres Ganzes“ – dieses wäre ein Nichts, sondern: „[...] vielmehr müssen wir uns immer klar machen, daß ‚das Ich der Liebe’, richtiger gesprochen, daß Ich als Liebender nur Ich bin als Gegenpol Deiner, des Du bist.“209 Die Betonung liegt auf dem Wir, das aus sich dich und mich als Einzigartiges, Unverwechselbares entlässt. Sensu stricto verbietet sich eigentlich die Rede vom Dasein als je meinem und je deinem, angemessen spricht man vom Dasein als unserem, eben als Wir. Das will auch der Mythos vom Eros ausdrücken, er stellt das Fundierungsverhältnis des Miteinanderseins dar, wodurch jene Neigungen abgelehnt werden, die isolierte Einzelexistenzen in einem nachträglichen Wir verbinden wollen.210 Liebe kann ontologisch nicht verstanden werden als etwas, das zwei für sich seiende Individuen aneinander bindet oder zwei Subjekte, Aktzentren, Existenzen 207 AW 2, 65 Im Alten wie auch im Neuen Testament finden sich ähnliche Aussagen: „Seid fruchtbar, und vermehret euch[...]. (Gen 1,28), „Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen.“ (Dtn 30,19), „[...] ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“ (Joh 10, 10) Sieht man von populären Interpretationen der Vermehrung und Nachkommenschaft als Resultat geschlechtlicher Handlungen ab, die auf biologische Fortpflanzung gerichtet sind, dann eröffnet sich die Sicht, die die „Selbstbereicherung“ des Wir und zugleich die Bereicherung der anderen offenbart; Nachkommenschaft ist nicht biologisch-genetisch, daher auch nicht zeitlich gemeint. Fruchtbarkeit und damit Nachkommenschaft ist die Frucht des Seins-für-Andere. 209 AW 2, 67 210 Ein solcherart konstruiertes Wir hätte dann Gültigkeit und Bedeutung, wenn es eine Interessengemeinschaft bildet. Diese ist vermutlich die am häufigsten anzutreffende Form von Gemeinschaft oder Vereinigung. Auf sie wird im zweiten Kapitel des ersten Teils der Grundformen eingegangen (Das Mitsein von Einem und einem (oder den) Anderen). 208 83 an ihren je einseitig konstituierten Welten teilnehmen (kommunizieren) läßt, sondern nur als „Erschlossenheit“ oder Offenheit des Daseins für sein Einssein, sein Ganzsein, wenn man will, in der Urform der Wirheit.211 Wirheit verweist so auf Ich- und Duheit; hier ist wieder an das Wir als Ellipse zu erinnern, deren Brennpunkte Ich und Du bilden. Binswanger beginnt deshalb seine Abhandlung über die Liebe mit dem Phänomen der Wirheit, dementsprechend liegt der Schwerpunkt zunächst auf dem „Einssein im liebenden Miteinander, im Wir der Liebe.“212 Noch ein Wort zur Bedeutung des Mythos: Binswanger greift immer wieder auf Literatur, Kunst und Mythen zurück, um seine Gedanken zu veranschaulichen und sie auf die Tradition zu beziehen; er führt andere Philosophen und Schriftsteller – so Franz von Baader, Jakob Böhme, Jean Paul, Schelling – an, die dies ebenfalls tun. Damit setzt er sich bewusst dem Verdacht der Unwissenschaftlichkeit aus, dem er jedoch zuvorkommt. Zwar bewertet er Mythen (wie auch Mystik) prinzipiell positiv, warnt aber vor einem Abgleiten in Irrationales, Illusorisches: „So sehr alle diese mystischen Tendenzen [...] zur Gesamtstruktur der Liebe gehören, so sehr bedeuten sie doch Abfall von ihr (Verfall derselben), wenn sie verabsolutiert werden.“213 In diesen Fehlformen der Liebe würden sich Ich und Du im „Lebensstrom“, in einen Gott oder simpel in kosmischer Energie auflösen. Der Mensch des Mythos ist für Binswanger ein „synthetischer“214, schließlich entdeckt Binswanger auch im naturwissenschaftlichen Weltbild den Mythos vom Menschen als „homme-machine“ oder „homme-nature“215, der tatsächlich-konkret nie anzutreffen ist. Die Erwähnung des Mythos vom Eros ist keine beiläufige oder eine, die den Gedankengang Binswangers legitimieren soll. Er nimmt ihn insofern „wörtlich“, als der Eros das zur Sprache bringt, worum es Binswanger zu tun ist. Im Mythos selbst geht es um die Dreiheit von Ich-Du-Wir bzw. um die ursprüngliche Einheit von Mann und Frau, diese formale Dreigliedrigkeit wird übernommen und auseinanderdifferenziert, doch ohne die Konstellation zu zerstören, d.h. die relative Selbständigkeit soll aufgezeigt werden, um sie so bewahren zu können. Den Kern der Begegnungsphilosophie bilden die Beziehungspartner, deren Boden indes legt das Wir, welches im Raum des Zwischen Ich und Du entlässt. Die Situation ist diese: das Wir als Raum, in dem 1) Ich und Du aufgehoben bzw. beheimatet sind und in dem 2) beide aneinander werden und einander freigeben. 211 AW 2, 22 AW 2, 79 213 AW 2, 145 214 AW 2, 568 215 AW 2, 569 212 84 Einerseits konstituieren Ich und Du ein Wir, zum anderen gelangen Ich wie Du erst in der Wirheit zur Selbständigkeit. Die hier zum Vorschein kommende Widersprüchlichkeit offenbart eine wechselseitige Bedingtheit, ja Abhängigkeit, die sich erst durch einen Perspektivenwechsel erklären lässt: vom Umfassenden (vom Wir) gesehen, gründen Ich und Du im Wir, während die Beziehungspartner ihre jeweilige Selbständigkeit aus dem anderen beziehen, wobei sie das Gemeinschaft stiftende Wir nicht ausdrücklich berücksichtigen. Binswanger setzt in seinen Grundformen den Schwerpunkt auf das Miteinandersein von mir und dir, das Wir der Liebe ist ihm eine ursprüngliche Weise menschlicher Existenz, das nun näher zu befragen ist, um über es und das Ich und das Du Auskunft zu bekommen. 4.2 Gemeinschaft und Selbständigkeit im Wir Das Primat des Wir der Liebe gründet im Eros, diesen entfaltet Binswanger nun weiter. Sobald von Eros die Rede ist, meint man damit vor allem Sexualität und Geschlechterliebe. Das liegt nahe, ist aber seitens Binswangers gar nicht intendiert; er unterscheidet die Geschlechterliebe vom „Abfall in pure Sexualität“216, der zwecks sexuellen Genusses geschieht und der Ich wie Du in eine äußerste Kümmerform mitmenschlichen Daseins führt. Als Gegenphänomen zur Liebe wird hier auch der „grauenvolle Sexualhass“ genannt, gerade der Hass auf Sexualität wie auch deren Über- oder Unterbewertung – diese kann sich in ängstlichem, fugitivem, oberflächlichem und okkupierendem Verhalten dem Du gegenüber äußern – zeigen den Stellenwert der Sexualität an.217 Liebe bleibt im engeren Sinn dem Zwischen als Ursprung von Ich und Du vorbehalten, Wirheit ist demnach ausnahmslos Zweiheit. Der Einwand, die Dualität von Ich und Du als vorrangige Weise des Miteinanderseins gehe ausschließlich diese beiden an und wäre daher für 216 AW 2, 144 Verwunderlich ist, dass in den Grundformen, in denen doch das Miteinandersein in Liebe als die Grundform auszuweisen versucht wird, nicht einmal annähernd Sexualität erwähnt wird. Für Binswanger ist Sexualität dann ein Thema, wenn sie wirklich zum Problem geworden ist, das ist als Defizienzerscheinung (Sexualität hier wiederum negativ gefasst!) natürlich in der Psychiatrie der Fall – siehe dazu Bd. 4 der Ausgewählten Werke, sowie Boss, Medard: Sinn und Gehalt der sexuellen Perversionen. Ein daseinsanalytischer Beitrag zur Psychopathologie des Phänomens der Liebe. – 3. Auflage. – München : Kindler, 1966. Wird Sexualliebe als Form des Abfallens von normgerechtem Miteinandersein gedeutet, ist die Frage zu stellen, was Sexualität denn überhaupt ist – ist sie Macht, die über dich und mich kommt (so als der sich selbst mehrende Eros, ἔἑὸὔ) und uns füreinander sein lässt, ist sie eine uns unterdrückende Gewalt, die uns zu ihren Handlangern macht, ist Sexualität eine Kundgabe der Reproduktion oder – als bloße Handlung – ein Zeichen menschlicher Fallibilität, ist sie ein Akt der Freiheit oder der Erweis eigener Unmündigkeit? Dann wieder wäre Sexualität die Eliminierung eigenverantwortlichen Umgangs mit anderen. Sobald Sexualität ein „Abfall“ – von was auch immer – ist, wird sie dem Menschen, also dir und mir, abgesprochen. Die Folge davon ist Tabuisierung und pejorative Deklaration als Symptom einer Erkrankung, die zu heilen Aufgabe der Medizin ist. „Das Problem des Verfalls [der Liebe, Anm.] ist damit einer der wenigen Bereiche innerhalb von Binswangers Phänomenologie der Liebe, in dem das Phänomen der Sexualität überhaupt thematisiert wird.“, in: Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 204. Allein diese knappe Randnotiz belegt den gravierenden Unterschied, den Binswanger zwischen Liebe und Sexualität macht. Auf eine Erhellung des versteckten oder offenkundigen Wesens der Sexualität wartet man hier vergebens. 217 85 alle anderen ohne Belang, vergisst den daraus folgenden Gedanken, dass Ich und Du einander ermächtigen, jeweils sie selbst zu sein, um in Folge auch den mitweltlichen anderen begegnen zu können. Das als Eros vorgestellte Wir entlässt die Beziehungspartner in die Begegnung, doch ist das nur dann möglich, wenn das Wir die eigentliche Einheit bildet. So begibt sich Binswanger geradewegs in das Problem der Fundierung von Ich-Du-Wir, welches sich nur als Zirkelbewegung, somit logisch inkonsequent, darstellen kann. Reine Wirheit ist ontologisch als Einheit, unio zu verstehen218; in ebendiesem Satz beansprucht Binswanger die Ontologie ohne jedwede Differenzierung für die Anthropologie, in der die unio als communio auftritt, die eine Zweiheit (Ich und Du als voneinander Getrenntes) impliziert. Ungeschiedene Einheit als „Fülle“ ist anthropologisch nicht denkbar, will man nicht ein solus ipse intendieren. Fasst man die „ontologische Einheit“ (unio) als Arbeitsbehelf, bleibt Binswanger noch diese Reduktion: Wir sind in der Einheit des Seins anthropologisch nur als Erfülltsein Meiner von Dir und Deiner von Mir, oder, nur mit anderen Worten, wir sind in dieser Einheit nur im Mich-Dir-Schenken und Von-Dir-Empfangen-Werden, und Mich-von-DirGeschenktbekommen und Dich-Empfangen. Aus der ungeschiedenen Fülle dieser Einheit werden Wir „Ich und Du“, je Ich-selbst und Du-selbst, insofern das wirhafte Geschenk der Daseinsfülle sich an Mir und Dir erfüllt, nämlich mich zu Deinem und Dich zu meinem Geschenk werden läßt.219 Liegt es im Sinne der Philosophie des Dialogs, Ich und den Anderen zur Sprache zu bringen, warum dann der Ausgang bzw. Anfang vom Wir her? Dem Autorenzeugnis nach ist der Vorrang der Partner in der Begegnung als Wir klar; Ich und Du bilden die Fixpunkte, die sich in der Welt – dies wird sich zeigen – über diese hinaus bewähren. Fasst man das Wir als „Einheit des Seins“, so bedeutet das das „Herausfallen“ der anderen Menschen aus der Einheit, die man ebenso als Partner in Betracht hätte ziehen können. Stimmt man dem Prinzip des Dialogs zu, nach dem ein Dialog nur zweiseitig geführt wird, wird offenkundig, dass jene, die weder ein Du noch ein Ich sind, außen vor bleiben. Hält man sich weiter bei der Frage auf, ob Ich und Du bereits voll konstituiert eine Gemeinschaft bilden, oder ob umgekehrt das Wir die Beziehung fundiert, läuft man Gefahr, 218 AW 2, 166 AW 2, 166. Ein Wort zur Terminologie: im Vorwort zu den Grundformen konzediert Binswanger, Heideggers Fundamentalontologie „anthropologisch“ missverstanden zu haben und so der Liebe eine ontologische Relevanz zusprechen zu wollen. Sicher bestimmen und bedingen Ontologie und Anthropologie einander, eine eindeutige Grenzlinie zwischen beiden zu ziehen, bedeutet den Abbruch des Gesprächs zwischen zwei philosophischen Fundamentaldisziplinen. Die Offenheit des Seins, dargestellt in der Ontologie, die Seiendes als Dasein zu solchem ermächtigt (nun die philosophische Anthropologie), hat Heidegger – so Binswanger – festgehalten. Nicht nur die Wahl der Begriffe, die Binswanger trifft, erschwert eine Interpretation, oft liegen wissenschaftliche Grenzen bzw. Kompetenzen nicht im Klaren. Die Selbstanzeige Binswangers in einem Brief vom 17.06.1954 an Heidegger, sich nicht für einen Philosophen zu halten, ist ehrlich. Im selben Brief versichert Binswanger Heidegger gegenüber: „[...] dass jede Lehre vom Sein in sich schon Lehre vom Wesen des Menschen ist und dass in dieser Frage eine abgründige Schwierigkeit ist.“, in: Briefe und Briefstellen, in: AW 3, 346. 219 86 weder das Wir noch das Ich und recht nicht das Du in den Blick zu bekommen. Folgt man Binswanger, dann ist die Priorität des Wir anzuerkennen. Dieser Priorität kommt gleichsam der Rang eines Axioms zu, von dem das daraus Abzuleitende zu verstehen ist.220 Theunissen, in Anschluss an ihn auch Schmidt221 sehen im Vorrang des Wir das Bestreben Binswangers, Ich und Du nicht a posteriori über die Welt und deren durch die von Sorge geprägten Strukturen zu erfassen. Damit reiht sich Binswanger in die Überlieferung einer Philosophie des Dialogs ein, die das Begegnen zweier Menschen allzu isoliert von der Begegnung mit Dritten in der real erfahrenen Welt bewerten mag. Ausgang dieser Überlegung wäre demnach das Widerfahrnis der Begegnung mit einem anderen Menschen in dessen tiefer, nicht überwindbarer Alleinheit. Binswanger verwirft dieses beinahe asketische Alleinesein mit dem Postulat der ungeschiedenen Einheit, diese „[...] richtet sich gegen alle, die von getrennten Existenzen ausgehen und über den Abgrund der Getrenntheit hinweg im Miteinandersein eine nachträgliche Verbindung suchen.“222 Die dezidierte Betonung des Wir, welches sich doch wiederum auf Ich und Du stützen muss, vermeidet eine nachträgliche Verbindung beider, die das Selbstsein als Boden für die Erfahrung der Liebe voraussetzt. Das Fundierungsverhältnis ist dann nämlich umgekehrt: Nicht das Wir bestimmt dich und mich, sondern Ich und Du treffen einander im Wir. Dahinter steht der Gedanke, das Wir sei ein von gemeinsamen Zielen oder Absichten gegründetes, wie dies von der Soziologie oder Psychologie beschrieben wird. Das ein kollektives Ziel zu erarbeiten suchende Wir ist im Gegensatz zum liebenden Wir keine Beziehung zwischen zwei Menschen, deshalb also prinzipiell schrankenlos erweiterbar. An Grenzen stößt dieses Wir erst dann, wenn das überwunden ist, von dem sich das Wir zuvor definitorisch-konstitutiv abgegrenzt hat und das zu Überwindende in sich integriert hat. Das so in sich undifferenzierte Wir weist sich gleichsam selbst „in die Schranken“, weil Unterschiedloses weder definier- noch erkennbar ist. Es bildet dann eine bloß quantitativ bestimmbare Menge, deren Glieder einzig dazu dienen, die Menge zu steigern – das Wir ist in dieser Bedeutung die Summe seiner Glieder, die untereinander beliebig vertauschbar sind. Ein Blick auf die Etymologie ist in diesem Zusammenhang interessant: „Axiom“ leitet sich ab von ἄ, würdig, gleichwertig, wertvoll. Ein Würdiges ist ein Unhintergehbares; liegt im Wir die Priorität, so zeigt sich die Würde des in der Begegnung Begegnenden. 221 Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 183-198 222 Theunissen, Der Andere, S. 446. Das liebende Wir ist ein eigenständiger, also nicht ableitbarer Modus des Menschseins, in dem Ich und Du erst „geboren“ werden – siehe AW 2, 434. Wieder ist die Etymologie hilfreich: „gebären“ heisst „tragen“, „aushalten“, „in ein neues Licht setzen“. Freigebende Liebe ist der Ort, an dem Ich und Du „geboren“ werden, an dem eine – für dich und für mich – neue Welt aufgeht. 220 87 Gegen all diese Argumente, wiewohl sie ihr Recht haben, besteht Binswanger auf der Genese von Ich und Du aus dem Wir; wie ernst es ihm darum ist, kommt zum Vorschein, wenn er von der Wirheit als ontologische Einheit spricht: Liebe kann ontologisch nicht verstanden werden als etwas, das zwei für sich seiende Individuen aneinander bindet oder zwei Subjekte, Aktzentren, Existenzen an ihren je einseitig konstituierten Welten teilnehmen (kommunizieren) läßt, sondern nur als „Erschlossenheit“ oder Offensein des Daseins für sein Einssein, sein Ganzsein, wenn man will, in der Urform der Wirheit.223 Folgen wir Binswanger: das Wir, das Zwischen bildet und bleibt Grundlage der Dualität, ja ermöglicht sie erst. Hier tritt nun das Problem zutage: die einander Begegnenden bilden das Wir, aus dem allererst Ich und Du hervortreten sollen, die Frage nach der Konstitution bleibt unbeantwortet. Das Wir legt den Grund für das autonome Ich bzw. Du, sodass „[...] hier die paradoxe Situation sich ausschließender Gleichzeitigkeit und Ursprünglichkeit von liebender Einheit im Wir und personaler Selbstheit entsteht.“224 Wie bzw. wann sind Ich-selbst und Duselbst möglich, ohne dass das liebende Wir zu existieren aufhört? Aus dem Paradox wird so ein Postulat.225 Wie kann Selbstsein verwirklicht und aufrechterhalten werden, ohne dadurch in Vereinzelung zu geraten? Einzelsein tritt in zweierlei Gestalt auf: es kann sich dem Du entziehen, wodurch das liebende Wir negiert wird, oder ich gehe in toto in dir auf – hier wird das Selbstsein beider mit deren wechselseitiger Bereicherung in ein nunmehr anonymes Wir aufgelöst. Gerade weil das Wir das Fundament des Intersubjektiven ist, kann dieses Fundament dem Anderen entzogen werden, man denkt hier zuerst an alle möglichen Spielarten des Egoismus. In den Grundformen ist von dessen vermeintlichem Gegenteil die Rede – vom Altruismus zumal. Liebendes, den Anderen schätzendes Wir ist weder logisch noch ethisch (im Sinne einer Abfolge von Handlungsanweisungen) erfassbar; Altruismus bezeichnet das bloße und ausschließliche „Leben für andere“, dessen Denken der Rücksichtnahme auf sämtliche andere Menschen verpflichtet ist. Wie der Egoismus erweist sich der Altruismus als Widersinn der Liebe, zumal beide den einen zuungunsten des jeweils anderen favorisieren und damit die Gleichursprünglichkeit beider (also Ich und Du) missachten. „Liebe, in der sich ‚alles nur um Dich dreht’, ist ebensowenig sich-selbst mehrend und zehrt sich ebenso an ihrem eigenen Feuer auf, wie Liebe, in der sich ‚alles nur um Mich dreht’.“226 Beide Formen verneinen die Differenz von Ich und Du im Wir. Im Anschluss an Fritz Perls bezeichnet Schmidt die 223 AW 2, 22 Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 183 225 Siehe AW 2, 109f 226 AW 2, 107 224 88 Beziehung, die das Selbstsein der Partner nivellierend übergeht, als „konfluentes Wir“.227 Das Ich oder Du, welches Assimilation anstrebt oder gar fordert, akzeptiert die Selbständigkeit des Anderen, dadurch auch seine eigene, nicht. Die annehmende Würdigung des eigenen und des Selbstandes des Anderen ist erst durch das liebende Wir möglich, das nicht zusammenfließen lässt (con-fluere). So ist dieses Wir nicht eines, das Partner in je eigenes Sein schickt, oder sie zu Eigensein ermächtigt, vielmehr hält es beide in gegenseitiger Abhängigkeit. Fehlt die Ichund die Du-Grenze, will heißen meine Grenze, die ich an dir erfahre und vice versa, so löse ich meine wie deine Selbstheit, letztlich das Wir der Liebe, auf. Binswanger will diese defizienten Modi des Miteinanderseins überwinden, indem er mittels der Analogie den Mittelweg zwischen Isolation und Aufgehen ineinander wählt: „Je größere Wirklichkeit der Wirheit, umso größere Möglichkeit der Selbständigkeit von Mir und Dir [...].“228 Die Begegnungspartner sollen – als Liebende – selbst sein, ohne vom Wir absorbiert zu werden und zugleich ohne das Wir abzulegen. Will man weder dem Einzelnen noch dem Wir absolute (besser: verabsolutierende) Geltung zusprechen, so gerät man in die wechselseitige Bedingung von Selbstsein und Wir. Binswanger gibt dafür das Beispiel der Gabe: Im Schenken überreicht der Schenker nicht nur das Geschenk, etwa als Botschafter oder Diener, der dem Geschenk neutral gegenübersteht. Vielmehr ist es das Ich, das sich einem Du zuspricht, sich an es wendet und ihm sich selbst schenkt, und zwar so, dass nur du mich als Geschenk in Empfang nehmen kannst. Die Begriffe Gabe, Geschenk tragen doppeldeutigen Charakter; erstens schenke ich mich dir als der, der ich als Unvertretbarer bin – kein anderer kann mir mein Sein, kann „mich mir selbst“ abnehmen. Aber: das Ich kann dir nicht geschenkt werden, weil der Akt des Mich-Dir-schenkens von mir selbst geleistet werden muss. Hierin liegt meine Einzigkeit, in der ich eigenständig Ich-selbst bin. Zweitens bin ich erst dann Ichselbst, wie du mich (als Geschenk) annimmst. In deiner Akzeptanz meiner Person selbst schenkst du mich mir gleichsam „zurück“, d.h. ich trete aus unserer Begegnung als neues, zuvor so nicht da gewesenes Ich heraus. Schenkst umgekehrt du dich mir als jemand, der ausschließlich du sein kannst und akzeptiere ich dich als solchen, gehst auch du „verwandelt“ – und hoffentlich bereichert – aus der Beziehung hervor. Die Idee der Begegnung ist keine statische, in sich ruhende Befindlichkeit, in der sich zwei Menschen „gefunden“ haben, ohne sich anderweitig zu affizieren. Die Prägung des Ich am und durch das Du und umgekehrt ist das, worum es hier geht. Setzt man bereits zuvor voll konstituierte Partner zueinander in Beziehung, ergäbe sich daraus nie ein liebendes Wir, denn das Wir leistet die Selbständigkeit beider, die aus eigener Kraft nicht erreichbar ist: „Die 227 228 Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 185 AW 2, 111 89 Selbstheit dieses Ich und Du gründet also nicht im Dasein als je meinem und deinem, sondern im Dasein als unserem, mit anderen Worten im Sein des Daseins als Wirheit.“229 Schmidt sieht darin einen gangbaren Mittelweg zwischen Vereinzelung (Dasein als je meines versus Dasein als je deines) und Verschmelzen ineinander (Konfluenz von indifferenten Beziehungspartnern in eine Gemeinschaft, die als solche nicht einmal mehr über Teile verfügt). Dieser Mittelweg 229 AW 2, 112. Die Spannung zwischen Einzelnem und Allgemeinem ist immer wieder verschieden angegangen und behandelt worden. In allen Interpretationen zeigt sich, dass mitmenschliches Verhalten die Frage und Besorgnis um ein sinnerfülltes, glückliches Menschenleben darstellt, gerade weil das Zusammenleben fraglos als selbstverständliches genommen wird. Gemeinschaft ist Boden und Raum jedes Einzelnen – vor der Koexistenz machen auch Streit oder Auseinandersetzung nicht halt, zumal sie diese voraussetzen. Ein Mensch lebt nie alleine ohne Selbst- und Fremdbezug. In einer Vorlesung schreibt Eugen Fink: „Jeder ist Mitmensch, ob er will oder nicht, und als Mitmensch ist er der Andere des Anderen. Aber es bleibt eine erst noch zu erörternde Sache, ob die Gemeinschaft begriffen werden kann im Ausgang von der Mitmenschlichkeit, also im Ausgang von einem Wesenszug des Einzelmenschen. Geht nicht eher die Gemeinschaft den einzelnen Mitgliedern vorauf, derart, daß sie jene in ihre Einzelheit und Gliedschaft entläßt? Oder ist auch diese ganze beliebte Antithetik, die bald den Vorrang des Einzelnen, bald den Vorrang der Gemeinschaft behauptet, unangemessen, weil sie mit Vorstellungen von ‚Ganzem’ und ‚Teil’ operiert, die ihre Ausweisung und ihre Gültigkeit bei solchem Seienden haben, dessen Seinsart prinzipiell von der des Menschen verschieden ist? [...] Ist die ‚Liebe’ ein romantisches Thema, das nicht einer ernsthaften philosophischen Frage zugänglich ist? Sie ist vielleicht ernster, als die frivolen Witzlinge glauben; man darf sie allerdings nicht verwechseln mit den kleinen Gefühlchen, die einen ab und zu im Spielfeld des Reizes anwandeln; sie steht immer in der Nachbarschaft des Todes, ja ist am Ende die innigste Weise, wie der Mensch um seine Sterblichkeit und zugleich Unsterblichkeit weiß.“, in: Fink, Existenz und Coexistenz, S. 21f. Fink führt Beispiele an, die das Beieinander verdeutlichen, so liegen z.B. Steine nebenund übereinander, wodurch sich ein Berg auftürmt. Oder mehrere Bäume, die einen Wald bilden. Hier wird es schon wegweisender: Bäume schlagen im selben Erdreich Wurzeln, sind alle auf dasselbe Wasser und Nährstoffe angewiesen, sie „konkurrieren“ miteinander. Der Wald schützt sich in seiner Dichte vor Sturm, bietet anderen Lebewesen Nahrung und Schutz, der Mensch kann Holz schlagen oder aufforsten. Siehe Fink, Existenz und Coexistenz, S. 49-57. Wälder, Berge, Tiere, schließlich der Mensch sind allesamt auf etwas verwiesen, das sie sein lässt. Fink zielt darauf ab, Mitmenschlichkeit als Gelichtetsein (im Sinne von Wahrheit) und Offenheit für das Sein der anderen zu verstehen, in dem sich der gemeinsame, wirhafte Seinsgrund kundgibt. Das Sein des Seienden ist jenes, das Ich und Du zu Selbstsein führt; sind Ich und Du des seinlassenden Seins gewahr, so stehen sie gewissermaßen im gemeinsamen Ursprung, der sich als Wir erweist. Priorität und Ursprünglichkeit des Wir betont in ähnlicher Weise Fridolin Wiplinger. Karl Baier weist allerdings darauf hin, dass in einer intensiven zwischenmenschlichen Beziehung ein umfassendes Wir gar nicht wahrgenommen wird, weil Ich und Du wechselweise dem anderen entspringen. Sein, Sprache und damit Liebe ereignen sich zwischen mir und dir, ohne auf einen Dritten, der uns auf uns selbst verweist, angewiesen zu sein. Doch: „Ich werde und bin ich selbst, indem ich von einem konkreten Du angeredet, gerufen, geliebt werde und darauf in Liebe antworte. Mein personales Sein hat seinen Ursprung in dir, wie auch deines in mir. Müssen wir nicht die Situation des von Angesicht zu Angesicht einander Zugekehrtseins verlassen, um, statt immer nur Du, Du zu sagen, uns beide als ein Wir zu konstituieren? Ist dazu nicht notwendig, daß uns ein Drittes oder ein Dritter in irgendeiner Weise anspricht und ein gemeinsames Verhalten zu ihm hervorruft, worauf hin wir uns nicht mehr im strengen Sinn zueinander, sondern sozusagen nebeneinander zu dem uns gemeinsam Angehenden verhalten?“, in: Baier, Karl: Fridolin Wiplingers personaldialogische Ontologie und die Frage nach der Materie, in: Vetter, Helmuth (Hrsg.): Heidegger und das Mittelalter : Wiener Tagungen zur Phänomenologie 1997. – Frankfurt/Main [u.a.] : Lang, 1999. – (Reihe der Österreichischen Gesellschaft für Phänomenologie ; 2), S. 103131, hier S. 113f. Das führt vielleicht zu der Annahme, ein außerhalb der Beziehung Stehender müsste Ich und Du daran erinnern, dass sie Ich und Du im Wir sind. Wiplinger wehrt diesen Einwand ab, im liebenden Miteinander „[...] erfahren wir uns freilich dann auch schon immer eben als wir-selbst, unser Selbst-sein, deines und meines, als gleichursprünglich im Sein mit dem Wir-sind.“, in: Wiplinger, Der personal verstandene Tod, S. 33. Das Wir-sind wird explizit als Grund und Möglichkeit für das Ich-selbst und Du-selbst genannt, folglich stellt das Wir etwas Absolutes dar, dessen Glieder zwar umwillen des Einander sind, sich aber unter das Wir stellen. So „[...] heißt Selbst-sein hier eigentlich ganz und gar nur noch Mit-sein als Wir-sind, gibt es das ‚ich selbst bin’ wie das ‚du selbst bist’ nur aus und in diesem, und zwar in allen Abwandlungen, Weisen und Modifikationen dieses Seins, so daß alle Prädikate, grammatikalisch ausgedrückt, hier nur noch den Sinn der ‚ersten Person des Plurals’ haben: wir möchten, wollen, tun, sehen, fühlen, erleben usw.“, in: Wiplinger, Der personal verstandene Tod, S. 65. 90 soll nicht unsicher durch zwei Extrempositionen führen, der in der Gefahr steht, von beiden Seiten vereinnahmt zu werden, will der doch die je einseitige Gefahr vermeiden. Die von Binswanger verwendete Analogieformel – je größere Wirheit, desto intensiveres Ich- bzw. Dusein – zeigt den Zirkel wechselseitigen Bedingens von Selbstheit und Wir an, welches logisch gefasster Kausalität nicht folgt. Begründendes und das daraus Folgende wird meistens einer mechanistischen Weltsicht zugeordnet, die ihrerseits eines unendlichen Regresses bedarf, der dann aber vor der Metaphysik versagt, der sie den Begriff der Kausalität verdankt.230 Statt vom Zirkel wechselseitigen Bedingens kann man treffender von einer Spiralbewegung sprechen, die ein dynamisches Geschehen (vgl. ἡ ύKraft, Vermögen, Talent, Wert) zwischen Ich, Du und Wir zum Ausdruck bringt. Bewegung zeigt sich als Leiblichkeit, gibt sich sprachlich kund, vernimmt den Anderen hörend, kurz: die Begegnung richtet sich zum Anderen, wendet sich ihm zu, bewegt sich auf ihn hin. Versteht man die Ausrichtung auf das Du als bleibende, statische, dann erstarrt sie und die Einmaligkeit von Ich und Du ist preisgegeben. Wird im Gegensatz dazu das Augenmerk nur auf die fortschreitende Begegnung beider zueinander gelegt, nimmt man nur den Wandel in ihr wahr. Dann befänden sich die Beziehungspartner in einem sich durchhaltenden Umbruch, der, einem Wirbel gleich, Ich und Du ihrer Konstanz beraubt. In Beziehung kann erst treten, der bereits Subjekt ist, Du eines Ich kann nur werden, wer bereits in der Begegnung steht. Bleibe ich in der Offenheit deines In-der-Welt-seins, vernehme ich hörend (nicht hörig!) dein Wort und stehe ich deiner Rede Antwort, dann wird mir meine Selbständigkeit bewusst und in ihr meine Verantwortung in Redlichkeit dir gegenüber. Das Ich-selbst dieser Art kann gar kein anderes sein als eine Gabe des Du – ich bin „von Deinen Gnaden“. Kann eine Relation zwischen zwei mündigen, vernunftfähigen Personen eine hörige sein? Positiv verstanden ist Hörig-sein ein „Zugehörig-sein“, ein Hören, daher Offensein für den, der etwas zu sagen hat. In meiner Fähigkeit und Bereitschaft, hören zu wollen, schaffe ich dir einen Raum, in dem du gehört wirst. Hören verlangt Antwort, in welcher Form auch immer. Erschöpft sich meine Antwort in unüberlegtem Bejahen oder risikolosem Verneinen, unterwerfe ich mich nicht dir, sondern zuvor dem, das ich kritiklos übernommen und erfüllt habe; ich höre nicht dich selbst, meine Aufmerksamkeit geht darauf, was ich gehört zu haben vermeine. Mit Hörigkeit geht Selbst- und Fremdverschlossenheit einher – ich bin mir selbst 230 Darüber hinaus stellt sich das mechanistische Weltbild Kausalität als Realzusammenhang in notwendiger zeitlicher Folge dar, die sich messen und festlegen lässt. Dass mithilfe dieser Kategorie die Begegnung zweier Menschen beschrieben werden kann, darf füglich bezweifelt werden: ordnet sich menschliche Begegnung – zumal eine als tatsächlich humane verstandene – einer Zeitfolge unter, dann ist sie nur als Zufälligkeit zu werten. Zufall des Begegnens entpuppt sich meistens als Unverbindliches; tritt doch Verbindlichkeit (Ernstnahme, Offenheit von Du und Ich) zutage, so kommt sie nicht in der zeitlichen Abfolge als dessen Nebenprodukt zustande. 91 und damit auch dir verschlossen. Verschlossenheit ist in einer personalen Beziehung erst möglich, sofern die Begegnung als grundlegende erfahren worden ist; nach Hinwendung zum Du ist Abwendung von ihm realisierbar.231 Das Gegenteil von Verschlossenheit ist die Entschlossenheit zum Du, das Aufgeschlossensein für dich. Worte wie Ent- bzw. Verschlossensein, Öffnung, „Hingabe“ an dich, Vereinnahmung durch den Anderen oder des Anderen sind, wenn man so sagen möchte, semantische Problemzonen: ihre Bedeutung gewinnen sie durch die Erfahrungen derer, die Beziehungen hinter sich haben, die in Beziehungen stehen und die, die auf solche hoffen. Selbstwerdung im Wir erfordert die Offenheit des jeweiligen Selbst für den Anderen, Offenheit wieder verlangt einen Wir-Raum, der sie zulässt. Denn Öffnung für das Du – das darf gesagt werden – ist als intimer Akt zu verstehen, d.h. ich öffne mich nicht dem „Nächstbesten“. Öffne ich mich dir, lasse ich uns Zeit und Raum, um die werden zu können, die nur wir in unserer Begegnung sind. Die Beziehung individualisiert derart, dass Ich und Du je neu und anders aus ihr hervorgehen. Wie bereits zuvor erwähnt, empfängt sich das Selbst als Gabe des Anderen. Die Konstituierung des Wir ist kein unbedingter Widerspruch zum Selbstsein, in Selbst-Hingabe und Selbst-Empfängnis ist dem Anderen dessen Selbst durchsichtig und ihm zugehörig. Abermals weist Binswanger auf die Rolle des Wir hin, diesmal in der Form der Treue. Wie den Begriff der Liebe, entlehnt er auch den der Treue einem ethischen bzw. allgemeinen Verständnis, nicht ohne ihn zu präzisieren. Treue meint das Selbst, das sich im Sich-Schenken durchhält, um sich so zu gewinnen. Treue schließt Beliebigkeit, Willkür, Unverbindlichkeit aus, der Empfang des eigenen Selbst durch dich bestätigt das Wir der Liebe. „Die Selbstheit Meiner-selbst und Deiner-selbst zeigt sich sowohl in der Treue des Sich-Schenkens (oder in der Treue im Sich-Schenken) als in der Treue zu sich selbst.“232 Treue stellt einen dreifachen Bezug her: 1) Bezug zum eigenen Selbst, 2) Bezug zum Anderen, als dessen Geschenk sich das Ich weiß, 3) Bezug zum Du in Verwirklichung dieser Treue. Treue – nicht empirisch oder ethisch gesehen – verbürgt innerhalb des DuBezugs die Akzeptanz seiner selbst: die Annahme meines Selbst, das ich von dir bekommen habe. Freilich ist umgekehrt auch die Verweigerung des eigenen Selbst möglich, in der ich mich wie dich verleugne. Die folgende Flucht vor sich selbst scheut ebenso das Du und zerstört das Gemeinsame. 231 Sympathie, Abneigung, Gleichgültigkeit anderen gegenüber finden hier den Grund, der sich uns als uns selbst gebender erweist, wie Heidegger sagt und auf den sich Binswanger hier bezieht. Siehe dazu: Wahn, in: AW 4, 433f, sowie Heidegger, Vom Wesen des Grundes. 232 AW 2, 112 92 Die wechselseitige geschenkhafte Annahme des Selbst führt bei aller und trotz aller Reziprozität zu Einsamkeit – es sei denn, man begreift das Wir als differenzloses Verschmelzen von Ich und Du.233 Die Betonung liegt auf dem Geschenkcharakter des Daseins, das ja schon eine Einsamkeit – Schenker und Beschenkter – impliziert. Als einsames geht das Selbst „mit sich selbst beschenkt“ aus der Dualität hervor. Mit dem Begriff Einsamkeit ist der mitunter vagen, unscharfen Terminologie ein weiteres Stück hinzugefügt, wird dieser Begriff doch vorrangig mit Verlassenheit, Isolation, Kontaktunfähigkeit oder -unwilligkeit konnotiert; Zustände also, die uns missgestimmt machen, die wir allzu gerne scheuen, aber dennoch erleben. Einsamkeit ist schlicht als Selbstheit zu sehen, an dieser Stelle wird in den Grundformen explizit Heidegger angeführt: „Nur weil Dasein als solches durch Selbstheit bestimmt ist, kann sich ein Ich-selbst zu einem Du-selbst verhalten. Selbstheit ist die Voraussetzung für die Möglichkeit der Ichheit, die immer nur im Du sich erschließt.“234 Die Wahl des Terminus „Einsamkeit“ hat demnach nichts mit Abgrenzung von der Mitwelt zu tun, die Binswanger als Verfallsmöglichkeit der Liebe sieht. Die auf die Spitze getriebene Einsamkeit, die ein Mensch für sich beanspruchen will, ist als solche nur als pathologische auszumachen. Binswanger grenzt Selbstheit von rücksichtslosem Verhalten ab, die sich gar nicht als von dir geschenkte erfahren kann, oder sich als eigenständige durchsetzen will, sodass „[...] diese Selbstheit sich nicht gründen kann auf so etwas wie Selbstbemächtigung; vermag doch keine ‚Macht der Welt’ Bemächtigung zu wandeln in Geschenk!“235 Gerade weil sie sich auf das Wir bezieht und von ihr abhängt, ist Einsamkeit nicht mit Alleinesein gleichzusetzen, wie aus der Wortwahl geschlossen werden könnte. In der erwähnten Zirkelbewegung streben das individuierte Ich und Du die Sehnsucht (vgl. das Phänomen des Eros) als Stätte der Selbst- und Wirwerdung an236, die sich im Zeichen der Gabe und des Empfangens realisieren. Die Wandelbarkeit einer Beziehung wird man nicht bestreiten, wenn man sie ernst nimmt. Dieser Satz zeigt lediglich wieder das Ausgangsproblem an, das Verhältnisgefüge von Ich-Du-Wir bzw. dessen Begründungszusammenhang. Die privativ missverstandene Einsamkeit opponiert und gefährdet die Zweisamkeit des Wir. Dagegen ist die durch das Wir individuierte Einsamkeit „[...] die im Wesen der Liebe gründende lebendig-dialektische 233 Siehe AW 2, 116-123 Heidegger, Martin: Vom Wesen des Grundes – 8., unveränderte Aufl. – Frankfurt/Main : Klostermann, 1995, S. 38. Kann man Heidegger auch nicht den Philosophen des Dialoges zuschlagen, so ignoriert er diese doch nicht; die Zollikoner Seminare und Vom Wesen des Grundes geben davon Zeugnis. In dessen letztem Absatz lesen wir: „Und nur das Hörenkönnen in die Ferne zeitigt dem Dasein als Selbst das Erwachen der Antwort des Mitdaseins, im Mitsein mit dem es die Ichheit darangeben kann, um sich als eigentliches Selbst zu gewinnen.“ 235 AW 2, 116 236 Siehe AW 2, 118 234 93 Gegenbewegung im Sinne der geschenkhaften Selbstmehrung des Eros [...].“237 Wir finden da weniger die Erklärung des Problems als vielmehr die nachhaltige Berufung auf den Mythos des Eros, der sich – in der Begegnung steigernd – als Raum des Wir herausbildet. Schmidt bemerkt dazu sehr aufmerksam: Die „lebendig-dialektische“ Bewegung, die sich zwischen der Selbstheit und der Wirheit vollzieht, bildet auch in der idealsten Form eine fragile Balance, die durch eine extreme Dynamik aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann. Zieht man zudem in Betracht, daß durch die ekstatische Entgrenzung die „lebendigdialektische“ Bewegung als ein Transzendenzprozeß verwirklicht wird, so stellt sich angesichts der forcierten Dynamisierung der Prozesse die Frage, wie diese Balance überhaupt möglich ist.238 Binswanger hält dagegen, die „empirische“, „weltliche“ Liebe, die de facto erfahren wird, sage nichts „[...] gegen die immanente Wesenszugehörigkeit von Einsamkeit und Zweisamkeit.“239 Solche „Wesensimmanenz der Liebe“ ist dem Ich und Du bereits eingeschrieben, mittels derer das Gleichgewicht von Selbst und Wir garantiert sein soll. Wer jedoch bestimmt definierend dieses Gleichgewicht? Weder Ich noch das Du noch das Wir kommen dafür in Frage – hieße das ja das Voraussetzen des zu Bestimmenden. Ungeachtet dessen reklamiert Binswanger eine „strukturbedingte, ich-duhafte Norm- oder Gestalthaftigkeit“240, die als Richtschnur der Begegnung eingesetzt wird. Woher und mit welchem Recht diese Norm kommt, wird verschwiegen. In gewohnter Manier bedient er sich des Begriffes, der nicht klar umrissen worden ist.241 Vermutlich ist von Maßgabe oder Norm die Rede, die die Beziehung nicht einengen will (im Sinne eines Liebesrausches oder -mystik) und die andererseits keine grenzenlose und so falsch verstandene Freiheit erlaubt, die die Beziehung in unkonkretes Allgemeines aufhebt. Die Treue als Wegbahn zum Du unterbindet eine nivellierende Totalität, zugleich ist in ihr die Selbstheit an das Du gebunden. Bildet die Dualität die Grundform menschlichen Daseins, so darf diese auch als Messlatte an den mitmenschlichen Umgang angelegt werden. Eine Norm wie sie in den Naturwissenschaften verwendet wird, ist sie deshalb nicht. Landläufig ist der Begriff der Norm – und damit auch der der Normalität – deckungsgleich mit dem, worin die Mehrheit der Menschen, Völker, Staaten, Gruppen übereinkommen. Damit ist 237 AW 2, 118 Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 192f 239 AW 2, 121 240 AW 2, 122 241 An sich ist so eine Methode oder Handhabe eine wissenschaftlich unlautere, die einen konfusen Umgang mit dem zu erörternden Thema verrät. Entweder deklariert man sich vor seiner Argumentation, oder man lässt sie eben bleiben. Unschärfe des Begriffes wird gerechtfertigt mit der Mehrdeutigkeit dessen, das erhellt werden soll – hier der Mensch. Die Philosophie, die das Menschsein in dessen Bezügen zu anderen sieht, hat eventuell sogar diese unabschließbare Mehrdeutigkeit als Voraussetzung ihres Unternehmens. Letztlich verlangt sie auch vom Interpreten das Sich-einlassen auf das, was zur Debatte steht, ohne in Begriffsverwirrung oder Argumentationsabbruch zu enden, ehe ein Dialog überhaupt erst angefangen hat. 238 94 das Durchschnittliche das Maßgebende.242 Durchschnittliches will Binswanger gar nicht erklären, es sei denn, man empfindet Liebe als solches, d.h. als Alltägliches, welches „einfach passiert“, oder man liebt das Durchschnittliche und nivelliert sich dabei selbst.243 In keinem der beiden Fälle hat man es mit Liebe zu tun – wie kann etwas oder jemand geliebt werden, das dem Verdikt des Mittelmaßes unterliegt? Der geliebte andere Mensch ist dann ein Du (einzigartig, unverwechselbar), wenn es aus der gleichmachenden Mediokrität heraustritt; das geschieht nur mit dem Ich, mit dem es das Wir bildet. Die Außergewöhnlichkeit des Miteinander, die sich letztlich auch zeitlich-räumlich manifestiert, kommt trotz allem nicht ohne einen Begriff von Norm aus. Außergewöhnliches entzieht sich leichthin und unversehens der Kategorisierung. Den Zug des Normativen führt Binswanger mit dem Begriff der „normativen Gestalthaftigkeit“244 ein; die Wortwahl „Gestalt“ deutet darauf hin, die Ich-DuBeziehung unter ein Ideal zu stellen, das sich im Konkreten kaum realisieren lässt. Lässt man die normative Gestalt so gelten, werden Grenzfälle oder Abweichungen von selbiger erklärbar. Normdevianzen führen zum Zerfall des Wir, das seinerseits nur als Selbstheit und Zweiheit denkbar ist. Die Überbetonung von Selbstsein zuungunsten der Dualität stellt Binswanger anhand zweier der Kulturgeschichte entnommenen Beispiele dar.245 Die erste Figur ist der hinlänglich bekannte Don Juan. In der Oper bejubelt, in der Literatur eine unverzichtbare Größe, ist er jemand, dem Einsamkeit fremd zu sein scheint. Er sucht rastlos Zweisamkeit, mit welcher Frau auch immer, seine Umtriebigkeit verwehrt ihm das Verweilen-bei, das Sich-einlassen auf ein Du. Eine Heimat im liebenden Wir ist ihm verschlossen, ebenso die Ich-Werdung am Du, weil er sich und dem Anderen die wechselseitige Selbstwerdung versagt. Die Hingabe des Eigenen und das Geschenk des durch den Anderen gewandelte Selbst gehen fehl, Don Juan fordert gleichsam Fremdkapital, ohne sein eigenes offengelegt zu haben. Der Don Juan provoziert die Hingabe des Anderen, ohne jedoch den gleichen Einsatz (sein Selbst) in der Hingabe zu geben. Die Hingabe des Anderen ist für ihn das Ziel der Zweisamkeit, in der aufgrund der Defizienz der Reziprozität die Selbstheit in der Liebe verfehlt wird. Der Don Juan bleibt der unerlöst Zweisame, weil er trotz der angestrebten Beziehung zum Du keine Erlösung in der Heimat der Liebe finden kann. Seine Selbst-Verwirklichung erschöpft sich in der beständigen Suche nach dem Du.246 242 Zum Begriff der Norm bzw. Normalität in der Diskussion zwischen Philosophie und Medizin siehe den Artikel Normalität von Hubertus Tellenbach in: Peters, Uwe Henrik (Hrsg.): Psychiatrie. – Weinheim ; Basel : Beltz, 1983. – (Kindlers „Psychologie des 20. Jahrhunderts“ ; 1), S. 68-79. 243 Wie schnell und lange anhaltend man in diese vermeintliche Liebe gerät und wohin sie führen kann, nämlich in die Falschheit und Uneigentlichkeit, zeigt Ibsens Stück Nora: „Wenn Sie einem Durchschnittsmenschen seine Lebenslüge nehmen, so bringen Sie ihn gleichzeitig um sein Glück.“, in: Ibsen, Henrik: Dramen. – In den von Ibsen autorisierten Übersetzungen von Christian Morgenstern [u.a.] – München : Winkler, 2001, S. 456. 244 AW 2, 122 245 AW 2, 120f 246 Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 195 95 Weigere ich mich, mich dem Anderen zu geben und meine Gabe (mein Ich) zu empfangen, so „überlasse“ ich mich weder dir, noch lasse ich mich auf meine Einsamkeit ein, das hat zur Folge, dass ich mich selbst nicht als dein Geschenk entgegennehme. Der Andere mag sich mir willig hingeben, nur versage ich, mich zu geben und damit den Anderen als Anderen wahrzunehmen. Die mangelnde Wechselseitigkeit verfehlt also das Selbstwerden von Ich und Du. Don Juan, auch seine Geliebten versagen vor dem Anspruch, Zweisamkeit in Einsamkeit zu leben und diese auszuhalten. Ein anderes, auch dem Extremen, eher Unwahrscheinlichen zuzurechnendes Existenzmuster ist das des „unerlöst Einsamen“. Verdeckt Don Juan sein unstetes Alleinesein (nicht Einsamkeit!) unter seinem Streben nach zweisamer Existenz, ist der unerlöst Einsame tatsächlich der umstandslos vor der Welt Kapitulierende. Ihn zeichnet jeglicher Verzicht auf Kontaktnahme mit anderen aus, ebensowenig wie unser Don Juan schafft er es, Einsamkeit als geschenktes Selbst in Zweisamkeit (gegenseitiges Schenken und Empfangen) zu gründen, wodurch dem Ich und dem Du der eigene Selbstand verwehrt bleibt. Als Reaktion sieht sich der abgeschottete Alleinige als bezugslosen Mittelpunkt seiner selbst in einer mit niemandem geteilten Eigenwelt. Von Eigenwelt kann da keine Rede mehr sein, Welt ist nicht meine, nicht deine, sondern als Welt-Habende sind wir unsere Welt.247 Ein Rückblick: das Kapitel stellt dreierlei vor: das Ich, das Du und das beide Umfangende. Durch die thematische Dreiheit bedingt, werden in ihm mehr Fragen gestellt als Antworten gegeben. Dennoch: Ich und Du sind reife, verantwortliche, eigenständige Subjekte; warum sind sie trotz ihrer Konstituiertheit dem Anderen verpflichtet? Konstituiertheit bei Binswanger korreliert mit der Jemeinigkeit des Daseins in Heideggers Entwurf. Deren Vollsinn erfüllt sich in Anbetracht der Jedeinigkeit, die das Meine fordert.248 Die Wechselwirkung – also gegenseitige Bereicherung – steht unter dem Wir. Zwischen die Eigentlichkeit des Daseins und seiner Verfallsform im Man setzt Binswanger das Wir der Liebe. Die Grundformen sind durch zahlreiche Anläufe geprägt, die Rettung der Eigentlichkeit aus dem Verfall an das Man zu versuchen. Eigentlichkeit – mit Binswanger: Einsamkeit des Daseins – verdankt sich der Antwort dir gegenüber, einer Verpflichtung (Treue), die dich wie mich dem Unpersönlichen 247 Diesbezüglich trifft Binswanger ein Phänomen unserer Zeit; Gedanken über Dialog und Gemeinschaft sind kein Vorrecht abendländischer Kultur, sie durchziehen und prägen jegliches, das Menschen miteinander aufbauen und pflegen. Beschränkt man sich auf Europa, liegt die Kunst klarerweise näher. Exemplarisch Bedeutsames finden wir in den Schriften Emmanuel Boves, Thomas Bernhards, E.M. Ciorans, in den Gedichten Trakls, in Dramen Ibsens, die die Scheingemeinschaft bloßlegen. Bei Alberto Giacometti wird die Einsamkeit paradoxerweise plastisch, zum Greifen nahe. 248 Siehe AW 2, 56 96 enthebt. Sind Ich und Du im Wir getrennt und doch geeint, so muss sich dieses Wir trotz aller Abgehobenheit ausweisen können. Wie manifestiert sich das Eigentliche, das liebende Miteinandersein in der Welt, die vorzüglich als unpersönliche, anonyme wahrgenommen wird? Ist Miteinandersein in solcher Sicht der Welt überhaupt erfahrbar, oder stört sie dieses? Ist das der Fall, so ist Liebe tatsächlich etwas Außergewöhnliches, mit dem nicht zu rechnen ist. Wir gehen mit Binswanger konform, dass es Dasein in Liebe und Respekt gibt und dieses auch dargelegt werden kann. Fragt man nach der Art und Weise dieses Daseins, kann als allgemeine Form seiner Erscheinung die in Zeit und Raum genannt werden. Jede Beziehung, jede Begegnung – das Wort sagt es bereits – hat ihren „Ort“ zu einer „bestimmten Zeit“. Es geht nicht darum, Ort und Zeitpunkt des menschlichen Miteinanderseins errechnen zu wollen, genauso gut könnte man einen Standort fixieren, den zwei Menschen zufällig unabhängig voneinander passieren. Das geläufige Verständnis von Raum und Zeit, so gerechtfertigt und sinnvoll es ist, greift hier zu kurz. 4.3 Räumlichkeit und Zeitlichkeit des Miteinanderseins 4.3.1 Zur Einführung Diskussionen über Raum und Zeit beanspruchen nicht nur allein Fachpublikationen, die Künste oder das Allgemeininteresse, sondern sind seit je prägend für den Menschen, der sich selbst zu verstehen sucht. Dass dabei immer wieder Missverständnisse und Vulgärinterpretationen entstehen, tut diesem Versuch keinen Abbruch, unter Umständen kann dieses ihn sogar bestärken. Im vorigen Kapitel wurde das Wir (Zwischen) thematisiert, darin sich Ich und Du zueinander verhalten. Das Wir deutet einen Raum an, in dem die Begegnung stattfindet und in dem die Begegnenden einander Zeit schenken, weil sie diese gemeinsam erwirken. Binswangers Verständnis von Räumlichkeit und Zeitlichkeit weist uns – dich und mich – dorthin, wo wir selbst dieser Raum in unserer Zeit sind. Jeder von uns befindet sich im Raum, wir sind demnach ein raumhaftes Miteinandersein. Gemeinsam einen Raum eröffnen bedeutet, dass du in meiner Nähe bist, in der du mir aber auch fremd werden kannst. Ob dieser Raum ein „einladender“ ist oder die in ihm Anwesenden Aversionen hervorrufen, der Raum ist es, in dem Beziehungen stattfinden. Klar ist, dass in einem so verstandenen Raum Menschen einander begegnen, Kontakte pflegen oder diese vermeiden; weniger klar ist, dass an diesen Raum kein Zollstab angelegt werden kann. Nähe, Ferne, Gleichmut sind formalwissenschaftlich schlicht nicht erreichbar. Der Raum ist kein fixer, in dem Objekte vorhanden sind, sondern einer, den Ich und Du miteinander „schaffen“. Er ist ebensowenig ein 97 Zimmer, das man betreten kann, er zeigt sich im Miteinandersein: „[Wir sehen, Anm.] den Zugebenden oder räumend Ein-räumenden die Gebärde der Überlassung machen, auf diese Weise ‚aus seinem Raum’ heraustretend und die Übergabe an den Raum des Andern vollziehend, während der Andere, ihm zugeneigt, die ‚Zu-gabe’ in Empfang nimmt.“249 Raum – nun ein zwischenmenschlicher – ist da, wenn man ihn betritt, er ist erschlossen, wenn er frei ist, d.h. nicht die Anwesenheit behindert.250 So ist er frei und damit offen; der Raum ist dann offen, wenn jene offen sind, die diesen Raum – d.h. unsere Existenz – begründen. In dieser Bedeutung scheint der zwischenmenschliche Raum „aufgeräumt“, indem er nicht den Blick verstellt, sondern freigibt für den Anderen. Der Raum, den ich dir gewähre, verdankt sich nicht einer gönnerhaften Geste meinerseits, die bis auf Widerruf Geltung hat. Dieser Raum bin ich, ich kann dir meinen Raum (und damit mich) eröffnen, ihn dir doch auch verwehren. Das deutet keineswegs Willkürakte an: verschließe ich meinen Raum und ineins meinen Leib vor anderen, so bin ich selbst verschlossen. Damit entsteht die paradoxe Situation, dass sich der Raum, den ich dir „anbiete“, um in ihm Du-selbst sein zu können, von vorneherein zerstört bzw. gar nicht etabliert wird. Ein vermeintlich schuldbewusstes nachträgliches Konzedieren des Raumes wird dem Anderen zu Recht suspekt anmuten. Bestimmt ist das Zurückschreiten aus dem gemeinsamen Raum häufig, sodass dieser nicht mehr wahrgenommen wird, auch diese Dialogverweigerung ist negativ noch an das Miteinander von Ich und Du gebunden. Der Räumlichkeit korreliert das Zeitlichsein. Hier geht es ebenso um den Grundvollzug des Menschen in Dasein als Offenheit, in der sich Zeit vollzieht. Parallel zur unhinterfragten Raumauffassung wird Zeit als Form der Ordnung und des Maßes – also als äußere Norm – genommen. Als Folge davon erscheint die Zeit als beständige Abfolge von Punkten, die jeweils ein „Jetzt“ darstellen. Dieses Zeitempfinden ist das lineare chronometrische, das mit dem Blick 249 AW 2, 16 Ob der Raum unser Dasein behindert, einengt, hemmt, d.h., ob wir uns selber in der Begegnung „klein machen“ oder einen Raum der Hoffnung eröffnen, zeigt Hölderlins Gedicht Der Gang aufs Land: 250 Komm! ins Offene, Freund! zwar glänzt ein Weniges heute Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein. Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes Gipfel nach Wunsch und leer ruht von Gesange die Luft. Trüb ists heut, es schlummern die Gäng und die Gassen und fast will Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit. Dennoch gelinget der Wunsch, Rechtglaubige zweifeln an Einer Stunde nicht und der Lust bleibe geweihet der Tag. In: Hölderlin, Gedichte, S. 109. Zumindest den „Rechtglaubigen“, jene, die einander ehrlich begegnen, ist eine Stunde in der Fülle des Tages gewährt. 98 auf die Uhr bestätigt wird. Die sichere, alltäglich durchaus brauchbare Zeit ist ein Moment des „noch nicht jetzt“ und des „jetzt nicht mehr“. Im wahrsten Sinn ist Zeit damit Vergänglichkeit. Der solcherart geübte Umgang mit Zeitlichkeit wie Räumlichkeit ist nicht nur angemessen und legitim, sondern nahezu geboten, will man sozialen, beruflichen, familiären Pflichten nachkommen. Trotzdem bekommen wir damit nicht das Eigentümliche der Zeit in den Blick. Zeit in dieser Fassung ereignet sich als ein Kommen und Gehen von Objekten, Begegnungen, Erfahrungen, die allesamt verdrängt werden, weil die Zeit eben fließend vorbeizieht. Binswanger versucht, die Gegenwart zu akzentuieren, in der andere präsent sind. Unter Berufung auf Buber weist er der Gegenwart „Wesenheiten“ (das Du) zu, die in dieser „gelebt“ werden, während hingegen die Welt der Dinge bereits in der Vergangenheit angesiedelt ist: [...] insofern der Mensch sich an den Dingen genügen läßt, die er erfährt und gebraucht, lebt er in der Vergangenheit, und sein Augenblick ist ohne Präsenz. Er hat nichts als Gegenstände; Gegenstände aber bestehen im Gewesensein. Gegenwart ist nicht das Flüchtige und Vorübergleitende, sondern das Gegenwartende und Gegenwährende.251 Miteinandersein in Liebe will doch Gegenwart, wenn nicht gar Unendlichkeit. Gerade in diesem Zusammenhang spricht Binswanger allerdings vom „Augenblick“ der Liebe, ein Wort, welches er übrigens Sein und Zeit entnommen hat252, dort trennt Heidegger die uneigentliche Gegenwart (Aufenthaltslosigkeit im Verfallen an das Man) von der eigentlichen Gegenwart des Augenblicks, in dem sich das Dasein aus dem Man im Entschluss zur Eigentlichkeit zurückgeholt hat. Wenn auch irreführend definiert, hat der Augenblick keinen temporalen Charakter im umgangssprachlichen Sinn. Augenblick, und das ist für das Verständnis Binswangers relevant, bedeutet [...] Entrückung des Daseins an das, was in der Situation an besorgbaren Möglichkeiten, Umständen begegnet. Das Phänomen des Augenblicks kann grundsätzlich nicht aus dem Jetzt aufgeklärt werden. Das Jetzt ist ein zeitliches Phänomen, das der Zeit als Innerzeitigkeit zugehört: das Jetzt, „in dem“ etwas entsteht, vergeht oder vorhanden ist. „Im Augenblick“ kann nichts vorkommen, sondern als eigentliche Gegen-wart läßt er erst begegnen, was als Zuhandenes oder Vorhandenes „in einer Zeit“ sein kann.253 Bedeutsam ist dieser Passus für jede Philosophie der Begegnung, zumal im Augenblick „besorgbare Möglichkeiten und Umstände“ begegnen – mit anderen Worten: es begegnet mir der Andere – jetzt natürlich nicht als etwas zu Besorgendes (Innerweltliches), sondern als einer, 251 Buber, Das dialogische Prinzip, S. 16f. Buber stimmt hier mit Heidegger überein, der uneigentliches Gewärtigen vom eigentlichen Zeitigen als das Sich-zurückholen des Daseins aus der Verfallenheit scheidet. 252 Siehe AW 2, 36-40 und Heidegger, Sein und Zeit, S. 328: „Entschlossen hat sich das Dasein gerade zurückgeholt aus dem Verfallen, um desto eigentlicher im ‚Augenblick’ auf die erschlossene Situation ‚da’ zu sein.“ 253 Heidegger, Sein und Zeit, S. 338 99 den ich in sein Eigensein freigebe und damit sein zu lassen habe.254 Dem Augenblick wird die Qualität einer Über- bzw. Außerzeitlichkeit zugesprochen, überdies ist er kein „innerweltlicher“, auf den man warten kann, bis er „endlich da ist“: Dieses Angekommensein [des Augenblicks, Anm.] ist nun aber ebensosehr ein Nieweg- oder Immer-schon-da-gewesen-sein. Beide Modi der (Über-)Zeitigung zusammen, das Angekommen-sein und das Immer-schon-da-gewesen-sein, konstituieren erst den ewigen Augenblick, die Heimatlichkeit der Liebe.255 Formulierungen von Räumlichkeit und Zeitlichkeit kann sich Binswanger in dieser Art nur leisten, weil er sie der Sorgestruktur des Daseins bei Heidegger enthebt, diese aber noch voraussetzt – er spricht dann vom „In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-Sein“.256 Das In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-Sein verrät jene drei Zeitformen, die in der Grammatik definiert sind, die wir verwenden, die wir vor allem aber leben und die uns prägen: 1) Dasein als Sein bei den Dingen, beim Anderen, 2) Dasein dessen, der wir gewesen sind und uns als solche durchhalten, 3) Dasein als Gewärtigen des Kommenden. Diese Dreiheit ist keine Abfolge von jeweils als Jetzt erfahrenen, linear verlaufenden Punkten, die noch dazu umkehrbar wäre; sie offenbaren sich mir als ein „Zugleich“, die im Gegenwärtigen zusammentreffen.257 Das Gewesene wie das Kommende sind einerseits verborgen, entzogen, teils versteckt oder verdrängt, fern und unberechenbar, doch in all diesem gleichwohl anwesend. Die moderne Daseinsanalyse versteht darunter: „Wir können nur erwartend, behaltend, erinnernd usw. in das Kommende und das Gewesene hineinreichen, weil das Menschsein in sich selbst zukünftig ist und dabei in der Gegenwart auf sein Gewesenes zurückkommt und es in die Zukunft hineinnimmt.“258 4.3.2 Miteinandersein als räumliches Dasein selbst bestimmt sich und findet sich als räumliches und zeitliches, als Sein bei den Dingen (Umwelt) und bei anderen (Mitwelt). Die Dichotomie von Ding und anderer führt zu einem differenzierenden Verständnis von Räumlichkeit und Zeitlichkeit, wenn man der Beziehung zwischen Ich und Du gerecht werden will. Binswanger spricht mit Heidegger, um gleichzeitig gegen ihn zu argumentieren. Räumlichkeit wird stets mit der Vorstellung assoziiert, etwas befinde sich in etwas Größerem, Tragendem, Umfangendem. Diese Idee ist keineswegs irrig, solange sie auf den geometrisch messbaren Raum bezogen bleibt. Was aber 254 Genaueres dazu in der Studie über den Wahn, in: AW 4, 433 AW 2, 83 256 AW 2, 452 257 Näheres in den Zollikoner Seminaren, S. 84-86 258 In: Österreichisches Daseinsanalytisches Institut (Hrsg.): Existentialien im Überblick, S. 5, abrufbar unter: www.daseinsanalyse.at/joomla/images/DOKUMENTE/Existentialien.pdf, Abrufdatum: 25.03.2014 255 100 meint Heidegger und mit ihm Binswanger? „Das Sein des Daseins besagt: Sich-vorweg-schonsein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)“.259 Das Dasein ist nicht in der naturwissenschaftlich verstandenen Welt, etwa als tierhaftes Lebewesen oder Ding, im Gegenteil: das In-sein ist nicht Attribut, sondern ist die Seinsverfassung des Daseins, das „In“ bezeichnet ursprünglich „wohnen bei...“, „vertraut sein mit...“ der Welt.260 Obschon Heidegger das Mitsein hervorhebt, ist er Binswanger nicht konsequent genug. Heidegger bleibt sozusagen auf halbem Wege stehen, weil er unter „Welt“ die Welt der Sorge versteht, in der innerweltlich Begegnendes besorgt wird, während anderen die (vorspringendbefreiende bzw. einspringend-beherrschende) Fürsorge gilt. Beide Denker kommen in der Ablehnung des Raumverständnisses Descartes’ überein, das auf mathematischer Berechenbarkeit fußt. Die Ausdehnung (extensio) der körperlichen Substanzen ist die Seinsverfassung schlechthin, die als bloß vorhandene gedacht wird. Die Relation zwischen Körperdingen ist das Vorhandensein nebeneinander, die sich durch Ortsveränderungen gegenseitig verdrängen. Dieser mathematisch zu verstehende Gedanke Descartes’ bringt Binswanger auf die populär-vulgäre Idee des „einseitig imperativischen“ Wegdrängens des anderen, um die eigene Machtposition (im geometrischen Raum) zu bestärken.261 Bleiben wir vorerst noch bei Heideggers Raumverständnis. Durch die „Weltlichkeit der Welt“ ist Raum „gegeben“, Dasein steht in räumlichen Beziehungen – in denen der Ferne und der Nähe –, „[...] wobei sich diese Nähe und Ferne aus ihrer je eigenen Weise des In-der-Weltseins ergeben, dadurch also, daß sie sich auf diese Dinge als auf nähere und fernere beziehen, daß sie die Nähe und die Ferne in ihrer eigenen Leiblichkeit austragen.“262 Inwieweit In-derWelt-sein ein „In-die-Welt-sein“ ist, zeigt Heidegger anhand der Entfernung in aktiver und transitiver Bedeutung: Entfernen besagt ein Verschwindenmachen der Ferne, das heißt der Entferntheit von etwas, Näherung. Dasein ist wesenhaft ent-fernend, es läßt als das Seiende, das es ist, je Seiendes in die Nähe begegnen. [...] Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe.263 259 Heidegger, Sein und Zeit, S. 192 Heidegger, Sein und Zeit, S. 54. So auch Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, S. 53: „Das Dasein ist als In-der-Welt-sein vielmehr immer schon bei den Dingen. Wie es immer schon bei den Dingen ist, so ist es auch immer schon mit anderen. Es ist nicht ein Ich, das erst noch die Beziehung zu anderen Menschen aufnehmen müßte, sondern primär im Mitsein mit anderen.“ 261 AW 2, 16 262 Guzzoni, Ute: Das Verhältnis von Raum und Kunst beim späteren Heidegger, in: Vetter, Helmuth (Hrsg.): Siebzig Jahre Sein und Zeit : Wiener Tagungen zur Phänomenologie 1997. – Frankfurt/Main [u.a.] : Lang, 1999. – (Reihe der Österreichischen Gesellschaft für Phänomenologie ; 3), S. 189-204, hier S. 190. Was den Raum betrifft, bringt Heidegger die Leiblichkeit des Menschen ins Treffen, Räumlichkeit und Leib stehen in einem Verhältnis, das bei Binswangers Erörterungen von defizienten Daseinsmodi eine tragende Rolle spielt; vgl. dazu AW 1 und AW 4 sowie die Zollikoner Seminare. 263 Heidegger, Sein und Zeit, S. 105 260 101 Das Präfix „ent-“ in der Ent-fernung zeigt das Gegenteil von Ferne, Distanz an, wird ein Objekt entfernt, dann zeigt sich die Nähe dessen, welches durch das Objekt „ver-stellt“ wurde. Ist das Dasein auf Nähe hingeordnet, in der Seiendes begegnet, bekommt Räumlichkeit den Wert des „Raum-gebens“ oder „Einräumens“. Der substantivierte Infinitiv – wie ihn Heidegger so oft verwendet – lenkt unser Verständnis auf den verbalen, den Geschehenscharakter des Raumes; Raum ist so auf den Menschen „angewiesen“ bzw. sie bedingen einander – kein Dasein ohne Räumlichkeit und umgekehrt. Das In-der-Welt-sein zeigt sich als Offenheit, in der Seiendes sich zeigt und begegnet. Dasein als Raumgebendes räumt ein, gibt frei, behält, entlässt ins Offene des Daseins und stellt es dem Anderen frei, in der Offenheit hervorzukommen: „[...] ein Auf-uns-zukommen, Ankommen, Sich-geben, Zusprechen und zwar des Bereichs sowohl wie des in ihm Begegnenden –, dem wir durch ein aktives Seinlassen, Aufnehmen, Erwarten entsprechen.“264 Die Bestimmung menschlichen Daseins als welt-offenes, einräumendes, welches anderes sein lässt und in diesem ihrem Sein bewahrt („belässt“), hat sich in der Gefolgschaft Binswangers durchgehalten.265 Liegt der Sinn menschlichen Existierens im Offensein für das in der Welt Begegnende – vornehmlich personales Sein –, kann das zunächst verwunderlich anmuten. Von Geburt an sind wir mit anderen Menschen, sind offen für sie und orientieren uns an ihnen.266 Das geht uns als Selbstverständliches auf, bedarf daher keiner weiteren Erläuterung. Erst wenn das Dasein selbst infrage steht, wird es sich seines bislang fraglos übernommenen Grundes bewusst. Ich und Du gründen in der Grundweise der Dualität: „Obwohl oder gerade weil der eigentliche Modus des Menschseins, ist der duale Modus der versteckteste, ja erdrückteste.“267 Die Grundform des Daseins als Ich und als Du hat Heidegger – zumindest in Sein und Zeit – nicht herausgestellt, es „[...] bleibt im sozialen Kontext bis auf das strukturelle Mitsein mit Anderen, das im In-der-Welt-Sein implizit eingewoben ist, relativ isoliert.“268 Binswanger begreift Liebe sehr unspektakulär, er gibt keinen leitenden Begriff an, sondern erfährt sich selbst als Fragenden: „[...] das Fragen nach dem Dasein [empfängt, Anm.] gerade aus diesem Sein die eigentlichen Direktiven.“269 Das Fragen wird demnach wegweisend bleiben. 264 Guzzoni, Das Verhältnis von Raum und Kunst beim späten Heidegger, S. 195 So bei Boss, Grundriß der Medizin und Psychologie, S. 243 und S. 247 266 Bedeutsam der Ursprung des Wortes „orientieren“: orior, oriri wird übersetzt als: sich erheben, aufgehen, sichtbar werden, sich zeigen, entstehen, wachsen. Der Orient ist jener Erdteil, in dem die Sonne – nach unserer Zeitmessung – früher aufgeht. Es mag angehen, dass „Orientierung“ kein blindes Nachahmen dessen ist, was andere tun oder sagen, sondern dass wir auch an ihnen wachsen, uns mit ihnen messen, sofern sie sich uns zeigen. 267 Der Fall Ellen West, in: AW 4, 152 268 Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 138 269 AW 2, 13 265 102 Wie oben angedeutet, ist das Einräumen, Raum-geben, das Gewähren für das Miteinandersein wesentlich. Binswanger insistiert, dass Einräumen des Einander keine je einseitig konstituierende Intentionalität ist, die sozialphilosophisch etwa vertraglich ausbedungen werden kann – dieses wäre dann der Willkür des jeweiligen „Daseinspartners“ unterworfen, der sich öffnet oder verschließt. Quasi als Forderung schreibt Binswanger, „[...] daß Dasein ursprünglich, d.h. ohne den ‚Umweg’ über Welt und Selbst, das Da des Miteinander einräumt.“270 Die dialogische Rauminterpretation wird durch die Verszeile E. BarrettBrownings, von Rilke übertragen, präzisiert: „nur wo du bist, entsteht ein Ort“271. Ein-räumen führt vom Anderen, dem ich Platz gewähre, Aufmerksamkeit schenke, zurück zu mir, der ich dir Ort, Heimat, Nähe biete – die Gabe von eigenem Raum und von eigenem Selbst vermehrt und steigert unseren Raum (der sich selbst mehrende Eros, oder auch Gnade, Gabe des Selbstseins im liebenden Wir). Auffallend an der Gedichtstelle ist der Ort, der deiner und meiner ist, wir bilden miteinander unsere gemeinsame Welt. So sehr diese Welt exklusiv nur uns beide umspannt, so sehr verlässt sie das In-der-Welt-sein. Tatsächlich ist dieser Gedankengang befremdlich, auch schon deshalb, weil diese Form des Miteinanderseins eine Räumlichkeit zum Ausdruck bringt, die keineswegs alltäglich anzutreffen noch empirisch herleitbar ist. Indes ist dies kein Einwand gegen die Erfahrung liebenden Miteinanderseins, denn Liebe kann ebensowenig wie Indifferenz oder Abneigung logisch aufgewiesen werden. Das Wir, das im Anwesen von Ich und Du wächst, führt zum Verlassen und Hintersich-lassen des von der Sorge bestimmten Raumes, also das In-der-Welt-sein. Der zwischenmenschliche Raum ist kein eingeengter, bedingter, hier haben Ich und Du keinen „Spielraum“, d.h., will ich einer Begegnung standhalten, so muss ich im gemeinsamen Raum verbleiben. In einem uneingeschränkten Raum gibt es so etwas wie einen fixen Punkt nicht, weshalb Binswanger behauptet, dass Liebende „überall und nirgends zuhause“ sind: „Der Raum, den sie sich gegenseitig erzeugen, ist ihre Heimat.“272 Diese Räumlichkeit ist nicht die des In-der-Welt-seins, in der Zuhandenes im Rahmen des Verweisungszusammenhanges besorgt wird – der andere zeigt sich ja nicht als Um-zu-Struktur, wenngleich ich so an ihn herangehen kann. Tue ich das, verfehle ich den anderen als anderen und gebrauche ihn eventuell als Werkzeug oder als Arbeitskraft. Aber: jedes wie auch immer geartete oder vollzogene Miteinander ist vom Fundament des Dialoges getragen. Das Dasein im Wir als Heimat bedeutet das Erschlossensein des Da für uns selbst, wobei „Heimat“, „Ort“ nicht als Amalgam zweier unabhängiger Subjekte zu verstehen ist. 270 AW 2, 21 Barrett-Browning, Liebesgedichte, S. 21 272 AW 2, 62 271 103 Zugunsten des Wir wird von der Jemeinigkeit abgesehen: „Ja schon die Rede von der Jemeinigkeit des Daseins bekommt ihren vollen Sinn erst aus der gleichursprünglichen Jedeinigkeit, d.h. aus der ursprünglichen Daseinsverfassung des Daseins ‚in erster und zweiter Person’.“273 Begegnen einander Ich und Du in der Welt und nehmen sie ihre Beziehung wahr, derzufolge sie jene sein können, die nur sie sind, dann muss sich diese Beziehung als solche zeigen, die vom In-der-Welt-sein als Mitsein verschieden ist. Dem Anschein nach ist Existenz zweierlei: erstens ein Dasein als individuelles Einzelnes, das koexistiert, dessen Mitsein doch zur Isolation tendiert. Zweitens bedeutet Existenz das Dasein, dem im Offenheitsbereich des Wir liebendes Miteinandersein mit dem Anderen widerfährt, in dem wir in die Seinsweise – durch wechselseitige Förderung, Anerkennung und Würdigung – gelangen, die alleine uns angemessen ist. Das Bewahren und Schätzen des je Eigentlichen ist dann erst realisierbar, wenn ich dem geliebten Du auf entsprechendem Niveau Antwort zu geben vermag. Jemeinigkeit finde ich nicht da, wo ich mich beneiden oder bestaunen lasse, um andere für mich zu gewinnen. Jemeinigkeit als Ganzheit, als Eigentliches steht kontradiktorisch zur Auflösung in ein undifferenziertes Wir, hier würde der sich entfaltende gemeinsame Raum eingeengt, geschwächt, letztlich eine isolierte Kapsel, in der Ich und Du nicht als Einzelne erkennbar sind. Leichtfertige Auffassungen sehen im Ganzen, in der Einheit, in Totalität und Absolutem den unversöhnlichen Gegensatz zu Individualität, Einzelheit, Teil und Isolation. Abseits der Kontroverse „Allgemeines-Einzelnes“ soll darauf hingewiesen werden, dass das liebende Wir keinen Widerspruch bildet, solange es sich der Mehrung seiner selbst verpflichtet weiß. Fruchtbarkeit, Wachstum, Ausdifferenzierung, Originarität ist das Wesen der Liebe. Das Gewachsene, also Frucht, Ertrag, Sinngewinn durch Auseinandersetzung mit dem Du bleibt mit dem Stamm, in der Quelle verwurzelt und ist dennoch eigenständig. Aber nicht die Tatsache, daß die Geliebte sät und daß es im Liebenden keimt (und umgekehrt), ist das Entscheidende für uns, sondern die Bedingung, die diese Tatsache, das Säen und Keimen, möglich macht, die Liebe (als apriorische Seinsbedingung). Wir haben noch lange nicht alle tatsächlichen Einzelzüge dieser Selbstmehrung oder Fruchtbarkeit der Liebe beschrieben und können sie auch nicht beschreiben, denn sie sind „unbeschreibbar“.274 Liebe als – eingestandenermaßen unausgewiesene – „apriorische Seinsbedingung“ muss so eine Doppelfunktion erfüllen: sie zeichnet verantwortlich für das In-der-Welt-sein und mehr noch ist sie der Boden derer, die abseits dessen einander begegnen und damit „nicht mehr in 273 274 AW 2, 56 AW 2, 68f 104 der Welt sind“.275 Damit ist nichts Geringeres als das Transzendieren der Welt gemeint, oder: das Transzendieren des Daseins, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Verfolgt man dieses Transzendieren, dann steht man tatsächlich vor dem Nichts. Binswanger spricht dennoch von einem Wir, von einer „Ur-Begegnung“276. Vor welchem Nichts stehe ich da – ein das Sein beraubendes (nihil privationis), ein Übel (nihil qua privatio boni), ein nichtendes Nichts (nihil absolutum)? Nichts bedeutet hier das nihil relativum, ein Bezogen-sein-auf, also keine absolute Verneinung. Weiters bedeutet nihil relativum nicht etwas Ausschließendes, kein strenges Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Dasein ist In-der-Welt-sein und liebendes Miteinandersein zugleich, daher müssen sich auch Räumlichkeit und Zeitlichkeit in beiden „Seinsweisen“ ereignen. Stehe ich in der Begegnung dir gegenüber, zeigt sich mir das nihil relativum. Angesichts deiner ist mir meine bislang vertraute Welt fremd geworden – gewissermaßen ein Nichts. Meine neue Welt ist nunmehr die deine, also unsere gemeinsame, die mir gerade deshalb neu ist. Deine, unsere Welt ist insofern ein Nichts, weil ich keine bisher durchgemachten Erfahrungen in ihr geltend machen kann, die in diesem neuen Raum Bestand hätten. Gleicherweise trittst du in eine neue Welt ein. Das relative Nichts bildet das Bindeglied zwischen In-der-Welt-sein und Über-die-Welt-hinaus-sein. Die Sorge ist in „Sein und Zeit“ die Ganzheit des Strukturganzen des In-der-Weltseins. Indem das Dasein als Liebe das Dasein als Sorge transzendiert, überschwingt es das In-der-Welt-sein. Darin liegt zwar einerseits daß es nicht schlechthin unabhängig vom In-der-Welt-sein ist. [...] Andererseits aber kann das liebende Dasein, wenn es Überschwingen des In-der-Welt-seins ist, nicht selber In-der-Weltsein, nicht in sich Sorge sein.277 Binswangers Begriffe – Transzendenz, In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-sein, Unendlichkeit – sind leicht zu verwechseln, also diesbezüglich nicht hilfreich. Diese Termini stellen eine Nähe zur Weltjenseitigkeit, vielleicht sogar Weltflucht dar, weshalb er nachschickt: „Verharren Ich und Du in dieser ‚Weltabgeschiedenheit’, so zehren sie einander auf, stirbt die Liebe an ihrer eigenen Exklusivität.“278 Man darf sich das nicht als räumlich-zeitliche „Verlagerung“ liebenden Miteinanderseins vorstellen, das vermögen selbst die Liebenden nicht nachzuvollziehen. Transzendenz ist mystisch-religiös, leichthin irrational konnotiert, das 275 Dem Urteil über seine eigene, durch die Liebe bedingte Weltjenseitigkeit enthält sich Binswanger. Die Überproportionalität der Welt der Liebe im Vergleich zur alltäglichen, konformen Welt, ergibt sich aus dem Thema, doch weiß er auch letztere zu schätzen: „Wie immer man nun das Verhältnis von liebender und ‚weltlicher’ Räumlichung auch beurteilen mag, und wie verschieden es sich auch empirisch gestaltet, für uns kommt es hier nur darauf an, an der Räumlichung der Liebe überhaupt zu zeigen, daß die Fülle der Liebe und die Weltlichkeit der Sorge nicht ‚zwei getrennte Welten’ ausmachen, sondern daß das Dasein in beiden zugleich ‚west’ und ‚weltet’ [...].“, in: AW 2, 69. Man beachte die Heideggerschen Termini „wesen“ und „welten“! 276 AW 2, 88 277 Theunissen, Der Andere, S. 450 278 AW 2, 85 105 Unendliche eine Größe der Mathematik. Zwar kann sich in der Liebe eine Transzendenzerfahrung bekunden, sie fügt sich jedoch nicht in eine mathematische Rechenoperation.279 Die zwischen Weltabgeschiedenheit und -zugewandtheit wechselnde Begegnung transzendiert die einseitige Konstitution des Anderen, in dieser Aufgabe kann sie nur vom In-der-Welt-sein abgeschieden sein, das auf Besorgendes, Uneigentliches, Zerstreutes gerichtet ist, in dem sich alltägliches, unreflektiertes Dasein aufhält. Dasein in seiner Eigentlichkeit heißt bei Binswanger Begegnung mit dem liebenden und geliebten Du. Ein Dreischritt soll diese Opazität etwas aufhellen: 1) die räumliche Dimension bildet 2) das Wir und 3) das Begegnen im Raum der Liebe. Die dürren und kahlen Formulierungen, in denen von Räumlichkeit die Rede ist, geben nicht den Raum des Menschen wieder, der sich in solchen Ausdrücken schwerlich fassen lässt. Das dem Anderen Raum-geben kommt dem Phänomen der Koexistenz bereits wesentlich näher (das Gegenteil dazu: Das Raumnehmen, die Machtfülle), hier haben Ich und Du ihre Heimat, die von welt-räumlicher Nähe und Ferne unabhängig ist. Paradoxerweise benennt Heimat den „unendlichen Raum“ der Liebe, die Adjektiva „unendlich“, „unerschöpflich“, „unermesslich“, „unergründlich“ entnimmt Binswanger auch der Dichtkunst, in der Liebe einen angestammten Platz innehat. Obgleich es um menschliche Existenz geht, ist auch die poetische Sprache zuweilen nicht treffsicher. Mit Recht schreibt Theunissen: „Die phänomenalen Tatsachen, die diesen [poetischen, Anm.] Sprachgebrauch rechtfertigen sollen, sind auch nur wieder negativer Natur.“280 So bleiben wir der in diesem Kontext unbestreitbaren Tatsache treu, dass Existenz das ist, was sie ist, indem sie vieles nicht ist. Binswanger gibt nun doch recht anschauliche Beispiele des Räumlichen an, die keineswegs metaphorischen Charakters, sondern von existentieller Tragweite sind: Höhe, Weite und Tiefe.281 Er vergleicht Liebe mit Tiefe und Weite des Meeres, das daraus seine Fülle und sein Wesen erhält. Das Meer ruht nicht in sich, es lässt tierisches und pflanzliches Leben in sich gedeihen, das wiederum dem Menschen als Nahrung dient. Ferner nutzt der Mensch das Wasser als Verkehrsweg oder Energiequelle usw. Der Vergleich ist nicht unklug gewählt: je weiter und je tiefer sich Liebe entfalten kann, desto fruchttragender wird sie – dies ist nicht in der Bedeutung von sexueller Fortpflanzung gedacht, als ob Liebe allein darin bestünde, der Nachkommenschaft verpflichtet zu sein. Sicher lebt auch der Einzelne seine weite, tiefe Existenz, diese liegt allerdings brach; zweisam erst wird Liebe als Fülle urbar. Dass liebendes 279 Das Heranziehen dieser Begriffe stellt an sich schon jene Irritation dar, die unser vages und unsicheres Verhalten gegenüber Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Liebe verrät. 280 Theunissen, Der Andere, S. 452 281 AW 2, 63-71 106 Wir gepflegt und respektiert werden muss, zeigt sich am Beispiel des Wetters, um bei dem Bild des Meeres zu bleiben: ein Seesturm macht Schiffe manövrierunfähig, überschwemmt Landstriche und zerstört damit die Lebensgrundlage der dort ansässigen Menschen. Es liegt in den Händen der Beziehungspartner, ihre Liebe zu bewahren, ohne andere unter ihr leiden zu lassen.282 Zur Tiefe verhält sich die Höhe nicht als Kontrapunkt, sondern sie ist deren Ergänzung, keine Tiefe ohne Höhe. So kann das Meer nur befahren werden, wenn ein Standpunkt oberhalb des Meeres eingenommen wird, dem sich die Weite eröffnet. Auch die Höhe, die die Liebe umfängt, steht in der Gefahr, dieselbe in ihrer Fülle zu beeinträchtigen, indem sich die Liebe über- oder unterschätzt. Setzt zum Beispiel ein Stabhochspringer die Latte zu niedrig, ergibt das eine sinnlose Bewegungsabfolge; setzt er sie zu hoch, wird er sie nie überwinden. In beiden Fällen wird aus jeder Bemühung nichts, dementsprechend würde auch das liebende Wir vor sich selbst versagen. Hält Liebe ihre Räumlichkeit „nicht aus“, wird sie Vermessenheit, in der Ich und Du nicht das entsprechende Maß halten, wodurch ihre Begegnung verflacht, kleingeistig und mutlos wird. Oder sie nehmen ihre Begegnung nicht ernst und scheitern am Unerreichbaren, Illusionären.283 Liebendes Dasein, das sich aus Illusionärem, vermeintlich Eigenem speist, geht an sich selbst zugrunde. Liebe ist nicht Für-mich-sein, nicht Für-Dich-sein, es ist das Dasein als Miteinander, das sich mehrt und selbst beschenkt.284 Liebe als Grundform menschlichen Daseins ist kein Idyll, kein naiver, wohlmeinender Gemütszustand. Um dem Phänomen des liebenden Wir zu entsprechen, fragen wir am besten bei ihm selbst an: Hier hören wir wieder den ἔἑὸὔ, den Sich-selbst-Mehrer Eros. Aber um was für ein Sich-Selbst handelt es sich hier? Die Antwort kann nur lauten: Um das Sich-Selbst des Einander, des Daseins als unserem, als Deinem und Meinem, dieses Und natürlich nicht in additivem Sinne, sondern phänomenologisch verstanden.285 Der Rückgriff und die Berufung auf den Eros, in dem die Liebenden zueinander finden, ist für Binswangers Argumentationsleistung gut und folgerichtig. Durch den Eros nämlich finden sich die durch den Abfall vom Göttlichen geteilten Menschen, die vordem einig waren, wieder.286 Zuvor waren die Menschen – also Ich und Du – mängelbehaftete Wesen, weswegen sie zueinander streben, um einander zu ergänzen. Diese „Hilfeleistung“ Platons führt Binswanger 282 Selbiges gilt übrigens auch für die anderen, die nicht in dieser Liebe stehen – eben die Liebe zu zerstören oder mit Missgunst darauf zu warten, sie bloßstellen zu können. 283 Eine Vielzahl von Fallstudien an Patienten, die an der Vermessenheit scheitern findet sich in den Drei Formen mißglückten Daseins in AW 1, dazu zählen Verstiegenheit, Verschrobenheit und Manieriertheit. 284 Siehe AW 2, 65. Die Exklusivität des liebenden Daseins ist bewusst betont, erst im „freundschaftlichen Miteinandersein“ wird die ausschließliche Liebe den anderen eröffnet. 285 AW 2, 65 286 Platon, Das Gastmahl 201D-212C 107 unmittelbar zu Heraklit, dem er seine Formel vom „Selbstmehrer Eros“ schuldet.287 Die Liebenden, die sich im Eros sammeln, mehren sich, vor allem mehren sie ihre Liebe, ihr Seinmiteinander, das sich stets neu – daher unvollkommen und strebhaft – als solches bewährt. Mehrung seiner selbst setzt voraus, dass etwas „mehrheitsfähig“ ist; diese Fähigkeit der Mehrung (auctus) liegt nicht in der Verfügungsmacht des Ich, auch nicht in der des Du. Stehen Ich und Du im Wir, so wird beiden diese Mehrung, oder Vervollkommnung an Sein, Akzeptanz, Reziprozität „zugespielt“ von einem Grund, der ihnen unverfügbar ist, ansonsten wäre Mehrung in der Hand des einen oder des andern, auf keinen Fall aber Mehrung (Steigerung des Selbst durch und im anderen), die wir leisten. Positiv gesagt: je intensiver uns unsere Mehrung umfasst, desto näher rückt die Vertrautheit, in der wir die Differenz von Ich und Du in der Einheit des Wir wahrnehmen. 4.3.3 Miteinandersein als zeitliches Der Anstoß der Dauer ist das, was mir gefehlt hat. Wer nie die Dauer erfuhr, hat nicht gelebt.288 Peter Handke fasst die Dauer als etwas Aktives, das mir widerfährt, dessen ich ermangle. Erfahre ich sie, bin ich ihrer bewusst, so lebe ich. Dauer bekommt so eine neue Dimension: sie tritt tätig auf, indem sie mich als den sie erfahrenden „anstößt“, etwas mit mir macht und mich so in Bewegung versetzt. Dies hätte ich aus eigener Kraft nicht vermocht, denn der Anstoß der Dauer hat mir zuvor gefehlt. In diesem einen Satz von Handke treten gleich drei Fragen auf: 1) was ist Dauer?, 2) was ist deren Anstoß?, 3) was hat mir zuvor gefehlt, was gab den Ausschlag? Der Folgesatz bildet die conclusio, die Prämissen bleiben noch unklar. Ist Dauer ein Fingerzeig auf Erhofftes, ohne das ich nicht leben will, ist sie ein Impuls, der mich etwas tun heißt oder ist das Ausbleiben der Dauer das Wesen eines unerfüllten und damit sinnlosen Lebens? Zwei Zeilen aus dem Gedicht an die Dauer lassen erahnen, welchen Bedeutungsgehalt die Dauer in sich birgt. Sprechen wir von Dauer, dann meist im negativen Sinn, sie ist ein Synonym für Langeweile, etwas dauert zu lange, ja etwas dauert ewig. Dauer ist die Überbrückung, eine Art Wartezeit, bis ein vorausgeplantes Ereignis eintritt, also eigentlich eine nutzlose Zeit, die leer verstreicht. 287 Heraklit selbst allerdings spricht von der Selbstmehrung des Logos in der Seele (Heraklit, Fragment 115 (nach der Zählung von Diels/Kranz)). 288 Handke, Peter: Gedicht an die Dauer. – Frankfurt/Main. – Suhrkamp, 1986, S. 53 108 Begriffe wie Dauer, Zeit und Ewigkeit sind allgeläufig, werden regelmäßig verwendet, ohne jedoch deren tiefere Bedeutung zu klären.289 Zu dieser Verwirrung tragen die Wissenschaften insofern bei, als jede ein gesondertes Verständnis von Zeit für sich beansprucht. Dies ist bei Binswanger ebenfalls zu beobachten. Als Korrelat zum Raum der Begegnung findet sich die Zeit des liebenden Miteinanderseins. Die Frage nach der Zeit, die das liebende Wir miteinander verbringt, einander schenkt und vom jeweils Anderen gewährt wird, ist keine „einseitige“. Genauso gut könnte die Zeit uns fragen, was wir aus ihr machen, oder ob sie nicht eher etwas mit uns macht. Fest steht, dass die Vorstellung von Zeit eine schillernde, zuweilen höchst subjektive zu sein scheint – das belegen die vieldeutigen Übersetzungen des Wortes –, sodass verbindlich gar nicht über sie gesprochen werden könnte. Gerade darum ist es geraten, die Vielfalt der Meinungen über den Begriff Zeit auf jenes zu bündeln, was Binswanger darunter versteht. Zeit ist schon deshalb nicht in einem strengen, allgültigen Begriff zu fassen, weil es um unsere Zeit geht; überdies läuft die Diskussion über Zeit Gefahr, diese nicht zu begreifen, weil sie sie voraussetzt. Die Diskutierenden betten sich in das, was sie erörtern wollen und zugleich in das, durch welches sie erst die sind, als die sie ins Gespräch treten. Zeit tritt uns nahe, wenn wir sie auf uns selbst beziehen: Wird man nach seinem Leben befragt, etwa auf einem Amt, bei einer Bewerbung oder beim Arztbesuch, gibt man über seine Biographie, also über das eigene Leben Auskunft, dessen weitere – entscheidende – Dimension die Zukunft ist. Diese liegt nicht in weiter Ferne, weil sie – mich angehend – bereits da ist. Zwar trifft mich Zukunft unerwartet und unvorbereitet, jedoch kann ich meine Vergangenheit, das aus mir Gewordene der Zukunft entgegnen, nicht um sie zu bezwingen, sondern um mich ihr als der, der ich bin, zu öffnen. Öffnen bzw. offenbar werden kann nur das, was ich erlebt habe, was ich getan habe, was ich also weiß. Tritt mir die Zukunft entgegen, so antworte ich mit dem aus mir Gewordenen; das mir zukünftig Begegnende fordert meine Präsenz, die ihrerseits auf Vergangenem beruht, welches seinerseits vorher schon Zukunft empfangen hat. Das, das ich empfangen habe, will von mir angenommen werden, es zeigt mir, wer ich werden kann. 289 Das in der Erfahrung Begegnende zeigt sich – je nach Akzeptanz des Erfahrenen – natürlich sprachlich. Nun geht es um das in der Zeit Begegnende, dessen Grund die Zeit „ist“. Zeit ist jedoch nicht gleich Zeit, so gibt es etwa im Lateinischen wie im Griechischen Wörter, die allesamt mit „Zeit“ übersetzt werden können, doch aber diese variieren. So heißt tempus Zeit, rechte Zeit, Gelegenheit, Unglück bzw. Gefahr, vor allem aber Schläfe, Haupt! Aevum bedeutet Lebenszeit, Jugend, Greisenalter, aber auch unbegrenzte Zeit (daher aeternum); momentum wird mit Änderung (movere), Wechsel, Augenblick übersetzt. Hora ist die Stunde, die Uhr. Im Griechischen gibt es den Äon (ὁ, ἡ ἀώ), Lebenszeit, auch Ewigkeit, das Jugendalter (ἡ ἥ), das Leben ὁίden Tag (ἡ ἡέebenfalls die hora (ἡ ὥ – Frühling, Klima, Frucht, die Erntezeit –, den Chronos (ὁ ό – schlicht mit Zeit übersetzt. Nicht zuletzt der Kairos (ὁ όdas rechte Maß, der rechte Ort, die richtige und günstige Zeit. 109 Dauer und Gegenwart des Ich und des Du scheinen keinen Platz zu haben, wenn Binswanger vom „Ewigkeitsaspekt der Liebe“290 spricht, der Gegenwart und Vergangenheit hinter sich lässt, zumindest suggeriert dies der Begriff „Ewigkeitsaspekt“. Doch wie kann sich der Mensch als kontingentes, endliches Wesen selbst Ewigkeit zusprechen, ohne in Anmaßung zu verfallen? Will liebendes Miteinandersein nicht diese Hybris für sich reklamieren, dann wechselt der Begriff der Ewigkeit seinen Stellenwert, der Verbindlichkeit, Verantwortung und Treue zwischen dir und mir bedeutet. Die Form dieser Beziehung ist in der Gegenwart als Phänomen des Ephemären und Flüchtigen ohne Bestand, weshalb Binswanger eine Dynamik der Begegnung zur Geltung bringt, die die leere Gegenwart außer Kraft setzt. In der Liebe zeigt sich „[...] dieses wesensmäßige Ungenügen an der Gegenwart und Angewiesensein auf Vergangenheit und Zukunft [...].“291 Die je eigene Vergangenheit, die Ich und Du in die Beziehung einbringen, ist der Boden, auf dem eine gleichberechtigte Begegnung aufbaut und dadurch Zukunft zulässt. Freilich kann ich mich unserer Zukunft verweigern, indem ich sie aus Versagensängsten und Mutlosigkeit scheue oder sie aus Neugier und Rastlosigkeit überspringe. In diesem Akt der Unfreiheit, des Nichtzulassens des Ungewissen versagen ich mir den Ruf des Anderen und die Präsenz des Neuen. Dasein aber ist wesentlich in der Welt, d.h. bereits umgeben von Neuem, zu Erfahrendem. Dieses Stehen in der Erfahrung, die zuweilen erschütternd ist292, ergreift das Subjekt der Erfahrung (dich und mich) und verändert es. Doch soll die Erfahrung, die Zukunft gewähren lässt und dadurch bewahrt, die Liebenden in ihrem Miteinandersein weder schwächen noch ihre Solidität mindern. Ganz im Gegenteil ist das Wir Grund und Baustein dessen, was nur dem Ich und dem Du zu erfahren in Bemühung zu gelingen vorbehalten bleibt. In den Worten Elizabeth Barrett-Brownings: „Love that endures“ als Abhebung vom „Life that disappeares“.293 Barrett-Browning, in deren Gefolge Binswanger, setzen der „dauernden Liebe“ das „verschwindende Leben“ entgegen. Offensichtlich widerspricht sich diese Kombination, eine voreilige Identifikation von Leben und Liebe ist ebenso unangebracht. Die Erinnerung an Plotins Unterscheidung zwischen messbarer Zeit (ὁ όund lebendiger Ewigkeit (ὁ ἰώ wird bei Heideggers 290 AW 2, 32 AW 2, 33 292 Man erfährt nie das Alte, Bekannte, schon einmal Gehörte, und wenn, dann in bislang ungesehener, nicht bekannter Form. Aus diesem Grund begehen wir so oft denselben Fehler, andererseits erfahren wir an dir oder auch an etwas (ein Tier, eine Blume, ein Kunstwerk), das sich nicht zu ändern scheint, Freude, Genugtuung in stets neuer Geltung. 293 Barrett-Browning, Liebesgedichte, S. 88 291 110 Formulierung deutlicher, derzufolge Zukunft die „eigentliche Zeitlichkeit“ ist, bzw. das ἐό oder „Außer-sich“.294 Dasein als ekstatikón, als Herausragendes, in die Zukunft Reichendes, verschließt sich nicht dem Vergangenen, es kann und soll dieses in die Zukunft einbringen: die Annahme des Kommenden ist nichts anderes als Wachstum und Fruchtbarkeit dessen, was vergangen und verloren geglaubt ist. Das Vergangene – das, was ich und du füreinander waren – taucht im neuen Licht des Offenen wieder hervor. Damit kann ich meine Identität und meine Taten nicht revidieren, geschweige denn modifizieren – das wäre der Widersinn der Zukunft –, aber ich kann (oder wir können) das mir keimhaft Gegebene zur Blüte kommen lassen. Das mir Überantwortete ist der „Anstoß der Dauer“ (Handke), den ich austrage und aushalte. Austrag des Vergangenen leitet die Frage nach dem, was wir „sein wollen“, d.h. wofür wir uns als Gewordene bestimmen. Zukunft birgt Ungewissheit über den Ausgang des Geplanten, Entworfenen, das wir stets als ein erfolgreiches Unterfangen einstufen. Tritt das Erwartete nicht ein, wird die dadurch gestörte Gegenwart verworfen und die Erfahrung des eigentlich Neuen zunichte gemacht: „Die Offenheit eigentlicher Zukunft ist dem Menschen nur als Möglichkeit gegeben, die sich verschließen kann; es hängt von ihm selbst ab, ob er sich für sie offenhält oder nicht.“295 Der Mensch kann sich zu seiner eigenen Zukunft nicht nicht verhalten, sie ist seine eigene Sache, Verweigern oder Abtreten von Entscheidungen münden in Stillstand und Verantwortungslosigkeit. Dann regrediert das Ich und anerkennt nur das, was bereits da ist, um es zu schützen und zu verteidigen. Das steife Verharren im Gewohnten, das mir „lieb geworden“ ist, zeigt sich am klarsten in unspektakulären Verrichtungen, jedoch äußert sich in ihnen der Unwille zur Preisgabe des Erreichten: „Das jeweils Gewordene ist der Feind des Ungewordenen.“296 Das zum Werden bestimmte Noch-nicht-Gewordene erstarrt, stirbt ab, weil ihm keine Veränderung erlaubt wird. Die subjektive und erst recht die intersubjektive Geschichte des Daseins ist in dieser Fehlform zum Scheitern verurteilt. Jede gezwungene, verkümmernde Existenz strebt nach dem, was sie selbst nicht ist: nach Neuem, Anderem. Das vom Drang nach Neuem getriebene Dasein gelangt schließlich gar nicht dorthin, wo es sein will – das Vergangene wird nicht zugelassen und die Zukunft in ihrem Kommen negiert. Wer sich der Zukunft verweigert, muss die unreife Vergangenheit durchsetzen wollen. So Thomas 294 AW 2, 34 und Heidegger, Sein und Zeit, S. 329. Ob sich Plotin selbst in diesem Zitat wiederfinden und zustimmen würde, bleibt offen. 295 Fuchs, Thomas: Biographie und Zukunft, in: Kupke, Christian (Hrsg.): Zeit und Zeitlichkeit. – Würzburg : Königshausen und Neumann, 2000. – (Beiträge der Gesellschaft für Philosophie und Wissenschaften der Psyche ; 2), S. 41-57, hier S. 46 296 Fuchs, Biographie und Zukunft, S.46 111 Fuchs: „Uneigentliche Zukunft zeigt sich als ‚Fortsetzung der Vergangenheit mit anderen Mitteln’.“297 Was bedeutet diese Kümmerform für das duale wie für das singulare Dasein? „Der Anstoß der Dauer hat mir gefehlt“, das will heißen, ich vermisse etwas Dauerhaftes – wörtlich: etwas, das an der Dauer haftet. Aber was ist die Dauer und wer haftet für sie? Dauer ist im positiven Sinne das Sich-Offenhalten für das Kommende als Ankommen des Anderen. Der Verbleib in Passivität wird mir verwehrt, deren Wesen die Leer- und Trägheit ist. In der Dauer Gehalt und Sinn sehen setzt das Wagnis und Sicheinlassen auf das Ungewisse voraus, welches sich erst als und im Kommen offenbart. Wäre das Du als Kommendes bereits schon da, so glitte mein Verhältnis zu ihm zur bloßen Unverbindlichkeit herab, die mich nicht fordert oder frägt, sondern die ich gedanken- und bezuglos passieren lassen kann. Weder Du noch Ich sind als zählbare, kategorisierbare Anwesenheit da, die als solche unverrückbar feststeht. Die Zeitauffassung Binswangers lehnt sich an die Phänomenologie und Anthropologie an, vor allem Husserl und Heidegger sind hier zu nennen.298 Eine genuine Entwicklung des Zeitproblems findet man in den Grundformen schwerlich, stattdessen die Rezeption anderer ex negativo. Daß wir die Zeitlichkeit der Liebe sicher nicht aus der Zeitlichkeit des Verfallens, dem uneigentlichen Gegenwärtigen, sicherlich nicht aus der Befindlichkeit, der Gewesenheit, und erst recht nicht aus der Zeitlichkeit des Verstehens im Sinne der vorlaufenden Entschlossenheit, d.h. des eigentlichen Seins zur ‚Möglichkeit der schlechthinnigen Unmöglichkeit’ des Daseins, interpretieren können, scheint jetzt schon festzustehen.299 So sehr sich Binswanger auch von Zeit im Sinne Heideggers abheben möchte, ist er ihm doch verpflichtet. In Sein und Zeit lesen wir: Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart zeigen die phänomenalen Charaktere des „Aufsich-zu“, des „Zurück-auf“, des „Begegnenlassens-von“. Die Phänomene des zu ..., auf ..., bei ... offenbaren die Zeitlichkeit als das ἐόschlechthin. Zeitlichkeit ist das ursprüngliche „Außer-sich“ an und für sich selbst.300 Diese drei Ereignisformen der Zeit nennen die Ekstase (das Herausstehen im Offenen) der Zeitlichkeit. Was der geläufigen Zeitauffassung entgeht, ist die Zeitlichkeit als ganze – sie ist keine verwachsene Dreidimensionalität, die sich als Nacheinander verliert. Wo (oder besser: 297 Fuchs, Biographie und Zukunft, S. 47 Durch die Lektüre Binswangers gewinnt man zumal den Eindruck, er möchte die gängigen Lehrmeinungen bezüglich des Problems der Zeit „fusionieren“. Seine Belesenheit und beinahe ausufernde Zitation diverser Autoren und Philosophen legen diese Vermutung nahe. Das Sich-Einlassen auf das Denken anderer bietet eine ehrliche Position im Dialog – darin bleibt Binswanger der Wissenschaftlichkeit treu. Andererseits verrät die Vielfalt der herangezogenen Literatur die Unsicherheit der eigenen Position. Diese Unsicherheit zu überwinden gelingt ihm vermutlich am besten in seinen fachspezifischen Schriften. 299 AW 2, 45 300 Heidegger, Sein und Zeit, S. 328f 298 112 wenn) Zukunft ist, ist auch Gegenwart und Vergangenheit.301 Wie den Raum nimmt Binswanger auch die Zeit aus der Sorgestruktur des endlichen Daseins heraus und münzt sie in Unendlichkeit um. Das Zeitverständnis der Liebe leugnet nicht das Fortschreiten der chronometrischen Zeit (etwa nach dem Tod von mir und dir), die Idee der Liebe bezieht daraus jedoch nicht ihre Kraft und Substanz. Binswanger bleibt bei der Zeitlichkeit Heideggers, um sie sogleich um das „Bei“, das „(Zurück-)Auf“ und das „(Auf-sich-)Zu“ der Liebe zu erweitern.302 Die Geworfenheit ins Dasein führt er in das „Einander“ über, in dessen ursprünglichem Wir die Zukunft des „aufeinander“ beruht. Weil – hier die Nähe zu Heidegger – er das Dasein als besorgendes, in der Um-zu-Struktur stehendes sieht, „erweitert“ er es um das Sein, das wir einander schenken. Diese Gewagtheit muss Binswanger tragen, ansonsten er nicht behaupten könnte: [...] dieses Gewärtigen hat keinen anderen Sinn, als daß es uns einander einräumt, mich dir und dich mir, das aber heißt, daß es das Dasein gerade nicht „als je meines“ beansprucht und als je meines mir überantwortet, sondern daß es Dasein einräumt für sein Da im „tiefsten Sinne“ des völlig einzigartigen Einandergehörens, für die Heimat des „Ich und Du“, der dualen Wirheit.303 Angesprochen werden, diesen An-spruch vernehmen, einander Raum bieten und auf den Anderen hören – ohne hörig zu sein (!) – braucht Duldsamkeit, beiderseitigen Willen, Interesselosigkeit an Belanglosem. Gegenwärtigen oder Gegen-warten sagt etwas über die drei Ekstasen der Zeit aus, die eine „geeinte Trennung“ erahnen lassen: als Gegenwärtiger bin ich da, als der ich in und aus meinem Gewordenen bin – so bin ich selbst da, der sich nicht vor sich selbst und erst recht nicht vor dir verstecken kann. Von daher bin ich gegenwärtig, d.h. ich gewahre, nehme dich wahr und zwar „augenblicklich“ (man denke an den „rechten Moment“, den ός). Nun eröffnet sich die Möglichkeit, dir und mir eine Zukunft zukommen zu lassen als diejenige, in der wir uns zueinander bewegen und uns gegenseitig schenken, um das zur Blüte zu bringen (vgl. ὥ, die Erntezeit), was in uns angelegt ist. Das in uns Gesetzte können allerdings nur wir selbst hervorgehen lassen: Ich und Du sind hier unersetzbar. Ich brauche dich, um das Meinige zum Vorschein bringen zu können und umgekehrt. Leider versteht Binswanger solche Jemeinigkeit als eine solipsistische, als ob das Meine ausschließlich mir gehörte. Doch ist Meines mir nicht erst vom Anderen zugeeignet worden?304 Das Meine, mir 301 Die Frage nach der Gleichursprünglichkeit der drei Modi ist legitim: werden hier nicht alle drei Zeitformen vermischt und damit nivelliert? Hat die Rede von Zeit so überhaupt noch einen Sinn? Wie stünde es dann mit der Zeitenfolge der Grammatik? Binswanger lastet der vulgären, von uns gebrauchten Auffassung von Zeit diese Missverständnisse an; siehe dazu AW 2, 46, sowie Luckner, Martin Heidegger: „Sein und Zeit“, S. 142-156. 302 AW 2, 47 303 AW 2, 48 304 Abermals zeigt sich die Bedeutung des paulinischen Wortes „Und was hast du, das du nicht empfangen hättest?“ (1 Kor 4,7) im außertheologischen Kontext. 113 Gehörige ist kein metaphysisches Substrat, dem Attribute inhärieren, es ist auch nicht etwas, das mir in gönnerhafter Geste von einem Du überlassen worden ist und schon gar nicht bedeutet es materielles Besitztum. In die Jemeinigkeit der Existenz gelangen Ich und Du im Wir oder Einander, aus dem wir in liebender Eigenständigkeit entlassen werden. So weit reichen Binswangers Bemühungen und Analysen jedoch nicht, er belässt es bei den Begriffen der Ewigkeit bzw. Unendlichkeit: „[...] denn diese Wahrheit [der Liebe, Anm.] beruht gerade darauf, daß sie entschlossen ist für das Da des Daseins als un-endliches Da, für den ewigen Augenblick, für die Gewissheit der Dauer.“305 Ist Liebe eine unendliche, so wird sie uns nicht einschränken oder bekümmern, sondern sie wird uns gemeinsam beherbergen. Von da aus verweist liebendes Miteinandersein auf das, was Binswanger der Jemeinigkeit gegenübersetzt: die „gleichursprüngliche Jedeinigkeit“306. Die Rede von Jedeinigkeit und Jemeinigkeit bringt keinen konkurrierenden Besitzanspruch zum Ausdruck, der der Diplomatie bedürfte, um etwaige Eskalationen zu kalmieren. Diese Weise des Mitseins gräbt sich von vornherein das Wasser ab, wenn sie das Deine als jenes fasst, welches eigentlich meines sein soll. Dadurch ist nicht nur die Zukunft gestört, diese Form des Mitseins hat überhaupt keine Vergangenheit, die der Gegenwart vorausblickend Platz bietet. Bringe ich das je Eigentliche in eine Begegnung mit, ist dies keineswegs bereits abgeschlossen, konserviert; im Gegenteil: die Zukunft des Eigenen – deines und meines – steht uns erst bevor. Wir sind uns gegenseitig und uns selbst verborgen. „Was wir eigentlich sind, liegt noch vor uns, es steht in Latenz [...].“307 Ist bereits die Vergangenheit ein Rätsel, wie können wir dann der Zukunft gewahr werden? Das Unwohlsein der Existenz in der Gegenwart bildet das unsichere Terrain, auf dem wir einander begegnen. Die Gegenwart, oder besser: das Verharren in ihr ist deshalb Ungewissheit, weil Erfahrungen mit dem Anderen, die immer Neues mit sich bringen, das Ich in Frage stellen. Daher wittert es in Begegnungen mit Neuem zuweilen Gefahr; der Lauf der Existenz wird womöglich aus der Bahn gebracht, weil Neues sich nur mit Abstrichen in meinen Erfahrungs- und Erwartungshorizont einfügt. Die authentische Begegnung – die ich erst nachher als solche gewahre – ist nicht berechenbar, mit ihr hebt fremdes Anderes an, das uns Grenzen auferlegt. Nehme ich diese Beziehung ernst, bin ich meinerseits als In-Frage- 305 AW 2, 43 AW 2, 56 307 Fuchs, Biographie und Zukunft, S. 48. Latenz aus dem lateinischen latere heißt nicht nur versteckt, verborgen sein, sondern auch gesichert sein. Gesichertes wird nicht jedermann preisgegeben, vielmehr wird es gehütet, um es dem anzuvertrauen, der sich dessen würdig zeigt. So wird das Verborgene, das Gehütete offenbar, damit das Vergangene aufgehoben wird und sich in der Gegenwart als das zeigt, was es war. 306 114 Stehender gerufen, Antwort zu geben, und zwar als jemand, der tatsächlich Ich ist und kein Maskenspiel betreibt. Ich werde in der Frage des Du, in welcher Zukunft wahrlich offen ist, angesprochen als einer, der aus dieser Frage als ein bestimmtermaßen anderer hervorgeht. Ich bin der Andere meines bislang von mir geglaubten und vollzogenen Selbst. So kann mit Th. Fuchs gesagt werden: „Wenn ich auf Begegnung ebenso Antwort geben wie es sein lassen könnte, bin ich gar nicht begegnet – das Geschehen ist meinem Leben äußerlich geblieben.“308 Dass dem liebenden Miteinandersein ein anderes Verständnis von Zeit eigen ist, hebt Ingeborg Janssen hervor: sie sieht mit Binswanger im „ewigen Augenblick der Liebe“309 nicht den Moment einer zufälligen, irresponsiven Begegnung, sie meint sogar: Je intensiver ich lebe, umso kürzer lebe ich. Wenn Augenblicke intensiver werden, wird Zeit kürzer. Erreicht mein Moment einen hohen Grad von Intensität, sprenge ich die psychophysische Zeit und er wird zum Augenblick. [...] Wenn wir bei dieser Terminologie bleiben, müssen wir bei Liebe von Augenblick sprechen und zwar in intensivster Form. Hier liegt nun die Ähnlichkeit mit der Unendlichkeit.310 Auch diese Interpretation muss sich davor in Acht nehmen, diverse Verständnisse von Zeitlichkeit durcheinander zu bringen. Mit der „psychophysischen Zeit“ ist wohl die Welt des Besorgens bei Heidegger gemeint, die Binswanger als Endlichkeit und Beschränkung des liebenden Daseins terminologisch bestimmt. Der ewigen Dauer des Augenblicks zu zweit stellt Janssen die christliche Ahnung der Unendlichkeit zur Seite. Um diese Parallele, die Binswanger selbst negiert311, zu vermeiden, schwenkt sie wieder auf seinen Kurs ein, der Zeitlichkeit (Welt der Sorge) und Überzeitlichkeit (Liebe) zur Harmonie bringen will.312 Das Gefühl der Überzeitlichkeit, der Macht oder Ekstase, des Nichtendenwollens, das sich als Treueschwur bekundet, bestimmt bekanntlich den Zustand des Verliebtseins und ist doch auch dem Wir in Liebe eigen. Ergeben sich Liebende diesen Gefühlen, die dem Allmachtsrausch nicht unähnlich sind, so entwerfen sie für sich eine Zukunft, die sich auf das 308 Fuchs, Biographie und Zukunft, S. 51. Man darf nochmals an Handke erinnern: „Der Anstoß der Dauer ist das, was mir gefehlt hat.“ Was hat Dauer mit dem Anderen zu tun? Sie bedeutet hier Selbstbesinnung durch den Anderen, dessen Frage an mich ich mich fügen muss. Ich kann nicht nicht antworten. Begegnung als Antwort verlangt deshalb jene Dauer, in der ich mich dir verpflichtet weiß, Dauer bindet, sie fordert meine Antwort an dich ein. Den Bezug von Du und Zeit zum Ich hat Lévinas treffend ausgeführt: „[...] die Zukunft ist das, was nicht ergriffen wird, was uns überfällt und sich unser bemächtigt. Die Zukunft, das ist das andere. Das Verhältnis zur Zukunft, das ist das eigentliche Verhältnis zum anderen. Von Zeit zu sprechen in einem Subjekt allein, von einer rein persönlichen Dauer zu sprechen, scheint uns unmöglich.“, in: Die Zeit und der Andere. – Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Ludwig Wenzler. – 3. Aufl. – Hamburg : Meiner, 1995, S. 48. 309 AW 2, 38 310 Janssen, Ingeborg: Binswangers Liebesphilosophie : Ein klärender Versuch. – Graz, Univ., Diss., 1953, S. 46f 311 Vgl. AW 2, 87. Eine Ähnlichkeit der liebenden Dauer mit der Unendlichkeit im Sinne der Theologie ist so abwegig jedoch nicht, sind doch beide Formen eine Art der Abgeschiedenheit von Welt im populären Sinn des Begriffes. Sieht man genauer hin, entpuppt sich diese Abgeschiedenheit als „Stiftung von Welt“, nämlich die Welt des anerkennenden, liebenden Miteinander. 312 Dazu dient das Kapitel „Daseinserkenntnis als Überwindung des Widerspruchs von Liebe und Sorge“ in AW 2, 498-511 115 Vergessen des Vergangenen und Gewordenen (das wir sind!) bezieht. Das Vergessen – oder Verschweigen – dessen, was ich war, beraubt sich seiner selbst, macht mich in der Gegenwart starr und unnahbar für die Zukunft. Findet eine Begegnung unter diesem Umstand statt, der vom Vergessen des je Eigenen geleitet ist, wird sie nur von kurzer Dauer (nicht im Sinne Binswangers, sondern als chronometrische Zeit) sein. Akzeptanz als Ernstnahme des Anderen setzt dessen Gewordensein, also Geschichtlichkeit voraus. Alles andere ist Einbildung eines Wunsches abseits der Realität. Die Annahme seiner selbst wie des Miteinanderseins mit wem auch immer ist die Basis der Freiheit für das ganze Seinkönnen und dadurch auch die Weigerung, dem Man bzw. der Falschheit anheim zu fallen. Binswanger beruft sich auf Heidegger: Das zur Entschlossenheit gehörende Für-wahr-halten tendiert seinem Sinne nach darauf, sich ständig, das heißt für das ganze Seinkönnen des Daseins freizuhalten. Diese ständige Gewissheit wird der Entschlossenheit nur so gewährleistet, daß sie sich zu der Möglichkeit verhält, deren sie schlechthin gewiß sein kann.313 Das Für-wahr-halten als Wahrheit des Seinkönnens miteinander ist Heidegger fremd; die Liebe von mir und dir, die uns in Selbstheit sein lässt, steht „[...] frierend außerhalb der Tore dieses Seinsentwurfs [...]“.314 Binswanger jedoch übersieht seine eigenen Gedanken, die er eben in den Grundformen niedergelegt hat. Denn vom Mythos des Eros wird der Bogen über unzulängliche bis hin zu erfüllende Weisen des Miteinanderseins gespannt. Diese Vielfalt an Begegnungen – ob real, asymmetrisch, ersehnt oder ebenbürtig – spiegelt sich dort wider. Binswanger tritt sehenden Auges ins Dilemma von Zeitlichkeit und Liebe, weil er Liebe als „Begegnen-lassen-von“ („Sein-bei“), „Zurück-auf“ („Schon-sein-in“) und „Auf-sichzu“ („Sich-vorweg“) erkennt315, also als das, was mit Treue, Gerechtigkeit, Integrität und Souveränität verbunden wird. Die drei Begriffe fassen knapp und wesentlich jenes, welches Liebe genannt wird: 1) „Begegnen-lassen“ heißt, den Anderen mit und in seiner Vergangenheit willkommen heißen und ihn als solch Gewordenen gewahren. Übersieht man das, begibt man sich in die Illusion des Idealbildes des Gegenübers, der dies nie erfüllen wird können. Eine Einbildung nimmt vorweg, greift in eine willkürlich gewählte und dadurch falsche Zukunft, um etwas zu erhaschen, das man sein Eigen nennen will. Das Du in seiner Alterität wird sich darein nicht fügen, sodass es die Illusion bzw. zukünftige Projektion des Ich durchbricht. Diese Situation entspricht der missverstandenen Gegenwart. 313 Heidegger, Sein und Zeit, S. 308 AW 2, 43 315 AW 2, 47 314 116 2) Das „Schon-sein-in“ weist in das Gewesene316, in das, was wir waren, gerade bevor eine Begegnung überhaupt stattgefunden hat. Wie kann man indessen eine vorgängige Beziehung zum Anderen denken, ohne ihm allererst begegnet zu sein? Vom Mythos des Eros – die allem zuvorkommende Einheit der Liebenden – geht Binswanger zu einer direkten, unvermittelten Relation: „Nur wenn Dasein an sich schon den Charakter der Begegnung hat, [...], nur wenn ‚Ich und Du’ schon zu seiner Seinsverfassung gehören, ist Liebe von Mir und Dir überhaupt möglich.“317 Das vermeintlich Vergangene legt Grund und Boden für das Miteinandersein, in dem sich die Liebe zweier Menschen am deutlichsten bekundet. Weniger offenkundig, aber doch, ist Vergangenes in jeder Beziehung präsent. Selbst ein absichtsvolles oder trügerisches Begegnen setzt das gewordene (und so das vergangene) Ich und Du voraus. Eine Begegnung in liebender oder zweifelhafter Intention ist in ihrer Komplexität (Verfasstheit der Subjekte, Stimmungen, Rahmen der Begegnung, leitende Urteile und Vorurteile, psychisches Befinden und ähnliches) auf das aus mir und dir Gewordene angewiesen. Das zuzugeben gebietet mir und dir die Ehrlichkeit; just deswegen bedarf es keiner großen Umstände, lautere Menschen zu betrügen. Mit Blick auf die Geschichtsschreibung im Sinne der Biographie mag man Binswangers Vorstellung eines positiven „Schon-sein-in“ der Begegnung, das der erst zu erfolgenden vorangeht, als naiv, gutgläubig, beinahe als traumwandlerisch aburteilen. Nur in wenigen mitmenschlichen Kontakten zeigen sich Liebe und Solidarität, in denen Ich und Du aufgehoben sind. Und: wer hielte redlich diese Liebe denn auch aus? Es geht weder um Abneigung und Distanz, noch um bedingungsloses Verfallensein an die Geliebte. Vor diesen Erscheinungen steht eine Ursprünglichkeit des Miteinanderseins, unter deren Licht die uns geläufigen Weisen der Intersubjektivität an den Tag treten. Vor jeder konkreten Liebe, vor Aversion und Desinteresse steht unser gemeinsames Dasein. Die Bereitschaft zur Liebe (negativ: der Wille zum Hass) ist an das Prinzip der Anerkennung gebunden, das ohne unser Zutun Gültigkeit besitzt. Dieses Prinzip ist Vergangenheit (Gewesenes), in der ich andere als solche anerkannt habe und die mir nun gegenwärtig sind. Anerkennung hält sich bis in die Gegenwart, indem sie ihr den Weg und ihre Möglichkeiten offen hält. Im positiven Sinn meint es: Aber nicht die Tatsache, daß die Geliebte sät und daß es im Liebenden keimt (und umgekehrt), ist das Entscheidende für uns sondern die Bedingung, die diese 316 Der Begriff „Gewesenes“ ist Heideggers Denken entnommen, dort nimmt es deutlich Bezug auf Gegenwärtiges und Kommendes. Das Gewesene ist auch in Binswangers Terminologie nicht mit abgeschlossen Vergangenem zu verwechseln, das uns nicht mehr berührt. Abgeschlossen zum Beispiel ist der Bau eines Hauses, wenn es bezugsfertig ist. Nicht abgeschlossen jedoch ist das Schicksal derer, die das Haus fortan bewohnen, zuweilen nimmt deren Los eine Wende und ist damit nicht vergangen. 317 AW 2, 73 117 Tatsache, das Säen und Keimen, möglich macht, die Liebe (als apriorische Seinsbeziehung).318 Die Annahme dessen, welches das Gewesene freigegeben hat319, bringt die Vergangenheit in die Gegenwart, ohne eine verlorene Zeit zu sein. So verstanden gibt es keine verlorene Zeit, weil sie in ihrer Ernstnahme realisiert wird, d.h. tatsächlich Zeit „ist“. Bedauerlicherweise zeigt sich der Sinn erst nach erfolgter Tat, dieses Risiko der „Tathandlung“ haftet jedem Geschehen an. Scheu vor der Verantwortung einer selbstgesetzten Handlung ist genauso wie unkluge Rastlosigkeit Flucht und Leugnung dessen, der wir sind. Das Vergangene bewahren heißt demnach, es richtig einschätzen, es von Missgriff und Überbewertung freihalten. Liebendem Dasein scheint nichts abträglicher zu sein als gewollte Modulation des Gewesenen, welches wir jetzt sind. Das Gegenwärtige erwirkt dann einen manipulierenden Eingriff in Vergangenes, der wiederum das Dasein verdreht (pervertiert). Dass das Gestrige das Heute in seinem Wesen bestimmt, ist eine Binsenweisheit, in diesem Fall trifft sie auch wirklich zu. 3) Das dritte Moment der Zeitlichkeit der Liebe nennt Binswanger das „Auf-sich-zu“ oder „Sich-vorweg“. Liebe auf sich zukommen lassen geschieht in der Gegenwart des Ich, das zukommen lässt, das auf ein Du wartet; wohl nicht in der Passivität der billigen Erwartung, dass ein Du endlich da sei, sondern viel eher als ein Warten, das dem Du entgegengeht. Jede Begegnung bezieht ihre Beständigkeit aus einem Wandel, einem Prozess (procedere), in dem ich und du neu, gereift und in wechselseitig verantwortetem Selbstand hervortreten. Das Wort Heideggers vom Sich-vorweg der Zukunft erscheint bei Binswanger als „Zukommen-lassen der Zukunft auf-einander“320, das das Sein-bei (Gegenwart) mit dem Schon-sein-in (Vergangenheit als apriorisches Miteinander(gewesen)sein) in das kommende Wir-sein vertieft. Das Gegenwärtigen des Du aber stemmt sich gegen das Schalwerden der Begegnung, in ihr wollen Ich und Du nicht die bleiben, die sie zuvor waren, ohne doch in ein irrationales Maskenspiel zu geraten, welches beide mit beliebig anderen vertauscht. Das Wahrhaben des Du belässt dich in deinem eigenen Sein, nicht weil es mir gleichgültig wäre, wer du bist – ganz im Gegenteil: du sollst du selbst werden in der Beziehung, in Zueignung, in Distanz und Auseinanderlegung mit mir. D.h., wir arbeiten aneinander, mit- und notwendig gegeneinander, um uns im Miteinander zu bereichern. Zukunft verheißendes Gegenwärtigen 318 AW 2, 68f. Die apriorische Seinsbeziehung hat sich vorher als Selbstmehrung des Eros gezeigt, Binswanger wechselt von der Mythologie, aber auch von Literaturzeugnissen wie der Kulturgeschichte zur Ontologie bzw. Anthropologie, welches sich in der gesamten Philosophie der Liebe durchhält. 319 Erhellend dazu ist Heideggers Vom Wesen des Grundes, in der das Gewordene als das Sein zum Grunde aufgewiesen wird. 320 AW 2, 47 118 [...] hat keinen anderen Sinn, als daß es uns einander einräumt, mich dir und dich mir, das aber heißt, daß es das Dasein gerade nicht „als je meines“ beansprucht und als je meines mir überantwortet, sondern daß es Dasein einräumt für sein Da im „tiefsten Sinne“ des völlig einzigartigen Einandergehörens, für die Heimat des „Ich und Du“, der dualen Wirheit.321 Das Gemeinsame bedarf keiner näheren Bestimmung die Zukunft betreffend. Das in der Gegenwart vergangen Geglaubte ist als Vergangenes präsent; ob dem Vergangenen Wahrheit zugesprochen wird – davon hängt die Zukunft ab. Gerade Zukunft kann man als Ausständiges sehen, als das, in dem die Möglichkeit des „Machbaren“ liegt. Dies nur dann, wenn man bereit ist, das Eigene dem Ungewissen, dem Du, mit einem Wort: der Zukunft preiszugeben. Die Erörterungen über die Zeitlichkeit des liebenden Daseins entwickeln eine Begriffsvielfalt, aus der jener der Fülle einen bedeutenden Charakter hat. Liebe als ewige Dauer fasst Binswanger als Fülle, die sich aus sich selbst nährt und vermehrt; der Hintergrund ist hier abermals der sich selbst mehrende Eros, der niemandes bedarf, um zu sein und um mehr zu sein.322 Gemeinsames Dasein ist im umfassenderen Sinn Gesellschaft, doch eignen sich nicht alle Gesellschaften dazu, das Alleinesein zu überwinden, manche verstärken dieses noch. Das Mehr-sein der liebenden Begegnung ist wörtlich ein „mehr als (einzelnes) Sein“ (plus quam esse). Im Wir ist Seinssteigerung, weil aus ihm Ich und Du zu Eigen- und Miteinandersein befreit werden und nicht weil rechnerisch zwei eben um eins mehr ist als nur ein Individuum. Die Seinssteigerung, die ich und du erfahren, ist keine mengenmäßige – diese ließe sich durch Hinzufügung etlicher anderer Einzelexistenzen bis hin zur unüberschaubaren Masse expandieren. Seinsmehrung ist weiters schon gar nicht mit Usurpation zu identifizieren, die den Anderen benutzt, um das Eigensein zu überhöhen. Was darf man demnach positiv unter der Fülle der Zeitlichkeit verstehen? Fülle ist etwas Konstantes, wiewohl sie ihren Gehalt nicht von vornherein in sich trägt, sie (die Zeitlichkeit) kann deren auch verlustig gehen. Die Fülle oder das Wesen/Leben, das die Gegenwart der Liebe auszeichnet, ist eine geschuldete, also keine selbst verursachte. Auch das Dasein als Liebe, ja es erst recht, „weiß“, wie wir sahen, daß es den „Grund“ selbst nicht gelegt hat. Gleichwohl ruht es nicht in seiner Schwere und macht die Stimmung ihm diese Schwere nicht als Last offenbar.323 321 AW 2, 48 Binswanger verrät nicht, warum sich die Fülle des Wir mehrt, bestimmt steht Heidegger Pate, der in Vom Wesen des Grundes Seiendes in Jemeinigkeit (bei Binswanger Jedeinigkeit bzw. Wirheit) entlassen sieht. Ein anderes Motiv, dem sich Binswanger nicht explizit verwehrt, bildet die Religion. Ihr ist Gott Ursprung der Seienden, deren Liebe zueinander bzw. Akzeptanz untereinander deutet auf Gott als Grund. Im Unterschied zu Heideggers Grund ist Gott jemand, der angerufen werden kann, also kein anonymer Grund. 323 AW 2, 136 322 119 Etwas gewagt bringt Schmidt324 die Präsenzfülle der Liebe bei Binswanger mit dem Evangelium in Zusammenhang, in dem von der „erfüllten Zeit“ die Rede ist. „Die Zeit ist erfüllt.“ (ήὁὸ, Mk 1,15) bezieht sich auf die Ankunft Christi; will man unbedingt bei dieser Verheißung bleiben, muss man sagen: das Kommen und Bleiben des Du (und nicht nur Christi) ist wirklich. Erfüllt werden kann nur das, was zuvor richtungweisend – zukunftbringend – da war. In Binswangers Sprache muss man folglich sagen: die Fülle der Begegnung mit dem Du ist kein plötzliches, ungebändigtes Hereinbrechen in meine Welt, sondern das Aufscheinen der sich latent durchhaltenden Anwesenheit des Anderen. Diese Anwesenheit äußert sich zuweilen derart diskret, dass sie erst in ihrer Abwesenheit durchscheint. Die zuvor erwähnte apriorische Beziehung verdeutlicht gerade dies. Es ist weder nötig noch geboten, einen Menschen bis in sein Letztes zu durchleuchten, um zu wissen, dass er mit da ist. M.E. wird diese simple und doch tragende Tatsache übergangen, erst mühsame Umwege oder Konflikte werfen uns auf das Miteinandersein zurück. Es ist angezeigt, am Schluss des Kapitels zu seinem Anfang zurückzukehren – zu Handke nämlich. Im Gedicht an die Dauer lesen wir: Wahr bleibt: Die Dauer ist kein Gemeinschaftserlebnis. Sie bildet kein Volk. Und trotzdem bin ich im Zustand der Gnade der Dauer endlich nicht bloß ich allein. Die Dauer ist meine Ablöse, sie läßt mich gehen und sein.325 Dem „Volk“ im Vulgärverständnis wird Dauer abgesprochen, Dauer bedeutet kein Mehr an Menge. In der sich verlierenden Masse hat sie keinen Bestand. Eine durch die Dauer gewährte Ausnahme bildet die Gemeinschaft, sie verwaltet kein Volk oder eine billige Masse, sondern hebt mich in den „Zustand der Gnade“, nicht bloß ich alleine zu sein. Dauer – man darf wagen, zu sagen: das liebende Wir – „läßt mich gehen und sein“. Es lässt mich in Eigenstand aus der Wirheit gehen, ohne sie zu mindern, sondern um Liebe im Wir gebührend zu würdigen, indem ich dir mein Eigensein verdanke. Entwicklung als Hervor-gehen und sein als Existenz sind in eins gesetzt. Ein weiterer Satz bringt die Zeitlichkeit der Dauer zum Ausdruck: Von der Dauer gestützt, trage ich Eintagswesen meine Vorgänger und Nachfolger auf meinen Schultern, eine erhebende Last. 324 325 Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 166 Handke, Gedicht an die Dauer, S. 51 120 Darum war die Dauer eine Gnade zu nennen [...].326 Vermöge der Dauer ist dem Menschen, wenngleich er etwas Ephemeres ist, Zukunft und Vergangenheit (im Gedicht als „Nachfolger“ und „Vorgänger“ genannt) zugesprochen, diese tragen wir „auf den Schultern“. Wir bemühen uns also, unsere Zeitlichkeit sie schützend zu tragen, sie durchzuhalten, sie nicht acht- und sorglos abzuwerfen wie eine lästige Bürde. Zeitlichkeit wird dann zur drückenden Last, wenn man sich ihr nicht stellt, sie nicht aushält oder wenn man sie flieht. Bei Handke wandelt sich die Last zu einer mich erhebenden, zumal ich selbst es bin, der Zeitlichkeit zum Austrag bringt. Die Tatsache, dass jede und jeder von uns den Zustand der Dauer erfahren darf, nennt Handke Gnade.327 Der Bezug von Zeitlichkeit und liebendem Miteinandersein lässt sich abschließend noch so umreißen: Wie das Räumliche ist auch das Zeitliche der Sorgestruktur des Daseins enthoben, woraus sich der Ewigkeitscharakter der Liebe erklärt: Dasein steht nicht nur in der Sorge, es räumt liebend dem Anderen Sein ein, gewährt ihm Platz und schenkt ihm Zeit. Unendlichkeit oder Ewigkeit ist keine chronometrisch zu verstehende, wie sollte ich dir etwa ein ewig währendes Leben, das jedem Kalender spottet, versprechen können? Vielmehr bedeuten sie Wegfall von Einschränkungen, die Liebe Bedingungen unterwirft. So bin ich unserer Liebe bewusst und lasse unsere gemeinsame Zukunft zu, in der wir einander begegnen. Die Beziehung lässt sich freilich nicht gewollt planen und durchgliedern, dieses wäre bereits Teil der Gegenwart. Mit der Zukunft gehen wir das Wagnis des Unverfügbaren ein, das sich nicht erzwingen lässt. In der Zukunft kann, ja soll sich unsere je eigene Selbständigkeit entwickeln. Binswanger hält dafür den Begriff Treue bereit. „Die Selbstheit Meiner-selbst und Deiner-selbst zeigt sich sowohl in der Treue des Sich-Schenkens (oder in der Treue im Sich-Schenken) als in der Treue zu sich selbst.“328 Sorglosigkeit oder Gleichgültigkeit wird von der Zukunft unterbunden, weil sie uns die Grenzen unseres bisherigen Lebens aufzeigt.329 Zugleich stellt sie uns vor die Entscheidung, dieses oder jenes zu tun und es auch zu verantworten. Mit Karl Rahner könnte 326 Handke, Gedicht an die Dauer, S. 52 Ganz offensichtlich operiert Handke mit theologischen Begriffen, darin findet sich auch die Übereinstimmung mit Binswanger, der Parallelen zum Religiösen gar nicht leugnet, sich jedoch von ihm absetzt. Das ist mit ein Grund für die Schwerfälligkeit seiner Begriffe: er entlehnt sie, durchaus zu Recht, seinem philosophischen und geistigen Umfeld, modifiziert sie dann aber so, dass er Gefahr läuft, etwas völlig Neuartiges unter einem alten Namen zu behalten. 328 AW 2, 112 329 Wir werden so wörtlich in die Schranken gewiesen, angesichts des Kommenden sind wir uns unserer selbst nicht mehr so sicher, das Bestimmte, Garantierte wird nun suspekt, damit Beiläufiges Priorität bekommen kann. Die bekanntesten Beispiele dafür sind Größenwahn in Anbetracht einer zu erwartenden Einbuße, Versagensangst aus Selbstunterschätzung, Überangepasstheit, Konformismus, Resignation. 327 121 man fragen, was ohne die uns anspringende Zukunft in diesem Leben geschehen wäre? Die Welt ginge weiter wie je und wir würden Pläne machen, ohne sie umzusetzen.330 4.4 Freundschaftliches Miteinandersein Ist der fundamentale Grundzug des Menschen der der Liebe zum Du, so muss sich der Grundzug auch als Geste der Wohlgesonnenheit, des Beistandes, der respektvollen Zuwendung, also als Freundschaft (amicitia, ί) zeigen. Beide Begriffe (oder Zustände) liegen nahe beieinander und werden bisweilen synonym verwendet. Freundschaft kann sich zur Liebe entwickeln, eine gewonnen geglaubte Liebe kann sich in ehrlicher Freundschaft festigen (von der die Partner tatsächlich profitieren). Die eine ist ohne die andere nicht möglich, was allerdings trennt und einigt beide?331 Die Verbindung von Freundschaft und Liebe ist leicht zu durchschauen, allen voran Sympathie, ähnliche Vorlieben, vergleichbarer sozialer Status und Übereinstimmung der jeweiligen Biographien zeugen von ihr. Leicht ist es zu meinen, Liebe und Freundschaft bedingten einander; Liebe ist nach Binswanger die Beziehung, die in der Enthobenheit von Sorge ihren Platz einnimmt. Indes will man nicht sagen, Freundschaft sei eine sorglose. Ziel der in den Abschnitten über den Dualis dargelegten Gedanken war, Liebe als Grundlegung menschlichen Daseins aufzuweisen – das ist bei weitem keine Erklärung empirisch-konkreter Verhaltensweisen. Das gewonnene Resultat war: Liebe als Freigabe in wirhaftes Eigensein, In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-sein, Liebe als heimatliche Nähe in Intimität. Überdies gewahren wir Liebe in einer Eigenart von Zeitlichkeit und Räumlichkeit. Der Eindruck und die Abschreckung, Liebe sei extrem und exorbitant, scheinen berechtigt. Liebe als Außenständiges, als von Sorge um „innerweltlich Begegnendes“ Befreites, ist eine Fiktion, der sich ernsthaft um Liebe Mühende nicht hingeben.332 Behandelt Binswanger das Miteinandersein als freundschaftliches, kommt Konkretes näher, taucht das uns – in Liebe und Sorge Stehende – Vertraute auf. Umgekehrt heißt das nicht, dass Liebe nur durch Freundschaft (im Sinne Binswangers) erlangt werden kann. Liebe ereignet sich zwischen dir und mir, exklusiv dual; Freundschaft besteht als „Wirheit im 330 Rahner, Karl: Zur Theologie der Zukunft. – München : Deutscher Taschenbuch Verlag, 1971. – (Wissenschaftliche Reihe ; 4076), S. 180 331 AW 2,200: „[...] denn Gemeinsamkeit der anthropologisch-ontologischen Grundstruktur kann nur besagen, daß Liebe nicht ohne den Wesenszug echter Freundschaft, Freundschaft nicht ohne den Wesenszug echter Liebe sein kann.“ 332 AW 2, 123: „Es verhält sich hier wie überall, wo wir Sorge und Liebe einander gegenüberstellen: Liebe kann ohne Sorge nicht sein; sie ist aber nicht selbst Sorge, sondern ist nur als Transzendieren der Sorge, als reiner Überschwung, wie wir später sagen werden. Das gilt auch hinsichtlich der Geschichtlichkeit oder eigentlichen Schicksalhaftigkeit der Liebe [...].“ 122 Teilnehmen“333. Das „Wir-sein“ begegnet im Wir der Liebe, hier ist es ein freundschaftliches Wir in Teilhabe aneinander. Worin besteht das Wir und woran nimmt es Teil? Teilhabe setzt Getrenntheit, Selbstheit voraus, also das, was aus liebender Wirheit erwachsen kann. Freundschaft findet dort statt, wo einander zwei Subjekte (Selbstheiten) begegnen, die in ihrem und durch ihr eigenes Sein der Begegnung mit anderen gewachsen sind: Daß die Freundschaft darauf aus ist, aus jedem zwei zu machen, besagt wiederum, daß unter Freundschaft diejenige Weise des Miteinanderseins zu verstehen ist, in der das Dasein sowohl an der Selbstheit Rückhalt hat, als auch an der Wirheit Halt findet.334 Binswangers Worten getreu ist Freundschaft ein Mittleres zwischen Selbstheit, die ich in der Liebe erlange, und Wirheit, aus der ich als (geliebtes und liebendes) Wir hervorgehe: „Dieses ‚sowohl als auch’ wird hier also ausgedrückt durch die abstrakteste Form der Kategorie von Teil und Ganzem, durch die Begriffe der Zahl und der Summe (Verdoppelung).“335 In dieser Abstraktion sind Fremde „Teile“ des „Ganzen“, sie treffen einander, um das „Ganze“ zu füllen. Das jedoch ist die Formulierung des Miteinanderseins in Liebe, wie sie als Wir vorgestellt wurde. Binswanger will vom Wir als Ganzes, Einheit Stiftendes nicht ablassen, weshalb der Freundschaft zu tun sein muss, Getrenntes (Teile) in Eines (das Ganze) zu fügen. Wie liebendes Wir und freundschaftliches Dasein ineinander übergehen, zeigt folgendes Zitat: Der Sinn der Tatsache, daß im vorwissenschaftlichen Seinsverständnis des freundschaftlichen Miteinanderseins das Ganzsein und Teilsein, vorab das Doppelund Halbsein, eine so große Rolle spielt, liegt darin, daß, während im liebenden Miteinandersein Sein und Bewußt-Sein, Erleben und Erkennen, Anschauen und Denken, Gefühl und Begriff, Wunsch und Besitz, Gnade und Opfer [...], Wahrheit und Rede, kurz Existenz und Bedeutung strukturell noch ungeschieden sind, hier aber, im freundschaftlichen Miteinandersein, das „ungebrochene“, „ungeteilte“ liebende Dasein strukturell weiter aufbricht, sich in näher bestimmbare Strukturglieder „bricht“ oder entfaltet. Freundschaftliches Miteinandersein ist [...] der Sinn der Teil-Ganzes-Kategorie [...].336 Wie angeführt, entwickelt sich liebendes Wir in der Freundschaft in näher bestimmbare „Strukturglieder“. Dass solches vor allem in der Liebe selbst Platz haben soll, ist klar – keine Liebe ergeht sich in Abstraktionen, in denen Liebende „aufgehoben“ sind. Dessen bewusst, wird Hegel angeführt: „Ein Gedachtes kann kein Geliebtes sein.“337 Liebendes Dasein begegnet einander auch freundschaftlich, darin soll kein Zweifel bestehen, selbst wenn 333 AW 2, 197 AW 2, 202 335 AW 2, 202f 336 AW 2, 204 337 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke I. – Frühe Schriften. – Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe. – Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. – 1. Auflage. – Frankfurt/Main : Suhrkamp, 1986, S. 362 334 123 Binswangers Begriff der Liebe zuweilen weltentrückt anmutet. Es geht folglich um Freundschaft, die nicht liebendes Wir ist, dieses aber voraussetzt.338 Erst durch erfahrene und erwiderte Liebe bin ich fähig, Freundschaften mit anderen aufzubauen, zu pflegen und zu erhalten. Ein Mensch, dem Liebe nicht widerfuhr, wird wohl keine Freundschaft eingehen können.339 Liebe als ursprüngliche Weise menschlichen Miteinanderseins bildet den Grund jeder weiteren Form des Mitseins, so auch die des freundschaftlichen.340 Freundschaft bekundet sich als „Wirheit der Teilnahme“. Teilen selbst ist etwas, das einen unverbindlichen Vorgang darstellt, der zufällig geschieht; ich teile den Platz im öffentlichen Verkehrsmittel, teile das Krankenzimmer mit anderen Patienten, nicht zuletzt den Arbeitsplatz.341 Teilnahme in engerem Sinn bedeutet ein „gemeinsames Schicksal“, das sich der eigenen Welt entzieht: Nehme ich an deinem Schicksal teil, so kann ich mich darin nicht vertreten lassen – als freundschaftliches Wir betrifft mich das, was du erlebst und dir widerfährt und ich kann mich davon nicht ohne weiteres lossagen. Gerade darauf gilt es, den Finger zu legen: ich bin Freund, nicht weil ich über außerordentliche Fähigkeiten verfüge, sondern weil ich in der Freundschaft mein Eigenes mit Rücksichtnahme auf dich zur Geltung bringen kann, um das Zusammensein zu bekräftigen. – Allein: wer wählt mich zum Freund und wem gewähre ich meine Gewogenheit, ihm dadurch einen besonderen Platz in meinem Leben zuweisend? Wodurch wird Amikalität überhaupt tragbar? – und: was unterscheidet sie von der Liebe? Den dafür fruchtbaren Boden bereitet das Schicksal, welches zumeist als Mühsal und Last empfunden wird, als Bürde, die man abschütteln möchte. Binswanger sieht in ihm nicht etwas Unentrinnbares – wahrlich Fatales –, das religiös etwa als Sündenfall und irdisch als Schicksalsschlag interpretiert werden kann. Vielmehr bildet es die Verbindung zweier Freunde: [...] dieses Schicksal bist du, mein alter ego, der andere „Teil“ des Einander im Sinne meiner „zweiten Person“. An deinem (als meines Freundes) Schicksal teilnehmend, nehme ich nur auf mich und trage nur, was (auch) mich bereits „getroffen“ hat, was schon mein ist als eines „Teiles“ des Wir, von dem Du der andere Teil bist.342 338 AW 2, 219: „[...] denn wenn ich auch nur eine Geliebte haben kann, so kann ‚Ich-selbst’ doch mehrere Freunde haben.“ 339 Die ursprünglich-anfängliche Liebe entfaltet sich im Mutterleib, welche Tatsache beständig dokumentiert wird. Dessen ungeachtet ist es möglich, dass selbst ein ungewolltes, verstoßenes Kind in der weiteren psychischen Entwicklung bei entsprechender Pflege und Betreuung zu einem geliebten, akzeptierten und selbst wiederum liebenden Erwachsenen heranreifen kann. 340 Dem entspricht auch der Aufbau der Grundformen, „Wirheit im Lieben“ und „Das freundschaftliche Miteinandersein“ – beide bilden das erste und zugleich wichtigste Kapitel des Buches. 341 Ähnlich das uns aus der Alltagssprache bekannte „Mitteilen“. In ihm werden Positionen, Darstellungen, Tatsachen übermittelt. Sender wie Empfänger der übermittelten Botschaft sind prinzipiell austauschbar – als Person, aber nicht als teilhabende Partei, im Zentrum steht die „Nachricht“, vgl. dazu AW 2, 206-209. 342 AW 2, 212 124 Dein Schicksal „schickt“, „stellt“ mich in ein anderes, von mir nie erwogenes Gefüge, das meiner Wahl, meiner Zu- oder Absage entzogen ist. Bilden wir als Freunde die Teile des Ganzen, ist Stellvertretung bzw. Vertauschung nicht möglich, ohne die Freundschaft in ihrem Wesen gänzlich zu ändern, wenn nicht gar zu zerstören. Vor allen Partikularinteressen – seien diese ein gemeinsames Ziel, vielleicht auch das Begehren des Anderen – steht die Ich-DuRelation, die diese ermöglicht.343 Freundschaft, Sympathie bedeuten zunächst das gemeinsame Tun und Erleiden im Sinne der Erfahrung, später kommt tatsächlich das Mitleiden (ά hinzu, das in der Ethik einen grundlegenden Stellenwert hat. Binswanger lehnt diesen Gedanken als bloße Engführung der Freundschaft ab. Mitleid als Bereitsein zur Hilfe des in Not Geratenen bleibt alleine dem Freund vorbehalten, doch bezüglich der Not selbst ist von Binswanger nichts zu erfahren. Freundschaft etabliert sich unter einander Ebenbürtigen. Notgedrungenheit, welcher Art sie auch ist, hat in Binswangers Idee der Freundschaft keine Rechtfertigung. In seinen Worten erübrigt sich Mitleid auf das Herabdrücken des mir fremden Leidenden auf sein Leiden und nur auf dieses. Ich als Spender und Wohlmeinender erwerbe mein Recht, solch einer zu sein, weil ich mich dem Bedürftigen als Gönner erweise. Ich gebe erst dann, wenn ich jemanden unter mir weiß, der mir das Gegebene nicht rückerstatten wird können. Es geht nicht um Sentimentalität oder Gerührtheit, die Menschen dazu bewegt, ihnen Unbekannten Geld zu spenden; irritierend ist in dieser Diskussion344 allerdings der Gebrauch des Begriffes „Kreatur“, der, wenn man als solche bezeichnet wird, Schimpf und Schande nach sich zieht. Kreatur, wörtlich das Geschaffene, Hervorgebrachte, Geborene, wird vornehmlich pejorativ gebraucht, so etwa im Französischen crétin – der Schwachsinnige, der Dummkopf. Ein möglicher Grund für die Wahl des Wortes liegt vielleicht im Fachjargon der Medizin. Dennoch bleibt dies irritierend gerade in einer Schrift wie den Grundformen, die eine Phänomenologie der Liebe zu treiben beansprucht.345 Im Mitleid haben Ethik und Handeln offensichtlich keinen Platz, darum bleibt Freundschaft auf einen überschaubaren Kreis beschränkt; am konsequentesten ist nur die Dualität, die ausschließlich das Du anerkennt.346 Eine strikte Grenzziehung von Liebe und Freundschaft findet sich in den 343 Selbst hier kann sich Binswanger nicht vom Vorrang des Wir loslösen, das doch Ich und Du als Eigenständiges hervorbringt: „[...] denn ‚früher’ (im Sinne des Apriori der Fundierung) als jenes ‚eigentliche’ Miteinander von Selbst und anderem Selbst ist das eigentlich-freundschaftliche Miteinander von Mir und Dir, [...].“, in: AW 2, 215 344 Siehe AW 2, 229. Binswanger definiert den Mitmenschen als „Kreatur“. Nun ist dieser Begriff ein theologischer, philosophischer und anthropologischer. In welcher Bedeutung Binswanger ihn gebraucht ist unklar. 345 AW 2, 9 346 Der hohe, beinahe vermessene Anspruch Binswangers ist die „Aufdeckung eines einheitlichen anthropologischen Urphänomens Liebe“ (AW 2, 235). Das „Urphänomen“, den Grund und die Quelle 125 Grundformen nicht, höchstens könnte man das „In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-sein“ allein dem liebenden Wir zubilligen, wodurch wiederum das konkrete freundschaftliche Miteinander unbeachtet bleibt. Wie mich die Liebe aus dem Wir zu mir selbst bringt – zum einzigartigen Selbstsein durch dich und in dir –, so individuiert mich jede Freundschaft gleichsam anders; jeder verhält sich zu demselben anderen Menschen unterschiedlich, hier gibt es keine Deckungsgleichheit. Leben wir doch mit jedem Freunde ein anderes Leben der Freundschaft, weist mich doch jeder Freund in andere Weise auf „mich-selbst“ hin, beschränkt, begrenzt, bestimmt oder „bedingt“ [...] doch jeder Freund mich anders und umgekehrt ich ihn [...].347 Die gängige Definition, Freundschaft sei Sympathie, wird von Binswanger übernommen, ohne sie zugleich zu hinterfragen, oder diese Gleichung zu begründen. Freundschaft ist eine intersubjektive Beziehung, in der letzte Konsequenzen nicht gezogen werden müssen, in der ein Rest an Unverbindlichkeit bestehen bleibt. Ob Freundschaft nun ein Akt der Willkür, des Gefallens oder die tatsächliche Aufnahme und Akzeptanz des Anderen ist, wird nicht erklärt. Binswanger sagt lediglich, „[...] freundschaftliche Teilnahme ‚reicht so weit’, als Begegnung möglich ist.“348 Begegnung in freundschaftlichem Einvernehmen findet ihre Grenze an meiner Bereitschaft oder an meinem Willen, am Schicksal des Freundes Teil zu nehmen. Nach der überschwänglichen Darstellung der liebenden Dualität zeigt sich im freundschaftlichen Miteinandersein ein differenziertes Bild menschlicher Beziehungen: Liebe ihrerseits meint Freigabe in wirhaftes Eigensein, bietet Nähe und Heimat in Intimität, indem sie sich räumlich zeitigt. Nicht von ungefähr bildet diese Vorstellung von Liebe ein Extremphänomen, ein Ideal, dem nachzueifern in der Tat schwieriger ist, als eine Freundschaft aufrecht zu erhalten. Diese kann sich erst wieder nur auf Liebe, Liebesbereitschaft bzw. -fähigkeit gründen, die das Gewordensein des anderen voraussetzt, wodurch sich Konvergenz und Distanz ergeben. Plakativ gesagt ist Liebe das ausschließliche Zusammensein von dir und mir, Freundschaft erweitert diese Exklusivität auf andere, nicht ohne sich zurückzunehmen und zu begrenzen. denkerisch erschließen zu wollen, zieht unweigerlich Wirrnisse, überraschende Folgerungen nach sich. Der Versuch, die Einheit der Liebe in sämtlichen Liebesformen aufzudecken, liest sich dann so: „ Auch hier finden wir [...] die Einheit des Phänomens Liebe klar zum Ausdruck gebracht, eines Phänomens, das also weder zu verwechseln ist mit sexueller libido, noch mit ethischer oder religiöser Pflicht. Wenn wir auch dieser Liebe den Namen Eros zu geben dürfen glauben, so deswegen, [...] weil er in der Geschlechter-Liebe seine höchstmögliche Vollendung findet und weil er, wenn auch keineswegs Neigung im Sinne KANTs, so doch ebenso wenig Pflicht bedeutet, sonders durchaus diesseits oder besser jenseits steht des Gegensatzes von Pflicht und Neigung.“, in: AW 2, 234. Die Überwindung des Widerspruchs von Pflicht und Neigung ist konkret die Anerkennung des Anderen, der in seinem Sein geachtet wird. Die Anerkennung und Achtung des Anderen in dessen Eigensein, das dem liebenden Wir entspringt, ist, nochmals gesagt, kein billig-kitschiges Ideal, es ist Grund für jenes Zusammensein, in dem Menschen einander gegenüberstehen. 347 AW 2, 220f 348 AW 2, 228 126 Eine nochmalige Erweiterung bzw. Öffnung der Intersubjektivität bildet das Sein des Ich mit den Vielen oder den anderen Mitseienden. Um diese geht es im Folgenden. 127 5 Mitsein als personal-soziales Darstellung und Kritik des Denkens Binswangers hat sich an dieses Denken selbst zu richten; nicht das, was andere über ihn geschrieben haben, sondern was Binswanger dargelegt hat, soll zur Sprache kommen. Der Versuch, Binswangers Philosophie in ihren Grundlagen und Konsequenzen zu verfolgen, muss sich zuvorderst an den Grundformen orientieren. Als tragender Boden menschlichen Daseins zeigt sich als Prinzip und Fundament die Dualität, der im Beheimatetsein in Liebe das In-der-Welt-sein als Sorge entgegengesetzt ist. Zwischen Liebe und Sorge öffnet sich eine unerwartete Kluft, zumal dann, wenn beide Begriffe in Wechselwirkung und Zusammenhang aufgefasst werden. Binswanger zerstreut aber diese Erwartungen, weil er Sorge und Liebe als nicht miteinander zu versöhnender Status des Menschen vorführt: entweder sind Ich und Du in (geometrisch)-ortloser Heimat und zeitlicher Ewigkeit, oder Ich und Du verlieren ihr Wesen, indem sie einander in Sorge begegnen – will heißen: einer sorgt für den (oder das) zu Besorgenden.349 Die zweite Grundform menschlichen Daseins ist nach der Dualität (und der ihr benachbarten Freundschaft) der Modus der Pluralität im Sinne der Begegnung des Einen mit einem anderen oder mit mehreren anderen. Wie bereits die Wortwahl anzeigt, geht es nun um das soziale Sein abseits des liebenden Ich und Du. Dem liebenden Wir, welches Welt übersteigt, um für- und miteinander da zu sein, wird das Sein mit (mehreren) anderen gegenüberstellt.350 Ein Blick zurück auf das vorige Kapitel zeigt eine Lockerung, damit auch eine zunehmende Auflösung der streng als Ausschließlichkeit anderen gegenüber definierten 349 Näheres dazu im Kapitel 2 Eine Standortbestimmung zur Phänomenologie der Liebe und in der darin angeführten Literatur. 350 Binswanger benennt dieses soziales Gefüge – das wohl ein Konstrukt ist – als „In-der-Welt-über-die-Welthinaus-Sein“ (AW 2, 452). Merkwürdigerweise tritt dieser Begriff in den Grundformen methodisch und erkenntnisleitend relativ spät zutage, nämlich erst im zweiten Teil, der das „Wesen der Daseinserkenntnis“ zum Thema hat. Dabei spielt doch das Verhältnis von Liebe als exklusives Miteinandersein und das weithin geläufige, alltägliche Mitsein von „Mensch zu Mensch“ eine tragende Rolle. Dem oftmals auftretenden Widerspruch von Ich und Du als Wir und dem Sein mit anderen – welche auch immer – entwindet sich Binswanger, indem er die Liebe zum singularen einzigen Du zur Liebe oder zumindest zur Akzeptanz des abstrakt-allgemeinen Du (d.h. die vielen anderen) ausweitet. In seinen Worten: „Wenn Liebe und Freundschaft jeweils nur eine Zweiheit ‚betrifft’, wie kann dann eine liebende Wirheit zu einem Prinzip des Menschseinsüberhaupt erhoben werden? Die Antwort ergibt sich gerade daraus, daß der Dualis, und erst recht der Dualis der Liebe kein eingeschränkter Pluralis ist, keine Zwei innerhalb der Zahlenreihe bedeutet, sondern ein eigenes Seinsprinzip enthält, das sowohl dem Hantieren mit Zuhandenem, als erst recht dem Zählen von Vorhandenem völlig fremd ist. Die Daseinsfülle der Liebe widerstrebt [...] der abstraktesten Determinierung [...]. Die Tatsache, daß ‚man’ nicht Mehrere lieben und nicht mit Allen befreundet sein kann, bildet keinen Widerspruch zu unserer Auffassung.“, in: AW 2, 237f. Dementsprechend entzieht sich Liebe der zahlenmäßigen, d.h. der zählenden, berechnenden Bestimmung. Das angeführte Zitat beschließt das erste Kapitel der Grundformen. Wenn – so die These – liebendes Miteinandersein Freigabe in Eigensein und dessen Empfang einem Du verpflichtet ist, wird es sich weiterhin als Dasein ermöglichendes ausweisen müssen, selbst und gerade dort, wo von Pluralität die Rede ist. 128 Dualität. Des Buchtitels Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins gewahr, ist es nicht bloß nur ein Prinzip, dem sich das Miteinander verdankt und in dessen Gefolge Pluralität und Singularität sich als abkünftige erweisen, in denen sich eine Emanation des unbefragt Obersten (anthropologisch, nicht theologisch oder philosophiehistorisch als Wir zu verstehen!) manifestiert.351 Fahren wir mit dem über das vom Mitsein als freundschaftliches Gesagten fort. Dem freundschaftlichen Du ist der Stellenwert des liebenden Du verwehrt (wenngleich in der Freundschaft Liebe zutage treten kann). Umso stärker betrifft das das Zusammensein als plurales, also das Begegnen mit den Vielen. Wir treffen hier andere an, ohne ihnen jedoch sensu stricto zu begegnen, viel eher teilen wir ihnen eine Rolle zu, in welche sie schlüpfen müssen.352 Der dem Theater entlehnte Begriff Rolle erinnert an Maskenspiel, Leichtigkeit, Unverbindlichkeit; umgekehrt kann sich der Rollenträger als tragischer Held, Verliebter oder Geläuterter entpuppen. Die Rollenverteilung ist in diesem Sinn zuvor nicht festgelegt. Hier schert Binswanger aus, indem er das Mitsein von Einem und einem Anderen als Personalität ausweist, die sich nur in dieser Grundform menschlichen Daseins entwickelt. Sprechen wir von einer bestimmten Person, so wissen wir, wer damit gemeint ist, wir haben mit dieser Person zu tun oder kennen sie. Person bzw. Personalität ist – durch ihre Rolle bestimmt – eine wandelbare Figur, mithin ein Dasein, das sich wechselseitig durch andere bestätigt und anerkannt findet.353 351 Eine kontradiktorische Zäsur stellt der nun veränderte Blick auf das Miteinandersein nicht dar, wenn sie zuweilen auch diesen Eindruck macht. Dennoch tritt der Perspektivenwechsel von Ich-Du zu Ich-Wir (als Pluralität) hervor, welcher der Sekundärliteratur zu denken gibt. Diese nimmt den Standortwechsel Binswangers entweder referierend wahr (Rothe, Probleme pastoraler und psychologischer Theorienbildung aufgezeigt am Beispiel der Daseinsanalyse Ludwig Binswangers, S. 163-170), setzt ihn in Verbindung zu Löwith und Heidegger (so Theunissen, Der Andere, S. 458-462) oder verteidigt Binswanger gegen Heidegger (Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 248-291). All dem liegt Bubers Trennung der Grundworte in Ich-Du und Ich-Es zugrunde (Buber, Das dialogische Prinzip, S. 7). Buber wertet den Unterschied von Du und Es keineswegs ab, sieht er in ihm doch so etwas wie eine Notwendigkeit, die sich nicht vom Du ab- sondern der Gesellschaft zuwendet. „Es“ meint bei Buber das (manhafte) Wir, das Du, mit dem mich eine Zweckgemeinschaft verbindet. Dazu Bernhard Casper: „Buber selbst war also auf die Dialektik von Ich-Du und Ich-Es durchaus aufmerksam. Er hat sie allerdings nicht weiter thematisiert. Man darf Bubers Selbstverständnis hier recht geben, das besagt, er habe auf die beiden Seiten des In-der-Welt-seins als auf eine ‚vernachlässigte, verdunkelte Urwirklichkeit’ und ‚die große Voraussetzung für den Anbeginn des Philosophierens’ nur hinzeigen können.“, in: Casper, Das dialogische Denken, S. 283. Die Dialektik, die keinen Widerspruch darstellen muss, will Binswanger in der Pluralität hervorheben. 352 Binswanger benutzt in diesem Kapitel der Grundformen fortan folgende Handlungssituation: sämtliche Tätigkeit wird dem Ich als nomen agens zugeschrieben, sodass der betreffende andere ausschließlich als Handlungsvollzieher, als Vollzugsorgan dargestellt wird. Das Ich als aktives drängt andere in die Passivität, die bewusst in der Kapitelüberschrift genannt wird: Das Subjekt der Tätigkeit erweist sich als greifendes „Nehmenbei-etwas“, als „Nehmen-bei-der-schwachen-Stelle“, oder als „Nehmen-beim-Ohr“ und ähnliches. Ist die Definition der Dualität mit Recht als weltfremde, nicht willkürlich erfahrbare und zugleich als mich und dich konstituierende gegeben, ist analog dazu das Mitsein mit den anderen einseitig vom Ich aus angelegt. 353 Eine philosophiehistorische Übersicht geben Martin Brasser: Person : Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart. – Stuttgart : Reclam, 1999. – (Universal-Bibliothek ; 18024) und Theunissen, Skeptische Betrachtungen über den anthropologischen Personbegriff, S. 461-490 129 Anerkennung andererseits ist ein der Liebe entnommener Prozess des Menschseins, d.h., eigenes wie fremdes Dasein ist stets neu würdigend anzuerkennen. Pluralität hat Annahme, Anerkennung und Gewahren einer anderen Existenz als Hintergrund. Mit Blick auf das Sein mit den (vielen) anderen bleibt Binswanger seinem Primat der Dualität treu. Diese einzigartige Bedeutung [der Pluralität, Anm.] läßt sich nur „defizient“ aus dem ursprünglichen Zusammenhang „des einen mit dem anderen“ bestimmen, nämlich als selbstgewählte Ver-einzelung (KIERKEGAARD), welche als solche die ursprüngliche Vorherrschaft der Gemeinsamkeit bekundet.354 Gebundenheit des Ich an das Du im Wir hat entsprechende Folgen für die weiteren Grundformen des Daseins, in diesem Fall für die Pluralität. Der Widerspruch von Liebe und Sorge tritt abermals, nun in verschärfter Form hervor. Die Unverrückbarkeit liebenden Seins steht von vorneherein fest: „Die Begegnung der Liebenden als Liebende ist eine ganz andere Art von Begegnung überhaupt.“355 Von daher wird die Trennlinie von Dualität und Pluralität deutlich, letztere finden wir im Alltag, in der „Gebräuchlichkeit“, mit der wir uns konfrontiert sehen. Von Liebe ist hier keine Spur mehr zu sehen; für Binswanger ist Pluralität gleichbedeutend mit dem verschütteten liebenden Miteinandersein, das der Seinsart des Animalischen gleichkommt.356 Das Verhältnis, auch die Sprache von mir zu dir geht unter zugunsten eines unbestimmten Daseins, das dennoch Jemeinigkeit ausdrückt. Ermöglicht wird dieses Unbestimmt-Bestimmte mithilfe Löwiths Idee des „diffusen Miteinanderseins“.357 Dasein als In-der-Welt-sein trifft in der Umwelt auf seine Mitwelt, beider Grenzen sind nicht klar gezogen, vielmehr bedingen Um- und Mitweltliches einander. Lesen wir in den Grundformen, so lesen wir auch in Sein und Zeit: in dem mir und dir Zuhandenen ist der andere mitweltlich zugegen, die Diffusion von Mitwelt und Umwelt führt nur folgerichtig dazu, den anderen in der „Seinsart des zuhandenen Zeugs“358 wahrzunehmen. Liest man vom Kapitel über die Dualität bis hierher, so darf man mit Recht erstaunt sein. Soll uns Liebe nicht die Anerkennung von mir und dir ermöglichen, aus der wir als Selbstmächtige hervorgehen, weil wir nur so einzig, einmalig sein können, weil wir im schätzenden, taktvollen Dialog einander das sagen, was an unserer Stelle niemand sonst zu Wort bringt? Mitweltliches Sein indessen rückt dich und mich in ein anderes Licht. Was sich uns darin zeigt, hat sich schon angekündigt und soll nun verfolgt werden. 354 AW 2, 109 AW 2, 60 356 AW 2, 244 357 So Theunissen, Der Andere, S. 458 358 AW 2, 242 355 130 Nicht der geliebte Andere, sondern ein unbestimmter anderer erscheint und begegnet uns als jemand, der in der Alltäglichkeit und nur dort anzutreffen ist. Binswanger unterstellt dem Ich einen „lieblosen Umgang“ mit anderen, der durch einen „drastischen Mundanisierungsprozess“ verursacht ist, wie Schmidt es sieht.359 Der lieblose, vielleicht auch der achtlose Umgang sieht den anderen als etwas Zuhandenes, das am Wert seiner „Brauchbarkeit“ zu bemessen ist. Das Gebrauchen des anderen zu etwas erweist ihn als Zeug, das meinem Zwecke dient. Sobald der Zweck erfüllt ist, hat der andere den Anspruch des Gebrauchtwerdens abgelegt und tritt als von mir Unabhängiger hervor, der sich mir darin entzieht. Jemanden, der mir zunutze in Arbeit, Brot und Lohn steht, weiß ich aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten zu schätzen. Meine Anerkennung betrifft jedoch nicht ihn selbst, sondern das, was er zuwege gebracht hat. Träger und Erfüller der Eigenschaften, die ich für mich beanspruche, bleibt der andere, der meinen Anspruch freilich aus eigenen Gründen zurückweisen kann. Jetzt zumal liegt es am anderen, nicht willkürlich über sich entscheiden zu lassen, oder Anerkennung und Beziehung einzufordern: „Um Dich zu ‚er-kennen’ – und nicht nur etwas an Dir zu kennen, etwas von Dir zu wissen – muß ich ‚Dir’ im Sinne liebender Begegnung begegnet sein.“360 Dieses Zitat bestimmt unser Kapitel, welches das innerweltliche Dasein als plurales aus der liebenden Begegnung zu fassen versucht.361 Unter dieser Bedingung gibt Binswanger einige Beispiele, die man geradewegs als Opposition zum liebenden Dasein sehen möchte. Eines davon ist das „Nehmen-bei-etwas“: der mitweltlich Begegnende wird „bei etwas“ genommen, das nicht er selbst ist, sondern das er mir bereitstellt. Er steht hinter seiner Funktion zurück und bildet eine Etappe, auf der ich mein Ziel erreiche. Das Ich sieht von der Konzentration auf das Du ab – negiert dessen Singularität –, weil es auf Eigenschaften, Fähigkeiten und die Nützlichkeit des Du blickt. Statt „Du“ könnte man besser von „Er“, „Sie“ oder „irgendwer“ sprechen, ist es doch das Bemühen meiner Begegnung, den anderen in meiner Zielstrebigkeit „aufgehen“ zu lassen. Schmidt findet darin einen „funktionalen Reduktionismus“362, der den anderen in letzter Konsequenz in den Dienst der Technik stellt.363 359 Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 252 AW 2, 241 361 AW 2, 240: „[...] vielmehr ist Liebe als ein Seinsprinzip des Menschseins zu verstehen, das das In-der-Weltsein als Sorge ‚durchbricht’, gerade um sich an und in der Welt der Sorge als Liebe verstehen, betätigen, sich bewähren zu können.“ 362 Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 264 363 Man darf hier auch daran erinnern, dass ich mich selbst als Subjekt der Handlung in diesen Dienst stelle, ohne zu wissen, ob die Technik bzw. die Idee meinen Intentionen überhaupt entspricht. Herrschaft des Subjekts heißt nicht schon Bewusstsein von der Herrschaft über andere. Auch ist in Frage zu stellen, ob diese Form der Intersubjektivität unbedingt eine über den anderen oder die anderen herrschende ist. 360 131 Der Bereich der Technik eröffnet sich da, wo sich Ding und Dasein einer Funktionalität fügen, wo Dasein also nicht um seiner selbst und umwillen anderer existiert. Liebendes Miteinandersein zeichnet sich durch seine ihm eigene Zeitigung und Räumlichkeit aus, Pluralität zeigt ebensolches. In ihr ist Zeit die Dauer des „Handlungsvollzugs“364, die Handlung (das „Nehmen-bei“) muss sofort erfolgen, um den anderen festhalten und seiner habhaft werden zu können. Das Ich als agierendes bestimmt für sich eine eigene Zeit (einen Handlungsspielraum), in der es den anderen wahrnimmt. Zeit ist so verstanden kein Geschenk für und Gabe an das Du. Das „Nehmen-bei“, die Handhabe des anderen deutet zweifellos auf die Dominanz des Ich hin, wie wir sie auch in der Alltagssprache ausgedrückt finden. Die zeitlichen Charaktere jener Zugänglichkeit sind das Gegenwärtigen im speziellen Sinne des „Aufpassens“ auf die Möglichkeiten des „Entschlüpfens“. Die Zeitlichkeit des Nehmens-bei bestimmt sich also, mit einem Wort, durch die Aufmerksamkeit, und zwar die Aufmerksamkeit im Sinne des Sich-Merkens und Gewärtigens einer Bewandtnisganzheit vom Charakter der Zuhandenheit.365 Analog dazu ist auch die Räumlichkeit des mitweltlichen Umgangs eine von der Dualität verschiedene. Binswanger erwähnt das „greifende“, „beißende“, „werkzeugliche“ Nehmenbei-etwas, die allesamt einen aggressiven, anherrschenden Ton anschlagen. So sind die anderen nicht einmal mehr Auch- und Mitdaseiende, das er an Heidegger so kritisiert hatte. Der in der Mitwelt Begegnende reiht sich in meine Kategorisierung als Zuhandenes ein, das meiner Zugänglichkeit untersteht. Er existiert bloß als Genommenwerdender in materieller (im Extrem auch in animalischer) Gestalt. In diesen drastischen Wörtern zeigt sich die Grundlage der Situation – nämlich die Nähe von mir zum anderen. Je näher ich im Nehmenbei-etwas an den anderen heranreiche, desto ferner rückt er im Sinne eines Dialoges von mir weg.366 Nähe, Raum und Zeitlichkeit spielen so im mitweltlichen Umgang eine völlig andere Rolle als in der Dualität. Hier ist es Gewähren, Billigen, Zusprechen von Räumlichkeit und Zeitlichkeit an dich, die sich im liebenden Wir erfüllen. Im Wir wirst du Du-selbst, ineins bin ich ermuntert und gefordert, mein Ich anzunehmen; Binswanger stellt sich das als Gnade und Treue dar. Dort bezeichnet Nähe die Kalkulierbarkeit des anderen. Um jemanden „einspannen“, ihn „festnageln“, „ins Netz bekommen“ zu können, bedarf es der listigen, daher verlogenen Nähe zum anderen, die ihn mir gefügig macht. Ich muss den anderen zuvor bereits 364 Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 269 AW 2, 272 366 Dazu Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 268: „Diese ‚handliche Nähe’ im Zugriff, die in der GegenüberStellung von Einem und einem Anderen herrscht, ist im Gegensatz zur liebenden Nähe durch eine inhärente AbStändigkeit gekennzeichnet. Aufgrund dieser Ab-Ständigkeit kann der Bezug der ‚handlichen Nähe’ als ein Verhältnis der personalen Ferne bezeichnet werden.“ 365 132 berechnet haben, ehe ich mich seiner Nützlichkeit versichere. Die Situationen und Beispiele, die Binswangers Gedanken begleiten, entstammen hauptsächlich einem zweifelhaften, kriminellen Milieu, dessen Tatsächlichkeit und gängiges Vorkommen steht ohnehin außer Streit. Weithin praktiziert wird das Nehmen des anderen bei seiner „schwachen Stelle“, das den Eingriff in die psychische Integrität anderer offenlegt. Ohne einen feinen, kenntnisreichen Blick, der mir das Gefühl des Stärkeren gibt, ist dieser Eingriff überhaupt nicht möglich. So ist das handelnde, manipulative Ich fähig, Einfühlung und Sympathie für sich beim anderen zu erzeugen. Dieses Vorgehen schlagen wir alle zuweilen ein, wir sind darin geübt, demnach ist es uns vertraut. Die höchste und letzte Instanz der Gesellschaft indes bildet die Politik, d.h. der Staat. Das „Nehmen-bei-der-schwachen-Stelle“ seitens des Staates provoziert Willkürherrschaft, Diktatur, letztlich Krieg: „Das Nehmen bei der ‚schwachen Stelle’ hat ja offenbar das Nehmen einer feindlichen Position oder Festung zum Vorbild [...].“367 Eine subtile, weil zivilisierte Variante des Gebrauchens anderer ist die Responsabilität oder – dem Wort getreu – die Verantwortlichkeit. In ihr gebe ich mein Wort, das meine Tat ankündigt, die ich im Nachhinein zu vollziehen habe. Schaffe ich das nicht, löse ich mein gegebenes Wort nicht ein, „verliere ich mein Gesicht“. Ich muss die an mich gestellte Anforderung erfüllen, ich hafte für sie, bin verantwortlich als Vertragspartner. Ich schließe mit einem anderen ein juristisch beglaubigtes Rechtsgeschäft ab, dem beide Seiten nachzukommen trachten. Da erlaubt sich Binswanger den Zweifel an der sittlichen Redlichkeit des Unternehmens, denn Gesetzestreue geht nicht notwendig mit moralisch ausgewiesenem Tun einher.368 Offenbar unterwirft sich Binswanger einem Sinneswandel vom liebenden Miteinandersein zum Sein mit anderen hin. Dualität und Pluralität sind ein Begriffspaar, das sich nicht versöhnt, obwohl beide zu den Grundformen menschlichen Daseins zählen. Von der dritten Form des Daseins (die Singularität oder das eigentliche Selbstsein) wird thematisch abgesehen, wodurch sich manch Spannungen und Widersprüche ergeben. Binswanger widmet sich in ihr der Selbstliebe, die nicht egoistisch schlicht „Freundschaft mit sich selbst“ meint. Pluralität als Sein mit anderen, das ja auch Selbstsein ist, führt abseits der Binswangerschen Argumentation sehr wohl zu einem einander bereichernden Miteinander, 367 AW 2, 280 AW 2, 291-296. Der Dualis kennt keine Ethik als handlungsweisende, aus dem liebenden Wir soll erst Ethik hervortreten als wechselseitige Anerkenntnis von Ich und Du. Sobald ich dich als Du erkenne, verpflichtest du mich auf eine Antwort, die nur ich – will ich zu dir und zu mir ehrlich sein – geben kann. Ethik bestimmt keine konkrete Handlung (das wäre autoritativ), ihre Grundlage ist das gesprochene Wort von mir an dich. In der Ernstnahme des Wortes entwickelt sich und bewährt sich Selbstheit des Ich und Selbstwerden des Du, wenn man dies zulässt. 368 133 das allerdings verdeckt bleibt. Denn selbst im Beherrschen, im Nehmen-bei ist das Handlungsobjekt nicht von vornherein der Unterdrückte. Das Mitsein von einem und einem oder mehreren anderen steht im „öffentlichen Rahmen“, dem Zweisamkeit fremd ist. Unbeugsames Verharren in der Dualität führt letztlich zur Abwertung des Daseins als plurales, welches selbst die Liebe eingehen muss. Nur ein romantischer Illusionär verfällt dem unaufrichtigen Glauben an ein weltentrücktes, zweisames Dasein in Liebe, die in sich selbst wiederum nur sich selbst beglaubigt und aneinander Genugtuung findet. Vor allem droht in dieser Gestalt des Wir die Zerstörung des Miteinanderseins in gegenseitiger Freigabe in Eigensein. Wie ich mich und dich in einer so gearteten Konstellation verfehle, zeigt die Don-Juan-Figur, die für ihre Selbstheit zwanghaft des anderen bedarf und ihn dadurch seines Selbstes beraubt. Die Kehrseite dazu bildet jener, der das geliebte Du in sich selbst zu erblicken sucht – erfüllende wie spendende Liebe bleibt ebenso ihm versagt.369 „Wo die Wirheit der Liebe ‚aufgeht’ im ‚Grenzfall’ bloßer Zweisamkeit, ist Liebe untreu; wo sie ‚aufgeht’ im ‚Grenzfall’ bloßer Einsamkeit, ist sie ‚unglücklich’.“370 Also einerseits reine, weltlose Liebe, andererseits plurales Dasein, in dem die „vielen anderen“ das liebende Wir abzudrängen suchen. Binswanger stellt einen Modus der Pluralität dar, der zuungunsten der anderen ausfällt. Das Ich als Subjekt wird allzu oft als handelndes dargestellt, das den anderen für sich beansprucht. Aus Sicht des liebenden Ich mag das verwunderlich erscheinen, geht es ihm doch um Entfaltung und Gedeihen des Du. – Allein: Ich und Du sind nicht immer nur im Zustand des liebenden Wir. Pluralität bedeutet, dass andere „[...] nicht als Mit- und Auch-daseiende verstanden werden, und nicht ‚in der Fürsorge stehen’, sondern auch ihrerseits die ‚Seinsart des zuhandenen Zeugs’ haben.“371 Es wird ein Kompromiss zwischen liebender Wirheit und Sein mit anderen bemüht, wobei letzteres deutlich negativ gezeichnet wird, zumal es die Als-Struktur (Heidegger) trägt.372 So schreibt Theunissen mit Bezugnahme auf Buber: 369 Vgl. AW 2, 121 AW 2, 161 371 AW 2, 242 372 Binswanger kann das Wir und die Pluralität nur deshalb dermaßen in Gegensatz bringen, weil er Mitsein als zu Besorgendes versteht, das sich in Bewandtnisganzheit und Dinghaftigkeit fügt. Das in der Welt Begegnende bzw. Vorfindbare verweist auf andere, die eben mit da sind, diese sind dadurch allerdings nicht schon objektiviert, weil sie mir bloß das Vorfindbare „bereitstellen“. In seinem Kommentar zu Sein und Zeit schreibt Luckner, Martin Heidegger: „Sein und Zeit“, S. 54: „In der Welt nun zeigt sich, daß das Dasein nicht etwas allein existierendes ist. Das Dasein ist vielmehr so, daß es immer schon mit Anderen ist. Diese Anderen sind jedoch nicht zu- oder vorhanden, sie sind mit da, sie ‚koexistieren’, wie man vielleicht sagen könnte. Koexistenz wäre aber scharf zu unterscheiden von so etwas wie ‚Intersubjektivität’, denn es handelt sich streng phänomenologisch genommen beim Mitsein mit Anderen bzw. beim Mitdasein der Anderen nicht um ein Verhältnis unter zusammen vorkommenden Subjekten [...]. Mitsein und Mitdasein sind dagegen Momente des 370 134 Das gesellschaftliche Mitsein kann gleichsam ganz der Welt überlassen werden, weil das, was im Menschen über die Welt hinaus ist, in Liebe und Freundschaft eine unantastbare Heimstätte gefunden hat. Indem Binswanger solchermaßen die beiden Grundweisen [Dualität und Pluralität, Anm.] der Anwesenheit des Anderen zu Extremen auseinandertreten läßt, vertieft er den Gegensatz, in den schon Bubers (von Binswanger akzeptierte) Unterscheidung von Du und Er den Anderen zerspaltet. Auch als Er im Sinne Bubers ist der Andere eindeutiger verweltlicht als das Mitdasein, das im Sinne Heideggers von der Welt des jemeinigen Daseins freigegeben wird; denn Er steht auf derselben Stufe wie Es, wie das „rein“ Dingliche.373 Theunissen erinnert an die Einnahme eines zentrierenden Standpunktes seitens des Ich, das alles rund um sich positioniert, womit der jeweils eigene Mittelpunkt der anderen negiert wird. Die Konsequenz dieser Zentrierung lautet: „Dies allein bedeutet bereits die totale Auflösung der wirhaften Wirklichkeit.“374 Die Aufkündigung des Wir verändert die zwischenmenschliche Konstellation dahingehend, dass Ich und Du nicht mehr andere (die „Vielen“) ausschließt, sondern diesen in irgendeiner Weise verpflichtet werden, um den Begriff Pluralität einmal positiv zu fassen. In der ausschweifenden Phänomenologie des „Nehmen-bei-etwas“ fehlt ein Bezug zum anderen, der hier aufgezeigt werden soll: das Nehmen-bei-der-„schwachen Stelle“, welche Beeinflussbarkeit impliziert, kann pädagogisch oder therapeutisch sehr wohl von Wert sein. Zeigt man seine schwache Stelle, seine „schwache Seite“, so macht man sich verletzbar, man lässt Wunden – die immer Sensibilität und Feingefühl offenbaren – zu, die Ehrlichkeit und Offenheit dem anderen gegenüber anzeigen. Mitleid heischende Selbstentblößung, die an Selbstaufgabe rührt, ist damit nicht gemeint. Die schwache Stelle (deine oder meine) erinnert eher an die Konkretion des offenständigen, d.h. in der Offenheit stehenden In-der-Welt-seins. Betrachtet man Binswanger im Umfeld seiner beruflichen Tätigkeit, so wirken seine oftmals abfällig getanen Gesten der Pluralität gegenüber beinahe verblüffend, wenn nicht diskreditierend. Ist es doch er selbst, der nicht Krankheitsbilder und Krankenfälle vor Augen haben will, sondern den oft zitierten ganzen Menschen. Dazu gehört eben, einen seelisch Erkrankten nicht „bei dessen Gehirn zu nehmen“.375 Die krankhafte Weigerung eines Daseins selbst, nicht etwa dessen ‚Außenverhältnisse’.“ Binswanger fasst den pluralen Modus zu eng, als dessen Folge ergibt sich der andere als von mir gebrauchtes und beherrschtes Zeug. Dadurch geraten Struktur und Bezug von mir zu dir ins Wanken. Dem aber kommt Heidegger zuvor: „Es könnte sein, daß das Wer des alltäglichen Daseins gerade nicht je ich selbst bin.“, in: Sein und Zeit, S. 115. Das Ich der Pluralität fällt mit dem der Liebe nicht in eins. 373 Theunissen, Der Andere, S. 460 374 Theunissen, Der Andere, S. 461 375 Den Anderen in dessen Ganzheit – wie diese auch andeutungsweise zu verstehen wäre – wahrnehmen zu wollen, erfordert mehr Mut und Bereitschaft als Worte. Bleiben wir dennoch beim Wort: In dem Aufsatz Der Mensch in der Psychiatrie, erschienen 1957 – mithin ein später Beitrag –, schreibt Binswanger: „Dieses Erblicken [des anderen, Anm.] ist aber, wie gerade unsere Beispiele zeigen, kein gegenständliches, optisches 135 Patienten etwa, jemand anderen bei etwas zu nehmen und sich stattdessen in sich selbst zu verflüchtigen, beschreibt der berühmte Fall Ellen West, die sich dem pluralen Sein verweigert: Ellen West macht [...] keine Konzessionen an die Welt der Praxis, an den um-, mit- und eigenweltlichen Umgang und Verkehr, mit einem Wort an das Nehmen- und Genommenwerden bei etwas [...]. Die ätherische Welt [der Phantasien, der Wünsche, Sehnsüchte, Hoffnungen, Anm.] läßt sich hier nicht auf die Praxis ein, durchdringt sich nicht mit der Praxis und die Praxis nicht mit ihr.376 Wenn schon die Patientin vor dem (ihrerseits zu leistenden) Nehmen-bei zurückschreckt, wie kann dann der Arzt therapeutisch wirken, wenn er sie nicht bei ihrem Schwachpunkt, der eben das Nehmen-bei ist, fasst und begreifen will? Schwäche vermag nur der ausfindig zu machen, der den Grund derselben in Blick genommen hat und von da her die Schwäche lokalisieren kann. An dieser Stelle das Gedicht der Ellen West, einem flehenden Gebet gleich: Weh mir, weh mir! Die Erde trägt das Korn, Ich aber Bin unfruchtbar, Bin weggeworfene Schale, Zersprungen, unbrauchbar, Wertlose Hülle. Schöpfer, Schöpfer, Nimm mich zurück! Schaff mich ein zweitesmal Und schaff’ mich besser!377 Ellen West bietet sich selbst an, „zurückgenommen“ zu werden, in ihrer Drangsal bittet sie Gott darum. Sie weiß sehr wohl um ihre „schwache Stelle“, die sie zu heilen bereit ist, wenn sie dies in ihrem Gedicht auch negativ ausdrückt. Ist es, um bei Ellen West zu bleiben, abwegig, fahrlässig oder nicht doch hilfreich, andere (Hilfsbedürftige) bei deren schwacher Stelle zu nehmen? Binswanger vergisst, dass Schwachpunkte nicht immer das Resultat eines schwelenden Konfliktes sind, denn gerade der Konflikt beruht auf zuvor wahrgenommener Anerkennung. Perzipieren, auch kein gegenständliches Apperzipieren, sondern ein Dem-Menschenwesen-auf-den-GrundBlicken, ganz unabhängig davon, ob und wie man diesen Grund nachträglich näher bestimmen will. So wenig es den Wahnsinn als solchen ‚gibt’, so wenig ‚gibt es’ den Organismus als solchen oder das Gehirn als solches, losgelöst vom Seinsgrunde des menschlichen Daseins und seiner Koinonia oder Gemeinschaft mit dem All der Seinsmöglichkeiten. Infolgedessen ist auch ‚der Leib des Menschen etwas wesentlich anderes als ein tierischer Organismus’ (Heidegger).“, in: AW 4, 61. Ellen West, eine Patientin Binswangers, vermag sich erst gegen die Mit- und Umwelt zu verschließen, weil sie das Gegenüber in der Gestalt des anderen, liebenden und akzeptierenden Menschen scheut. Bekommt ein Mensch nicht einmal eine Vertrauensperson zu Gesicht, wird er sämtlichen späteren Kontakten misstrauisch gestimmt sein. 376 Der Fall Ellen West, in: AW 4, 142 377 Der Fall Ellen West, in: AW 4, 83 136 Wie anders kann therapeutisches, sittliches Handeln zum Ziel führen, wenn es nicht Fehler und Misslichkeiten beim Namen nennt? Der Missbrauch der dadurch entstandenen Führungsrolle verrät vor allem und zuerst den, der sie innehat. Das den anderen förderliche Nehmen-bei erinnert mehr an Heidegger als an Binswanger. Der einspringendbeherrschenden Fürsorge, die im rüden Nehmen-bei wiederkehrt, steht die vorspringendbefreiende gegenüber, der es um das Eigensein des anderen zu tun ist: Diese [vorspringende, Anm.] Fürsorge, die wesentlich die eigentliche Sorge – das heißt die Existenz des Anderen betrifft und nicht ein Was, das er besorgt, verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden.378 Um bei der Fürsorge zu bleiben: Binswanger will sie durch den Begriff Liebe ersetzen oder erweitern. Nehmen-bei-etwas bedeutet Distanz und Auseinandersetzung mit anderen; diese sind nicht von vornherein einfach gegeben, sondern sie sind ist Resultat der Erfahrung, der Begegnung mit dem anderen Menschen. Erfahrung wiederum kann ich nicht auf mich zurückführen; vielmehr begegnet mir in ihr etwas – in unserem Fall der Mensch.379 Innerhalb dieser Begegnungen entwickeln sich Zuneigung oder Langeweile, Ekel, Indifferenz oder Interesse und Teilnahme am Anderen. Es geht hier sozusagen um ein Nahe- oder Fernverhältnis, also um Vertrauen und Misstrauen.380 Liebe, so kann man mit Binswanger sagen, kennt kein Misstrauen, ist sie doch die Grundform des Daseins, in der wir uns stets schon finden. Wie der Dualis ein unvermitteltes Naheverhältnis zum Anderen bildet, so ist in der Pluralität das Näherkommen des Einen an einen Anderen ein vager, ungewisser und oftmals unterbrochener Prozess, den Ich und (ein plurales) Du durchlaufen. Begegnung in Nähe, die ein Maß an Intimität einschließt, gemahnt dich und mich an Verbindlichkeit. Wir gehen eine Bindung ein, für die wir verantwortlich sind. Vertrauen „bringt nah“, Misstrauen „fernt“, Enttäuschung ist sittlicher Ab-Grund. Der anthropologische „Grund“, auf dem so etwas wie Vertrauen, Mißtrauen und Enttäuschung möglich ist, anders ausgedrückt: die spezifische Art der Zugänglichkeit, die so etwas wie Vertrauen, Mißtrauen und Enttäuschung möglich macht, bezeichnen wir als die Sphäre der Sittlichkeit.381 378 Heidegger, Sein und Zeit, S. 122 Was uns Erfahrung lehren kann, sagt Heidegger in dem Vortrag Das Wesen der Sprache: „Mit etwas, sei es ein Ding, ein Mensch, ein Gott, eine Erfahrung machen heißt, daß es uns widerfährt, daß es uns trifft, über uns kommt, uns umwirft und verwandelt. Die Rede vom ‚machen’ meint in dieser Wendung gerade nicht, daß wir die Erfahrung durch uns bewerkstelligen; machen heißt hier: durchmachen, erleiden, das uns Treffende empfangen, insofern wir uns fügen. Es macht sich etwas, es schickt sich, es fügt sich.“, in: Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache. – 14. Auflage. – Stuttgart : Klett-Cotta, 2007, S. 159. Erfahrung auf sich zukommen zu lassen ist ein Wagnis, welches uns staunen lässt. Ein noch nie Dagewesenes tritt in unser Dasein und lenkt dieses „in andere Bahnen“, ist somit in keiner Weise berechenbar: „Das Staunen lebt vom Zufall. Im Gesetz erstickt es.“, in: Canetti, Elias: Aufzeichnungen für Marie-Louise. – Frankfurt/Main : S. Fischer Verlag, 2009, S. 45. 380 Siehe AW 2, 317 381 AW 2, 318 379 137 Diese Worte dürfen durchaus so verstanden werden, dass aus einem Nehmen-bei eine Weise der anerkennenden Freundschaft entstehen kann, in welcher das Subjekt (das Ich) und das Objekt (das Du, das „bei etwas genommen wird“) gleichberechtigt miteinander da sind.382 Denn eine ausschließlich liebende Ich-Du-Beziehung ist, um redlich zu sein, weder tragbar, noch ist sie auszuhalten. Werde ich verobjektiviert, indem ich bei etwas genommen werde – etwa bei meiner Tätigkeit, Dienstleistung oder bei meiner Hilfe – wird mir Anerkennung zuteil, die abseits der Dualität steht, jedoch für ein gemeinsam zu erreichendes Ziel unabdingbar ist. Zuletzt noch eine Anmerkung, derer sich auch Binswanger nicht erwehren kann: eine Person in Gestalt des Du ist nicht wahrnehmbar in Fällen und Ereignissen, bei denen es zuvorderst um eben diese Person und ihr Leben geht. Handelt es sich zum Beispiel um Feuerkatastrophen, Unfälle und Extremsituationen ähnlicher Art, muss der Helfende vom Du als solchen absehen, will er seine eigene Leistung nicht gefährden. Die obigen Einwände sind von der Absicht geleitet, die mancherorts zerklüftet und unvereinbar erscheinenden Grundformen als Einheit aufzudecken, die unter diversen Perspektiven und Modifikationen als auseinanderdriftende Vielfalt auftritt. Übernimmt man die Arbeitshypothese Binswangers, gerät man vor die Polarisationen, zu denen er gefunden hat – hier die Liebe unisono, da das Sein mit vielen, das in lieblosen Umgang umzuschlagen droht.383 So besehen bringt die Lektüre der Grundformen den Eindruck hervor, es handle sich beständig um dasselbe – liebendes Wir oder In-der-Welt-sein mit anderen. Erkenntnisfördernd kann man die Frage stellen: Wer bin ich und wer bist du, was sind wir uns und den anderen? Fangen wir beim ersten Teil der Frage an, die nach dem Selbstsein: zeigt sich mir ein Grund, der mich im Miteinander mit dir sein lässt oder erweist er sich als trügende Chimäre, die dich von mir fernhält, wodurch jede, auch noch so lockere Beziehung scheitern müsste?384 382 Buber streicht hervor, dass es das Schicksal des Du (und des Ich) ist, zum Es zu werden. Diese Tatsache alleine bildet keinen Grund, sich dem Schicksal willenlos und hörig hinzugeben, wodurch man vollends im Es verbleibt. Aufgabe und Grund von Sittlichkeit ist, das Du „hinter“ dem Es zu bewahren. 383 Binswanger weiß um das Kreuzen der ursprünglichen Formen des Miteinanderseins, er versucht jedoch trotzdem, diese Weisen in deren je eigener Art zu betrachten. Die Frage, geht es in den Grundformen um eine Synopse der drei Formen oder um ihr spezielles Eigengut, lässt eine eindeutige Antwort offen: „Die Pluralität ist die Grundform oder der Modus des Menschseins im Gegenübersein von zwei bis x ‚Personen’, ‚Rollen’ oder ‚Parteien’, die Dualität derjenige in der Wirheit von Ich und Du. Und wiederum ist die Singularität keineswegs ein zahlenmäßiges Element der Pluralität; denn Singularität heißt Einzelheit, ja Einzigkeit und Einmaligkeit. So sehr sich diese Grundformen auch miteinander verflechten, einander durchdringen und einander ablösen können, so wenig sind sie doch auseinander abzuleiten oder gar zu ‚erklären’. Nur in diesen Modi, ihren speziellen Abwandlungen und Verflechtungen (‚Komplexionen’) ist das Dasein wirklich bei-sich.“, in: AW 2, 345. 384 Die Frage nach dem Selbstsein ergibt sich aus dem Aufbau der Grundformen, der erste Teil hat das liebende Dasein zum Thema, in dem naturgemäß das Du den Vorrang hat, gefolgt vom freundschaftlichen Miteinander. Der zweite Abschnitt erweitert die Begegnung zu einem sozialen Gefüge. Der folgende dritte Teil, um den es nun gehen soll, widmet sich dem Selbst-sein. 138 6 Dasein als Vereinzeltes 6.1 Einleitendes Fragt man Liebende oder einander freundschaftlich Gesinnte, was denn Liebe bzw. Amikalität sei, bekommt man meist zu hören, dass uns ein tiefes Wir-Gefühl, eine Interessens- oder Schicksalsgemeinschaft oder eben schlicht Liebe verbinde. Kaum wird jemand den Eigennamen nennen und dabei behaupten, er liebe seine Frau. Das Miteinandersein schöpft aus einer Quelle, die Binswanger das liebende Wir, das Miteinander in Freundschaft nennt. Nun kann ich sehr wohl selbstvergessen, gar selbstverloren die Liebe wahrnehmen; das wird vor allem dann der Fall sein, solange diese noch jung und aufregend ist. Doch kündigt sich schon hier die Frage nach der Einzigkeit des Anderen an: was liebe ich eigentlich an dir – also eine „Liebe zum Detail“, das ich an dir entdeckt habe? Wärest du ohne dieses Attribut auch liebenswert? – Oder liebe ich dich und nehme ich dich an, weil du in Eigensein und Einzigartigkeit existierst? Obendrein fördert meine Liebe deinen Selbstand, indem sie dich ermutigt, du selbst zu sein. Selbstsein und Liebe können einander gar nicht ausschließen. Selbstheit, die nicht in der Liebe gründet, ist missverstandene Selbstliebe (als Selbstsucht) und Vermessenheit. Umgekehrt ist eine Liebe, die kein Selbstsein zulässt, dieses voraussetzt oder über dieses hinwegsieht, lediglich eine Vereinahmung des Du, wenn nicht gar eine gefährliche Illusion, in der weder Ich noch Du Platz haben. Liebe ist eines der Themen, mit dem sich Wissenschaft, Kunst, Religion wie Philosophie stets auseinandersetzen. Doch hält diese Liebe uns als konkrete Einzelne in Atem oder steigern wir uns in ein rauschhaftes, glückverheißendes WirGefühl hinein? Erblickt man in ihr nur eine ununterscheidbare Zweisamkeit, so wäre ihr alsbald der Untergang beschieden. Liebe, die keine Differenz unter den Partnern bewahrt, keine Entwicklung und Entfaltung fördert, wird zum nichtssagenden Wort. Der Begriff „Dialogphilosophie“ drückt sein Programm schon namentlich aus: Dialog umfasst (mindestens) zwei Partner, die etwas zu sagen haben. Einer gibt sich dem Anderen kund und gibt sich ihm so zu verstehen; der eine war also schon vorher ein Selbstsein, das sich nun mitteilen kann. Die Selbstheit – deine wie meine – gilt als Voraussetzung des liebenden Miteinanderseins, welche leicht übersehen wird, sobald man die Einheit der Liebe in Betracht zieht. Aufgabe der Begegnungsphilosophie ist es, den Anderen, das Du, den Geliebten denkend zu erfassen, wobei das Ich als isoliertes zurücktritt. Nicht selten entsteht so der Eindruck des totalen Seinlassens des Anderen, dem sich das Selbst subordinieren müsste. 139 Davon und auch vom völligen Einssein bzw. Verschmelzen in Liebe hält Binswanger wenig. So nennt er die erste Grundform des Daseins Dualität, in der es um Zweiheit geht und aus der heraus sich Ich und Du entwickeln. Die Selbstheit meiner und Deiner im Sinne des liebenden Miteinanderseins ist ja, wie wir wissen, keine Selbstbemächtigung im Sinne des Ganzseinkönnens der Existenz, sondern eine Beschenktheit oder Begnadetheit mit Selbstseinkönnen aus der Fülle und in der Fülle des reinen Überschwangs. Das Geschenk dieser Selbstheit ist die Einsamkeit. Im Gegensatz zur Alleinheit oder Isoliertheit ist Einsamkeit nur möglich auf dem Grunde der wahren Zweisamkeit, wie wahre Zweisamkeit nur möglich ist auf dem Grunde der Einsamkeit.385 Einsamkeit widerspricht nicht der Liebe, zumal beide – Einsamkeit und Liebe – auseinander zu verstehen sind. Man darf allerdings fragen: wie sind Ich-selbst und Du-selbst möglich, ohne dass das liebende Wir zu existieren aufhört? Welchen Stellenwert hat umgekehrt die Selbstheit der Beziehungspartner – sind beide stabil genug, um nicht in einem nivellierenden Wir aufgelöst zu werden? Die Wechselwirkung zwischen Individuum und Wir erläutert Binswanger anhand der Gabe oder des Geschenks. Jemandem etwas überreichen meint nicht nur das Geschenk, ich selbst schenke mich dir als der, der unvertretbar ich selbst bin, in diesem Sinn bin ich schon ein Einzelner. Sodann bin ich ein Ich-selbst, sofern ich von dir akzeptiert werde und in die Beziehung eintreten kann. Schenke ich mich dir und bekomme ich dich geschenkt, dann sind wir beide in Liebe einmalig und vereinzelt. Dazu bedarf es, wie Binswanger hinzufügt, der Einsamkeit. Sie ist ein „[…] der liebenden Gemeinsamkeit oder Wirheit immanenter Wesenszug, nicht weniger als die Zweisamkeit.“386 Einsam bin ich deshalb, weil ich mir meiner selbst als von dir geschenktes Ich bewusst bin. Es gilt, die positive Bedeutung des Begriffes der Einsamkeit zu fassen, der vor allem von Seiten einer Spaß- und Erlebnisgesellschaft als Privation, als Mangelerscheinung oder ungebührliches asoziales Benehmen leichtfertig abgetan wird. Einsamkeit ist in erster Instanz überhaupt kein Anzeichen einer (krankhaften, hypersensiblen) Rückzugstendenz, einer Neigung, sich in sich selbst zu verkrümmen. Sie ist Respekt vor dem Anderen in seinem Sein. Emmanuel Bove stellt das Verhältnis des Einsamen – selbst als Einsamer verhält man sich noch zu anderen – bündig dar: „Im übrigen: wenn ich einen Menschen gernhabe, will ich ihn niemals besitzen. Je mehr diejenige [das Mädchen, Anm.] zögert, desto lieber wird sie mir.“387 Die Dynamik der Dualität als das Werden von Ich und Du (als Einsame) im 385 AW 2, 166 AW 2, 116 387 Bove, Emmanuel: Meine Freunde – Aus dem Französischen von Peter Handke. – Erste Auflage. – Frankfurt/Main : Suhrkamp, 1981, S. 176. Boves Roman endet zwar in Resignation, der Autor führt jedoch den Unterschied von Einsamkeit als Folge mitmenschlicher Beziehungen und Alleinesein als Isoliertsein in Verlassenheit vor: „Die Einsamkeit: wie schön ist sie, und wie traurig. Wie ist sie schön, wenn wir sie wählen. Wie ist sie traurig, wenn sie uns aufgezwungen ist durch die Jahre. Manch starke Menschen sind in der 386 140 liebenden Wir, das uns aufruft, jene zu werden, die wir im Prinzip, im Keim schon sind, beschreibt Böckenhoff: Doch wird für die Zweisamkeit geradezu eine gewisse Einsamkeit gefordert; denn der Andere bleibt ja ein Anderer in der Begegnung. Ja, er wird erst recht in seinem Selbst wachsen. Mitsein ist zwar ursprünglicher als Alleinsein. Aber beides gehört zusammen: einsam sein und sich öffnen, wie Plus- und Minuspol. Das zum AndernSein und die letzte große Einsamkeit sind nicht kontradiktorische, sondern polare Gegensätze. Die letzte Tiefe des Andern, seine Individualität, ist nicht auszuschöpfen; sie wird in der Liebe aufgeschlossen.388 Begegnung, sei sie Liebe, Freundschaft oder ein unbeabsichtigtes Zusammentreffen, geschieht erst da, wo ich jemanden gewahre, der nicht meinesgleichen ist. Anderes wäre bestenfalls eine Spiegelung meines eigenen Ichs.389 Selbiges gilt gleicherweise für den anderen, dem ich begegne: ich bin ihm genauso fremd wie er mir. Ohne das Denken über den Dialog absichtlich zu verlassen, ist es beinahe geboten, das Ich auf sein Zu-sich-selbst-sein zu befragen, um so wieder zum Anderen zurückzukommen. Um ein Einzelner zu sein, hebt sich der Mensch von dem ab, was er nicht ist. Bei aller Bezugnahme auf Um- und Mitwelt ist er so auf sich selbst verwiesen und auf sich angewiesen. Der so sich durchhaltende Selbstand ermöglicht es, „Ich“ sagen und sich darin behaupten zu können. Jede von mir getätigte Aussage und vollzogene Handlung erweist mich als Urheber, der als solcher ein einzelner ist. Das betrifft nicht nur meine Äußerungen und Akte, es geht viel tiefer: ich kann mich in meinem Eigensten – in meinem Dasein – nicht vertreten lassen.390 Ich selbst nämlich bin es, der das mir überantwortete eigene Dasein annimmt und damit die entsprechende Verantwortung trage. Das ganz konkrete faktische Ich bildet in gewissem Sinn einen Angelpunkt, um den sich meine Weltbezüge drehen und in denen andere Menschen ihren von mir zugewiesenen Platz einnehmen, zumal sie doch von mir unterschieden sind. Würde ich die anderen unter Einsamkeit nicht allein; doch ich, der ich schwach bin – ich bin allein, wenn ich niemanden zum Freund habe.“, in: Bove, Meine Freunde, S. 205f. 388 Böckenhoff, Die Begegnungsphilosophie, S. 399 389 Von da her ist es nicht weit zu Theorien der Einfühlung, Einsfühlung, Identifizierung. Diese haben als sozialpsychologische Vorgänge gewiss ihren Rechtsgrund, versagen aber vor der Erfahrung des anderen Menschen, sobald eingestanden wird, dass sämtliche Theorien der Fremdheit den Anderen – Lévinas nennt es die Spur des Anderen – nie adäquat einzuholen und dadurch zu erklären vermögen. 390 Heidegger begreift Dasein als Faktizität. Dass Dasein ist, beruht nicht auf der freien Wahl seiner selbst, es ist und es hat zu sein. Ganz gleich, ob wir uns für oder gegen unser In-der-Welt-sein stellen, wir können über die Geworfenheit nicht verfügen: „Diesen in seinem Woher und Wohin verhüllten, aber an ihm selbst um so unverhüllter erschlossenen Seinscharakter des Daseins, dieses ‚Daß es ist’ nennen wir die Geworfenheit dieses Seienden in sein Da, so zwar, daß es als In-der-Welt-sein das Da ist. Der Ausdruck Geworfenheit soll die Faktizität der Überantwortung andeuten.“, in: Heidegger, Sein und Zeit, S. 135. Die Wahl des Wortes „Geworfenheit“ verleitet zur Annahme, Dasein sei eine aufgezwungene Last, derer man sich nicht erwehren kann. Faktizität drückt die Aufgabe, zu sein aus; es ist mir zu sein gegeben. Geworfenheit ist kein Urteil, das ich etwa vergeblich anfechten möchte, Sein ist mir überantwortet; dies macht sich vor allem da bemerkbar, wo ich mich vom Dasein und von der Welt abwenden möchte. 141 mich subsumieren, so bedeutete das einen Cäsarenwahn, der den anderen vernichtet, ohne ihn ernst genommen zu haben. Trotz Teilhabe an der Spezies Mensch bin ich ein Einzelner, der die Welt gegenüber hat; mit jedem Ich hebt eine neue Welt an. Oder, wie Emerich Coreth schreibt: In der gesamten Welt und der Geschichte ist nur ein einziger Punkt, der mir selbst gehört, der ich selbst bin – an dem ich gleichsam die Augen aufschlage und sagen kann: Ich – das bin ich. Es ist ein Punkt, an dem mir ein lichter Raum eröffnet ist: mein Bewußtsein, in dem ich mir selbst gelichtet bin, mein Erkennen, in dem das andere, die Welt, in das Licht meines Bewußtseins tritt und in diesem Licht zu meiner Welt wird. Es ist zugleich ein Punkt, an dem mir ein freier Raum geöffnet ist, in dem ich über mich selbst verfüge, mich entscheiden muß und mich entfalten soll, in dem ich mir selbst – unvertretbar und unausweichbar – überantwortet bin. Dieses einzelne, einmalige Dasein, das ich selbst bin, ist mir allein geschenkt, mir anvertraut, in meine eigene Verantwortung gestellt.391 Das Ich als Mittelpunkt seiner eigenen Welt ist ein nachvollziehbarer und stimmiger Gedanke, der den Grund menschlicher Selbsterfahrung zum Ausdruck bringt. Der Mensch überhaupt betrachtet sich als Zentrum, in welchem das Beziehungsgefüge seiner Welt ihren Platz hat. Wäre dem nicht so, könnte dieser einzelne Mensch durch einen beliebigen anderen ersetzt werden. Spätestens jetzt ist dem Argument eines solus ipse bzw. eines Egozentrismus der Boden genommen, kann doch erst ein Ich seiner eigenen Erfahrung teilhaftig werden. Erfahrung, derer man bewusst ist und offen gegenübersteht, kann nur mich betreffen, weil ausschließlich ich derjenige bin, der sich vor dem Erfahrenen zu verantworten hat.392 Überdies trifft mich Erfahrung als Einzelner, die mir meine Zukunft offenhält, die eben nur ich wahrnehme. Vergesse ich hier meine Einmaligkeit, mache ich zum willigen Opfer eines Fatalismus, eines Unbeteiligtseins oder auch zum Instrument einer Ideologie. Diese bieten eine Scheinsicherheit, die sich der Erfahrung wie der Zukunft in den Weg stellt. Damit gehe ich natürlich ein Risiko ein, wie H.M. Enzensberger betont: „Was vorn ist, weiß niemand, am wenigsten, wer unbekanntes Terrain erreicht hat. Gegen diese Ungewißheit gibt es keine Versicherung. Mit der Zukunft kann sich nur einlassen, wer den Preis des Irrtums zu erlegen bereit ist.“393 Nun kann man zu der Ansicht gelangen, die Philosophie der Begegnung ist in ihre Schranken verwiesen. Binswangers Gedanken laufen dem jedoch zuwider, beharrt er 391 Coreth, Emerich: Was ist der Mensch? : Grundzüge philosophischer Anthropologie – 4., neu bearb. Aufl. – Innsbruck ; Wien : Tyrolia-Verlag, 1986, S. 63 392 Der Einwand, in der Dualität machen wir dieselbe Erfahrung gemeinsam, übersieht den Charakter des Wesens der Erfahrung. Z.B. ist das betrachtete Bild, die gehörte Symphonie oder das gelesene Gedicht immer dasselbe, allerdings sind die Betrachter, Zuhörer, Leser voneinander verschieden. Jeder Rezipient bringt seine eigenen Stimmungen und Erwartungen mit. Du und ich können dasselbe Phänomen nie gleich erfahren bzw. erleben. Erfahrung vereinzelt, weil ich es bin, oder du es bist, der die Erfahrung, eine Situation, damit also schon eine Begegnung durchmacht. 393 Enzensberger, Hans Magnus: Scharmützel und Scholien : Über Literatur – Herausgegeben von Rainer Barbey. – Erste Auflage. – Frankfurt/Main : Suhrkamp, 2009, S. 156f 142 doch auf Selbstwerdung des Ich durch das Du. Das Ich ist weder alleine noch weltlos, erst durch Mit- und Umwelt – ohne diese dialektisch und vereinnahmend zu verstehen – gelangt das Ich zu sich selbst. Mit diesem Hintergrund wird man Coreth zustimmen: Daraus entspringt die letzte Einsamkeit, die jeder bisweilen in ihrer ganzen Tiefe erfährt. Sosehr er auch inmitten der Welt und des Weltgeschehens lebt, ist er doch im letzten auf sich allein gestellt, auf sich selbst zurückgeworfen. Er steht allein in seiner eigenen Entscheidung und Verantwortung. Niemand, auch nicht der vertrauteste und geliebteste Mensch, kann sie uns abnehmen, uns vertreten oder entlasten. Ich habe dieses einmalige Dasein allein auf mich zu nehmen. Es geht allein um mich selbst.394 6.2 Das Problem in der Philosophiegeschichte Im Dialog gelangt das Ich durch das Du zu sich selbst. Selbiges gilt für dich: mit mir und durch mich geht dir dein Eigensein auf, welches dich fordert, du selbst zu sein. Das Selbstsein realisiert sich in der Annahme seiner selbst, unter der Binswanger die Liebe zu sich selbst versteht. Von ihr ist Selbstverliebtheit, Durchsetzung des Eigenen und damit verbundener Alleinanspruch über alles andere strikt zu unterscheiden. Wiederum bleibt Binswanger dem abendländischen Denken treu, namentlich findet er bei Aristoteles und Augustinus eine Entwicklung des Begriffes der Selbstliebe. Eine theologische Anthropologie, auf Offenbarung fußend, weist er zurück, damit scheidet eine Form der Selbstakzeptanz aus – die religiöse. Der andere Grund – Selbstliebe als ethisches Phänomen – fällt ebenfalls weg.395 Religion und Ethik werden ausgespart, um die Selbstliebe rein auf eine philosophische Anthropologie zu gründen. Ethik wie auch Religion sind nun einmal menschliche Phänomene, gerade auch dann, wenn der Atheismus als Sinngeber auftritt bzw. wenn Ethik nach eigenem Gutdünken modifiziert wird. Dessen ungeachtet entwickelt Binswanger seinen Standpunkt von Aristoteles und Augustinus heraus, die gleichsam als Gewährsleute dienen. In einem weiteren Schritt kommt er auf seine eigenen Überlegungen zu sprechen (das diskursive Sein-zu-einem-selbst), die in einem dritten Schritt weiter ausgebaut 394 Coreth, Was ist der Mensch?, S. 64 Das Verhältnis Binswangers zu Religion und Ethik ist ambivalent, was im Denken des Dialogs ungewöhnlich erscheint. Religion entspringt nach ihm der Dualität, die Unableitbarkeit schlechthin bedeutet. Nicht Gottebenbildlichkeit bzw. Gott als Grund des Seienden ist Maßstab zwischenmenschlicher Begegnung, sondern Dualität ist das letzthin Gründende. Religion ist demnach eine mögliche Folge des Miteinanderseins und nicht zwingend gleichbedeutend mit der Freigabe ins Dasein von mir und dir: „Der Aufweis der Verwurzelung eines ‚religiösen Bewußtseins’ im liebenden Miteinandersein darf also nicht dazu verleiten, die Liebe als solche als religiöses Phänomen zu bezeichnen.“, in: AW 2, 348. Dann wieder ist Gott das allgemeine Du als Schöpfer des Geschenkes, deiner und meiner Existenz. Es heißt explizit, dass „[…] wir den Grund unserer Begegnung nicht nur nicht selbst gelegt, ja auch nicht von uns selbst her ergriffen haben, sondern daß er uns ‚ergriffen’ hat.“, in: AW 2, 346f. Ob dies eine Erfahrung Gottes als Grund Gebender ist oder vielleicht ein psychisches Gestimmtsein, lässt Binswanger offen. Dazu Theunissen, Der Andere, S. 475: „Nie dagegen sagt er [Binswanger, Anm.]: der Ursprung der Liebe, der Schöpfer der Gnade ist Gott. In den phänomenalen Befund der Liebe fällt also nicht das Faktum Gott, sondern nur das Faktum, daß wir, Ich und Du, unsere Liebe auf Gott zurückführen.“ 395 143 werden. Fragestellung und Programm zielen darauf ab, „[…] ob es eine Art der Selbstliebe gibt, die der Liebe oder Freundschaft in dem von uns herausgearbeiteten Sinne der liebenden Begegnung oder Teilnahme entspricht, oder ob es nicht der Fall ist.“396 Inwieweit er sein Vorhaben einlöst, ist Gegenstand der folgenden Überlegungen. Die aristotelische Selbstliebe (ἡ φιί) und der augustinische amor sui, der nicht vom amor dei zu trennen ist, bilden unzureichende Beispiele von dem, was Binswanger darunter versteht.397 Liebe und Selbstliebe sind miteinander so verflochten, dass beide Arten der Liebe zuweilen unentwirrbar sind. Dem fraglosen Verständnis sind sie quasi eine Weise der Liebe – Selbst- und Andernliebe bedingen einander. Das ist im Grunde auch völlig richtig und konsequent, der Zuspruch, den mir andere geben, fordert mich auf, zu sagen: „Es ist gut, dass ich da bin.“ Heidegger spricht in derselben Hinsicht, dass mir zu sein (auf)gegeben ist. Zu-sich-selbst-sein ist anderen, seien es die Eltern, eigene Kinder, Freunde, der geliebte Mensch, geschuldet. Das ist inmitten der alltäglichen Wahrnehmung zwar verdeckt, aber dennoch bleibe ich im Wirbel und Wandel der hektischen Geschäftigkeit ich selbst, auch wenn sich dies erst im Nachhinein herausstellt. Auch Aristoteles orientiert sich am alltäglich Feststellbaren: die einen (vielleicht die meisten?) lieben einander, um wechselseitig Nutzen zu ziehen, anderen ist Liebe Lustgewinn: „Wer also jemanden liebt, weil er nützt, der liebt um eigenen Gutes willen, und wer aus Lust liebt, liebt aus eigener Lust, und nicht, weil der Geliebte das ist, was er ist, sondern weil er nützlich oder angenehm ist.“398 Das so gelebte Miteinandersein verbirgt und offenbart zugleich eine Liebe als Selbstsucht. Der eine gibt seinen Neigungen – die Aristoteles den niederen Seelenteilen zuordnet – nach, wobei der andere als Erfüllungsgehilfe zu dienen hat. Sobald die Lust gestillt ist, wird der andere nicht mehr beachtet, denn er steht jedem weiteren Eigennutz bloß hinderlich im Wege: „Wohltaten empfangen wollen ja viele, aber sie zu erweisen meidet man als unnütz und lästig.“399 In der Selbstsucht kehrt das alte Wort siech – krank – wieder, der Selbstsüchtige ist an sich selbst erkrankt, er leidet am eigenen Dasein. Sei es, dass er sich seinem Dasein verweigert und sich gegen es sperrt, oder sich nicht annimmt als der, der er zu sein hat oder als der, der er – durch andere – sein darf. Binswanger nennt dies das Sein „von Gnaden deiner“400. 396 AW 2, 350 Das Urteil über Aristoteles lautet: „Eine phänomenologische Wesensanalyse dieses Selbst dürfen wir hier also nicht erwarten […].“, in: AW 2, 350. Was die christliche Selbstliebe betrifft, lesen wir auf Seite 355: „Auch hier kann es sich nicht um Liebe in unserem Sinne handeln.“ 398 Aristoteles: Die Lehrschriften – Band 11 : Nikomachische Ethik. – Herausgegeben, übertragen und in ihrer Entstehung erläutert von Paul Gohlke. – Paderborn : Schöningh, 1956, zitiert als NE, 56a 399 NE 1163b 400 AW 2, 401 397 144 Selbstliebe bei Aristoteles ist weniger vom Dialog mit anderen geprägt als von zwei Perspektiven, unter denen er den Menschen betrachtet. Die eine bildet jenes Selbst, das der Vernunft, dem Maß, also dem όentspricht; der andere Seelenteil fühlt sich der Leidenschaft, dem Affekt (τὸ ά angehörig. Man wird nicht meinen wollen, diese beiden Seelenteile verhielten sich kontradiktorisch zueinander, sind sie doch Teile eines gemeinsamen, sie beide umfassenden Ganzen, eben der Mensch. Um weder ausschließlich der „reinen Vernunft“ (die trotzdem noch der Erfahrung bedarf) noch der ausufernden Leidenschaft (die selbst auch unter den Regeln der Vernunft steht) den Vorrang zu geben, spricht Aristoteles vom Begriff der Mitte (ἡ ό, die die Einheit des Menschen gewähren soll. Großzügigkeit z.B. ist das Mittlere zwischen purer Verschwendung und hartnäckigem Geiz. In diesem Maß, das nicht zuviel verlangt und nicht zuwenig fordert, ist der Mensch in seiner Mitte, d.h. frei von Selbstsucht und Selbstverleugnung. Die Definition des Menschen als vernunftbegabtes Lebewesen stammt von Aristoteles selbst, dementsprechend ist das Verhalten zu anderen wie zu sich selbst vernunftgeleitet: „Nun macht das Denkvermögen unser Wesen aus, oder doch hauptsächlich. Auch zusammensein will ein solcher mit sich selbst, weil es ihm Freude macht.“401 Warum aber Freundschaft mit mir selbst, wenn ich lediglich aus ihr Freude empfinde? Er antwortet: der, der nicht die Mitte einschlägt, hätte nichts Liebevolles an sich. Das ist nicht moralistisch zu sehen, denn der Unmäßige, der aus dem Lot geraten ist, trifft in seinen Entscheidungen nicht das Gute oder die Tugend und ermangelt daher der Liebe. Die – vernunftgeleitete – Liebe wird weder ihm noch den Mitmenschen zuteil; im Extremfall wird daraus Hass und Abscheu sich selbst und anderen gegenüber.402 Jemand, der sich von der Liebe nicht angenommen weiß, die ihm hätte gelten sollen, vermag kein treues Selbstverhältnis durchzuhalten. „Darum ist also der Schlechte gegen sich selbst nicht freundschaftlich gestimmt, weil er nichts Liebenswertes [der Liebe Würdiges, Anm.] hat.“403 Das Übereinkommen mit sich dagegen, das sich im „Seelenfrieden“ bekundet, spiegelt Freundschaft zu anderen wider. Darin liegt das Interesse Binswangers, Liebe des anderen und Selbstliebe weisen Gemeinsamkeiten auf, die Aristoteles hervorgehoben hat. Im Kapitel über die Dualität wird das Thema des freundschaftlichen Miteinander aufgeworfen, das nun in veränderter Form wiederholt wird. War dort die Freundschaft eine Erweiterung 401 NE 1166a Dramatisch drückt es Shakespeare aus, der Elisabeth im Richard III sagen lässt: „I’ll join with black despair against my soul, And to myself become an enemy.“, in: Richard III, 2. Akt, 2. Szene. 403 NE 1166b. Hier zeigt sich die Autodestruktion. Selbsthass als letztgültige Verneinung all dessen, was ist, bejaht im Grunde dieses, lässt es aber nicht zu. Aus objektiver Sicht kann man sich selbst nicht hassen, weil man sich im Selbsthass vorausgesetzt und in diesem sich selbst angenommen hat. 402 145 der Dualität als Zuwendung dem oder den Dritten gegenüber, ist die Singularität (Eigenliebe, Eigensein, Sein zu sich selbst) eine Freundschaft mit sich selbst, zumindest ist sie ein Verhältnis zu sich selbst. Ergeben sich bei Aristoteles Parallelen zwischen Selbstakzeptanz und Freundschaft mit anderen, so werden diese bei Augustinus in der Dimension des Göttlichen betrachtet. Selbst ein undifferenzierter Augenschein erkennt in Aristoteles’ und in Augustinus’ Gedanken über Selbstliebe Ähnlichkeiten, nicht nur, weil beide dasselbe Phänomen zu erhellen suchen. Ersterer führt als höchste Instanz menschlichen Tuns den Verstand (ὁ ῦan; Augustins Philosophie weist ebenso dem intellectus die führende Rolle zu. Die gravierende Differenz zwischen beiden erwächst durch den christlichen Glauben, nach dem es vorbehaltlos Gott zusteht, die Liebe zu sein.404 Man mag sein Denken unter der Maxime „credo, ut intelligam“ verstehen, die eine Vermittlung des Glaubens mit dem Denken zu sein beansprucht. So nähert sich Binswanger an Augustinus an, wo dieser vom Göttlichen spricht, das sich dem Menschen nur glaubend-erkennend öffnet:405 Aber wie ARISTOTELES in der φί(nur) die Freundschaft mit unserem vernünftig-geistigen Sein erblickt, so erblickt AUGUSTINUS in der Selbstliebe (nur) die Liebe zu unserem göttlich-geistigen Sein, zum mens „in uns“.406 Die grundlegende Weise der Liebe ist vor allem die Liebe zu Gott. Das Ich ist damit als theologischer Begriff des Geistes gefasst, der die anthropologische Interpretation in sich aufnimmt. Eine rein vom Menschen her gesehene Auslegung der Liebe wird durch die Konzentration auf die göttliche Liebe überstiegen. Augustinus entnimmt seinen Gedanken der Trinität; wie die Dreiheit einen Binnenbezug aufweist, durchläuft die menschliche Liebe ebenfalls einen Dreischritt: Gottesliebe, Nächstenliebe und Annahme des Selbst verweisen aufeinander. Im dualen Wir lieben Ich und Du einander, um jene sein zu können, die wir der Potenz nach bereits sind. Liebe ich dich, so akzeptiere ich dich und „lasse dich zu“ – so liebe ich dich derart, wie es niemand sonst an meiner statt zuwege bringt, zumal ich dich liebe. In diesem Prozess gewähren wir einander wechselweise Einzigartigkeit: „Je größere Wirklichkeit der Wirheit, um so größere Möglichkeit der Selbständigkeit von Mir und Dir, 404 Eine grobe Fehlinterpretation erliegt dem Irrtum, der Mensch wäre deshalb von jeglicher Liebe ausgeschlossen und daher zur Liebe unfähig. Die Liebe Gottes zeigt sich als Urkraft, die uns sein lässt. Damit stößt Augustinus an eine Frage, an der kein Denken der Begegnung vorbeikommt: ist liebendem Miteinandersein ein göttlicher Boden unterbreitet oder nicht. 405 An dieser Stelle macht Binswanger der Religion eine respektvolle Konzession: „Wo von wirklicher SelbstLiebe – also nicht im Sinne der Eigenliebe, der Selbstsucht oder des Egoismus, der mit Liebe im anthropologischen Sinne nichts zu tun hat, und nicht im Sinne des freundschaftlichen Umgangs mit sich selbst – die Rede ist, da befinden wir uns in der geistigen Sphäre des Christentums, in einer bestimmten theoanthropologischen Sphäre also, in der nicht nur der amor sui untrennbar ist vom amor proximi und beide vom amor dei […].“, in: AW 2, 355f. 406 AW 2, 358 146 […].“407 Binswanger untermauert sein Verständnis von Liebe mit dem Dasein als In-derWelt-sein, welches mit Religion als solche nicht (mehr) in Berührung steht. Die überkommenen philosophischen und theologischen Fundierungen der menschlichen Existenz sind der Technik und den Wissenschaften bzw. der Entgötterung gewichen.408 Skepsis gegenüber der Technik und der durch sie geprägten Zeitläufte ist – nach Heidegger – nur mit dem „kommenden Gott“ zu begegnen; Binswangers Zweifel an der Liebestheorie des Augustinus findet seinen Gegenpunkt im Theologen Michael Schmaus, den er zu Wort kommen lässt: Doch lieben wir Gott um seiner selbst willen, den Nächsten um Gottes willen. Auch uns selbst lieben wir mit der gleichen Liebe. Auch die wahre Selbstliebe erfolgt um Gottes willen. Wer sich wahrhaft zu lieben versteht, der liebt Gott. Wer Gott nicht liebt, scheint sich eher zu hassen als zu lieben.409 Unterstützung findet Binswanger ebenso bei Hannah Arendt, deren Standpunkt er teilt. Der geliebte Andere fungiert als Ausgangspunkt für die Gottesliebe; den Gedanken Augustinus’ extrem verknappend kann man meinen, es werde durch das Geschaffensein der Schöpfer geliebt: „An jedem einzelnen Menschen wird derselbe Ursprung geliebt, jeder Einzelne ist diesem identischen Ursprung gegenüber nichtig.“410 Der geliebte Mensch dient nur als Vehikel zum göttlichen Du, das verlassen wird, sobald sich die Liebe in Gott erschöpft. Das Du verweist in seiner Geschöpflichkeit auf Gott als ursprünglicher Grund unseres Daseins. Die Annahme seiner selbst wie die des Geliebten muss nicht notwendig durch den Glauben motiviert sein, deshalb trennt Binswanger den christlichen vom anthropologischen Liebesbegriff. Ausschließliche Hinwendung zu Gott lässt den Einzelnen und den Anderen außen vor. Gleichwohl ist an dieser Stelle eine Bemerkung angebracht: Das oftmals vorgebrachte Argument der Nächstenliebe übersieht die darin ebenfalls gebotene Selbstliebe, sofern sie diese als Eitelkeit, Selbst- und Gefallsucht entlarven will. „Liebe deinen Nächsten“ heißt dann immer auch: „denn du selbst bist diese Liebe“.411 407 AW 2, 111 Scheidet der religiöse Glaube als Basis personal-dialogischer Beziehung aus, warum beruft sich Binswanger ausgerechnet auf Augustinus? Er distanziert sich vom technisch-wissenschaftlichen Weltbild ebenso wie vom rein religiösen. Die Bezugnahme auf die antiken Denker bildet ungeachtet ihrer Argumente einen philosophiegeschichtlichen Hintergrund für seine eigene Deutungsebene. 409 AW 2, 362 410 Arendt, Hannah: Der Liebesbegriff bei Augustin, zitiert in: AW 2, 364 411 Bin ich selbst diese Liebe, dann suche ich, den anderen zu sich selbst zu bringen und uns im liebenden Wir Selbständigkeit zuzutrauen. Den für Binswanger typischen weitschweifigen Reflexionen entnimmt man dazu in einer Fußnote: „Hier wird übrigens ersichtlich, daß und inwiefern man die vorausspringende Fürsorge HEIDEGGERs als eine säkularisierte christliche Nächstenliebe bezeichnen könnte.“, in: AW 2, 363, Fußnote 19. Augustinus bietet sich Selbst-, Nächsten- und Gottesliebe in trinitarischer Form dar, Binswanger indessen fühlt sich der philosophischen Anthropologie verpflichtet, muss demnach die Liebe Gottes beiseite lassen. Man braucht deshalb nicht die Konsequenz zu ziehen, wie es Feuerbach tat, der im Wesen des Menschen Gott erblickt. Nächstenliebe ist nicht schon Gottesliebe, wie auch die Tugend der Gottgefälligkeit in Geringschätzung 408 147 Die Pluralität der Menschenmenge ist der Verantwortung enthoben, weil in ihr ein Einzelner gar nicht ausgemacht werden kann. Spielt sich im Gegenteil ein Einzelner in seiner Selbstsucht auf, dann vermeint er, Herr des Unbeherrschbaren zu sein. Singularität strebt hingegen an, nicht mehr zu sein bzw. danach zu trachten, als mir zu sein geboten ist – aber auch nicht weniger. Aristoteles’ Empfehlung, die Mitte zwischen den Extremen einzuschlagen, klingt hier ebenso mit wie Jesaja, den Binswanger hinzuzieht. Der alttestamentliche Prophet ringt um das Heil des Geschaffenen, das sich nicht erheben soll, um einen nicht gebilligten Platz einzunehmen: „Weh dem, der mit seinem Schöpfer rechnet, er, eine Scherbe unter irdenen Scherben. Sagt denn der Ton zu dem Töpfer: Was machst du mit mir?“ (Jes 45,9) Es steht nicht an, Jesaja auszulegen, sein Satz steht für die Fügung in sich selbst und in der Mitwelt. Singulares Dasein existiert sodann in der Vereinzelung im Sinne der Gliedhaftigkeit eines Umfassenden, von dem es als Teil abhängt. Zwar gibt es das Ganze erst, wenn es Einzelnes in sich versammelt, daher bedarf die Singularität als Unvollkommenes der Welt und des Du und soll doch des Gründenden gewahr sein. Zweifellos steht Binswanger der christlich-abendländischen Tradition nahe, ohne die sein Begegnungsdenken in dieser Form gar nicht zustande gekommen wäre. Einheit im Wir und Vereinzelung in Ich und Du führt er auf die Überlieferung zurück: „Dieser höchsten Einsicht christlich-religiöser Theo-Anthropologie, der Einsicht in die Fragmenthaftigkeit jedes Ich, kann sich auch die säkularisierte Anthropologie nicht verschließen!“412 6.3 Singularität im Sinne Binswangers Das bislang Erörterte bildet eine historische Annäherung an das Problem der Einzelhaftigkeit, es hat über dieses noch nichts entschieden. Ein Schritt ist allerdings schon getan, nämlich der, dass philosophische und theologische Anthropologie nicht deutlich zu trennen sind. Wie führt Binswanger diesen Gedanken weiter?413 Die Frage nach dem Selbst öffnet sich damit umso weiter. Eine erste Antwort gibt Binswanger mit dem Hinweis auf die Diskursivität des Daseins, wie sie im Modus der Pluralität herausgearbeitet wurde. Ist es bereits herausfordernd genug, den Einzelnen, den Geliebten verstehen zu wollen, so verändert sich die Verstehensweise, in der ein Ich sich mehreren Mitdaseienden zuwendet. anderer umschlagen kann. Wie immer der Begriff der Sorge zu fassen ist, sie gilt in jedem Fall den Mitdaseienden. 412 AW 2, 381 413 Er betritt wiederum heikles, manchmal umstrittenes Terrain, hier in Gestalt der zuweilen unscharf gezogenen Trennlinien zwischen Theologie und Philosophie. Er reiht sich damit in die Schar der „Grenzgänger“ ein, die es in Kauf nehmen, angrenzende Wissenschaften zu verfolgen, um deren Resultate wahrzunehmen. Das Risiko, Grabenkämpfe ausfechten zu müssen, wohnt der Interdisziplinarität notwendig inne. 148 Nicht dir gilt ungeteilte Aufmerksamkeit, auch andere fordern meine Gegenwart ein. Die unvermeidliche Begegnung mit den Vielen gestaltet sich in der Weise des […] schrittweisen, von einer Stellung zur anderen fortschreitenden, ver-stehenden und ver-nehmenden Auf-Tretens, also des Durch-Schreitens, mit einem Fremdwort, der Diskursivität.414 Dass das Schreiten um die anderen und um sich selbst noch nicht zum Eigenen führt, dieses vielmehr in Schwebe hält, ist Binswanger bewusst, warum aber bemüht er die Diskursivität als Modus des Daseins? Das Gegenüber in der Singularität ist nicht das Du oder die vielen, sondern das Ich selbst. Genauso ist der Verstehensraum die Eigenwelt. Angesichts des Gewichtes der Dualität erscheint die Eigenwelt als etwas Leeres und Substanzloses.415 Im Weiteren wird Binswanger das Selbst als etwas Bodenloses oder nur unzureichend Fassbares verstehen. Was in der Diskursivität vernehmend umschritten wird, bin ich selbst; ich bin Vernehmender und Vernommener zugleich. Umkreise ich in der Pluralität andere, um sie „bei etwas“ zu nehmen und sie unter ein Schema zu fassen, dann treibe ich in der Einzelheit ein Rollenspiel mit mir selbst – ich agiere als Schauspieler, der der eigenen Regie untersteht. Ich spreche zu mir selbst, indem ich diverse Standpunkte und Perspektiven einnehme. In diesem Fall stehe ich unter Voreingenommenheit und Parteilichkeit, die jede Indifferenz unterbindet. Im Selbstgespräch lässt sich nichts Unbekanntes erfahren, in ihm sage ich mir das, was ich zuvor schon gewusst habe, psychische Konflikte oder Gewissensfragen werden in ihm selten gelöst. Binswanger nennt es ein „[…] Quasi-Gespräch, und zwar auf Grund der strukturellen Nivellierung, die die Struktur des Gesprächs im Selbstgespräch erfährt.“416 Nun ist liebendes Miteinander entsprechend konfliktanfällig, gerade weil wir einander in beidseitigem Interesse zusprechen, das je unser Eigenes betrifft.417 Anders als man glauben mag, führt das Selbstverhältnis als Rollenspiel mir gegenüber nicht zum Selbst, sondern verbleibt im Dilemma zwischen „[…] dem rollenhaften oder standpunktlichen Zu-sich- 414 AW 2, 307f Die Leere und mit ihr eine gewisse Undefinierbarkeit des Ich-selbst bzw. des Einzelnen taucht in Binswangers Argumentationen öfters auf. Phänomene wie das „nackte Grauen“, Schlaf, Psychose, der Einzige bei Max Stirner werden angesprochen. Hinter all dem stehen pathologische Phänomene, in denen Menschen weder andere noch sich selbst wahrnehmen, weil ihr In-der-Welt-sein Störungen und Verzerrungen unterliegt. Singularität bleibt unter totaler Ausschaltung der Dualität ein rein defizientes Dasein. Hieraus erklärt sich das Negative, manchmal Inhumane, das diesen Beschreibungen anhaftet. 416 AW 2, 387, Fußnote 16 417 Binswanger gesteht der Auseinandersetzung mit sich selbst eine Form der Selbsterkenntnis zu, spricht ihr hingegen Selbstliebe ab. Liebe hat ihren eigentlichen Ort in der Dualität, die dich und mich sein lässt. Dass Angenommen- und Aufgehobensein auch Liebe zum eigenen Dasein bedeutet, ist für ihn merkwürdigerweise ohne Relevanz. Liebe als universaler, tragender Leitbegriff erfährt eine Einschränkung: sie gilt anderen, ich bin passiv ein Geliebter (welches Binswanger zu betonen oft unterlässt). Eines muss hinzugefügt werden: Es ist gut und richtig, dass ich so da bin, weil ich mich von anderen geliebt finde und ich darf diese Liebe in Selbstliebe wandeln und annehmen. Alles andere käme einer Verneinung der Seinsgabe gleich. 415 149 selbst-sein und dem eigentlichen Selbstand oder Selbstsein.“418 Um den Überblick zu wahren: Binswanger unterscheidet drei Formen des Selbst, die allesamt „dasselbe Selbst“ beschreiben: 1) das Ich in Dualität, 2) das Ich in Gegenwart der vielen und 3) das eigenweltliche Gegenübersein, das in Habitualität und Rollenhaftigkeit zum Vorschein kommt. Die letzten zwei Formen setzen dabei das liebende Ich voraus, das aus der Beziehung zum Du als ursprüngliche Form des Miteinanderseins den vielen und der Eigenwelt begegnen kann. Genauer betrachtet ist die Eigenwelt auch schon vom Anderen getragen, der mir den Boden meines Seins legt.419 Der Gedanke – zugleich die Gefahr – liegt nahe, das geschuldete Dasein befinde sich in höriger Abhängigkeit von ebendiesem. Allerdings stünde jener Andere durch infiniten Regress selbst wieder in Abhängigkeit von dem, der ihn ins Sein gebracht hat. Wovon in der Dualität gehandelt wurde, kehrt im singularen Modus erneut wieder – die anerkennende, respektvolle Freigabe in unverwechselbares Eigensein. Im liebenden Wir bin ich auf dich hingeordnet, ohne mein Eigenes hintanzustellen; die Partner sind als Liebende sie selbst, ohne vom Wir nivelliert zu werden. Weder das Wir noch der Einzelne darin hat den Anspruch auf Absolutheit. Eine Beziehung aufnehmen heißt, ein Subjekt sein, in der Begegnung jedoch werde ich das Ich eines Du. In bezug auf das Zu-sich-selbst-sein bedeutet das: Wenn ich michselbst [sic!] in „Opposition“ zu den Anderen, in Wirkung und Gegenwirkung, in Förderung und Hemmung als rollenhaftes Selbst, in Anerkennung und Anerkanntwerden als eigentliches Selbstbewußtsein, in Lieben und Geliebtwerden als Ich von Gnaden Deiner selbstige, in der Bemächtigung des Grundes als meinem schließlich mich als eigentliches oder existenzielles Selbst zeitige, so hebt sich ineins damit auch je meine Welt aus der Welt der Anderen, Deiner oder einer anderen Existenz heraus und zwar auf je besondere Weise.420 Ein autonomes, selbstbezogenes Dasein ist unter diesen Vorzeichen nicht in der Lage, den anderen für dessen Sein frei zu machen, es ist der Liebe nicht fähig. Umgekehrt wiederum findet das „[…] Dasein unserer Überzeugung nach den Weg zu sich selbst nur unter Vorherrschaft des Wir, der Sehnsucht oder Urbegegnung.“421 Die Frage „Wer bist du und wer bin ich?“, der sich vielleicht Binswangers Gesamtwerk verdankt, setzt ja bereits eine Erfahrung voraus, nämlich unsere Begegnung miteinander. Man wird es bei dieser Frage nicht als zufälliger belassen, vielmehr will man dieser Begegnung und damit uns selbst „auf den Grund gehen“. Der Tradition können etliche Antworten entnommen werden, sie alle sind daraus zu verstehen, einen einhelligen und einsichtigen Grund deines oder meines Daseins 418 AW 2, 393 Am markantesten trifft das auf das Phänomen der menschlichen Geburt zu, in der ich mich als jemanden erfahre, dem der Seinsgrund geschenkt wurde. Allein dadurch bin ich auf andere hingeordnet. 420 AW 2, 401 421 AW 2, 114 419 150 aufzuweisen. Aus Sicht des menschlichen Schicksals ist das klarerweise eine berechtigte Form der Sinnsuche. In diesem Fall setzt die Suche nach dem Sinn denselben voraus. Die Grundfrage meint schon ein Grund-wissen, sei es auch vage und umrisshaft. Der Begriff „Grund“ ist ein weitverzweigter, der nicht selten mit dem Gegründeten ineins gesetzt wird, was in Folge zu Verwirrung und Verwechslung beider führt. Binswanger spezifiziert deshalb das Selbstsein „[…] als Sein zum Grunde, und zwar zum Grunde je meinen, je deinen, je seinen Daseins (abgekürzt: zum Grunde als meinem).“422 Zum tiefsten Grund des Daseins gelangt er durch die Diskussion der Dualität; als ob diese nicht erörterungswürdig genug wäre, wird das Bewusstwerden des je eigenen Grundes gefordert. Haben wir unseren Grund im Wir, welches dich und mich zum Eigensein ermuntert, so darf auch nach dessen Grund gefragt werden. Es geht also um zwei Gründe: der erste als ein Du, das sich mir zuspricht und mir so mein Sein eröffnet, das ich als Seiender wahrzunehmen und zu vollziehen habe. Zweitens: das Dasein als Sein zum eigenen Grund. Was bedeutet Grund, ist er erfahrbar, zeigt er sich also? Ist der Grund kein Grund, wenn er sich nicht offenbart? Klassisch wird der Begriff im Satz vom Grund erfasst. Logisch besagt er, dass jede Aussage vernünftig und verbindlich ausweisbar ist. Der Grund macht offenbar, warum etwas so und nicht anders ist (principium rationis sufficientis). Anders in der deutschen Mystik, die unter Grund Innerlichkeit, Wesen, Ursprung, auch Seele versteht. Der Satz vom Grund bedeutet als Axiom, dass kein Seiendes ohne Grund bzw. Tiefe existiert – dieses wäre bloß oberflächlich und unverbindlich. Grund bildet daher die Basis des Soseins von Daseienden. Dies zeigt sich bereits im Alltag, in dem wir nach Gründen, Ursachen fragen, um auf „sicherem Boden“ stehen zu können. In Bezug auf das Miteinandersein zeigt sich die Frage nach dem Grund allerdings zwiespältig. Einerseits gründe ich in dir, im liebenden Wir; dies ist die eine Grundform, „[…] ein Sein zum Grunde als unserem, als Heimat, Geschenk oder Gnade.“423 Andererseits geht es um das selbständige Ich im Wir; welcher Grund lässt das autonome wie das liebende Ich sein, wer trägt es ins Dasein? Vorerst ist nur von einem Grund die Rede: […] denn wenn wir wirklich Ernst machen mit der Frage nach der Seinsweise des Ich bin – das heißt aber zugleich, nach der Wahrheit seines Offenbarwerdens – so gewahren wir rasch, daß es sich hier keineswegs um ein „abgeschiedenes“ In-sichSein handelt, sondern um eine „gegründete“ Seinsweise, d.h. um eine solche, die von einem Grund ihres Seins „weiß“, und sei es auch nur, daß sie nach einem solchen frägt. Und zwar kann dieser Grund nur liegen im Sein überhaupt […].424 422 AW 2, 407 AW 2, 408 424 AW 2, 407 423 151 Die zweite Weise des Selbstseins hat im liebenden Wir ihren Grund und Boden.425 Was nimmt er von Heidegger auf, wo grenzt er sich ab? Eine Form des Satzes vom zureichenden Grund – „Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts?“426 – wird üblicherweise als Frage nach dem Etwas, nach einem tatsächlich vorliegenden Gegenstand gestellt. Nach einem Etwas kann aber erst gefragt werden, weil es ist. Demnach müsste der Akzent auf dem ist bzw. sein liegen, was aber meistens nicht im Vordergrund steht. Über das Sein wird hinweggesehen, um verschiedenes Seiendes in den Blick zu nehmen. Die Konzentration liegt auf dem Seienden, ohne auf dessen Bezug zum Sein zu achten. Der ontischen Differenz als der Unterscheidung des einen Seienden vom anderen liegt die ontologische Differenz voraus: die Unterscheidung des Seienden und seines Seins, in welcher Unterscheidung überhaupt erst ein Seiendes als Seiendes heraustritt.427 Fasst man diese Unterscheidung als totale und trennende Differenz, wird aus dem Sein wiederum ein Seiendes und würde damit zur ontischen Differenz. Lässt man andererseits Seiendes und Sein zusammenfallen, wird ebenso beides verkannt. Die ontologische Differenz ist weniger eine Antwort als eine Frage – die Frage nach dem Sein.428 Sein, so kann man sagen, ist das Offenbarwerden des Seienden, das im Sein „Platz nimmt“ oder in ihm seinen Grund hat. Trotz der Differenz ist Seiendes vom Sein nicht zu trennen – nichts ist ohne Grund. Was Heidegger die „Transzendenz des Daseins“ nennt, ist der Überstieg (oder Abstieg?) vom Seienden zum Sein, sie ist der Überstieg, „[…] aus dem heraus das Dasein erst in eigentlicher Weise auf die Dinge, auf das Mitdasein und auf sich selbst zurückkommen kann […].“429 Sein als bzw. im Überstieg steckt den Horizont ab, innerhalb dessen ich anderes und mich selbst gewahre, es ist nicht die Grenze meiner Welt, sondern Offenbarwerden der Welt. Anders als bei Binswanger ist mir meine Welt eröffnet. Dabei ist meine Welt nicht eine Kollision mit der deinigen, Welt ist überhaupt nicht ontisch 425 Binswanger wurde ja vorgeworfen, Heidegger falsch verstanden zu haben, wo Heidegger vom Dasein spricht, sieht Binswanger das In-der-Welt-sein als Sorge, dem er das Beheimatetsein in Liebe entgegenhält. Erst im zweiten Teil der Grundformen soll der Widerspruch von Liebe und Sorge überwunden werden. 426 Diese Grundfrage (als Frage nach dem Grund) wurde von verschiedenen Philosophen kontrovers beantwortet, klassische Formulierungen sind die von Heidegger und Leibniz. Dieser fragt, „[...] warum es vielmehr etwas als nichts gibt.“, in: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Monadologie und andere metaphysische Schriften : französischdeutsch. – Enthält: Discours de métaphysique. La monadologie. Principes de la nature et de la grâce fondés en raison. – Herausgegeben, übersetzt, mit Einleitung, Anmerkungen und Registern versehen von Ulrich Johannes Schneider. – Hamburg: Meiner, 2002, S. 163. Mit Heidegger fragen wir: „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“, in: Heidegger, Martin: Einführung in die Metaphysik. – 5., durchgesehene Auflage. – Tübingen: Niemeyer, 1987, S. 24. 427 Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, S. 149 428 Die ontologische Differenz arbeitet Heidegger in Vom Wesen des Grundes heraus: „Wenn anders nun das Auszeichnende des Daseins darin liegt, daß es Sein-verstehend zu Seiendem sich verhält, dann muß das Unterscheidenkönnen, in dem die ontologische Differenz faktisch wird, die Wurzel seiner eigenen Möglichkeit im Grunde des Wesens des Daseins geschlagen haben. Diesen Grund der ontologischen Differenz nennen wir vorgreifend die Transzendenz des Daseins.“, in: Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 15f 429 Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, S. 93 152 als Sammelplatz unzählbarer Seienden auf einem Planeten zu sehen. Dasein bildet eine Welt, indem es sie „geschehen lässt“, um in ihr Seienden und Mitdaseienden begegnen zu können oder auf diese zuzugehen. Heidegger spielt dem Dasein die aktive und behutsame Rolle zu; dieses ist es, das anderes von sich selbst her zeigen lässt. Dasein bildet den Raum, der Seiendes zulässt und sein lässt, gleich ob es Zeughaftes oder Mitdasein ist. Eine wichtige Folge dieses Gedankens des Sein-lassens erwähnt Heidegger quasi en passant: „Durch die ontologische Interpretation des Daseins als In-der-Welt-sein ist weder positiv noch negativ über ein mögliches Sein zu Gott entschieden.“430 Sein entlässt Dasein in Selbstand, voreilig und verfrüht wäre es, das Sein mit Gott zu identifizieren. Allein: die Verwendung des Gottesbegriffes gibt einen Verweis auf den Anderen, hier auf den total Anderen in der Gestalt Gottes. Das Zulassen Gottes ereignet sich im Gebet und in mannigfach anderen Formen. Eine Parallele dazu findet sich im Seinlassen des Anderen in Liebe, wie sie Binswanger deutet. Dasein als liebendes Wir trägt in sich den Charakter des Grundes, aus dem Selbstsein hervorgeht „[…] als ein Selbst, d.h. als ein Seiendes, das zu sein ihm anheimgegeben ist. Im Sein dieses Seienden geht es um dessen Seinkönnen.“431 Das so hervorgekommene Selbst, das umwillen seiner ist, ist gerade deshalb kein solipsistisch eingeengtes, weil es sich dem Grund verdankt, der ihm Sein zuschickt. Ob dieser Grund nun Gott ist, das namenlose Sein oder das liebende Wir, ist für das Grund nehmende Dasein methodisch (nicht sachlich!) irrelevant. Heidegger geht noch weiter: Sein als Offenbarkeit für Dasein und Mitseiendes entbindet dieses nicht von der Verantwortung. Der Empfang des je eigenen Daseins geschieht – bewusst vollzogen – als sorgender und fürsorgender. Als sorgendes übernimmt das Dasein Verantwortung: In diesem transzendierenden Sichentgegenhalten des Umwillen geschieht das Dasein im Menschen, so daß er im Wesen seiner Existenz auf sich verpflichtet, d.h. ein freies Selbst sein kann. Hierin enthüllt sich aber die Freiheit zugleich als die Ermöglichung von Bindung und Verbindlichkeit überhaupt.432 Verbindlichkeit gilt hier weniger den Mitseienden als dem Sein selbst, dem ich verbunden bin, zumal es mir zu sein aufträgt. Heidegger setzt Freiheit mit Verantwortung gleich, die Idee einer Willkürfreiheit, die das Dasein nach Belieben in Kraft treten lassen kann, ist damit ausgeschlossen. Der irritierende Begriff der Freiheit ist eine Freiheit aus Kontingenz, aus der Faktizität der Geworfenheit. Freiheit und damit Dasein ist nun aber endlich – Dasein steht nicht in der Freiheit, ob, oder dass es ist, es ist nicht Grund seiner selbst. An dieser Stelle kann eine Nähe zu Binswanger freigelegt werden. Binswanger trennt das Sein zum eigenen 430 Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 39, Fußnote 56 Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 37 432 Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 43f 431 153 Grund von der uns gründenden Wirheit. Für Heidegger meint Dasein zuvorderst ein Seiendes, welches erst als solches Mensch ist. Die sich in Ich und Du konkretisierende Selbstheit ist noch gar nicht erreicht, er verbleibt bei einem formalen bzw. logischen Begriff der Selbstheit.433 Anders Binswanger, der das Selbst auf dem Hintergrund des Wir verortet und damit in Opposition zu Heidegger tritt, der das faktische Dasein unter das Sein stellt, das es offenbart und dem es entspringt, „nachträglich“ (im ontischen Sinn) erst verhält sich dieses zu einem Du. Wenn wir die Ermöglichung der Selbstheit im Sinne des Ichselbst und Duselbst der Liebe in dem Dich-geschenkt-bekommen und Dich-empfangen und Mich-Dirschenken und von Dir-empfangen-werden erblicken […], so sehen wir immerhin schon jetzt, daß diese Selbstheit sich nicht gründen kann auf so etwas wie Selbstbemächtigung; vermag doch keine „Macht der Welt“ Bemächtigung zu wandeln in Geschenk!434 Dass der Grund nicht im Bereich des Ontischen gelegt ist, geht daraus hervor, dass das Dasein seinen Grund verdecken und ausblenden kann ohne ihn erfasst zu haben (Seinsvergessenheit). Binswanger konterkariert Heideggers Position mit einem Einwand, der im Prinzip nicht neu ist. Er anerkennt wohl den Standpunkt Heideggers, ergänzt ihn um die Dimension der Liebe. Heideggers Selbstsein zeigt sich in der Sorge, bei Binswanger geht Selbstheit aus dem Sich-einander-einräumen hervor. Die Auseinandersetzung zwischen zwei Denkern läuft nicht notwendig auf Unvereinbarkeiten oder Dissonanzen hinaus; das die zwei Positionen Verbindende führt erst zum Dialog. Einen ontologischen Solipsismus des Daseins lehnt Heidegger ab; das Sein, in dem sich Seiendes zeigt, ist gründend, weil es Dasein als eigenes bewahrt. Dasein ist gegründetes, weil es nach seinem Grund fragt und nicht schlechthin ohne Wissen vom Grund existiert (sei dieses auch noch so ungewiss, versteckt und fragil). Zwar gibt es ein Verhältnis von Seiendem zu seinem Sein, dies freilich nicht etwa als Emanation in negativer Abhängigkeit, es ist nicht das Abbild des Seins, sondern es vernimmt Sein als Boden, Grund und Möglichkeit des Eigenseins. Die vorhin erwähnte Transzendenz des Daseins zur Welt hin (In-der-Welt-sein) markiert den Menschen, der Sein-verstehend ist und Sein vom 433 Selbstsein ist auf das Sein bezogen, eine Anthropologie zur Grundlage des Selbst zu machen, verbietet er sich. „In dem genannten Satz [„Das Dasein existiert umwillen seiner.“, Anm.] liegt weder eine solipsistische Isolierung des Daseins noch eine egoistische Aufsteigerung desselben. Wohl dagegen gibt er die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß der Mensch ‚sich’ entweder ‚egoistisch’ oder ‚altruistisch’ verhalten kann. Nur weil Dasein als solches durch Selbstheit bestimmt ist, kann sich ein Ich-selbst zu einem Du-selbst verhalten. Selbstheit ist die Voraussetzung für die Möglichkeit der Ichheit, die immer nur im Du sich erschließt. Nie aber ist Selbstheit auf Du bezogen, sondern – weil all das erst ermöglichend – gegen das Ichsein und Dusein und erst recht etwa gegen die ‚Geschlechtlichkeit’ neutral.“, in: Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 37f. 434 AW 2, 116 154 Seienden zu trennen vermag, um für die Wahrheit des Seins als Unverborgenheit (ἀ-ή offen zu sein. Der schöne Schlussparagraf in Vom Wesen des Grundes drückt das so aus: Und so ist der Mensch, als existierende Transzendenz überschwingend in Möglichkeiten, ein Wesen der Ferne. Nur durch ursprüngliche Fernen, die er sich in seiner Transzendenz zu allem Seienden bildet, kommt in ihm die wahre Nähe zu den Dingen ins Steigen. Und nur das Hörenkönnen in die Ferne zeitigt dem Dasein als Selbst das Erwachen der Antwort des Mitdaseins, im Mitsein mit dem es die Ichheit darangeben kann, um sich als eigentliches Selbst zu gewinnen.435 Wie kann man den Menschen als „Wesen der Ferne“ verstehen? Wie bereits ausgeführt436, ist die Ferne kein Begriff der Geometrie, sondern vielmehr ein Ausdruck des Respekts vor anderen, ein Zeichen des Seinlassens des Daseins, auf das nicht beherrschend-entmündigend zugegangen wird. Der Mensch greift nicht eigenmächtig in das Tun anderer ein. Für Binswanger ist dies ein nahezu einladender Gedanke, er vergleicht den Wir-Raum mit der Ellipse, deren Brennpunkte Ich und Du bilden; je weiter die Brennpunkte voneinander entfernt sind, desto größer ist übrigens die Fläche der Ellipse, d.h. der Raum des Wir. Räumlichkeit ist der Sinn, den Liebende einander gewähren, einander schenken und empfangen: „Der sprachliche Ausdruck für diese Räumlichkeit lautet: Ich und Du. Vertiefung und Erweiterung bedeuten hier aber zugleich Annäherung, Ferne bedeutet hier zugleich Nähe, Klarheit und Wahrheit.“437 Bei näherem Zusehen wandelt sich Ferne in Nähe, die sich im Hörenkönnen (und im Antwortgeben) ereignet.438 Hören und antworten ist in einzigartiger Weise dem Menschen vorbehalten, dem Dasein mit anderen gegeben ist. Im Hörraum bin ich es selbst – nicht meine Ohren –, der dich vernimmt, genauso bist es du selbst, der mich ruft. Jedes andere Selbst wird also deine Rede und meine Antwort völlig verschieden wahrnehmen und auffassen. Im Miteinandersein werden Ich und Du als je eigenes Selbst konstituiert. In seinem letzten Buch Wahn. Beiträge zu seiner phänomenologischen und daseinsanalytischen Erforschung bestimmt Binswanger Dasein dreifach als 1) Seinlassen des Seienden, 2) Sich-den-Seienden-überlassen, 3) Sich-einlassenauf-das-Seiende.439 Alle drei Formen des Mitseins können sich nur auf ein Dasein beziehen, das mit sich selbst identisch ist und diese Selbigkeit zum Austrag bringt. 435 Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 55 Siehe Kapitel 4.3.2 Miteinandersein als räumliches 437 AW 2, 23 438 Hören und Antworten ist bei Heidegger mehr ein Seinsbezug denn ein dialogisches Geschehen. Ich höre oder „gehöre“ dem Sein, aus dem ich mein eigentliches Selbst gewinne. Die Antwort des Mitdaseins dürfte einen gemeinsamen Bezug zum Sein stiften, jedoch kein liebendes Wir. 439 Wahn, in: AW 4, 433 436 155 Mit dieser Feststellung lässt es Binswanger bewenden und steht vor einem Dilemma: das Sein ist ein das Selbstsein gründendes Sein, soweit Heidegger. Das wird nahezu eins zu eins für die Singularität übernommen: Grund bedeutet hier das Seinsprinzip (was immer auch heißt das Wahrheitsprinzip), auf das sich einer als auf seinen Grund stützt, auf dem er steht und von dem aus er sichselbst in Abhebung von Um- und Mitwelt und in Abhebung von Dir „empfindet“ und versteht.440 Sogleich erwähnt Binswanger in einem Satz die Grundformen menschlichen Daseins, um dann in einen Widerspruch zu geraten. Alle drei Grundformen (Dualität, Pluralität, Singularität) nämlich setzen „[…] die Möglichkeit eines Seins zum Grunde als meinem voraus.“441 Aber gerade die Dualität soll ja als die uns gründende Seinsweise aufgewiesen werden! Das Gründungsverhältnis wird umgedreht, so ist dann das Sein zum eigenen Grund die notwendige Bedingung für die zwischenmenschliche Beziehung. Das Wir gesellt sich gleichsam als zweiter Grund hinzu, es ist Sein zum Grund als unserem, der sich als Geschenk und Gnade enthüllt. Welcher Grund „gilt“ nun, welcher ist begründender Grund? Philosophie der Begegnung als Denken des Anderen, oder besser: an den Anderen, impliziert nach ihrem Selbstverständnis die Gemeinschaft, also das Du mitsamt dem Ich und die Mitwelt. Das Problem des Grundes stellt sich konkret als Zu-sich-selbst-sein und als Miteinander in Liebe dar. Beruhe ich im Eigensein oder finde ich meinen Ort im Wir als unserem? Binswanger sucht eine Position, die beiden gerecht wird, ein Zwischen, das Eigensein und Liebe als Daseinsgrund sozusagen in Spannung hält und doch versöhnt. Grund ermöglicht Selbstsein, genauso wie aus dem Wir ein Ich und ein Du hervortritt. Das liebende und das geliebte Ich ist in der Beziehung einmalig und unvertauschbar (ansonsten ich nicht dich liebe und schätze, sondern ein Ideal oder eine Vorstellung von dir), Wirheit bedeutet Gemeinschaft und Vereinzelung in einem. Der Gegensatz beider kann nur ein relativer bzw. konstruktiver sein.442 Das Wesentliche wird dann verfehlt, wenn es entweder ausschließlich im Eigenstand des Ich oder in der Gegründetheit im Du ausgemacht sein will. 440 AW 2, 408 AW 2, 408 442 Selbständigkeit als Eigensein im Wir führt den Menschen an den rechten Ort der Liebe, die ihn ermutigt, ganz er selbst zu sein und nicht bloß die Kopie eines irrealen Wunsches. – Sonst stünde dem Du dann auch kein ursprüngliches, einzelnes, unverwechselbares Ich gegenüber. Ist damit auch schon Existenz und Bedeutung des Ich erschöpft? Einzigkeit beinhaltet notwendig eine Dimension des Eigenen, des Individuellen, das eben nicht mitteilbar ist. Löwith hat dies bemerkt und schreibt mit Recht: „’Ich’, der ich einzig und allein kein Anderer bin, werde mich also dadurch zeigen, daß ich zu mir selber ein’Verhältnis’ haben kann, und zwar ein solches, daß ausschließlich mich selbst und keinen andern betrifft, ein schlechthin unvergleichliches, einzigartiges Verhältnis.“, in: Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 171. Ich bin nicht nur ein Ich für dich, sondern auch für mich. Das Selbstverhältnis – ich kann mich zu mir nicht nicht verhalten – ist kein „Herausfallen“ aus der Begegnung, es folgt aus der Beziehung, setzt diese also voraus. 441 156 Gründen, oder „Bodennehmen“, geschieht als ein doppeltes bzw. getrenntes. Finde ich meinen Grund in dir oder zeigt sich mir mein Grund, der deiner nicht bedarf? Der Grund rechtfertigt das Dasein und fügt es in sein Eigenes, das Dasein ist fremden Ursprungs. Allfällige Bemühungen des Subjekts, Grund seiner selbst zu sein, ziehen sich den Boden unter den Füßen weg. Unter Berücksichtigung des Wir ist das Eigensein von Ich und Du dennoch denkbar – als Einsamkeit, die mich auf meinen von dir gelegten Grund stellt. Einsamkeit zeigt sich mir als den, der ich mit anderen geworden bin. Positiv gesagt: Einsamkeit ist der Herausgang aus dem liebenden Miteinandersein, nicht um dieses nach erfolgter Zweckerfüllung abzustreifen, sondern um als von dir Beschenkter und Bereicherter zu mir zu kommen.443 In seinem Denken des Seins, des Grundes und der Selbstheit rührt Heidegger an das Herzstück der Ontologie, Binswanger sucht ebenso Grundformen des Daseins, den Weg der Anthropologie einschlagend. Beide haben dasselbe Phänomen vor sich, nähern sich ihm zuweilen unter verschiedenen Perspektiven.444 Bereits aus der Abstufung der Grundformen 443 Einen wertvollen Beitrag zur Frage nach dem Eigensein der Beziehungspartner leistet Bernhard Waldenfels, der, von Husserl kommend, den interpersonalen Dialog untersucht. Den Sinn jeglichen Gesprächs sieht er im Ausgang vom Wir hin zum Ich, sodass das reflektierende Ich vorher schon in der Begegnung gestanden haben muss. „Die Frage ist nur, wo das Ich seinen Schwerpunkt hat, im Dialog selbst oder vor ihm, in der Weltlichkeit selbst oder vor ihr […].“, in: Waldenfels, Bernhard: Das Zwischenreich des Dialogs : Sozialphilosophische Untersuchungen im Anschluß an Edmund Husserl. – Den Haag : Martinus Nijhoff, 1971. – (Phaenomenologica ; 41), S. 404. Unbewusst spielt er dabei Binswanger in die Hände; abseits der Konstitutionsanalysen rückt er das gleichberechtigte und ebenbürtige Subjekt in Gestalt von Ich und Du in den Vordergrund. „Wenn nun aber das Ich ursprünglich das ist, was es mit den Andern ist, so kann der Rückgang vom Wir auf das Ich nur als eine Vereinzelung gedeutet werden, in der die Gemeinsamkeit bereits vorausgesetzt ist.“, in: Waldenfels, Das Zwischenreich des Dialogs, S. 405. Gleichursprünglichkeit trägt Züge des Wir, das weder dich noch mich bevorteilt, sondern uns im Dialog behält. Eigensein und Selbstheit sind gewiss ein Sich-herausnehmen aus der liebenden Begegnung, beide aber – so Waldenfels – halten uns offen, befreien uns für die Beziehung. Der Wert einer Begegnung bemisst sich nicht an erfüllten Wünschen oder Erwartungen an andere; er liegt in der Bereicherung meiner selbst, wenn du jenes Gegenüber bist, das ich nie zu sein vermag, wenn du Handlungen setzt bzw. Äußerungen tätigst, die ich alleine so nicht zuwege bringe: „Die Andern erscheinen hier nun nicht mehr nur negativ-begrenzend, sofern sie meine eigenen Ansprüche einschränken, sondern positiv-ergänzend, sofern sie mir zu mir selbst verhelfen.“, in: Waldenfels, Das Zwischenreich des Dialogs, S. 408. 444 In seinem Aufsatz Vom Wesen der Begegnung im Hinblick auf die Unterscheidung von Selbstsein und Sein selbst bei Heidegger arbeitet Detlev von Uslar das heraus, was er in Sein und Zeit vermisst, nämlich die Eigentlichkeit in der Begegnung: „Wir müssen also zuerst zeigen, wie dem Dasein in der Begegnung zum Dasein des Du das Sein zur Frage wird, wie also das Dasein in der Begegnung eigentlich sein kann, weil es in ihr in Frage gestellt wird.“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 13 (1959), S. 85-101, hier S. 88. Dem Selbstand des Daseins eignet die Unveräußerlichkeit, ich muss mein, du musst dein Dasein selbst tragen. Geht es dem Dasein in seinem Sein um dieses Sein selbst, so zeigt sich im gleichursprünglichen Mitsein die vorspringend-befreiende Fürsorge: „Diese Fürsorge, die wesentlich die eigentliche Sorge – das heißt die Existenz des Anderen betrifft und nicht ein Was, das er besorgt, verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden.“, in: Heidegger, Sein und Zeit, S. 122. Uslar fasst Seinsdenken und Denken des Du ineins. Dasein als Mitsein ist sorgendes, vor allem aber fürsorgendes. Begegnung ist dann eine solche, sobald ich dir die Möglichkeiten aufzeige, die dich zu dir selbst freigeben. – Wichtig: Nicht ich gebe dir dein Sein, ich weise nur auf es hin, um dir dein Selbstsein aufzuzeigen. Die Quelle unseres Miteinanders ist der gemeinsame Bezug zum Sein, aus dem wir existieren. Jede interpersonale Beziehung steht ausschließlich unter dem Gewahren des Seins: „Es [das Dasein, Anm.] ist, indem es auf sein Sein bezogen ist. Sein Sein ist die Sorge um sein Sein. Für-Sorge aber heißt Sorge für das Sein des Du. In der eigentlichen Begegnung also muß das Dasein zumal und in einem auf sein Sein und auf das Sein des Du bezogen sein, doch so, daß der Bezug zum 157 menschlichen Daseins ist der Vorrang der Dualität einzusehen. Wird dem Du als Beziehungspartner auch gebührende Priorität zuteil, so ist ebenjenes Du nur als Du eines Ich denkbar, wovon schließlich auch die Konstitutionskontroverse zeugt. Führt man diese nicht als aussichtslosen Grabenkampf, steigt erst recht die Bereitschaft zum Dialog. Dass das zum Dasein Freigebende als Konstituens über dieses willkürlich bzw. für das Dasein uneinsehbar agiert, ist allzu oft nur das Resultat einer unabgeschlossenen Debatte über Konstitution, der ein Dependenzstreben nachgesagt wird. In seiner Diskussion über Stirners Einzigen schließt Binswanger auf Freiheit und Selbstsein des Gegründeten als Mensch: Schon dieses Scheitern eines ontologischen Beweises für die Möglichkeit eines lediglich auf sich selbst gestellten Einzigen zeigt, daß selbst das kühnste Pochen auf die Seinsautonomie des Einzelnen die These nicht zu erschüttern vermag, daß Selbstsein nur möglich ist als „Sein zum Grunde“, das heißt immer, als Sein zu einem das Selbstsein erst gründenden und begründenden Sein.445 Dreierlei kann herausgelesen werden: 1) der Grund als Sein, wie ihn Heidegger denkt, 2) der die Kreatur erschaffende Gott, 3) der Andere, der mich fordert, jener zu werden, dem zu sein gegeben ist.446 Das mir anvertraute Sein steht in der Frage des Anderen, der vorspringendbefreiend Fürsorge trägt. – So weit Heidegger; Binswanger untergräbt die Seinsgebundenheit der Sorge, zumal er Liebe als das erstlich Verbindende und zugleich das Eigensein Ermöglichende ansetzt. Nun kann man dagegen einwenden, die beiden Begriffe Sein/Sorge und Liebe würden bloß vertauscht ohne sonst einen Erkenntnisgewinn zutage zu fördern. In mancher Hinsicht trifft das auf Binswangers Argumente tatsächlich zu, wenn er gegebenenfalls Liebe als In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-sein ins beinahe Akosmische entrückt, oder Begriffe der Ontologie auf ontisch-anthropologische Phänomene ummünzt. Sein des Du eben als solcher der Bezug zu seinem je eigenen Sein und der Bezug zu seinem Sein in sich der Bezug zum Sein des Du ist. Diese Möglichkeit muß sich dem Dasein im Sein des Du schenken […].“, in: Uslar, Vom Wesen der Begegnung, S. 92. Uslars Gedanke führt zur Seinsidentität von mir und dir; das Sein, welches dich sein lässt, in dem du mir begegnest, ist dasselbe Sein, aus dem heraus ich mich dir zeige. Im Offenbarmachen unseres gemeinsamen Seinsgrundes begegnen wir einander. Uslar muss sich doch die Frage stellen lassen, ob nicht der andere lediglich in Hinsicht auf das Sein gesehen wird, er mithin keine Aufmerksamkeit für sich beanspruchen darf. Wohl stehen Du und Ich im Bezug zum Sein, jedoch begegnen wir einander. In der Begegnung ist das Sein zwar mitvollzogen, bildet aber keineswegs immer notwendig den expliziten Angelpunkt der Beziehung. Beziehung geschieht umwillen des Du und des Seins wegen. 445 AW 2, 417 446 Der Andere macht mich in der vorspringenden Fürsorge für meine Sorge frei, er wird mich in meiner Existenz nicht ersetzen wollen. Durch ihn stellt sich mir die Frage nach meinem eigenen Sein, die zuweilen klar, meistens aber latent schwebend sich aufdrängt: „Denn im Fragen nach dem Geheimnis meines Daseins, im eigentlichen Sein zum Seinsgrunde als meinem, frage ich immer tiefer in die Möglichkeiten meines Seins hinein, öffnet sich dem fragenden Blick immer mehr mein Seinkönnen. Sosehr daher auch der Grund meines Daseins Geheimnis bleibt, so ist doch das Kriterium dafür, daß das Fragen nach ihm tatsächlich ein Fragen nach dem Grunde ist, gerade das, daß ich mich in diesem Fragen dem Geheimnis meines Daseins immer mehr nähere, das aber heißt, der Möglichkeiten meines Seins immer besser ‚innewerde’ und in diesem Innewerden werde, der ‚ich bin’, reife.“, in: AW 2, 433. 158 Weil Dasein in seinem Wesen Miteinandersein ist, kann nur Liebe, die Seiendes sein lässt, indem es dies fördert und würdigt, die fundamentale Weise der Koexistenz sein, die die Fürsorge überragt. Im selben Zug erinnert er, „[…] daß Existenz im Sinne Heideggers nur eine Sonderform des singularen Seins zum Grunde ist, wenn auch die radikalste und extremste.“447 Auf die prinzipielle Zustimmung zu Heidegger folgt eine Modifikation: „Der Grund“ kann doch kein anderer sein hier und dort, ist er doch kein mit sich identischer und von anderen Gegenständen abzugrenzender „Gegenstand“, ja steht er doch, als Geheimnis des Daseins, wie jenseits jeder kategorialen Bestimmbarkeit oder Definierbarkeit, so auch jenseits der Kategorie der Identität und Andersheit, der Position und Negation; daher muß es einer sein, zwar nicht im Sinne der Einzahl, sondern im Sinne der All-einheit. Der Grund als meiner und der Grund als unserer ist gleicherweise Geheimnis.448 6.4 Rückblick Das bisher Dargelegte zeigt: Ist der Grund des eigentlichen Selbstseins und das Wir als Grund deines und meines Daseins ein und derselbe, dann ist der Widerspruch von Liebe und Sorge kein kontradiktorischer. Gerade weil Binswanger so oft den Begriff des Widerspruches bemüht, fällt es schwer, die Einheit und wechselseitige Ergänzung von Sorge und Liebe zu erkennen. Selbst bei ausgesprochener Verneinung der Begegnung ist Menschsein dialogisch. Wer dies leugnet, muss das Verleugnete voraussetzen und es damit bejahen. Im Gerichtetsein auf den Begegnenden steht nicht nur dieser im Zentrum, sondern ebenso das Ich. Unter diesem Aspekt gehören liebendes Sein und Selbstsein zueinander. Nimmt indes der Andere im Begegnungsdenken einen überdimensionierten Raum ein, wird das Ich an den Rand gedrängt – der Dialog mit dem Du verstummt. Auch daher nimmt die Singularität eine gesonderte Stelle ein; das Selbstsein wird vom Einzelnen her verstanden, sodass das Gegenüber bei all seiner Relevanz zurücktritt. Im redlichen Dialog, der dieser Bezeichnung gerecht wird, stehe ich als Einzelner und kehre ich als ebensolcher zu mir zurück. Das Gewahrwerden des Grundes als meinem jedoch verdanke ich dem Anstoß der Mitdaseienden. 447 448 AW 2, 434 AW 2, 434f 159 7 Die Diskrepanz zwischen allgemeinem und singularem Du in der Begegnung 7.1 Vorbereitendes Philosophie der Begegnung rückt Dasein, Mitdaseiende sowie deren Relationen und „Wechselwirkungen“ ins Zentrum. Den Fokus stellt Binswanger in dreierlei Arten dar – Dualität, Pluralität, Singularität, die allesamt den Anspruch erheben, Grundformen zu sein, d.h. Ausfaltungen, in denen sich dein wie mein Grund offenbart. Generell fragt Philosophie nach Gründen von Seienden, nach dem Sinngehalt von Tatsachen, die vernünftig einsehbar, demnach wahr sind. Gründe, Objekte, Tatsachen müssen ausweisbar sein, erst dann sind sie erkannt. Erkenntnis bildet die Grundlage jeder Kritik, die in umfassenderem Sinn Scheiden, Sondern, Hervorheben (ί) meint. In unserem Fall geht es um das Erkennen menschlichen Daseins, genauer: um das Dasein als Miteinandersein. Was führt zu den drei Daseinsmodi und was folgt aus ihnen? Was motiviert Binswanger, zuerst die Grundformen darzustellen und ihnen dann Erkenntnisformen zuzuweisen? Ist es nicht sachgerechter und angemessener, vorab Erkenntnismethoden als Arbeitshypothesen einzuführen, um das Objekt der Erkenntnis zu erschließen? Oder liegt hier ein Zirkel vor, in welchem Erkenntnis und deren Gegenstand einander bedingen? In seinem Hauptwerk geht Binswanger von den Grundformen aus, deren Erkenntnis scheint er „angestückt“ zu haben. Ist nicht mit einer bloßen Darstellung dieser Grundformen schon Genüge getan? Aufbau und Struktur folgen jedoch logisch dem Vorgang der Begegnung, insofern sie die Koexistenz menschlichen Daseins wiedergeben: begegnest du mir, so reagiere ich auf deine Anwesenheit nicht analysierend, berechnend oder abschätzend. Diese Reaktionen (Erkennen, Auslegen, Interpretieren, Verobjektivieren) erfolgen erst nachträglich. Etwas, bzw. jemand muss mir begegnet sein, danach erst ist eine Deutung möglich und zulässig. Wird dem Erkennen der Vorrang gegenüber der Begegnung eingeräumt, so betrachtet man Allfälliges, auf einen Zukommendes unter Erkenntnismaßgaben, die der Erkennende selbst gesetzt hat. Das Widerfahren von Fremdem, Unbekanntem bleibt somit ausgeschlossen, folglich begegnet in dieser abgeschnittenen Erfahrung das Erkenntnissubjekt nur sich selbst, bzw. dem, das sich seinen Erkenntnisnormen beugt.449 Die nach der Begegnung einsetzende Reflexion über sie strebt nach Geltung, also 449 Diese Erkenntnis ohne „spezifisches Interesse“ arbeitet ohne bestimmte Methoden, die das Objekt eher verdecken als es selbst zu Wort kommen zu lassen: „Die Zugangs- und Auslegungsart muß vielmehr dergestalt ausgewählt sein, daß dieses Seiende sich an ihm selbst von ihm selbst her zeigen kann.“, in: Heidegger, Sein und Zeit, S. 16. Heidegger – im Gefolge Binswanger – erteilt dem Erkennen als kalkulierendes Klassifizieren eine Absage, dieses ist weder die einzige noch die fundamentalste. Das Erkennen des Daseins (genitivus subiectivus) 160 nach Verbindlichkeit – vor allem dir gegenüber, wenn ich meine Beziehung nicht für mich behalten, sondern dir begreifbar machen will. Beziehungspartner sind alleine durch ihre Relationalität darauf angewiesen, den je eigenen Empfindungen oder Stimmungen Ausdruck zu verleihen. Ist weder das Ich noch das Du dazu in der Lage, dann mag es sich um einen Zustand mystischer Versenkung handeln oder die Partner nehmen einander gar nicht wahr und deshalb auch nicht ernst. Die Diskussion um das singulare Dasein als Sein-zum-Grunde als meinem hat eine Zwiefalt ergeben – zum einen der unverfügbare Grund, der dem Einzelnen zu sein gibt, zum anderen jener Grund, der als Wir dich und mich gründet. Selbstsein aus dem Grund als meinem korreliert mit unserem wirhaften Grund: „Der Grund als meiner und der Grund als unserer ist gleicherweise Geheimnis. Der Unterschied kann daher nur in der Weise des Seins zum Grunde hier und dort gelegen sein.“450 Die unterschiedlichen Weisen des Seins-zum-Grunde zeigen sich im (Heideggerschen) Existieren als besorgendes und als liebendes In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-sein, wie Binswanger es nennt.451 Damit kehrt die alte Problem- und Fragestellung in neuem Gewand wieder: die Kluft zwischen Sorge und Liebe, Endlichkeit des Daseins versus Ewigkeit der Liebe. Konsequent verharrt Binswanger auf dem Wir, in dem Daseinserkenntnis Grund und Boden hat; die Gemeinschaft von Ich und Du im Wir muss aber, um als grundlegend oder axiomatisch anerkannt werden zu können, ein Allgemeines sein, das Individuelles, „Zufälliges“, eventuell auch Konträres, welches es in Frage stellen könnte, in sich aufnimmt. Störfaktoren bzw. vermeintlich Unvereinbares zwischen Ich und Du (wie etwa „Beiläufiges“, Akzidentelles am jeweils konkret-leiblichen Anderen) sind im Allgemeinen aufgehoben – allerdings im nivellierenden Sinn. Er übergeht und ignoriert so ein einmalig-einzigartiges Du, das einem ebensolchen Ich begegnet. Beziehung in Ehrlichkeit und Unwiederholbarkeit – und erschöpft sich ursprünglich im Seinlassen des Begegnenden: „Im Sichenthalten von allem Herstellen, Hantieren u. dgl. legt sich das Besorgen in den jetzt noch einzig verbleibenden Modus des In-Seins, in das Nur-nochverweilen bei … Auf dem Grunde dieser Seinsart zur Welt, die das innerweltlich begegnende Seiende nur noch in seinem puren Aussehen (ἶ begegnen lässt, und als Modus dieser Seinsart ist ein ausdrückliches Hinsehen auf das so Begegnende möglich.“, in: Heidegger, Sein und Zeit, S. 61. Im weiteren Fortgang seiner Untersuchungen wird Binswanger der Begegnung mit dem „puren Aussehen“ Vorrang vor dem einzelnen Anderen, der allerdings nie rein oder ausschließlich im Sinne einer metaphysischen Wesensschau hervortritt, einräumen. In der Begegnung nehme ich dich als Singulares dann nur als Abbild oder Exemplum eines allgemeinen Du wahr. 450 AW 2, 435 451 Das, wie es Binswanger selbst ausdrückt, „produktive Missverständnis“ Sein und Zeit gegenüber verrät einen Lektürefehler, der allerdings die Niederschrift der Grundformen mitauslöste. Heidegger schreibt: „Weil das Inder-Welt-sein wesenhaft Sorge ist, deshalb konnte in den voranstehenden Analysen das Sein bei dem Zuhandenen als Besorgen, das Sein mit dem innerweltlich begegnenden Mitdasein Anderer als Fürsorge gefaßt werden. […] Sorge meint daher auch nicht primär und ausschließlich ein isoliertes Verhalten des Ich zu ihm selbst.“, in: Heidegger, Sein und Zeit, S. 193. Binswangers Stellungnahme zu seinem „produktiven Missverständnis“ lesen wir im Vorwort der Grundformen. 161 somit auch in Geschichtlichkeit – kann nur zwischen Menschen bestehen, denen unverwechselbares Eigensein innewohnt. Binswanger verdrängt die Unterschiedenheit von Ich und Du zugunsten der Dominanz des einigenden Wir: „[…] denn wer für mich ‚existiert’, das bist Du, jenseits Deiner Eigenschaften oder Bestimmtheiten, nämlich als sie alle in sich bergender einheitlicher Grund.“452 Bestimmtheiten, seien es Eigenheiten, Charakterzüge, wahrlich Persönliches, sind in der liebenden Begegnung bestenfalls sekundär, wenn nicht gar der Liebe abträglich, zumal sie vom allgemeinen Du ablenken. – Kann unter solch abstrahierenden Prämissen überhaupt noch ein Mensch geliebt werden? Und: möchte ich von einem so gestalteten Menschen geliebt werden? Ist dies nicht am Ende eine Liebe zu einem fiktiven Du? Das Verständnis der liebenden Beziehung zwischen Ich und Du scheint einem tiefgreifenden Wandel unterzogen worden zu sein. Schilderte Binswanger dieses Phänomen in seinen vielfältigen Ausformungen und Artikulationen, wovon vor allem Dichtkunst und Kulturgeschichte zeugen, so rückt er nun diese gründende Daseinsweise in ein neues Licht. Dies nimmt weiters nicht wunder, handelt es sich doch um das Dasein, welches erkennt, und zwar das Du erkennt. Vereinfacht gesagt: nicht das Du bildet den zentralen Gedanken, vielmehr konzentriert sich die Darstellung auf mich, der ich dich erkenne.453 Einen konsequent systematischen Denker wird man Binswanger wohl nicht nennen können, 452 AW 2, 524 Die Sekundärliteratur hat die Akzentverschiebung vom Du auf das Ich kommentierend aufgenommen. In bezug auf den Gegensatz von Sorge und Liebe, der endlich überwunden werden soll, schreibt Janssen: „Er [Binswanger, Anm.] sieht Gegensätze und Probleme, vermag sie aber als solche nicht zu lösen und erklärt sie daher für unlösbar. Dann aber verzichtet er doch nicht darauf, eine Antwort zu geben und mit dem Vorwand, nur aufzuweisen, trifft er nun die Lösung auf eine einseitige und das früher als dazugehörig Aufgezeigte außer acht lassende Weise. Würden wir sagen, Binswanger hätte allerdings den Pol Liebe richtig beschrieben, so wäre damit schon auch erwiesen, daß dies Gesagte nicht gleichzeitig auch für die Liebe-Sorge-Polarität, den Menschen, stimmen kann. Diesen Pol Liebe aber, den Binswanger in seiner Vollkommenheit zeigt, müssen wir ‚Idee der Liebe’ nennen.“, in: Janssen, Binswangers Liebesphilosophie, S. 101f. Von der „Idee der Liebe“ kann man mit Haltmayer sagen, sie biete eine „[…] Unterscheidung, die in unserem Zusammenhang von der weiterhin unversöhnten Differenz von hier liebendem Über-die-Welt-hinaus- und dort sorgendem In-der-Welt-Sein belastet ist.“, in: Haltmayer, Zum Begriff der Liebe, S. 159. Mit Blick auf Binswangers therapeutisches Wirken sieht Herzog „[…] einen Bruch in Binswangers Hauptwerk selbst, der entscheidende Folgen für das Spätwerk haben sollte.“, in: Herzog, Weltentwürfe, S. 99. Das Dilemma von Sorge und Liebe bringt Bollnow auf den Punkt: „Endlich wird das Erkenntnisproblem zu eng gesehen, wenn die Sorge zwar als Umwelterkenntnis die kausalen Zusammenhänge im allgemeinen erschließen soll, die Liebe aber als Daseinserkenntnis ausschließlich dem anderen Menschen zugewandt bleibt. […] Zunächst ermöglicht die Liebe nicht nur eine Erkenntnis des geliebten anderen Menschen, sondern erschließt zugleich, wovon bei Binswanger nicht die Rede ist, in genau entsprechender Weise auch die ganze übrige Welt aus einem neuen Gesichtspunkt.“, in: Bollnow, O.F.: Besprechungsaufsatz: Ludwig Binswanger, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, in: http://www.otto-friedrich-bollnow.de/doc/Binswanger.pdf, S. 5, Abrufdatum: 06.09.2012. Der Besprechungsaufsatz erschien in der Zeitschrift „Die Sammlung“, 1. Jahrgang, 2. Heft, November 1945, S. 122128. All dies ließe sich unter das beinahe schon klassisch gewordene Urteil Theunissens subsumieren, der einen „Rückfall in die Transzendentalphilosophie“ feststellt (Theunissen, Der Andere, S. 466-474). Schmidt, der sozialontologische Defizite in Sein und Zeit aufzeigen will, enthält sich jeglicher Bemerkung. 453 162 dennoch kündigen einige Passagen aus dem ersten Teil der Grundformen vorgreifend die Erkenntnis von menschlichem Dasein an. 7.2 Daseinserkenntnis in Bezug auf die Grundformen Die Herausarbeitung der Weisen menschlichen Existierens lassen diese zuweilen isoliert und unabhängig voneinander erscheinen, zumindest legt das die Argumentation Binswangers nahe. Er hebt Dualität als das intimste zwischenmenschliche Sein hervor, indem er sie vom Dasein als sorgendes In-der-Welt-sein abscheidet, wodurch die strenge Trennung von Dasein und In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-sein in Liebe erst sichtbar wird.454 Die gleichermaßen künstliche wie methodische Trennung zeigt sich bereits in den Erörterungen über das Miteinandersein von mir und dir; das In-der-Welt-sein als Sorge liefert nur eine Teilerkenntnis, die Etwas als Etwas begreift, dessen Sinn sich im Um-zu erschließt und sich darin auch erschöpft. Binswanger bedient sich der Reduktion eines Argumentes Heideggers, um so seine Vorstellung vom liebenden Wir zu stützen: der andere begegnet als Mitdasein, der im Zeugzusammenhang „entdeckt“ wird (das gelesene Buch wurde geschrieben von…, das getragene Kleid wurde genäht von…). Er unterstellt Heidegger, der andere werde lediglich unter diesem Aspekt gesehen. Von wechselseitiger Freigabe in je eigenes liebendes Ich respektive Du könne demnach nicht die Rede sein. Mitsein umschließt den kleinen Kreis des Seins-mit oder des Seins-bei, das sich stets einem gemeinsamen, „höheren“ Ziel beugt. Der Verweisungszusammenhang selbst sagt über den anderen, seine „Beschaffenheit“, sein Menschsein wohlbemerkt nichts aus, es ist dies ein Phänomen aus dem Bereich der Ontologie. Binswanger weiß um das Mitsein in diesem Rahmen, Heidegger geht ihm allerdings nicht weit genug. Als tragfähiges Fundament, in dem alle anderen Weisen des Mitseins (auch defiziente) gründen, stellt er die Liebe voran, die zugleich die umfassendste Erkenntnis bedeutet (jenes durch diese Erkenntnis Erkannte wird er das „Sein als Ganzes“ nennen). Dieses Gegenüberstehen [von Liebe und Sorge, Anm.] ist aber keineswegs nur als logischer Gegensatz zu verstehen, sondern muß phänomenologisch verstanden werden. Während das Dasein als Sorge immer im Besorgen von etwas in einer bestimmten Situation, also immer in einer begrenzten Bewandtnisganzheit aufgeht, geht das Dasein im Sinne der Liebe auf im unbegrenzten, uneingeschränkten, kurz im unbedingten Sein mit-einander.455 454 Mit dieser Scheidung, die unser gemeinsames Dasein durchschneidet, drängt sich der Eindruck auf, Binswanger laufe dem irrealen Wunsch nach Liebeserfüllung hinterher – vergleichbar mit dem Kampf gegen Windmühlen, den nur Binswanger selbst ausfechten kann. Gleichwohl hält sich in dieser Scheidung – weil diese allererst ermöglichend – liebendes Miteinandersein durch. Als Bewährungsprobe dazu dienen Binswangers psychotherapeutische Protokolle, die von Sorge für den Patienten wie Anerkennung in Liebe zeugen. 455 AW 2, 61. Schmidt spricht m.E. ungerechtfertigt von einem „[…] existenzialen Solipsismus der fundamentalontologischen Daseinsauslegung Heideggers […].“, in: Schmidt, Ekstatische Transzendenz, S. 114. 163 Der konkrete Andere ist nie als solcher anwesend, weil er mir schon in Verweisungszusammenhängen begegnet ist – er erfüllt eine Funktion, ist selbst jedoch keine Person frei von Strukturen, denn er verweist auf sie und er steht in ihnen. Mit diesem Standpunkt ist Binswanger nicht alleine, das belegt schon seine Auseinandersetzung mit diversen Dialogphilosophen. Sein Verständnis von Koexistenz soll umgreifender sein als das Heideggers, dem er nur die Teilerkenntnis des anderen im Umfang der Als-Struktur im Verweisungszusammenhang einräumt. Ein umfassenderes Erkennen menschlichen Daseins blendet das Sorgen-für, das situationsbezogen und bewandtnishaft ist, aus, ja dieses kann den Anderen gar nicht erkennen, weil dieser sich den Zusammenhängen bzw. meinen Entwürfen entzieht.456 Der Andere „zerfließt“ mir gleichsam; was ich erkannt habe, ist mehr oder weniger das von ihm hinterlassene Bruchwerk, hinter dem ich ein allgemeines, verbindliches Du zu erkennen glaube. Nun leistet Binswanger mit dieser Feststellung keinen originären Beitrag zur Diskussion über die Ich-Du-Relation; der innerweltlich Begegnende tritt ja aus seinen Bezügen heraus, bleibt ihnen trotz allem aber verbunden. Jeglichem Bemühen, ihn aus seinen Strukturen herauszulösen, quittiert er mit seinem Sich-entziehen, wodurch er erst recht unkenntlich wird. Der Versuch, den anderen zu erhaschen, entpuppt sich als Griff ins Leere. Der andere verkommt zur Scheinexistenz, die das Ich alleine zurücklässt. Übrigens ist die so geartete Erkenntnisbewegung keineswegs einseitig; unter Voraussetzung der Wechselseitigkeit der Beziehung ergeht es dem Du in seinem Erkenntnisbestreben genauso wie dem Ich. Auch das Ich wird in seinem personalen Eigensein verkannt, sobald innerweltliche Bezüge ausgespart werden. Binswanger untergräbt das gegenseitige Verkennen mit dem Verweis auf das vorgängige, in diesem Sinn unreflektierte, irrationale Verhältnis von Ich und Du, das als liebendes Wir zum Austrag kommt. Die Psychologie – so seine Behauptung – habe das verborgene und dennoch tragende Fundament Liebe außer acht gelassen: „Was von der gewöhnlichen Psychologie als Liebe ‚beschrieben’ wird, ist nur ein ‚theoretisches’ Schattenbild der Liebe.“457 456 Um die eigene Argumentation zu untermauern, nimmt Binswanger Sein und Zeit zu Hilfe, in dem er das Phänomen der Liebe vermisst. Er zitiert den Passus, in welchem das Mitsein als Grundweise des Daseins erwähnt wird, die sämtlicher Teilerkenntnis vorausgeht, diese ermöglichend: „[…] im Seinsverständnis des Daseins liegt schon, weil sein Sein Mitsein ist, das Verständnis Anderer. Dieses Verstehen ist, wie Verstehen überhaupt, nicht eine aus Erkennen erwachsene Kenntnis, sondern eine ursprünglich existenziale Seinsart, die Erkennen und Kenntnis allererst möglich macht. Das Sichkennen gründet in dem ursprünglich verstehenden Mitsein.“, in: Heidegger, Sein und Zeit, S. 123f. 457 AW 2, 457. Dass er damit neues, nicht unumstrittenes Terrain betritt, belegt die folgende briefliche Mitteilung vom 25.03.1935 an den Literaturwissenschafter Emil Staiger, in der er die „heilende Liebe“ über das „Gesundmachen“ stellt: „Psychiatrisches Sein ist ein Mit-Sein, in dem der Sinn der heilenden Liebe zuschanden wird, insofern hier an Stelle des mitmenschlichen Heilens eine Resignationsstufe, nämlich das Gesundmachen, 164 Das „theoretische Schattenbild der Liebe“ drückt das unverstellte Verhältnis zum Anderen völlig unangemessen aus – dies ist bereits dem Inhaltsverzeichnis der Grundformen zu entnehmen. Das Miteinandersein von mir und dir kann sich nur durchsetzen, weil es in Opposition zur Sorge tritt; in diesem hartnäckigen Widerstreit hat das liebende Wir zuvor schon den Sieg errungen – so Binswanger. Gleichen die unternommenen Argumentationsschritte einem „Schauprozess“, der andere philosophische Ansichten als nichtige bloßstellt? Eine bestimmte – nicht unvoreingenommene – Lesart mag diesen Schluss ziehen wollen, nimmt zuletzt jedoch keine der philosophischen Interpretationen ernst. Freilich kann man Binswanger Schwärmerei und dilettantisch-romantisches Heraufbeschwören von idealisierter und dadurch niemals faktisch gelebter Liebe vorhalten, seine ausufernden Dokumentationen der intersubjektiven Beziehungen scheinen dieser Ansicht sogar dienlich zu sein. Erinnert sei indessen an die geistigen wie wissenschaftlichen Begebenheiten, die zur damaligen Zeit das Wort führten. Methodenstreitigkeiten, voneinander abweichender Begriffsgebrauch, Unklarheit bezüglich des Forschungsobjekts selbst führten zu unkontrollierten Wucherungen und Irritationen. Nun trat Binswanger nicht an, um Licht in diese Wirrnisse zu bringen und sie mit einem Schlag zu lösen, weil sein Begriff der Liebe selbst wiederum Wandlungen unterliegt – man denke an die Liebe vom Ich zum Du, die Freundes- und Selbstliebe und an die in sehr weit gefasstem Sinn liebende Zuwendung zum Patienten. Hier steht ein Begriff zur Diskussion, der bislang in den Geisteswissenschaften, Künsten und in der Theologie verortet war, ein Begriff also, den zwar alle Liebenden kennen, der sich trotzdem wissenschaftlich nicht so recht einfügen will. Aus diesem Grund hat Binswanger auch nicht stets handfeste, akademisch griffige Argumente parat, wie Eckart Goebel findet: Wenn Binswangers vortheoretische Intention, die Wahrnehmung nicht nur für die „positiven Seiten“ der Liebe, sondern auch die Unverzichtbarkeit der Liebe für ein Begreifen menschlichen Daseins überhaupt darzutun, nach Theunissens Dekonstruktion noch „gerettet“ werden soll, muß sein Entwurf auf anderem Wege rekonstruiert werden als über die akademische Philosophie; Binswanger ist kein akademischer Philosoph und will auch keiner sein.458 tritt, in welcher Resignation die heilende Liebe aber doch wieder triumphiert, nämlich insofern als sie auch im Geisteskranken den Menschen wenigstens zu sehn vermag [...]. Dieses Sehen ist nur möglich auf Grund der Liebe [...].“, in: AW 2, XLI. Liebe als Form menschlichen Daseins, die exklusiv dir gilt und sonst niemanden zulässt, ist im Verhältnis des Arztes zu den Patienten insofern ausgeweitet, als der Arzt daran tut, statt im Patienten als hilfsbedürftiges Therapieobjekt, das in defizienten Strukturen verfangen ist, jener Koexistenz zu begegnen, die sie bereits vor Akutwerden der Krankheit war. Ersteres mündet in Symptombehandlung, die das Zugrundeliegende ignoriert, letzteres unternimmt den Versuch, das Ich-Du-Verhältnis von Arzt und Patient fruchtbar zu machen im Sinne des Offenseins des Kranken für seinen Zustand. Liebe und Sorge gleichermaßen bilden dann das Tragwerk einer hoffentlich gelingenden therapeutischen Beziehung. 458 Goebel, Eckart: Der engagierte Solitär : Die Gewinnung des Begriffs Einsamkeit aus der Phänomenologie der Liebe im Frühwerk Jean-Paul Sartres. – Berlin : Akademie Verlag, 2001. – (Literaturforschung), S. 106 165 Dass Binswanger keine akademische Philosophie vertrat, bedeutet keineswegs freie Bahn für Naivität oder unbotmäßiges Überschreiten klarer wissenschaftlicher Grenzen, denn gerade die Psychiatrie als „Seelenheilkunde“ begegnet liebenden, lieblosen, der Liebe verlustig gegangenen bzw. indifferenten Menschen, oder solchen, deren Liebe in Hass pervertiert ist. Nicht nur die universitäre Form der Philosophie weist Binswanger oftmals zurück, er enthält sich auch der Lehre des Faches. Dass er so mitunter seinen eigenen Maximen untreu wird, ist Folge der eigenen Positionierung im Diskurs. Was das für das liebende Miteinandersein bedeutet, hebt Jan Holthues hervor: Das von Binswanger besonders ausführlich und besonders mißverständlich erörterte Phänomen der Liebe macht für Binswanger eine Revision des Katalogs der Möglichkeiten notwendig, die das Dasein hat, um sich der Welt und sich selbst zuzuwenden. Mißverständlich ist der Begriff der Liebe insbesondere deswegen, weil er von Binswanger zunächst allein als Gegenbegriff zur Sorge verstanden wird, und in den vielfältigen anderen, z.B. triebbestimmten Assoziationen, die sich unweigerlich an ihn knüpfen, nicht weiterführt. Es geht in diesem Begriff um die gegenüber der Heideggerschen Sorge veränderte Struktur der Bezugnahme auf einen Anderen und sich selbst.459 Das „anthropologische Missverständnis“ weitet sich auf das liebende Wir in seiner Ursprünglichkeit aus; Liebe ist kein stückweises Erkennen des Geliebten, sondern gleichsam eine den Gesetzen der Empirie unterworfene Beziehung, die sich als Fürsorge erweist.460 Diese wird als Sorge um Bestimmtheiten, um Eigenschaften am geliebten Du interpretiert: Ich liebe dann nicht dich, die ich beim Namen rufe, die mir – meine Rede vernehmend – Anwesenheit zusagt, die mich in meinem Sein belässt, mich aber auch zurückweist (Liebe ist sehr wohl auch Ausdruck einer Stimmung), kurz: deren Sein dem meinen ebenbürtig ist. Allerdings herrscht Ebenmaß nur zwischen konkreten leiblichen Partnern, die einander in ihrer gemeinsamen Zeit im miteinander geteilten Raum begegnen. Liebe ist weitaus mehr als ein gerührtes Herz mit entsprechenden Gemütsbewegungen, darin liegt Binswanger bestimmt richtig. Sie ist aber auch mehr und anderes als nur Verharren im liebenden Wir, worin sich die Gefahr einer anonymen, beherrschend-unterdrückenden Liebe versteckt. 459 Holthues, Jan: Die Kritik der Psychologie : Anthropologie und Wissenschaftstheorie bei Ludwig Binswanger, in: Kupke, Christian (Hrsg.): Zeit und Zeitlichkeit. – Würzburg : Königshausen & Neumann, 2000. – (Beiträge der Gesellschaft für Philosophie und Wissenschaften der Psyche ; 2), S. 177-190, hier S. 183 460 Diese Konzeption führt unweigerlich zur Abschneidung vom einzelnen Ich und Du, dem Sorge bzw. die EsStruktur anhaftet, von der Vorstellung zweier Beziehungspartner, die rein und ausschließlich in Liebe sind. Hier bleibt noch zu fragen, ob das Sein in Liebe dasselbe bedeutet wie das Sein als Liebender. Ersteres suggeriert einen konstanten, unverwechselbaren Zustand, als ob es nur Liebe gäbe; letzteres hingegen drückt Bewegung und Arbeit aus – Du und Ich müssen sich stets neu als Liebende und Geliebte wissen, ansonsten Liebe abstirbt und zu einem bloßen Wort verkommt. Liebe, die nur redlich eine solche sein kann, muss sich innerweltlich, alltäglich, im Unscheinbaren, also Verborgenen durchhalten. Eine Liebe, die dies nicht aushält oder dieses verdrängt, ist eine irregeleitete. 166 Anonymisierende Liebe, also jene, die diesen Namen gar nicht zu Recht tragen dürfte, ignoriert das aus ihr erwachsen sollende Du und Ich. Zwischenmenschliche Liebe greift zeitlich in die Lebensspanne ein, die wiederum ihren Ort hat. Liebe umfasst zwei Individuen – dich und mich, hier und jetzt –, davon abstrahieren heißt, eine konkrete, dennoch unmessbare (unfassbare?) Liebe zugunsten eines allgemeinen Begriffes „Liebe“ zu opfern. Der Sorge, die dir zu deinem Eigen- und Freisein verhilft, wird nun abgedankt. Deine und meine Individualität fallen der Irrelevanz und Unverbindlichkeit anheim, um die es der Liebe nicht zu tun ist: „Die sorgende Scheidung zwischen Mir als Individualität und Dir als Individualität, ja als Existenz, schwindet hier hin, und damit die Scheidung zwischen ‚Etwas an Dir’ und ‚Etwas an Mir’ […].“461 Das Übergehen des Eigenen, des je Deinem und je Meinem, das in liebendem, einander zugetanem Gespräch hervortritt, offenbart die zweifelhafte Neigung Binswangers, Liebe als sich faktisch ereignende keinen gebührenden und würdigenden Tribut zu zollen. Vielmehr verlegt er sich darauf, das In-der-Welt-sein in Sorge dem Wir unterzuordnen. Das liebende Wir umgreift ein Ich und ein Du, Binswanger konzentriert sich auf das Wir, welches sich per definitionem im Gemeinsamen des unter ihm Versammelten findet. Auf den Schwenk vom konkreten zum allgemeinen Du hin verweist er schon in der Erörterung des pluralen Seinsmodus. Das ist weiter nicht verwunderlich, zumal das Ich als einzelnes mehreren anderen begegnet; diese sind ohne vorgängiges Wissen um deren Andersheit nicht erkennbar. „Menschenkenntnis“, die rein aus dem In-der-Welt-sein als Sorge entspringt, wird erst zur Erkenntnis „des Menschen“, wenn sie sich auf Liebe „stützt“, d.h. wenn sie im Andern oder im Mitmenschen „den Menschen“, im Sinne des Zusammenfallens von Du und Duhaftigkeit überhaupt, nicht nur zu „sehen“, sondern ihm zu begegnen vermag.462 Das vorgängige, noch nicht thematisch eingeholte Wissen entwickelt sich in diesem Fall als Liebe. Das Allgemeine der „Duhaftigkeit überhaupt“ vermengt Binswanger mit liebendem Sein. Das Primat der Liebe ist nicht auf ein einziges Du bezogen, weil Liebe fortan als Erkenntnisprinzip für ein jegliches Du reklamiert wird. Dadurch verlieren Teilinhalte, Bestimmtheiten, Akzidentelles an Bedeutung (die ich dir beimesse und an dir würdige), ja diese werden erst durch das Allgemeine als von ihm Verschiedenes wahrgenommen. Der Vorrang des umriss-schattenhaft Generellen, aus dem der konkrete, liebende Mensch hervortritt, ist ein im Rahmen der Erkenntnistheorie angesiedeltes Problem, in der Begegnung selbst jedoch besitzt es keine Relevanz. So ist es verfehlt zu sagen, ich liebe dich in deiner Duhaftigkeit – ich liebte dann anstelle deiner die Vorstellung eines Du, welches mir 461 462 AW 2, 140 AW 2, 241 167 in Gestalt deiner begegnet. So werden Du und Ich in der Liebe, in der wir ja doch unsere Einzigartigkeit füreinander gewähren und bewahrheiten, zu Exemplaren einer Gattung. Der Oberbegriff „Gattung“ realisiert sich sodann als ein Wir, in dem Ich und Du als Teile versammelt sind, die in Wert- und Gliedhaftigkeit vertauschbar sind. Allgemeines als Duhaftes kann überhaupt nicht geliebt werden, es wird höchstens mittels Vernunft erfasst. An einer früheren Stelle im Werk zitiert Binswanger allerdings aus Hegels theologischen Jugendschriften: „Ein Gedachtes kann kein Geliebtes sein.“463 Was ist nun mit der Einführung des Begriffes der abstrahierenden Duheit für den Problemstand gewonnen? Dazu kann – vorausgreifend – festgehalten werden: 1) Das Duhafte überhaupt dient als erkenntnistheoretisches Fundament der Liebe in ihrem weitesten Sinn als Akzeptanz und Aufmerksamkeit für die begegnenden anderen. Hypothetischen Charakters ist die Ansicht, eine Duhaftigkeit führe zur bedingungslosen Annahme sämtlicher anderer. Liebendes Begegnen weitet sich vom Ereignis zwischen mir und dir aus zu einer lebensweltlichen Weise intersubjektiven Daseins. Wahrnehmungspsychologisch ist dieser Gedanke durchwegs nachvollziehbar, so schreibt etwa Boss, sich auf Heideggers Offenständigkeit des Daseins beziehend: Hätte ich nämlich nicht immer schon im vorhinein den andern als ein Wesen von derselben Seinsart erkannt und verstanden, dergemäß ich selbst existiere, wüßte ich gar nicht, in was hinein ich mich einfühlen sollte, um einen anderen Mitmenschen in dem zu entdecken, was er ist. Alle Vorstellungen von einer Empathie oder einem Sich-einfühlen-können in einen Mitmenschen setzen das Verstanden-haben des anderen als Mitmenschen immer schon voraus. […] Eine Einfühlungs-Theorie ist denn auch nur dann vonnöten, wenn das In-der-Welt-sein des Menschen nicht als ein Offenständig-sein für den Anspruch der sich uns zusprechenden Gegebenheiten unserer Welt gesehen wird.464 Wenngleich Binswanger das Problem manchmal pathetisch angeht, können die anderen von mir nicht „inbrünstig“ geliebt werden (das wäre ohnedies unehrlich), ihnen soll im „Geist der Liebe“ begegnet werden. Hier meldet sich durchaus ein ethischer Anspruch an, den Binswanger allerdings nicht ausdrücklich dargestellt hat. 2) Weiters will er damit den Widerstreit von Liebe und Sorge überbrücken. Sorge, die auf Einzelnes an dir (dir anhaftendes „Endliches“, „Beurteilbares“) gerichtet ist, ist in der Universalität der Liebe eingebettet.465 Der Begriff der Liebe stellt sich erneut als ein prekärer dar. Binswanger versucht, die von ihm eingeführte Dichotomie von diskursiver Teilwahrnehmung von dir und 463 Hegel, Werke I, S. 362 Boss, Grundriß der Medizin und Psychologie, S. 364 465 Herzog bringt dazu einen ärztlichen Beweggrund ins Spiel, der sich in den Grundformen anbahnt und im Verlauf seines späteren Wirkens deutlicher hervortritt: „Es wird in den Spätschriften sichtbar, wie Binswanger bis zuletzt mit dem Problem der Einheit von vergegenständlichender (somatischer) Medizin und vorgegenständlicher, d.h. sympathetisch-kommunizierender Menschenbehandlung rang.“, in: Herzog, Weltentwürfe, S. 100. 464 168 liebender Erkenntnis durch die beide in sich aufhebende Daseinserkenntnis zu bewahren bzw. zu „retten“. Erkenntnisleitend ist statt der Intentionalität das Offensein des Daseins für das Einssein mit dem Sein als Ganzem, welches sich als simple Negation des teilweisen Erkennens zeigt. Indem er Einzelnes, d.h. das Du in seiner realen Gestalt in Gegenwart übergeht, versetzt er das Dasein gleichsam in eine Situation, die von einer „unbestimmten Seinsfülle“, „[…] vom Wesen der Wirhaftigkeit, ‚unendlich weit hinaus’ über das bestimmte geliebte Du, ‚ewig vorher’ und ‚ewig hernach’ […]“466 durchherrscht ist. Ein ununterscheidbares Ich und Du scheinen im Wir untergetaucht zu sein. Das führt dahin, dass Ich, Du und Wir das „Sein als Ganzes“ sind, Liebe ist das ranghöchste Ganze, das ich zu erkennen vermag. Sind Ich, Du und Wir konvertibel, so partizipiert das konkret-empirische Ich am Ganzen, als das sich Liebe erweist: „Wer am Sein als Ganzem teilzunehmen vermag, vermag – der Möglichkeit nach – alles zu erkennen.“467 Liebe ist als Grundform angesetzt, ihre Wirklichkeit erst lässt Begegnung mit und Zuspruch vom Sein zu (das wir je schon sind). Hier treffen wir auf das, was Binswanger eigentlich vermeiden wollte, nämlich die Verquickung von Liebe und sorgendem In-der-Welt-sein, oder wie Heinz Vetter schreibt: „Sie [die Liebe, Anm.] muss sich eigentlich mit allem befassen, was die menschliche Wirklichkeit im weitesten Sinne betrifft, und das ist letzten Endes die Wirklichkeit überhaupt.“468 In dem mit etwas Verlegenheit gebrauchten Begriff „Wirklichkeit überhaupt“ hat das Umfassende naturgemäß Vorrang vor den Einzelteilen. Dialogphilosophie meint nicht in erster Linie dich und mich, die einander unverwechselbar und faktisch einander begegnen, sondern sie beansprucht Verbindlichkeit. Dazu bedarf es des Absehens von deiner und meiner lebensgeschichtlichen, durch Erfahrungen und Reflexionen über diese gereiften Person. Das geht so weit, dass wir unserer Mundanität und mit ihr unserer Sorgestruktur beraubt werden469: „Das heißt, daß dem Besonderen, ja der Besonderheit als solcher, in der Liebe keine selbständige Bedeutung zukommt, […]. Nur als Teilinhalt einer wirhaften Totalität empfängt das Einzelne und Besondere hier Sinn und Bestand […].“470 Versteht man unter Besonderheit das, wodurch du und ich je einzig, daher nicht substituierbar sind, dann wird in diesem Satz Jemeinigkeit wie Jedeinigkeit als Ergreifen der eigensten Möglichkeiten zurückgewiesen. Die Einebnung von Deinem und Meinem – welches keinen Besitzstand 466 AW 2, 453 AW 2, 458f 468 Vetter, Heinz: Die Konzeption des Psychischen im Werk Ludwig Binswangers, S. 96 469 Die Konsequenzen heben vor allem Haltmayer und Theunissen hervor, deren Argumente im folgenden herangezogen werden. 470 AW 2, 459 467 169 anzeigt! – führt sodann in ein Wir-Gefüge, das man auch als Seinsganzes identifizieren kann, Haltmayer meint dazu: Ginge es darum, in kürzester und zugleich fundamentalster begrifflicher Weise auszudrücken, was Liebe ist, so müßte diese als das zwischendurch schon angesprochene Zusammenfallen meines „einzelnen“ Du und von Du überhaupt charakterisiert werden (bzw. zugleich, was Ich und Wir anbelangt: als Zusammenfallen von mir als „einzelnem“ Ich und von Ich überhaupt sowie von Wirbeide mit Wirheit überhaupt).471 Ist das einzelne Du exakt deckungsgleich mit dem abstrakt-allgemeinen Du, dann liebe ich ausschließlich ein einziges Du, das sich in seiner Allgemeinheit – und das meint immer Ungreifbarkeit – mir als konkretes Seiendes entzieht, wenn nicht gar verflüchtigt. Das einzelne Du, das sich in Duhaftigkeit zeigt, mutiert unter diesen Auflagen zum absoluten Du. Der Status der Absolutheit des Du wird jedoch nur um den Preis der Aufgabe der „konkreten Duhaftigkeit“ deiner Person erkauft. Wie ein Konkretes (dies selbst schon ein abstrakter Begriff) etwas „Allgemeines“ zu erkennen vermag, darüber schweigt Binswanger, indem er sich auf das Unvermögen des Verstandes, ebendies zu fassen, beruft.472 Er spielt das, was er unter einen Begriff bringen will (Sorge und Liebe) gegeneinander aus. Das angekündigte „sowohl-als-auch“ (Liebe zu dir wie auch Sorge als Befreiung zu deinem nur dir selbst gegebenen Seinkönnen) weicht dem „entweder-oder“, daher Haltmayer befindet: Mit diesem oszillierenden Isolieren der Vernunft am einen Pol von der Liebe am anderen gerät Binswanger in eine (von ihm für die Begründung seiner Daseinserkenntnis zwar begrüßte, aber letztlich doch nicht zu überwindende und seiner Arbeit daher zum Schicksal werdende) Dualität, die wir von der Entgegenstellung der (endlichen) Sorge gegen die (unendliche) Liebe her schon kennen. Diese Dualität muß, beruft man sich auf jenes erwähnte „Erschleichen“, als „Widersprochenheit“ oder Entzweiung verstanden werden, deren zwei Seiten einander äußerlich (und daher auch mit keinen Mitteln zusammenzubringen oder zu versöhnen) sind; so daß es nur als folgerichtig anzusehen ist, wenn auch die Einheit Wirklichkeit-Begriff zuletzt in die Gegensätzlichkeit der Dualitätsfronten gerät, dergestalt, daß (wenigstens der Tendenz nach) die mit Verstand und Vernunft Hand in Hand gehende Begrifflichkeit gegenübergestellt wird der Liebe, u. zw. der Liebe als der eigentlichen Wirklichkeit. Eine derartige Behauptung von Unterschieden hat übrigens durchaus ihren guten Sinn, allerdings nur so lange, wie ihr zugleich bestehender Zusammenhang nicht geleugnet wird.473 Von Koinzidenz vom allgemeinen mit dem konkreten Ich und ebensolchen Du zu einem komponentenlosen Wir ist eingangs der Grundformen ausdrücklich nicht die Rede: „Denn aus der ungeschiedenen Seinsfülle des Einander lösen sich erst Ich und Du heraus, um aneinander ihre ‚Selbstheit’ zu gewinnen.“474 Selbstheit von Ich und Selbstheit von Du ist 471 Haltmayer, Zum Begriff der Liebe, S. 157 AW 2, 553 473 Haltmayer, Zum Begriff der Liebe, S. 158 474 AW 2, 13 472 170 geradezu das Gegenteil von Allgemeinem, in das Ich und Du hineingezogen werden. Abseits dessen bedeutet Selbstsein So-sein bzw. Dieses-sein, das allein dadurch bereits vom Anderen getrennt ist; was anderes aber kann ich lieben als jemand anderen selbst? Setzt und bedingt zugleich Liebe den anderen Menschen? Es fällt nicht nur ein konkretes Du als ein Selbst mit dem allgemeinen Du zusammen, das allgemeine Du steigert sich zum Absoluten, an dessen „ganzem Sein“ das Ich Teil haben will. Ein Konkretes wird verallgemeinert und dieses sodann als Absolutes deklariert. Man kann gut – wie das oft auch geschieht – das Geliebte absolut setzen, sich so selbstvergessen unterordnend, sodass du den alleinigen, damit allherrschenden Fixpunkt meiner Existenz markierst. Dem gebieten deine und meine Selbstheit jedoch Einhalt, wie Binswanger gerade im Abschnitt über die „Wirheit und Selbstheit im Lieben“475 herausstellt. Liebe, die nur dir, dich damit verabsolutierend, gilt, ist nicht jene Liebe, in der du mir als empirisch fassbares Wesen entgegentrittst. Binswanger verwechselt das logisch-abstrakte Absolute von der „Abgehobenheit“ jener Liebe, zu der Ich und Du tatsächlich fähig und berufen sind. Was zuerst betont wurde, nämlich Liebe von selbständigem Ich und Du, wird nun revidiert: das Selbst steht als logische Instanz mit dem Allgemeinen bzw. Absoluten in Zusammenhang, Liebe zum Du als eine Selbstheit wird aber schwerlich einen (logischen) Bezug zur Allgemeinheit des eben geliebten Du herstellen wollen. Auf das Absolute, das wahrlich von dir Losgelöste und dich von mir Trennende, beharrt Binswanger ohne Abstriche: „Liebe ohne Liebe zur reinen Form ist ‚bloße’ Verliebtheit, Form- und Maßlosigkeit.“476 Der ohnedies überbelastete Begriff „Liebe“ wird nicht aussagekräftiger, wenn man ihn zum Absoluten erhebt, damit zugleich reale Gegebenheiten übergehend. Liebe selbst kann nie nur ein Begriff sein, der sich als Gegenstand der Logik oder der Linguistik darbietet; insofern verfehlt jedes Reden über die Liebe die Liebe selbst. Sie soll weder sorgendes In-der-Welt-sein noch ein unerreichbares „Jenseits des Seins“ sein. Sie ist Grundform menschlichen Daseins und deshalb nicht anderen Menschen als Messlatte anzulegen, ohne wiederum deren Liebe zu verkennen oder zu zerstören. Was hier subjektivistisch klingt, ist keineswegs so zu verstehen. Liebe gewähren Subjekte einander, allerdings in der Art und Weise, wie es nur diese zu tun vermögen. Dies gilt für jede Liebe, 475 AW 2, 107-123 AW 2, 548. Der zweite Teil der Grundformen trägt den Titel „Vom Wesen der Daseinserkenntnis“, der den Leser eher verwirrt denn erkennend zurücklässt. Das belegen die zahlreichen Wiederholungen des bereits Gesagten, die mit Berufung auf traditionelle Termini (Begriff, Dialektik, Allgemeines, Einzelnes, Bestimmtheit) untermauert werden, deren Prämissen und Folgerungen manchmal unbedacht in die eigene Argumentation eingeflochten werden. Die mannigfachen Verweise und Bezugnahmen auf Dichtung (Goethe) und Philosophie (Kant, Hegel, Hönigswald, Dilthey, Husserl, Heidegger) bis zur Psychologie lassen eine Unsicherheit Binswangers hinsichtlich des eigenen Themas erahnen. 476 171 die dich als den liebt, fördert und würdigt, der du bist und dieses dein „Du-sein“ erst hervorzubringen vermag. Darin ist wohl auch der Grund für die Zuhilfenahme zahlreicher Gedichte zu sehen, in denen liebende Begegnung in einer nichtwissenschaftlichen Sprache zu Wort kommen, womit sie an das Phänomen wesentlicher näher herankommen. Trotzdem: In eigenem Interesse muss sich Binswanger – um den Preis der Verständlichkeit – in der Fachterminologie ausdrücken. Das dadurch entstehende kommunikative Manko bringt Theunissen auf den Punkt: „Doch was es [das Liebende jenseits der Heideggerschen Sorge, Anm.] positiv ist, vermag Binswanger nicht zu sagen.“477 Liebe, die dich und mich in Unverwechselbarkeit füreinander da sein lässt, verliert unter diesen Aspekten ihre Gültigkeit, ja ihren Sinn überhaupt: Je betonter Ich, Du und Wir als etwas Generelles, „Ganzes“ gedacht werden, umso verschwindender und marginalisierter erscheinen wir in unserer Liebe. Übersteigert man diese Vorstellung ins Extreme – und Extremes bedeutet immer Missverständnis, also Ignoranz des zu denken Gebenden –, so bleibt von einem geliebtem Du nichts mehr übrig. Wenn ich dann überhaupt noch liebe, so liebe ich bestenfalls etwas Gegenstandsloses. Nochmals Theunissen das Wort: Wie also alles Einzelne am konkret-singularen Du unter die Totalität dieses Du subsumiert werden muß, so ist das konkret-singulare Du, als trotz seiner inneren Ganzheit Einzelnes, seinerseits wieder der Ganzheit „konkret-allgemeines Du“ unterzuordnen. In dieser Unterordnung ist das konkret-singulare Du nur eine „Besonderheit der konkret-allgemeinen Duheit“. Das heißt, daß das allgemeine Du das vorgängige Ganze ist, welches das singulare als seine Besonderung aus sich entläßt. Oder anders ausgedrückt: das singulare Du exemplifiziert nur das allgemeine, es ist nur ein Exemplar der Gattung Du.478 Das Verdikt Theunissens, das der orthodoxen Interpretation Binswangers hart erscheint, ist ein klarsichtig und gründlich gesprochenes, das mit Kritik und Offenbarung nicht vorm Mund hält. Geleitet wird der Einwand von dem Argument, nach dem der Zusammenfall von Ich mit „Ichheit-überhaupt“ und von Du mit „Duheit-überhaupt“ in Begegnung nicht möglich ist, womit weiters auch der Dialog zwischen dir und mir nicht statthaben kann, weil dafür jede Grundlage fehlt. Ein Gespräch, eine liebende Wirheit nimmt in einer so geführten Diskussion keinen Platz ein. In ihr ist für Theunissen dem Schicksal des „einzelnen Du“ die Messe gelesen.479 Mehr noch: duale Wirheit – bisher als In-der-Welt-über-die-Welt-hinaussein definiert – verliert an Weltlichkeit, Binswanger müsste fortan für ein weltloses Dasein plädieren, welches in unserer Welt schlichtweg undenkbar ist. Er selbst erkennt die 477 Theunissen, Der Andere, S. 466 Theunissen, Der Andere, S. 469 479 Theunissen, Der Andere, S. 470 478 172 Diskrepanz von Allgemeinem und Konkretem, von Einzelnem und Abstraktem, die die Grundformen des Daseins als „Inkommensurabilität“480 prägen. Binswanger riskiert in seinem Denken die Inkaufnahme der Unterordnung des Individuellen, Besonderen und gerade dadurch Einzigartigen, in welchem sich das geliebte Du zeigt und worin es sich auszeichnet. Ihm geht es um das In-der-Welt-über-die-Welthinaus-sein, das als Transzendieren die Welt als Sorge verlassen will. Eine Liebe, die die Welt, in der wir füreinander zu sorgen haben, in ihrem eigenen Namen zu übersteigen beabsichtigt, gerät mit sich selbst in Widerstreit. Begegnung – und so wird sie hier verstanden – als eine in Eigenständigkeit freigebende Kraft, bringt Tatsächliches, d.h. das, wie es mit dir und mit mir steht, hervor; sie kann also dieses nicht zuvor schon überschwungen haben. Wissenschaftliche Erläuterungen zur Liebe, von entsprechenden literarischen Ausprägungen ist bloß an dieser Stelle nicht die Rede, nähren den Verdacht, sich selbst ins Schwärmerische, Träumerische, subjektiv Beschriebene hineinzuschwindeln. Klar dagegen jedoch spricht Theunissen, der, Binswanger weiterdenkend, über ihn hinausgeht: „Binswanger denkt den Überschwung in diesem Zusammenhang als ein Überschwingen aller Faktizität oder als Hinausschwingen in völlige Untatsächlichkeit.“481 Die liebende Begegnung, in der ich deiner gewahr werde, hat mit Untatsächlichkeit, wie Theunissen unterstreicht, nichts zu tun. Bedenkt man das Du, denkt man an das Du, begegnet man dem Du, so findet der Zugang zu ihm in der Anwesenheit deiner für mich tatsächlich statt. – Jede Untatsächlichkeit zerstört unsere Beziehung, indem sie sie ins Irrelevante, Ungreifbare verschiebt, in etwas, das einer metaphorischen Seelenverwandtschaft gleichkommt. Das Selbstmissverständnis, dem Binswanger unterliegt, gebietet einen abermaligen Blick auf das, was ihn zu seiner misslichen Interpretation geführt hat. Die Konzentration auf das allgemeine Du ist durch die vorgängliche Herabsetzung des Singularen bedingt, dessen Bedeutung er zuvor herausgestellt hatte. In der Singularität ist nicht in erster Hinsicht von der Rolle, die ich bekleide, die Rede, sondern von dem Selbst, welches ich durch dich erlange. Das Du also ist es, das mich als ein Ich erkennen lässt und mir Identität zumutet: „[…] denn mit Dir, mit dem ‚Verlust’ der Wirheit, hätte ich im vollen Sinne des Wortes auch mich-selbst verloren. Die Selbstheit ist hier also von Gnaden der Wirheit! Ihr Name lautete: Einsamkeit.“482 Die Selbstwerdung, die ich durch dich erlebe, erfahre ich erst, wenn du mir real begegnest – nicht als Einzelexemplar eines Allgemeinen. Die Beziehung von Dasein mit Mitdaseienden steht bei Heidegger unter dem Vorrang des 480 AW 2, 501 Theunissen, Der Andere, S. 473 482 AW 2, 397 481 173 sein lassenden Seins, das seinerseits eine Anonymität erahnen lässt, Binswanger setzt an diese Stelle das ins Allgemeine enthobene Ich und Du. Dabei ist es einerlei, ob ein Du im Lichte des Seins betrachtet wird oder unter dem Anspruch des Allgemeinen steht. Wird dem Du ausschließlich unter diesen Hinsichten begegnet, dann ist auch dir dein dir zugehöriges Anders- und Eigensein verwehrt.483 7.3 Konsequenzen Die in dem Kapitel dargestellte Debatte hinterlässt Frucht- und Ratlosigkeit, daher sind fragende Einwände gestattet. Eine das Phänomen der Liebe zu erhellen versuchende Philosophie rückt klarerweise die Liebenden in das Zentrum der Betrachtung, wobei deren Fassbarkeit – will sie nicht spekulativ-skeptisch agieren – ein unhintergehbares Prinzip darstellt. Allein dadurch verbietet sich die Betrachtung des einzelnen Du als eine Allgemeinheit, gegenteilig verkehrt wird das Du zu einem Exemplar der Gattung Mensch. Wie ich durch Zufall mit diesem Exemplar in Bekanntschaft gerate, darf ich es – durch Koinzidenz und ebensolche Willkür – lieben. Gilt meine Liebe zu dir als Zuneigung zu einem Exemplar, dann liebe ich nicht dich, wie wir einander begegnen, sondern ein Schattenbild, einen Vertreter eines Standes, eines Volkes, eines Zirkels, als jemanden, dessen Selbstheit von anderen vereinahmt und dadurch „entselbstet“ wurde. Binswanger hingegen plädiert für die Selbständigkeit in und durch Zweiheit, wenn auch Transmundanität und Antiindividualität Züge seines Denkens tragen. Hält man ihm seine eigene Schrift vor Augen, muss er die Folgen seiner Überlegungen eingestehen und durchhalten. Die Relation von Ich und Du ist sein Anliegen, ein Sinnbild derer findet er, wie schon erwähnt, in der Ellipse.484 Die Zentren der Ellipse bilden die Brennpunkte, also Ich und Du, ohne die die Ellipse keine wäre. Lässt man die Brennpunkte zusammenfallen, so resultiert ein (missverstandenes) Wir, das dich und mich absorbierend vereinheitlicht. Je größer die Entfernung der Brennpunkte voneinander, desto größer auch der Raum (oder mathematisch korrekt: die Fläche), den Liebende einander schenken. Binswanger hat das bereits mit dem sich selbst mehrenden Eros verglichen. Die Erläuterungen zur Räumlichkeit des Daseins legen weiters nahe, dass er von zwei Liebenden ausgehen muss, um überhaupt 483 Um diese Gefahr weiß Binswanger, jedoch wehrt er sie nicht ab. Das folgende Zitat trägt beinahe schon Züge eines Bekenntnisses: „Es braucht nun kaum noch einmal betont zu werden, daß es sehr verschiedene Grade der Vollkommenheit von Daseinserkenntnis gibt. Von dem erwähnten Höchstgrad aus gibt es alle Übergänge bis zu demjenigen Grad, wo Ich Dich aus dem Auge verliere und nur noch das Wesen Du-überhaupt schaue, wo Du und das Wesen Du-überhaupt also nicht mehr zusammenfallen oder zur Deckung gelangen. Fällt dann schließlich auch noch die Sicht auf das Wesen Du-überhaupt hinweg, dann erkenne Ich überhaupt nicht mehr psychologisch, sondern nur noch gegenständlich. Psychologische Erkenntnis findet ihre Grenze da, wo Duüberhaupt umschlägst in Es-überhaupt, in die Gegenständlichkeit.“, in: AW 2, 586 484 AW 2, 21. Zur präziseren Erläuterung siehe das Kapitel 4 Die Welt des Dualis (liebendes Miteinandersein). 174 zu einem Begriff der Räumlichkeit zu gelangen. Einräumen des Wir-Raumes verlangt eine in Liebe gewachsene Präsenz eigenständiger Menschen; in der betreffenden Passage heißt es expressis verbis: Hier enthüllt sich die Raumstruktur des liebenden Miteinanderseins erst deutlich: ihr Ordnungsprinzip, ihr oberstes Sinnprinzip bist Du, und da Du nicht bist, ohne daß Ich bin, sind das oberste Raumprinzip Wir. Nur weil „im“ Wir Ich und Du schon – als einander zugehörende – sind, gehöre Ich dort hin, wo Du bist, vermag ich da zu sein, wo du bist, vermag da, wo du bist, ein Ort „für mich“ zu „entstehen“ […].485 Um eine Beziehung unterhalten zu können, muss ich eine Entität sein, liebend erst bin ich ich. Den Raum, den ich gewähre, trete ich ja nicht ab, ich muss ihn mir auch nicht wegnehmen lassen; er wird mir in sinngewandelter Weise wieder „zurückgeschenkt“, um beim Bild der Ellipse zu bleiben. Von einem allgemein-abstrakten Ich bzw. Du wird in diesem Bild nicht ausgegangen: „Der sprachliche Ausdruck für diese Räumlichkeit lautet: Ich und Du. Vertiefung und Erweiterung bedeuten hier aber zugleich Annäherung, Ferne bedeutet hier zugleich Nähe, Klarheit und Wahrheit.“486 Die Diskussion um die Liebe eines allgemeinen Du oder eines konkreten Du ist einer der Prüfsteine der Philosophie der Begegnung. Es kann die Beziehung zu dir als eine nur uns beide angehende gesehen werden, dann ist sie den anderen eine exklusive, damit ist sie aber nicht abgewertet. Vielmehr wird zuweilen die Liebe zum Du propagiert. Dieses Du ist dann jedoch nicht jener Mensch, den ich liebend bei mir weiß. Das Problem liegt darin, dass ich ja gar nicht wissen kann, wen ich als allgemeines Du überhaupt liebe.487 Die Liebe zum Allgemeinen offenbart sich darin als Liebe zum Nichts, wenn dieses als Negation des Menschlichen gedeutet wird. Liebe als Offenbaren des Eigenen für dich, als Seinlassen deiner und meiner ist in zählbaren Momenten nicht fassbar. Die Existenz der Liebenden wird mit dieser Methode verfehlt. Ist Liebe ein grundlegender Modus, der uns selbständig sein heißt, so ist er doch versteckt, aber nicht ausgerottet. Das wäre er dann, sobald Liebende ihres Füreinanderseins verlustig gingen oder dieses als ein falsches Spiel betrieben. Auch aus 485 AW 2, 20f AW 2, 23 487 Diese Vorstellung treibt sich zuletzt dann ins Extreme und Unvorstellbare, sobald man an den Tod denkt. Stirbst du, dann stirbt kein universelles Du, sondern eben du, dessen Liebe ich teilhaftig werden durfte. Ein allgemeines Du ist in diesem Sinne gar nicht sterblich. Sehr wohl bist aber du sterblich. Begleite ich dich bis zu deinem (physischen) Ende, so „stirbst du mir weg“ und nicht jemand anderer, der als Einzelexemplar an deiner statt stirbt. Erst recht im Sein-zum-Tode ist das Dasein aufgerufen, miteinander da zu sein. Ich kann dir deinen Tod nicht abnehmen, sehr wohl jedoch dir in jenem Fortgang beistehen, den du leisten musst. – So stirbt jeder Mensch einen anderen, eben den eigenen Tod. Ob sich darin Liebe, Zugetanheit, Sympathie, Hilfsbereitschaft zeigt oder die Beziehung am Tod zerbricht, vermag nur der Verstorbene zu sagen. Doch dieser verbleibt schweigend. Eine Individuation – meine wie deine –, die bei jeder Konkretheit der Liebe doch im Ungewissen verbleibt. Dies redet nicht der Unverbindlichkeit das Wort, unter deren Mantel sich verantwortungslose Liebe verbirgt, geht es doch um das Wagnis der Liebe. 486 175 diesem negativen Beispiel wird ersichtlich, dass Binswanger die Liebe als Wertvolles zu schätzen weiß, seinen Aberrationen zum Trotz. Die sich hartnäckig und widersprüchlich haltende Dissonanz zwischen allgemeinem und konkret-individuellem Du, der sich die Dialogphilosophie gegenübersieht, kehrt bei Binswanger wieder, die er weder leugnet noch löst. In erster Hinsicht schreibt er als Psychiater, der sich auf philosophisches Terrain begibt, wodurch sich terminologische und sachbezogene Schwierigkeiten aufdrängen müssen. Der Frage – wer bin ich und wer bist du? – stellt er sich aus der Position beider Wissenschaften. Die Antwort auf diese Frage hat sich bereits angekündigt, sie kann hier nur im Rahmen der Philosophie Raum einnehmen. Das Problem, dem sich Binswanger widmet, ist das Selbstsein von mir und dir in Gemeinsamkeit. Ein eigenständiges Ich und Du, die einen Wir-Raum konstituieren, ohne die Selbständigkeit preisgeben zu müssen, ist jedoch der Seinsstand und das Miteinandersein, das Binswanger als liebendes Wir definiert. Das In-sich-stehen des Ich (und des Du) in (fremdgegebener) Autonomie, die bei Binswanger unter „Singularität“ fungiert, soll nun folgend zur Sprache kommen. Singularität ist nur eine der Grundformen menschlichen Daseins, sehr wohl aber jene, die dem Wir entspringt und zugleich dieses konstituiert. Verdankt sich das Ich einer vom Anderen herkommenden Selbständigkeit, die mich fordert, ich – und kein anderer als eben ich – zu sein, dann wird im Dasein des Ich und dem des Du der Charakter der Gabe deutlich. Die Gabe des Daseins (ich bin mir selbst von dir gegeben, geschenkt) erfahre ich in der Grundweise der Einsamkeit, anhand derer mir deutlich wird, dass ich durch dich ein Einzelner, so noch nie Dagewesener und in der Art nicht wieder Kommender bin; ich bin in deiner Liebe zu mir nicht austauschbar, weil gerade ich es bin, den du liebst, indem du mir zu sein gibst. Binswanger streift diesen faszinierenden Gedanken öfters, expliziert ihn jedoch nicht ausreichend. An der Seinsgabe hängt sprichwörtlich das ganze Leben ab, also das, welches das Leben trägt. Ist die Gabe Grund meines Seins, so ist es geraten, sich auf sie zu besinnen. 176 8 Gabe des Daseins in liebender Begegnung 8.1 Die Gabe als Thema der Philosophie Die Gabe, das Schenken, die „Gabenbereitung“, das Teilen, sind in einem derartigen Übermaß präsent, dass ihr gemeinsames Wesen bereits wieder vergessen ist und unbeachtet bleibt. Hört man von Gaben und Geschenken, sieht man sich selber gerne in der Rolle des Empfängers, selten wahrscheinlich in der des Gebers. Das hat u. a. auch damit zu tun, dass das Schenken ein kreativer und phantasievoller Prozess ist, dem man sich, sollte es soweit kommen, nicht gewachsen sieht. Zudem weiß man nicht, was man wem wann schenkt. Und: warum überhaupt schenken? In diese Ratlosigkeit wird noch dazu der Empfänger hineingezogen, der sich in Erwartung weiterer Gaben artig und pflichtschuldig bedankt. Dabei rufen Schenken und Empfangen keineswegs nur peinliche Situationen hervor, solche Vorgänge weisen eine komplexe Struktur auf. Diese umfasst den Geschenkgeber, den Empfänger, sowie die Gabe, die deren Verbindung stiftet bzw. festigt. Die gesamte Handlung spielt sich in einem speziellen Rahmen ab, diesen bilden z.B. Jubiläen und Geburtstage, dessen höchster stellt die rituelle religiöse Handlung dar, in der ein Akt zutage tritt, in dem das Geschenk und dessen Spender erst bewusst gewürdigt wird: der Dank. Das Geschenk ist meistens nichts Ungewöhnliches, es wird in einem festgelegten, feierlichen Kontext überreicht. Man darf aus bestimmten Anlässen beinahe schon mit ebensolchem rechnen. Ob dieses auch ein gelungenes ist, lässt sich vorher bereits zumindest erahnen, kennen Geschenkgeber und -nehmer doch meistens einander. In solch einem Verständnis von Gabe droht das Wesentliche unkenntlich gemacht zu werden. So wird man auf ein Geschenk nicht spekulieren, man wird nicht Hoffnung darauf setzen, eines zu erhalten, weil man ohnehin weiß, dass einem eine Gabe zugedacht ist. Es entfallen dann auch das Staunen und die Verwunderung, die mit dem Schenken einhergehen. Die Gabe stellt sich so als etwas Unvorhergesehenes, Außergewöhnliches heraus, welches nicht zu erwarten war. So kommt es, dass ein bestimmtes Geschenk von einem bestimmten Menschen das eigene Leben prägt und begleitet. Eine Gabe vermag in ihrer vollen Tragweite den Empfänger in Möglichkeiten und Weisen zu versetzen, die dieser von sich aus nie hätte erlangen können. Die höchste Gabe, die uns zugemutet wird, ist das Leben. Es empfiehlt sich hier die Theologie, nach deren Lehre der Schöpfer die Kreatur aus sich „entlässt“.488 Eine andere 488 Nimmt man das Dasein als etwas Kreatürliches, dann verbietet sich die Idee eines ens causa sui, niemand hat sich schließlich selbst ins Dasein gerufen. Trotzdem sieht sich diese Auffassung stets Argumenten konfrontiert: so wäre das Geschöpf seinem Schöpfer unablässig zu Dank und Huldigung verpflichtet, es wäre somit im 177 Deutung schlägt den Weg ein, der zum Dasein als Tatsächlichkeit führt. In ihr wird nicht direkt Gott als Spender des Lebens angeführt, sondern dieses wird aus der Perspektive des Seienden betrachtet. Das gegebene Dasein ist Faktizität, Geworfenes, Vorfindbares, trägt den Charakter eines Dinghaften. So verbleibt es als Tatsächliches, dessen Wesen vorerst noch nicht zum Austrag kommt. Beide Deutungen, die theologische wie die ontologische, kommen darin überein, dass die Gabe eine Grunderfahrung menschlichen Daseins ist. Der Vorgang des Schenkens markiert den Geber, den Empfänger und die Gabe, wobei alle drei Elemente einen Wandel durchlaufen: weder der Schenkende noch der Beschenkte sind nach erfolgter Gabe die selben, das Geschenk hat beide in ein anderes Verhältnis zueinander gesetzt, überdies hat das Überreichte keinen bloßen Sachwert mehr.489 Ein Kennzeichen der Gabe ist ihre Unveräußerlichkeit, sie kann weder weitergegeben noch rückerstattet werden, wohl aber kann sie in Vergessenheit geraten oder als belanglos abgetan werden. Gerade deshalb ist sie mehr und anders als ein Handelsobjekt, die Ökonomie begreift die Gabe nie als solche, weil sie dafür einen angemessenen Gegenwert berechnet. Dies ist der Grund, warum man dem ehrlichen Geschenkgeber manchmal mit Misstrauen begegnet: das Geschenk – und darin liegt sein Wesen – lässt kein Gegengeschenk zu, weil es sich erst dem Empfänger als Geschenk zeigt. Dieser aber sieht sich in der Annahme der Gabe als „Gewählter“, der würdig ist, sie anzunehmen. Das hat weder mit Verpflichtung, Schuld dem anderen gegenüber noch mit Entmündigung seitens des Gebers zu tun. Das Geschenk führt zu einer gewissen Differenz und Distanz zwischen den Partnern – es herrscht eine Art der Ungleichheit –, die beiden eine je eigene Identität zuspricht. In lebensweltlichen Zusammenhängen ist nur das Gabe, was für mich, aber weder von mir noch durch mich da ist, eben das also, was mir gegeben ist. Gaben gibt es nicht ohne Empfänger, und Empfänger gibt es nur, insofern Gaben sie dazu machen.490 Die Gabe löst in der Begegnung eine Dynamik aus, weil du sie mir anvertraust und nicht jemandem anderen. Sie ist direkt an mich gerichtet, durch sie sprichst du mich als Geber an, du traust mir zu und ermunterst mich zugleich, deine Gabe in Gewahr zu nehmen. Ich bin damit in eigener Art und Weise personalisiert, weil nur ich die Gabe zu entschlüsseln strengen Sinn gar nicht in Liebe geschaffen, sondern in niederdrückender Abhängigkeit gehalten. Das geschaffene Dasein kann seinerseits etwaige moralische Verfehlungen mit ebendieser Abhängigkeit rechtfertigen usw. 489 Das Wort „Sachwert“ führt in die Irre; Geben ist etwas anderes als das Überlassen von Waren, schon gar nicht ist es ein Gütertausch, der unter zwei Parteien ausgehandelt wird. Gabe, wie sie Binswanger versteht, ist vom ökonomischen Handel bzw. von Politik grundverschieden. Hier ist vom Dasein als Gabe die Rede, dort vom symmetrischen Eigentumswechsel. Daher wird an dieser Stelle von soziologisch-ethnologischen Forschungen abgesehen. 490 Dalferth, Ingolf U.: Alles umsonst : Zur Kunst des Schenkens und den Grenzen der Gabe, in: Gabel, Michael ; Joas, Hans (Hrsg.): Von der Ursprünglichkeit der Gabe : Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion. – Orig.-Ausg. – Freiburg/Breisgau ; München : Alber 2007. – (Scientia & Religio ; 4), S. 159-191, hier S. 169 178 vermag, andernfalls verlöre ein persönliches Geschenk seinen Sinn.491 Darin offenbart sich die Problematik der Wahl des passenden Geschenks und hier treten die unzähligen Schwierigkeiten mitmenschlichen Daseins auf – ich vermeine, den zu Beschenkenden zu kennen und verfehle mit meinem Präsent ebendiese Person, wodurch mir erst meine Unwissenheit klar wird. Die Gabe bewegt sich in einem vagen Raum: Ich weiß dich als Vertrauten, Geliebten, deine Akzeptanz der Gabe ist selbst bei tiefer Kenntnis um unsere Beziehung noch in Schwebe gehalten. Vermittels ihrer kann unsere Begegnung in einem neuen, anderen Licht erscheinen und Neues zugelassen werden, welches ohne Geschenk nicht da wäre. Schenken und Empfangen sind auf das Engste mit Zeit und Hoffnung verbunden, das dringt selbst zu umgangssprachlichen Floskeln vor, wie etwa „ich leihe dir mein Ohr“, „ich schenke dir Aufmerksamkeit“, „ich gebe dir Zeit“. Merkwürdig daran ist, dass die Gabe nicht ein Teil des Gebenden ist, sondern vielmehr dieser sie selbst ist. Ich schenke mich dir – jetzt und hier – als Person, soweit ich dies vermag. Im Geschenk bist du nicht mehr bloß passiv Nehmender, sondern bereits gedrängt, meiner Aufmerksamkeit gewahr zu sein. Erfahrungsgemäß mahnt so eine Situation zur Wachsamkeit – man fühlt sich in der geschenkten Anwesenheit des Anderen möglicherweise unsicher, in Frage gestellt, oder doch bestärkt und im Eigensein bestätigt. Dalferth sieht darin „Vollzüge personaler Kommunikation“, in denen sich Begegnungen festigen und zugleich wandeln: In diesen Beziehungen werden wir, wer wir für andere sind, und erst dadurch werden wir fähig, als solche auch zu leben und zu handeln. […] Durch Gaben werden wir, wozu wir uns nicht selbst machen können: zu Empfängern.492 Dalferth betont die Rolle des Empfängers, der das Geschenk erhält, namentlich das Geschenk des Lebens. Abseits des theologischen Zusammenhangs, der hier hervortritt, zeigt das Geben einen Prozess an, eine Interaktion zwischen den Partnern, auch wenn der Beschenkte nichts entgegnen kann. Durch diese Dynamik ist die Beziehung nun eine andere als zuvor, Du und Ich werden einem Wandel unterzogen. In diesem Sinn war der Beschenkte vorher noch ein „Bedürftiger“, der mit der Gabe bereichert wird. In der Begegnung sticht paradoxerweise eine Passivität des Empfängers hervor, in der dem Gebenden nicht die Rolle des Besitzergreifers unterstellt werden soll. Diese Passivität ist kein Unvermögen bzw. eine Mangelerscheinung, schon gar nicht Bequemlichkeit oder Faulheit, in der man sich „bedienen lässt“. Sie bedeutet hier Rezeptivität als Offensein für den Anderen und dessen 491 Das Ereignis der Gabe ist hier im Ontischen angesiedelt, in dem der Empfänger bereits als Dasein konstituiert ist. Eine andere, nämlich grundlegende Gabe ist die des Seins, die Dasein da sein lässt, es ins Sein ruft und ihm zu sein überantwortet. Darauf zu verweisen ist das Ansinnen Heideggers. Binswanger hingegen lässt eine weitere Option offen: das Geben und Empfangen des je eigenen Daseins aus dem Wir. 492 Dalferth, Alles umsonst, S. 172f 179 Gabe, was auch immer diese im Konkreten sein mag. Allein diese Öffnung und Einstellung selbst verrät bereits Dankbarkeit. Vom Dank, auch von der Bitte, liest man bei Binswanger in seinen Grundformen selten, während von der Gabe ausführlicher die Rede ist und zwar in den Kapiteln „Die Selbstheit im Handeln und die Wirheit und Selbstheit im Lieben“ sowie in den Ausführungen zu „Liebe und Tod“. Die „Selbstheit im Lieben“ definiert er als „Einsamkeit“, in der es mir aufgegeben ist, zu lieben und dementsprechend zu handeln. Der missverständliche Terminus „Einsamkeit“ bedeutet in positiver Wendung Selbstannahme in Akzeptanz des nicht selbst gelegten Grundes des eigenen Daseins. Das Ereignis der Begegnung in Liebe ist untrennbar mit dem Phänomen der Gabe verbunden; dies zeigt sich schmerzlich in fehlenden oder brüchigen Beziehungen. Im Folgenden muss Gabe als Wesensmerkmal der Ich-DuBeziehung herausgestellt werden, weil sich erst in der Seinsgabe Liebe äußert, die dich als mit deinem Sein Beschenkte/r meint. Jedoch bleibt der Grund der Gabe verdeckt – wer gibt mich mir, wer gibt dich dir? Oder geben wir einander zu sein, sodass wir unser je eigenes Dasein dem Anderen verdanken? Wie aber soll der Mensch als kontingentes Wesen einem anderen zu dessen Sein verhelfen, ohne in Hybris zu verfallen? Liebe als Gegründetsein im Du, welches mir Sein einräumt und gewährt, zeigt sich in bewusst vollzogener Annahme seiner selbst mit dem Wissen um die eigene Herkunft aus dem Du. Mein Ursprung ist mir von dir gegeben, ich stehe dadurch aber nicht in einem repressiven Abhängigkeitsverhältnis dir gegenüber, weil du nach der Freigabe meiner in eigenes Sein kein Besitzrecht zur Geltung bringen kannst. Das mir zuteil gewordene Sein ist ontologisch betrachtet unveräußerbar, es kann weder getauscht noch aufgehoben werden. Es genügt aber nicht, einzusehen, daß Liebe darin besteht, im Sein „eines Andern“ – um diese Redeweise hier noch gelten zu lassen – den Grund ihres Seins zu haben, vielmehr gilt es einzusehen, daß dieses Grundhaben nur Liebe ist, insofern es kein pflichtmäßiges, überhaupt kein sich etwas vor-setzendes und damit auch kein im Gegensatz zum natürlichen Sein stehendes Sein ist! Liebe setzt sich weder etwas zum Grunde, noch zum Zweck, vielmehr wird ihr Grund sowohl wie Zweck als Geschenk oder Gnade.493 8.2 Selbstheit als Geschenk des Anderen Die Aussage, ich sei mir von dir gegeben worden, hinterlässt einen verwirrenden Eindruck. Ich kann sie erst dann äußern, sobald ich meiner bewusst geworden bin, mich subjektiv daseiend erfahre. Das Ich trägt den Status eines Seienden auch ohne von der wechselseitigen Ich-Du-Konstitution explizit wissen zu müssen. Sei es das Du oder das Ich – beide müssen 493 AW 2, 163 180 Subjekte sein, um zum Anderen „Du“ sagen zu können. Nur ein Subjekt kann eine Beziehung eingehen, daher wird auch nur in der Begegnung das Ich dem Anderen zum Du. Weitet sich Existenz zum Miteinander, dann werden Dynamik, auch Ungewissheit ins Werk gesetzt. Diese wird umso intensiver, als man ja nie weiß, mit wem man es zu tun hat, wenn man wirklich liebt. Wie Liebe letztlich das Wagnis der Beziehung ausdrückt, deren Bemühen es ist, den Anderen als solchen, d.h. als den, der er selbst ist, zu lieben. Die Worte „Liebe“ und „Gabe“ drücken Aktivität seitens des Subjektes aus; „lieben“ umfasst stets „geben“, umgekehrt offenbart sich nicht in jeder Gabe liebende Zuwendung. Wird in der Beziehung dem Partner Selbstheit, also Eigensein, geschenkt, zeigt sich dies auf der ontologischen und auf der ontischen Ebene. Ich kann dir als geliebtes Du ein Geschenk überreichen, welches dich – obwohl als Subjekt bereits stabil konstituiert – zu berühren vermag, sodass du nach der Geschenkannahme nicht mehr jener bist, der du davor warst. Das aus der Tiefe oder dem Grund schöpfende Geschenk ist natürlich doch das fundamentale, weil dir darin dein Grund, deine Existenz übergeben wird. Vermittels der Gabe wirst du, aber auch ich, mit Dasein (besser: Miteinandersein) be-gabt. In den vorangegangenen Kapiteln wurde bereits auf Generalisierungstendenzen hingewiesen; Binswanger ordnet Ich und Du dem Wir unter, bzw. löst er beide in ein allgemeines Ich respektive Du auf. Die so entstehende Übermacht des Allgemeinen stellt Liebe als In-derWelt-über-die-Welt-hinaus-sein dar. Die Gabe spielt sich indessen in einer konkreten, erfahrbaren Begegnung ab, in der Liebende einander gegenüberstehen. Sieht man vom Allgemeinen ab, so zielt die Gabe auf den Beschenkten als Einmaligen, denn nur ihm ist sie zugedacht. Dass eine Beziehung wesentlich ein Geben und Empfangen ist, erscheint als Binsenweisheit. Sie ist jedoch kein Tauschplatz, vielmehr wird das Sein-für-Andere gewährt und dieses empfangen. Im Wir werden die Liebenden aneinander Du und Ich. Ich schenke mich dir als jener, der unvertretbar Ich bin – dieses Schenken kann niemand an meiner Stelle vollziehen. Ich bin es, der mit dir in der Beziehung steht. Du für deinen Teil nimmst mein Sein-für-dich in der Weise an, wie nur du es zu tun vermagst. Anstelle von „Schenken“ kann man auch sagen „ich gebe dir Raum, lasse dir Zeit, schenke dir Vertrauen“, schließlich: ich nehme dich ernst in dem, der du bist und was du sagst bzw. tust. Öffnen wir uns füreinander, so nehmen wir uns Zeit und Raum, um als solche sein zu können, wie wir es nur in unserer Begegnung sind. Geschenk bedeutet so die Anwesenheit des einen für den Anderen, die Selbstheit des Ich oder des Du wird durch den jeweilig Anderen verbürgt; Binswanger trennt sie klar und mit Nachdruck vom Ergreifen der eigenen Existenz, wie es Heidegger darstellt: 181 Wenn Ich mich Dir schenken und Mich nur im Dir-schenken haben soll, wenn Ich ich-selbst nur sein kann als Mich Dir Schenkender und von Dir mir-selbst Geschenkter, so kann diese meine Selbstheit auf keiner Bemächtigung beruhen, sondern nur auf einem Geschenk.494 Das Selbstsein der Person – ob nun juristisch, psychologisch, soziologisch oder moralisch verstanden – umfasst zeitliche und räumliche Orientierung, bewusstes Wahrnehmen von Mitund Umwelt, Fähigkeit zu Aktion und Reaktion, hinzu kommen Rationalität und Emotionalität, Verantwortungspflicht. Was sich hier wie ein Auszug eines medizinischen Statusbogens liest, erschöpft bei weitem nicht die Bedeutung des als Person verstandenen Menschen. Selbstheit bezeichnet bei Heidegger eine ontologische Größe, die sich als Entschlossenheit des Seins zum Tode oder als Ek-sistenz als Stehen in der „Lichtung des Seins“ erweist. „Selbst“ drückt etwas Subjektives aus, so bist es du selbst, zu dem ich mich verhalte. Ich sehe in dir dich selbst, nicht den Vertreter der menschlichen Gattung, der du natürlich auch bist. Als ein Selbst ist ein Seiendes, gleich ob Mensch oder Ding, identifiziert als der- oder diejenige, der/die in diesem Sinne ein „Einzelexemplar“ darstellt.495 Heidegger versteht das Selbst neutral, Dasein ist ein Selbst, „[…] das zu sein ihm anheimgegeben ist. Im Sein dieses Seienden geht es um dessen Seinkönnen.“496 Selbstheit bewährt sich im Seinkönnen, das Seinkönnen ist auf ein Selbst verwiesen. Zum Wesen des Daseins gehört sein Selbstsein, von einem konkreten Ich bzw. Du ist an dieser Stelle noch nicht ausdrücklich die Rede. „Nur weil Dasein als solches durch Selbstheit bestimmt ist, kann sich ein Ich-selbst zu einem Du-selbst verhalten. Selbstheit ist die Voraussetzung für die Möglichkeit der Ichheit, die immer nur im Du sich erschließt.“497 Was bedeutet das Wort Heideggers für das Denken Binswangers? Während Heidegger das Selbstsein als Ursprüngliches ansetzt, geht es bei Binswanger aus dem Wir hervor, in dem wir einander das Dasein reichen. Zunächst wird hier ein Missverständnis mitgehört: „Selbstbemächtigung“ ist keineswegs das Durchsetzen des Eigenen, das dem Selbst auf Kosten anderer Zugerechnete. Sich des Selbstes zu bemächtigen ist Sinn und Ziel des Menschen, der verantwortlich, selbst-bewusst mit anderen da ist. Genauer gesagt: nehme ich mein Dasein als Geschenk aus deiner Hand an, dann bin ich geradezu verpflichtet und gerufen, Macht über mich zu erlangen und sie zu behalten. Damit lege ich mir keine Züge eines Aggressors zu, Selbstmacht ist geboten, denn sie bedeutet Pflege und Bewahrung des 494 AW 2, 116 Man soll sich bewusst bleiben, dass „identifizieren“ so viel wie „gleichmachen“ (idem facere) – besser: in das Selbe bringen – bedeutet. Als ein Selbes ist jeder Mensch unverwechselbar und unübersehbar, dadurch ist er auch (in der landläufigen Bedeutung) identifizierbar. 496 Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 37 497 Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 38 495 182 Daseins, das mir von dir gegeben wurde. Das Geschenk des Daseins wird sich fortentwickeln und entfalten, Selbstheit ist in diesem Zusammenhang alles andere als ein unveränderbarer Zustand. Wäre dies der Fall, so müsste man von einem Dasein, das in Abhängigkeit und Willkür anderer steht, sprechen. Gabe jedoch hält nicht an sich, der Schenkende will schließlich, dass der mit Dasein Beschenkte je er bzw. sie selbst sei – aus Liebe zu dir will ich, dass du der bist, der eben nur du sein kannst. Dieses Du-selbst-sein vermagst nur du, es kann dich darin niemand ersetzen.498 Die Konsequenz dieser liebenden Forderung – sei du und ausschließlich nur du – kann als Befreiung zu sich selbst, zugleich auch als Zwang, derjenige sein zu müssen, der man ist, erfahren werden. In beiden Fällen aber nehme ich mich als Einzelner in Einsamkeit wahr.499 Die Bemächtigung des mir gegebenen Daseins führt geradewegs in Einsamkeit, die besagt: niemand kann mich ersetzen, keiner wird mir mein Dasein streitig machen, alleine schon deshalb, weil Dasein nicht austauschbar ist. Als solches werden ihm Eigenschaften zugeordnet, die sehr wohl variabel sind, Grundlage und Träger bleibt dabei das Identische. Einsamkeit bedeutet für Binswanger die „Selbstheit als Geschenk“500, wobei Selbstsein als Gabe einen merkwürdigen Prozess durchläuft: Das Ich wird am Anderen und durch ihn zum Ich, der Gabecharakter menschlichen Daseins scheint hier nicht durch, man kann sich allerdings die Wechselwirkung von Geber, Geschenk und Empfänger vor Augen führen: mir wird Dasein geschenkt, durch diesen Akt existiere ich allererst. Daraus trete ich als mit Sein Begabter heraus, um dem schenkenden Du seine Relevanz als Geschenkträger zu verdeutlichen. Indem ich mich selbst von dir empfange, bestätige ich dich als Gebenden. Damit ist die Personenkonstellation innerhalb des Gabegeschehens eine veränderte – der 498 Man vermisst hier ethisch-pädagogische Fragestellungen; die Ermahnung, man solle nur selbst sein, klingt nach Permissivität, die alles entschuldigt, verniedlicht und die am Ende zu Desinteresse am Du und Teilnahmslosigkeit führt. Mit Bezug auf defiziente Formen des Miteinanderseins schreibt Binswanger: „Die Unmittelbarkeit dieses unseres Aufenthaltes bei den ‚Dingen’ oder ‚Sachen’ zeigt sich darin, daß wir das Seiende, alles Seiende, sein lassen, wie es an sich selbst ist. Dieses Seinlassen ist aber keineswegs das Selbstverständliche und Bequeme, vielmehr stellt es […] die allerpositivste Tätigkeit dar.“, Einleitung (zum Sammelband „Schizophrenie“), in: AW 4, 335. Das Belassen von Seiendem in dessen Sein nimmt in der Alltagswelt viele Gestalten an. Aus Gründen der Höflichkeit überlassen wir anderen den Sitzplatz, räumen anderen Vorrang ein und beweisen Hilfsbereitschaft. Doch geschieht dies nicht lediglich, weil es Erziehung und Etikette gebieten; Situationen, in denen wir aufmerksam und helfend auftreten, zeigen den anderen, dem geholfen wird, meistens in einem Zustand, der ihn vom Eigensein abhält oder hindert. Ihm wird in einer widrigen Situation sein Sein gerade nicht belassen, sodass wir ihm Möglichkeiten des Selbstseins – seien diese auch marginal und unscheinbar – aufzeigen und sie ihm hilfreich in die Hand geben. 499 Im Zwang, sein zu müssen, verbirgt sich die Abhängigkeit vom Seingebenden in ihrer negativen Form. Ich muss da sein, weil es vielleicht meine Eltern so wollten, ich muss so oder so sein, weil andere es verlangen usw. In diesen an mich gestellten Forderungen komme ich gar nicht erst zu mir, sodass ich mir selbst, um mit Augustinus zu sprechen, ein großes Unbekanntes werde. Nichts jedoch ist leichter zu leugnen als etwas Unvertrautes. Hier ist das Ich sich selbst fremd und es mehrt die Entfremdung, indem es sich der aufgezwungenen Rolle fügt. Es ist weder ein sich durchhaltendes Subjekt noch ist es ein Ich, das der Begegnung mit einem Du gewachsen ist, sondern eine täuschende und enttäuschte Scheinexistenz. 500 AW 2, 116 183 Empfänger steht nicht unbedingt in Dauerschuld, die ihn in den Knechtstand versetzt, sondern er kann ebenso dem Geber Dank erweisen und Respekt zollen, womit sich die Situation dreht: aus dem Geber wird ein Beschenkter; jener, der zuvor empfangen hat, kann aus seiner Bereicherung aktiv Gaben leisten. Die „Selbstheit als Geschenk“ einen Prozess durchlaufen lassen, klingt paradox, denn verändert sich die Selbstheit, so hört sie gerade auf, eine solche zu sein. Die sich im Wandel haltende Selbstheit zeigt sich – in der Liebe – als Einsamkeit. Die nicht-privative Einsamkeit ist das Fundament des Seins miteinander; sich in der Einsamkeit der Liebe dem Du öffnen, bedeutet, in der Begegnung nicht abgelenkt zu werden, heißt, sich auf den Anderen konzentrieren, sich ihm widmen und ihm in dieser Weise Sein geben.501 Ohne die Möglichkeit der Einsamkeit könntest Du nicht Du-selbst sein im Sinne der Selbstheit im Lieben, sondern wärest Du entweder eine „unselbständige“ zweite Person, mein bloßer alter ego in gemeinsamer (mystischer oder orgiastischer) Egoität, oder aber eine „dritte Person“, ein sich in seiner endlichen „Rolle mir gegenüber“ erschöpfender „Anderer“.502 Selbstheit in Einsamkeit angesichts eines Du? Was sich wie Widersinn ausnimmt, ist im Denken Binswangers schlüssig und konsequent, wenn man nur die Prämissen berücksichtigt. Ist das Selbstsein geschenkt, so ist es notwendig einsam, es kann sich mit keinem anderen Selbstsein vergleichen bzw. an dessen Stelle setzen. In diesem Sinn ist der Begriff Individuum zu verstehen, das Selbst ist Garant für das Ich- und das Du-sein, es lässt sich nicht mitteilen oder spalten – es bürgt nur für sich. Zugleich ist das Selbst jener Punkt, von dem liebendes Miteinander ausgeht und zu dem es zurückkehrt. Im obigen Zitat wird Einsamkeit mit Selbstsein im Namen der Liebe gleichgesetzt. Beide Begriffe dienen dazu, die Authentizität der Liebenden hervorzukehren: zwei eigenständige Menschen sind einander in Liebe zugetan, es ist dies eine mündige Liebe, weder Du noch Ich sind unselbständige Marionetten. Genauso wenig ist das Du ein imaginiertes Wesen, welches eher meiner Phantasie entstammt, statt in der realen Welt seine Heimat zu haben. Überdies eignen sich beide Begriffe dazu, eine oftmals genannte Vorstellung von Liebe zu enttäuschen – die „Verschmelzung“ der Liebenden. 501 Hier stößt die Diskussion abermals an den Begründungszirkel von Ich, Du und Wir, deren wechselseitige Bedingtheit diversen Perspektiven zuzuordnen ist. Wird dem Wir Priorität eingeräumt, dann ist dieses das Fundierende und Absolute. Lassen wir uns dagegen von lebensweltlicher Erfahrung leiten, so werden wir im Du den Dreh- und Angelpunkt der eigenen Existenz erblicken, also die Selbständigkeit aus der Begegnung mit dem geliebten Menschen erklären wollen. Binswanger gibt dem Wir als Konstitutivum mancherorts den Vorrang vor dem konkret-lebendigen Ich und Du, das ihm den Vorwurf eingebracht hat, er stelle das Absolute über die individuelle Gestalt des Menschen. Näheres dazu im Kapitel 4 Die Welt des Dualis und Kapitel 7 Die Diskrepanz zwischen allgemeinem und singularem Du in der Begegnung. 502 AW 2, 117 184 In Anbetracht und Ernstnahme der Bedeutungsvielfalt des Liebesbegriffes soll darauf hingewiesen werden, dass Ich und Du niemals eins werden können, ohne die gemeinsame Liebe damit aufs Spiel zu setzen und sie womöglich zu verlieren. Dem tut auch das Argument der orgiastischen, mystischen oder emotionsbedingten Einsfühlung keinen Abbruch, denn lieben kann ich nur etwas bzw. jemanden, der nicht meinesgleichen ist, d.h. Liebe gebührt dem Anderen in seiner Selbstheit und Einzigkeit. Und selbst Liebe als Wille zum Sein des Geliebten kehrt zum Liebenden zurück. Liebe als Bejahung und Bekräftigung des Seins des Anderen umgreift mich als Liebenden selbst, weil ich dann „nur mehr lieben kann“. Binswanger beschreibt diesen – durchaus idealisierten – Zustand als „Selbstmehrung der Liebe“, vor allem um zu betonen, dass aus Liebe stets Liebe hervorgeht, aber auch um auf die Kraft der Liebe aufmerksam zu machen, welche die Liebenden in deren Eigenstes führt: Je mehr ich Mich Dir gebe, desto mehr habe Ich Mich und je mehr Du Dich Mir gibst, desto mehr hast Du Dich. Einsamkeit bedeutet daher nicht Mich-abwendenvon-Dir oder gar Mich-abschließen-gegen-Dich, sondern im Gegenteil Mir-offenbaroder -durchsichtig-werden im Mich-Dir-schenken und von Dir-empfangenwerden.503 Begegnung in Liebe entfaltet, entwickelt sich – sie dauert; die Begegnung ist, wenn sie sich in Wahrheit und nicht als Rollenspiel ereignet, sie nimmt keine vorhersehbare Entwicklung. Ein Außenstehender könnte auch nicht sagen, eine von ihm beobachtete Liebe „stocke“, in ihr „gehe nichts weiter“. Das Geschehen der Liebe als Gabe und Annahme des Seins ist ausschließlich den Liebenden vorbehalten. Auffällig ist trotzdem, dass Geben und Annehmen einen eigenartigen Charakter tragen, Binswanger verwendet beide Termini fast synonym: ich empfange mein Dasein im Miteinander, sofern ich mich dir schenke. Wie dies in einer konkreten Beziehung aussieht und vonstatten geht, das gibt Binswanger nicht preis. Dass sich Ich und Du nicht in ein differenzloses Wir auflösen bzw. einer im anderen sich verliert, dass mithin der Selbstand der Beziehungspartner geformt und unterstützt wird, erklärt Binswanger mit einer von ihm nicht näher begründeten „ich-duhaften Norm- oder Gestalthaftigkeit“504. Ich und Du erscheinen als Normgröße, worin sich Selbstsein als Geschenk verbirgt. Zu lieben vermag ich, wenn ich ein mit Liebe begabtes und zur Liebe fähiges Ich bin. Ich kann außerhalb meiner Subjektivität nicht lieben; meine Liebe reicht so weit, wie sich mein Dasein erstreckt. Alles andere wäre Großspurigkeit, Prahlerei oder Engherzigkeit und Kleingeisterei. 503 504 AW 2, 118 AW 2, 122 185 Liebendes Dasein als Geschenk ist notwendig begrenzt, zumal das Geschenk – soll es ein sinnvolles sein – den Empfänger nicht überfordern darf, im Sein als Gabe tritt das Dasein als Ich bzw. Du schließlich erst hervor. Diese Begrenzung des Selbstes ist alles andere als eine Schmälerung und Verniedlichung der Existenz, sondern fordert sie zu Eigensein und Selbstannahme heraus. Begrenzung lässt sich treffender mit Konkretion umschreiben, sie markiert den Zustand des Ontischen, Kontingenten, des In-der-Welt-seins. Indem ich die Begrenzung und „Konsolidierung“ Meiner-selbst durch Deine „Gegenwart“, d.h. durch Dein Gegenwärtigen und Gegenwähren (BUBER) als Geschenk annehme und anerkenne, werde Ich, statt liebend auszuschweifen, auf „Mich-selbst“ zurückgewiesen. Und je mehr ich Dich liebe, desto „lieber“ erfahre ich jene Begrenzung, wachse Ich-selbst an Dir (und umgekehrt). Aber auch je mehr ich Dich-selbst zu begrenzen (einzuhüllen) vermag, desto mehr wachse Ich-selbst wiederum an Dir, wie Du-selbst dann auch an mir wächst.505 Binswanger spricht von einer Begrenzung, die Ich und Du in Gemeinschaft erfahren, was will er damit jedoch sagen? Ist Liebe nicht eine Seinsweise, die Grenzen, Blockaden oder Hemmnisse beiseite räumt? Welche Beschränkungen glaube ich überwunden zu haben, wenn ich liebend existiere? Falls Begrenzung eine Möglichkeit zum Freisein für sich und andere offenhält, so ist Binswanger im Aufweisen dieser Begrenzung zu folgen. Denn just die Eingrenzung auf mich bedeutet Konzentration auf mich, der ich mich als dein Geschenk wahrnehme. Das Erkennen der nunmehr eigenen Grenzen zeigt die Potentiale, die darauf warten, verwirklicht zu werden.506 In den obigen Erläuterungen stellt sich Liebe als 1) Gabe, 2) Einsamkeit und 3) Grenze/Begrenzung dar, allerdings in ihren abstrakten Formen. Liebe als Miteinandersein von dir und mir wird sich in solchen Weisen nicht wiedererkennen. Die Ausdrucksstärke der Dualität wirkt abseits philosophischer Begriffsgebarung, sie richtet sich auch nicht nach einer Denkschule – so besehen kommt jegliche Philosophie immer „zu spät“, d.h. sie kann erst im Rahmen der Reflexion an ihr Werk gehen. Zudem ist sie gut beraten, bei ihrer Sache zu bleiben, in unserem Fall bei der Selbstheit als Geschenk des Anderen, als Gabe der geliebten Person. Der Vielfalt des Begriffes Gabe wird ein tiefer Sinn entnommen, sobald die Geburt eines Menschen als Geschenk erfahren wird. Auf Seite der Eltern steht die Freude, auch der 505 AW 2, 122 Grenzen werden als Versagungen, als Defizite, als etwas, das eigentlich nicht sein soll, erfahren, wenn das innerhalb der Grenzen Liegende übergangen wird. Nun ist menschliches Dasein per se Bestimmungen und Limitationen unterworfen; mutet man dem Dasein bzw. sich selbst etwas Irreales, nicht zu Verwirklichendes zu, so wird über diese Grenzen und das in ihnen menschlich Mögliche hinweggesehen. Statt sich des Eigenen und damit auf sich selbst zu besinnen, zwingt man sich und anderen Forderungen auf, die schlichtweg unerfüllbar sind. Davor warnt Pindar in seiner dritten Pythischen Ode: „Meine Seele, strebe nicht nach Unsterblichkeit, das Mögliche schöpfe aus in deiner Bemühung.“, in: Pindar: Oden. – Griechisch/Deutsch. – Übersetzt und herausgegeben von Eugen Dönt. – Stuttgart : Reclam, 1986, S. 105. 506 186 berechtigte Stolz, mit ihrem Kind „gesegnet“ worden zu sein, sie haben einem Menschen zu dessen Sein verholfen in der Verpflichtung, das Selbstsein des Kindes zu behüten. Zugleich befinden sich die Eltern in einer gewandelten Selbstheit: sie verdanken ihrem Kind nicht nur die Elternschaft, sondern stehen als Vater und Mutter in einer neuen Weise des Daseins, welches sich als Miteinandersein – jetzt erweitert durch das Kind – zeigt. Demgegenüber steht die Position des Kindes; es wurde den Eltern gegeben, vor allem aber wurde es sich selbst geschenkt, es ist berufen, eine freie und selbstmächtige Person zu sein. Dem Kind wird dies erst in seinem Werdegang aufgehen – wenn man es denn werden lässt. Über das Phänomen der Geburt bzw. über das Kind findet sich in Binswangers Arbeiten kaum Relevantes, sieht man von Schilderungen der Kindheitstraumata seiner Patienten ab. Und doch beruft er sich auf das Sinnbild des Eros, der sich selbst mehrt, indem er das Miteinander in Liebe begründet. Das folgende Kapitel widmet und nähert sich dem Phänomen des Geborenseins. Geburt bedeutet zuerst das In-die-Welt-treten, im weiteren Sinne versteht man darunter das Auftauchen von etwas Neuem, zuvor nicht Dagewesenem. Das Selbstsein in Liebe findet ihr Urbild in der Geburt eines Menschen, dem sein Dasein zum Geschenk wird. Freilich kann auch ein Erwachsener behaupten, er werde durch das geliebte Du ganz er selbst, er empfange sein Dasein und dessen Sinn aus „deinen Händen“. Diese Äußerung wird man eher im Bereich der gleichnishaften Rede verorten, sie verliert dadurch allerdings nichts an ihrer Richtigkeit. Ist Miteinandersein an sich bereits Gabe, so zeigt sich ihr ursprünglicher und tiefster Sinn im Geborensein. 8.3 Geburt als Gabe des Seins Das eigene Sein als Geschenk bzw. religiös überhöht als Gnade wahrzunehmen, scheint uns zu viel des Guten. Wir fühlen uns zuweilen ungefragt und ungebeten in der Welt und feiern dennoch jährlich den Tag unserer Geburt. Kein Lebender kommt um seinen Geburtstag herum, man sieht sich also mit der eigenen Geburt, mit dem eigenen Leben konfrontiert. Geburt als In-Erscheinung-treten ist ohne Zweifel etwas Markantes, Einschneidendes, dementsprechend reich sind die Beiträge aus Kultur- und Religionsgeschichte zu diesem Thema. Dieser entnehmen wir, dass uns ein Kind – gar der Heiland und Erlöser – geboren war, dessen Wirken zur Zeit der Verkündigung noch gar nicht absehbar war. Mit der Geburt scheint das Schicksal des Menschen bereits besiegelt zu sein. Ähnlich ergeht es offenbar auch der konträren Stimme, derzufolge das Geborensein den ungünstigsten Seinsstand ausmacht. Für E.M. Cioran ist die Geburt ein unverschuldeter Sündenfall, der durch keine 187 Reue zu entlasten ist, dabei nimmt er sogleich den Zeuger mit in die Pflicht: „Alle Verbrechen begangen haben, bis auf jenes, Vater zu sein.“507 Ob man die Geburt eines Menschen, die sich niemals wiederholen kann, aus der Neues hervorgeht, in Dankbarkeit und Achtung entgegennimmt, oder die Stunde der eigenen Geburt ungeschehen machen möchte508 – das Verhältnis zum Geborensein ist kein unbeteiligtes. Sachlich-abstrahierend ist die Aussage, einem Seienden wird zu sein gegeben, dass sich ihm Sein „zuschickt“. Dementsprechend steht gerade ein Neugeborenes in der Gabe des Seins, wobei Heidegger die Frage nach dem Sein freilich nicht angesichts des zur Welt gekommenen Kindes, sondern in größerem Rahmen stellt. Wie sieht aber die Seinsfrage bezüglich der Gebürtlichkeit aus? Ist ihr etwas Konkretes hinsichtlich unseres Miteinanderseins zu entnehmen? Heidegger denkt die Gabe des Daseins (worunter ja auch die Geburt subsumiert wird) vom Sein her in der Form des „Es gibt“.509 […] Sein besagt Anwesen. Im Hinblick auf das Anwesende gedacht, zeigt sich Anwesen als Anwesenlassen. Nun aber gilt es, dieses Anwesenlassen eigens zu denken, insofern Anwesen zugelassen wird. Anwesenlassen zeigt darin sein Eigenes, daß es ins Unverborgene bringt. Anwesen lassen heißt: Entbergen, ins Offene bringen. Im Entbergen spielt ein Geben, jenes nämlich, das im Anwesenlassen das Anwesen, d.h. Sein gibt.510 Zur Gabe ist hier schon etwas Wichtiges gesagt, nämlich dass ihr „Anwesen“ „zugelassen“ wird als etwas, das sich selbst entbirgt, indem es zutage tritt und sich solcherart sehen lässt. Anders könnte eine Gabe nicht wahrgenommen – oder in diesem Zusammenhang treffender: empfangen – werden, denn als sie sein zu lassen, um damit ihr Eigenes zu bewahren und zu schützen.511 Einen als Geschenk oder Gruß überreichten Strauß Blumen z.B. wird man in einer mit Wasser gefüllten Vase drapieren, um ihn zur Wirkung kommen zu lassen. Damit 507 Cioran, Emil M.: Vom Nachteil, geboren zu sein, in: Werke. – Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold. Aus dem Französischen von Francois Bondy, Paul Celan u.a. – Frankfurt/Main : Suhrkamp, 2008, S. 1484. An anderer Stelle fragt er im selben Zusammenhang bezeichnenderweise: „Was bin ich denn anderes als ein Glücksfall unter den unendlichen Wahrscheinlichkeiten, nicht gewesen zu sein!“, in: Cioran, Das Buch der Täuschungen, in: Werke, S. 281. 508 Vgl. Hiob 3,3: „Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin, die Nacht, die sprach: Ein Mann ist empfangen.“ 509 „Es gibt“ ist ein von Heidegger eingeführter terminus technicus, um die ontologische Differenz auch in der Aussagesprache zu bewahren. Allgemein, wenn auch sachlich inkorrekt, gilt die Redeweise „Das Sein ist.“. Die Seinskopula gilt dann nur für Seiendes, das eben ist. Die Formel „Es gibt“ findet schon in Sein und Zeit Verwendung, eine tragende Rolle spielt es im 1962 gehaltenen Vortrag Zeit und Sein, veröffentlicht in: Heidegger, Zur Sache des Denkens 510 Heidegger, Zeit und Sein, S. 9 511 Eine Redeweise wie diese fordert beinahe schon Missverständnisse heraus, man wird eine Gabe nicht sein lassen, sondern vielmehr an sich nehmen. Auch das der Gabe Eigene – das ist sie als Gabe selbst – neigen wir zu ignorieren, sobald wir uns ihrer vergewissert und sie uns als neues Eigentum einverleibt haben. Die Gabe des Daseins ist kein Sachgeschenk, das nach Willkür zur Verfügung steht. Deshalb auch die Betonung des Seinlassens, in welchem die Gabe in ihr Eigenes findet, in dem sie sich entfalten kann, damit sie ihre Qualität als Gabe steigert und festigt. 188 sind die Blumen geschützt, ihre Bedürfnisse sind gedeckt und sie sind als Gabe in ihr Eigenes gebracht: sie blühen oder schlagen sogar, auch in übertragenem Sinn, Wurzeln. Heidegger aber denkt das Sein als Gabe, deren Geber bleibt unerwähnt im Dunklen. Sein ist nach ihm Anwesen. Der substantivisch gebrauchte Infinitiv ist eine betont gewollte Wortwahl, „anwesen“ bedeutet als Existenzaussage „ich bin da“, ich ek-sistiere, weil mir zu sein gegeben ist. „Anwesen“ als Substantiv verstanden findet beispielsweise im Begriff des herrschaftlichen, aber auch bäuerlichen Anwesens eine treffende Verwendung. Doch was lässt mich sein, was oder wer ruft mich ins Anwesen? Zu einer klaren Formulierung dieses Gebers, der hinter seiner Gabe zugunsten dieser zurücktritt, hat sich Heidegger nicht bewegen lassen. Der Gedanke an einen Schöpfergott empfiehlt sich hier, doch auch dieser wird nicht zugelassen, wie wir im Brief Über den Humanismus lesen: „Das ‚Sein’ – das ist nicht Gott und nicht ein Weltgrund.“512 Ebenso wird eine klar definierte weltliche Instanz ausgeschlossen.513 Hat man sich unter diesem „Es“, das „gibt“ einen anonymen Spender vorzustellen, der bei noch so dezenter Diskretion Macht über die Gabe bzw. über das Sein als gegebenes ausübt, wodurch aus dem Geschenk ein trojanisches Pferd würde? Bleibt jedoch der Geber, der das Anwesende anwesen lässt und so ins Offene und Freie (des Miteinanderseins) bringt, hinter seiner Gabe zurück, dann darf man vermuten, dass es ihm in der Gabe um etwas Besonderes zu tun ist, dass mithin sie und der Akt des Gebens Priorität besitzen. Heidegger geht es nicht um die Beschreibung einer Übergabe eines innerweltlich antreffbaren Objektes, sondern um Tieferes: „[…] ein Zueignen, ein Übereignen, nämlich von Sein als Anwesenheit und von Zeit als Bereich des Offenen in ihr Eigenes.“514 Mit interpretatorischer Vorsicht kann der Satz dahingehend ergänzt werden, dass Sein als Anwesenheit das Geborensein bedeutet, in dem sich Dasein übereignet wird, in sein Eigenes gebracht wird. Mit Bezugnahme auf die Geburt verleitet das Zitat natürlich zu Missverständnissen – wie soll ein eben zur Welt gekommenes Kind sein „Eigenes“ wahrnehmen oder dieses geltend machen können? Heidegger spricht nicht über Entwicklungspsychologie oder Erziehungslehre, sondern von der Bestimmung des Daseins, das sich selbst geschenkt wird. Die Seinsgabe bezeichnet nicht einen einmaligen Vorgang, 512 Heidegger, Martin: Über den Humanismus. – Neunte Auflage 1991 – Frankfurt/Main : Klostermann, S. 22 Als solche können auch die Eltern nicht fungieren; sie sind eine notwendige Bedingung des Daseins – ohne meine Eltern gäbe es mich nicht. Sie geben aber keine hinreichende Bedingung für mein Sein: ich bin nicht lediglich das Produkt eines Zeugungsaktes, mein Wesen, meine Eigenarten (physischer wie psychischer Natur) lassen sich nicht durch den Rekurs auf familiäre Gegebenheiten erklären. Das Kind ist mehr und vor allem anderes als die Vereinigung seiner Eltern, wäre dem nicht so, dann könnte mit ihm auch kein neuer, einzigartiger Mensch zu sein anfangen. 514 Heidegger, Zeit und Sein, S. 24 513 189 der nach Überreichen der Gabe beendet wäre – mit dem Zur-Welt-kommen entwickelt sich eben erst das Dasein! Der von Heidegger so geschätzte Pindar sagt: „Beginne zu erkennen, wer du bist.“515 Das heißt: Du bist dir gegeben als Mensch, der „Ich“ sagen kann und nicht als etwas Fertiges, Vorfindbares, du wirst, wie es wörtlich heißt, lernend der, der du bist. Die Gabe des Seins muss man als sich durchhaltenden Prozess denken im Unterschied zur chronologisch datierbaren Einzelgabe, mit der der Beschenkte sodann alleine zurückgelassen wird.516 Dem entspricht das Bild des passiv-unbeteiligten Empfängers, der mit der ihm überantworteten Gabe restlos überfordert ist. Das Wort „passiv“ hat einen entschieden negativen Beigeschmack, wir assoziieren damit Leere, Unselbständigkeit, Trägheit, wenn nicht gar Faulheit. Zu leicht übersehen wir, dass in der Passivität verborgen Tätigkeit wirkt. Dalferth beschreibt das als „konstitutive Passivität“: Ist der lebensweltliche Ort der Gabe das Empfangen, wird dort Empfangen, wo man bekommt, ehe man sich dafür oder dagegen entscheiden kann, und wird man eben so der, zu dem man sich selbst nicht machen kann, dann ist die Praxis der Gabe auf Seiten des Empfängers maßgeblich durch Passivität charakterisiert – nicht die des Leidens oder der Passion, sondern des Werdens: Wer Gaben bekommt, ist im Werden und wird dadurch unbeschadet all seiner physischen und psychischen Lebensaktivitäten ganz und gar passiv bestimmt: Er wird zu dem, was die Gabe aus ihm macht.517 Damit ist die negativ konnotierte Passivität rehabilitiert und der Empfänger kein Bittsteller mehr. Versteht man unter der Gabe die Seinsgabe, dann ist Passivität nicht Merkmal eines Mängelwesens, dem es an diesem oder jenem fehlt. Gemeint ist damit auch nicht das Neugeborene, das in seiner kindlichen Entwicklung mit Krankheiten in Berührung kommen wird. Wo Leben wächst, da ist auch Umbruch und Veränderung, die Ungewissheit und Zweifel mit sich bringen. Es geht hier um eine Passivität, die in der Gabe des Seins begründet ist und vor dem konkreten Gegensatzpaar aktiv-passiv liegt und dieses erst möglich macht. Die ursprüngliche Passivität rührt aus der Tatsache, dass sich der Mensch sein Sein nicht selbst geben kann. Im Grunde sagt Binswanger dasselbe, wenn er von der „[...] Be-gabung des Daseins mit der Einsamkeit durch Selbstempfängnis des nicht von ihm selbst gelegten Grundes in der Offenbarung der ‚unendlichen’ Freiheit [...]“518 spricht. In der Terminologie Heideggers bedeutet „Begabung des Daseins“ Selbstbemächtigung, welchen Pindar, Oden, S. 98: „γέ’, ἷἐὶϑώ.“ Zur Besinnung ruft uns Heidegger, wenn er Dasein, Anwesen, das Zulassen des Seienden verbal versteht; das „Es gibt“, dass es „mich gibt“ (nicht als Vorhandenes, Dinghaftes), erfahre ich immer neu: „Wäre der Mensch nicht der stete Empfänger der Gabe aus dem ‚Es gibt Anwesenheit’, erreichte den Menschen nicht das in der Gabe Gereichte, dann bliebe beim Ausbleib dieser Gabe Sein nicht nur verborgen, auch nicht nur verschlossen, sondern der Mensch bliebe ausgeschlossen aus der Reichweite des: Es gibt Sein. Der Mensch wäre nicht Mensch.“, in: Heidegger, Zeit und Sein, S. 16f 517 Dalferth, Alles umsonst, S. 175f 518 AW 2, 159 515 516 190 Begriff Binswanger allerdings vermeidet, um einen Egozentrismus, der das Du übergeht, auszuschließen. Und doch ist Selbstbemächtigung nichts anderes als die Annahme des Seins. Das Phänomen der Gabe ist in seiner Wahrnehmung im Rückzug, die Gabe verschwindet zwar nicht, sie wird aber in einem Bedeutungskomplex ausgelegt, in der das ihr Eigene ausgespart wird; so hegt Hans Joas den Verdacht: „Das eigene Leben als Gabe aufzufassen ist den meisten Menschen heute nur auf der biologisch-organischen Ebene relativ plausibel.“519 – Statt das eigene Leben als Gabe zu erfahren, wird es als Objekt wissenschaftlicher Forschung betrachtet. Es geht also nicht um dein, mein und unser gemeinsames Leben, sondern um das von einer bestimmten Disziplin untersuchte (anonyme) Leben. Diese Ablenkung vom Gabecharakter des Lebens wird zusätzlich von Denkbemühungen gefördert, die sich eher auf das Ende des Lebens konzentrieren ohne dessen Anfang bzw. Verlauf in gleicher Weise zu berücksichtigen. Lebensende und -anfang (des selben) Menschen können unabhängig voneinander betrachtet werden, sodass die Anfang und Ende verbindende Lebensspanne außer Acht gelassen wird. Begreift man das Leben im Sinn der Evolution, der Religion, im Interesse von Politik oder Ideologie, eines zumindest dürfte gewiss sein: die Diskussion über es verrät eine Krise; die Lebenden selbst sind untereinander strittig, was Leben sei, ob es ein Gut sei, es mir zufalle oder mich auch zu etwas verpflichte. Provokativ-programmatisch äußert sich dazu Niklas Luhmann: Die Gabe versetzt in Dauerdankbarkeit und Dauerschuld. So zu geben ist moralisch mindestens ambivalent. Man kann es für gut halten, da das Leben ja ein Gut ist, andererseits ist es eine ausgeklügelte Bosheit, den Empfänger auf diese Weise in Dauerschuld zu versetzen, aus der er sich selbst nicht befreien kann.520 Wozu die Passivität des Empfangens verleiten kann, zeigt das Zitat Luhmanns, zudem erscheint der Empfänger als Mängelwesen, dem es da und dort gebricht, der für sich genommen eigentlich eine hilflose, bedauernswerte Kreatur ist. Dasein steht somit unter negativen Vorzeichen: Abhängigkeit anstelle von Freiheit, Fremdbestimmung statt Autonomie, kurz: Unmündigkeit. Dependenz, im Rahmen der Intersubjektivität zumal, ist ein vielschichtiger Begriff, gibt es darin auch eine Selbständigkeit in Abhängigkeit?521 Negative 519 Joas, Hans: Die Logik der Gabe und das Postulat der Menschenwürde, in: Gabel, Michael ; Joas, Hans (Hrsg.): Von der Ursprünglichkeit der Gabe : Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion. – Orig.Ausg. – Freiburg/Breisgau ; München : Alber 2007. – (Scientia & Religio ; 4), S. 143-158, hier S. 148 520 Luhmann, Niklas: Funktion der Religion, zitiert in: Joas, Die Logik der Gabe und das Postulat der Menschenwürde, S. 154 521 Dalferth konfrontiert die Negativität der Abhängigkeit mit positiven Sinngehalten ebendieser Abhängigkeit: „Denn was als Abhängigkeit figuriert, kann sowohl negativ als Un- oder Nichtfreiheit als auch positiv als Begabung und Ermöglichung von relativer Freiheit und Abhängigkeit verstanden werden. Ähnlich kann Endlichkeit nicht nur negativ als das beschränkte Andere der Unendlichkeit und damit als metaphysisches Übel, sondern als das Andere des unendlichen Schöpfers und damit als Geschöpflichkeit verstanden werden, die eben 191 Formen der Abhängigkeit sind uns – bezeichnenderweise! – wesentlich vertrauter, sie zeigen sich etwa im Gebrauch anderer als Mittel zum Zweck oder zum Genuss, im Extremfall münden sie in Freiheitsberaubung. Die Gabe kontingenten Daseins ist – das ist nicht zu leugnen – eine Weise des Abhängigseins, die die Begegnungsphilosophie ihrerseits jedoch als Freigabe (Be-gabung) in Selbständigkeit verstehen will. Ungeachtet ihres Modecharakters zeigen diese Begriffe (Freiheit, Selbständigkeit u.ä.) Grundlegendes auf, über das allzu leicht hinweggesehen wird. Das Kind (wie auch der Unmündige, der Greis oder der kranke Mensch) ist natürlich auf seine Eltern und andere Pflegepersonen angewiesen, hier in erster Linie auf existentieller Ebene, die weit mehr als die Bereitstellung von Nahrung und „Brutpflege“ bedeutet. Grund und Boden für diese Ebene ist eine vorangegangene Akzeptanz des Kindes, die sich nur durchhalten kann, wenn das Kind in dem belassen wird, was (bzw. wer) es ist. „Abhängigkeit“ ist in unserer Gesellschaft des Konsumzwanges mit finanzieller Notlage gleichgesetzt, die es zweifellos gibt. Doch darum geht es hier nicht. Anders als die in Unselbständigkeit führende Abhängigkeit bedeutet die Gabe des Daseins ein Freigeben zur Selbständigkeit, und zwar so, dass einer zurücktritt zugunsten des Anderen, damit „[…] er zur Mitte (Zentrum) seiner Welt werde und aus eigener Initiative hervortreten kann, damit er ganz er selber werde […].“522 Gemeint ist die Rücknahme des Eigenen – nicht ich stehe im Brennpunkt des Verhältnisses –, um dem Du, dem geliebten Menschen, dem Kind dessen Eigensein aufzuweisen und sie zur Annahme des Eigenen zu ermuntern und darin zu unterstützen: Wahre personale Liebe gibt den anderen zu sich selber frei, sie lässt ihn sein. Das bedeutet kein Ausweichen, Sichverdrücken und Davonrennen, sondern ein Beistehen in Treue und Ausdauer, also ein „aktives“ Seinlassen. Liebe vereinigt so, gerade indem sie differenziert, personalisiert […], sie bringt eine Weise der Abhängigkeit hervor, die Selbständigkeit gewährt, so daß gesagt werden kann: Ich bin, weil Du bist.523 Das paradoxe Muster einer befreienden Abhängigkeit lässt einen Vergleich mit der vorspringend-befreienden Fürsorge Heideggers zu: Diese Fürsorge, die wesentlich die eigentliche Sorge – das heißt die Existenz des Anderen betrifft und nicht ein Was, das er besorgt, verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden.524 gerade kein Übel ist, weil sie das Geschöpf vom Schöpfer nicht trennt, sondern es als Geschöpf auf ihn bezieht und aus ihm leben und sein lässt.“, in: Dalferth, Alles umsonst, S. 179 522 Wucherer-Huldenfeld, Karl Augustinus: Philosophische Anthropologie II (Fortsetzung). – Skriptum – Universität Wien, S. 234 523 Wucherer-Huldenfeld, Philosophische Anthropologie II (Fortsetzung), S. 234 524 Heidegger, Sein und Zeit, S. 122. Heidegger warnt öfters vor dem Missverständnis der Sorge als Besorgnis oder deren Gegenteil, die Sorglosigkeit; hier daher der Titel des Daseins als Sorge in vollem Wortlaut: „Sichvorweg-schon-sein-in-(der-Welt-)als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden).“, in: Heidegger, Sein und 192 Abhängigkeit, die Selbstand hervorruft, zeigt sich zum einen in der Liebe, die das je eigene Denken, Handeln und Urteilen achtet, zum anderen ist ihr Grund ein ontologischer: […] sich wissend und sich selber gehörig, kann und soll der Mensch in sich selber stehen (tota in se et sibi), so daß er von niemandem besessen, durchwohnt, verdrängt werden kann, unvertauschbar und unersetzbar ist, und gerade dies ist ihm nur „gegeben“.525 Dasein, das ich in Unvertauschbarkeit zu sein habe, kann Segen und Fluch zugleich bedeuten: Segen, weil ich ganz ich selbst bin, Fluch, weil ich eben dieser ungefragt zu sein habe, mir mein Eigenstes nicht wählen konnte, sondern dieses mir zugesprochen, an mich herangetragen wird. Das Eigene, das mich konstituiert und so von anderen unterscheidet, stammt nicht von mir, ist nicht von mir gestiftet. „Selbstbesitz“ ist so verstanden keine Errungenschaft, die ich auf mein Panier heften kann, weil er mich allererst „ermöglicht“. Selbstsein ist in zweifacher Weise interpretierbar: 1) als Form des kontingenten Einzelnen, das sich unwandelbar durchhält (substanziell Beständiges, Identisches), ist das Selbstsein ein Subjekt, und zwar dieses und nicht irgendein anderes. 2) Selbstsein erfährt sich als solches über den Dialog und Austausch mit anderen, in welchem mir aufgeht oder gezeigt wird, wer ich denn nun bin – ich erhalte mein Selbstsein in Abhängigkeit von anderen.526 Zeit, S. 192. Sorge spannt sich vom Freisein für das eigene Seinkönnen (Sich-vorweg-sein des Daseins) in der Welt als Horizont hin zu dem, der mir in der Welt begegnet. Die Sorge als Welt- und Selbstverhältnis kann mir jedoch auch genommen werden, bzw. ich kann sie an andere abtreten – in jedem Fall gehe ich ein Abhängigkeitsverhältnis ein, in welchem ich als Person eine Funktion ausübe und mich darauf beschränke. Meine Rolle ersetzt sodann meine Person in ihrer Einzigkeit. 525 Wucherer-Huldenfeld, Philosophische Anthropologie II (Fortsetzung), S. 235. Der vollkommene Selbstand der menschlichen Kreatur dürfte zumindest in der christlichen Philosophie mit einem Fragezeichen versehen sein, zumal man sie unter dem Begriff der Person verstehen will: „Hierbei bedeuten das ‚suppositum’ (ὑό’substantia singularis completa tota in se’, d.h. einzelne Vollsubstanz, welche den letzten Selbstand in sich selbst besitzt, also nicht von einem Anderen aufgenommen und besessen ist. Worin das ‚totum in se’ – der letzte und unaufhebbare Selbstand, die letzte Ganzheit der in sich selbst bestehenden, sich selbst besitzenden Vollsubstanz – besteht, wodurch also die Vollsubstanz zum Suppositum, die geistige Vollsubstanz demnach zur Person konstituiert wird, ist eine bis heute nicht vollends aufgeklärte Frage.“, in: Coreth, Emerich: Metaphysik : Eine methodisch-systematische Grundlegung. – 3. Auflage. – Innsbruck ; Wien ; München : Tyrolia, 1980, S. 463. Das völlig abgeschottete und autonome In-sich-stehen bleibt dem Menschen, der sich als Gabe empfängt, verwehrt, hat er sich doch nicht selbst gesetzt. Die Forderung nach Selbständigkeit in totaler Unabhängigkeit vom Anderen droht so in radikalen Egoismus umzuschlagen wie ihn z.B. Stirner vertritt, über den Binswanger urteilt: „Schon dieses Scheitern eines ontologischen Beweises für die Möglichkeit eines lediglich auf sich selbst gestellten Einzigen zeigt, daß selbst das kühnste Pochen auf die Seinsautonomie des Einzelnen die These nicht zu erschüttern vermag, daß Selbstsein nur möglich ist als ‚Sein zum Grunde’, das heißt immer, als Sein zu einem das Selbstsein erst gründenden und begründenden Sein.“, in: AW 2, 417. 526 Dem Argument der Selbständigkeit in und durch Abhängigkeit droht die Gefahr, nicht ernst genommen zu werden. Eine Philosophie der Geburt und eine der Begegnung muss diese beiden Begriffe auf ihren Grund hin durchdenken und zu erweisen suchen, dass die Idee der freigebenden Abhängigkeit kein auf die eigenen Interessen des „stärkeren“ Daseinspartners in der Beziehung zurechtgestutztes Programm ist. Zuweilen ist auch die Wortwahl irreführend; Abhängigkeit wird identifiziert mit Unfreiheit, Angewiesensein auf andere bis hin zur Preisgabe des Eigenen, das mir allerdings der Andere zuvor gestattet und zugesprochen hat. Legt man hingegen den Akzent auf das Selbstsein, dann geht es nur um das Selbst ohne Rücksicht auf jene, die dem Selbst gewähren, ein solches zu sein. Die Verwobenheit von Selbstand und Abhängigkeit gerät darum leicht und immer wieder in Vergessenheit. 193 In Anlehnung an Bernhard Welte schreibt Wucherer-Huldenfeld dem sich gegebenen Dasein eine unableitbare, also genuine Ursprünglichkeit527 zu, die Einmaligkeit, Unvertretbarkeit und Unwiederholbarkeit menschlichen Daseins besiegelt. Was ist aber, so die legitime Frage, ein Ursprung, der sich selbst einem Abhängigkeitsverhältnis verdankt? Geht er aus diesem Verhältnis nicht eher als Wirkung hervor? Einmaligkeit des Daseins (genauer: des geliebten Du bzw. des vom Du geliebten Ich) kennzeichnet dessen Unwiederbringlichkeit in der Geschichte: ich bin mir so gegeben, wie sich zuvor noch kein Mensch gegeben wurde und wie sich nachmalig auch niemand geschenkt werden wird. – Die Annahme meines Daseins führt mich im Verständnis Binswangers in Einsamkeit: es gibt niemanden und nichts, welches mich von meinem Sein suspendieren könnte, ich bin einzig, weil ein anderer mein Menschsein nicht zu erfüllen vermag. Darin liegen Aufgabe und Würde zugleich, denn wäre jemand anderer imstande, das zu tun, das eigentlich mir obliegt, oder der zu sein, der ich sein soll, so wäre meine Existenz und Identität wenn auch nicht belanglos, so doch schlicht austauschbar. Unter diesem Signum ist das Sein der geliebten Person zu sehen; die Idee, dass ein geliebter Mensch konvertibel sei, bedeutet geradezu die Perversion der Liebe. Für eine solche, auf dem Grunde liebender Gemeinsamkeit ruhende, „geschenkte“ Selbstheit oder für die Selbstheit als Geschenk haben wir ein Wort, das […] den eindeutigen Gegenpol zur Zweisamkeit ausspricht: die Einsamkeit.528 Vor diesem Hintergrund ist es interessant, auf Weltes Gedanken über den Ursprung zu achten. Vergleichen wir die „Selbstheit als Geschenk“ mit dem Ursprungsein, so gewahren wir bereits die Einmaligkeit des Daseins, das uns gegeben wurde: Als der Anfang ist der Ursprung etwas, hinter das man nicht zurückkommt. Der Ursprung ist als Anfang kein Abgeleitetes noch Ableitbares. Ein Seiendes, von dem wir sagen, es sei ein Ursprung, mag zwar mancherlei Voraussetzungen haben, aus denen wir es ableiten und verstehen können. Aber auf diese Voraussetzungen blicken wir nicht, wenn wir von ihm als Ursprung sprechen. Im Blick auf diese Voraussetzungen ist es ja auch nicht Ursprung. Es ist vielmehr Ursprung insofern, als es von sich selber her anfängt und nicht bloß Folge ist. […] Erst wo wir spüren, daß er selber von sich her etwas anfängt, können wir die Ursprünglichkeit eines Mitmenschen erfahren.529 Das Ich, das sich in der Liebe selbst geschenkt wird, ist ein Ursprung, der von sich aus Anfänge setzen kann, das Ich ist demnach keine Folge oder Wirkung, die aus der 527 Welte, Bernhard: Logik des Ursprungs und Freiheit der Begegnung, in: ders., Zeit und Geheimnis : Philosophische Abhandlungen zur Sache Gottes in der Zeit der Welt. – Freiburg ; Basel ; Wien : Herder, 1975, S. 53-62, sowie ders.: Religionsphilosophie. – Hrsg. von Bernhard Casper und Klaus Kienzler. – 5., überarb. und erw. Aufl. – Frankfurt/Main : Knecht, 1997, S. 166f und Wucherer-Huldenfeld, Philosophische Anthropologie II (Fortsetzung), S. 236 528 AW 2, 116 529 Welte, Logik des Ursprungs und Freiheit der Begegnung, S. 54 194 geschlechtlichen Vereinigung der Eltern resultiert. „Anfangen“ heißt nicht nur, Verursacher von etwas zu sein oder eine Reihe von Wirkungen zu erregen, sondern etwas von selbst, aus eigener Kraft und Mächtigkeit, aus freien Stücken ins Werk zu setzen.530 Es wäre verfehlt, dies als besondere Fähigkeit zu bestimmten Handlungen zu deuten, wie sie Spezialisten oder Künstlern zueigen ist. Die Begriffe „Tun“, „Machen“, „Handeln“ decken sich nicht mit dem des Ursprungseins, als der ich mir durch dich gegeben bin. Anfangen lassen in Ursprünglichkeit bedeutet für Welte – hier eine Parallele zu Binswanger – Seinlassen: Das Hervorbringen wird auch ein Geleiten ins Offene und insofern ein Entbergen sein. Auf Grund der Entbergung wird das Hervorgebrachte für sich im Offenen stehen als das, was es ist, und im Offenen als dieses, was es ist, angetroffen werden können. […] Solche Züge: Hervorbringen aus dem Verborgenen, ins Offene geleitend entbergen, im Entbergen wahren und bewahren, solche Züge gehören dazu, daß ein Anfang etwas anfangen lasse.531 Dass Welte im Kontext der Religionsphilosophie sowie aus der Perspektive Heideggers argumentiert, ist nicht zu überhören, darum soll auch auf einen möglichen Einwand geantwortet werden: Gott ist jener Ursprung, der Sein gewährt, der Mensch in Gestalt von Du und Ich hingegen ist „entsprungener Ursprung“. Das meint keine Seinsminderung oder Disqualifikation des menschlichen Ursprungseins, zumal sich erst im Ursprungsein Tiefe und Weite des menschlichen Daseins zeigt. Ebendiese Dimensionen des Menschlichen werden ausgespart, sobald die Differenz zwischen Gott als Ursprung und Mensch als hervorgebrachter Ursprung verdeckt wird, wie es in der analogen Weise der Rede von Gott und dem Menschen zuweilen der Fall ist. Pejorativ mag man behaupten, der Mensch sei immerhin ein Ursprung „zweiter Ordnung“; sehr wohl aber kann der Mensch von sich aus – also unabhängig – etwas hervorbringen, schaffen, das sich seiner Wirkmacht entziehen wird: „Das heißt aber für das Wesen des Ursprungs: Er bleibt, was er ist, und er ist, was er ist, gerade darin, daß er anfangen läßt, was er nicht ist.“532 Für eine Besinnung auf die menschliche Geburt ist diese Aussage eminent wichtig: als Eltern führen wir einen Menschen ins Dasein, der in vielfacher Weise auf uns angewiesen und also abhängig ist, wiewohl mit ihm sein eigenes Dasein anhebt. Indem ein Mensch durch Zeugung oder Geburt usf. von mir abhängig ist, vermittle ich ihm eine Ursprünglichkeit, eine Anfänglichkeit und Selbständigkeit, die ich doch nicht gemacht, nicht hergestellt habe, die auch nicht die meine ist, die aber erst die ganze Möglichkeit meines eigenen Ursprungseins freilegt und auslegt.533 530 Das Thema „Freiheit“ erinnert natürlich an Kants Wort, sie sei „ein Vermögen, einen Zustand, mithin auch eine Reihe von Folgen desselben, schlechthin anzufangen“ (KrV B 473). 531 Welte, Logik des Ursprungs und Freiheit der Begegnung, S. 55 532 Welte, Logik des Ursprungs und Freiheit der Begegnung, S. 56 533 Wucherer-Huldenfeld, Philosophische Anthropologie II (Fortsetzung), S. 237f 195 Hier kündigt sich sogar ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis an, welches zwar vielerorts erkannt und gewürdigt, aber auch leichtfertig übergangen wird – Eltern sind nur vermittels ihres Kindes Eltern, der Herr muss sich auf seinen Knecht verlassen, um seinen Status wahren zu können, der Fabrikant ist auf seine Arbeiter angewiesen usw. Solche Kontrarität wirkt bis in das zutiefst Persönliche der liebenden Beziehung in deren Geschlechterambivalenz. Angesichts der Frau wird ein Mann die ihm vertrauten Rollenmuster und Klischeebilder überdenken müssen, wenn er für sich Authentizität in Anspruch nehmen möchte. D.h. er wird ihr in der Form des Daseins gegenübertreten müssen, die nur er annehmen und tragen kann; im Gegenzug wird die Frau ihm ihr Dasein offenbaren in einer Weise, die gleichfalls ihre Einzigkeit belegt. Beide begegnen einander – mit Binswanger gesprochen – in Einsamkeit und geben den jeweils Anderen in dessen Ursprung frei. Wird sich ein Mensch gegeben, wird ihm zu ausgezeichnetem Dasein verholfen (ob durch Geburt oder in liebendem Miteinander), dann ist ihm gestattet, selbst Ursprung zu sein, indem er andere in deren Eigensein unterstützt.534 Die Freigabe in Eigensein bleibt klarerweise nicht darauf beschränkt, selbst Kinder zu zeugen und sie zur Welt zu bringen; bekanntlich kann sich die Vater- bzw. Mutterschaft in ihr Gegenteil pervertieren, wenn Eltern ihren Kindern etwas aufbürden, sie zu einem bestimmten Beruf drängen, deren soziales Umfeld auswählen, das bis zur Wahl des Ehepartners des Nachwuchses reichen kann. Was hier gemeint ist, zielt auf einen umfassenderen Sinn von „Eigensein“ ab, der dem Anderen Authentizität gewährt.535 Dies geschieht gerade dann, wenn etwa Eigeninitiativen erkannt und gefördert, wenn Begabungen zugelassen werden. Kurzum: Authentizität erlange ich, sofern ich in der Begegnung meine Einsamkeit wahrnehme.536 Der Mensch, der sich in der Geburt geschenkt wird, wird damit auch ermächtigt, von selbst, eigenständig zu handeln, mithin seinerseits anfänglich zu handeln, indem er Initiativen 534 So Wucherer-Huldenfeld ebendort, S. 236f.: „So ungefragt sich einer überantwortet ist, so ist er es doch nur durch die Bejahung und Anerkennung anderer (im passiven und aktiven Sinn); und er hat sich darin erst vollständig angenommen, wenn er sich selbst in der Möglichkeit erfährt, anderen ihr Sein und Werden zu gewähren, schöpferischer Anfang eines von ihm zu verantwortenden, abhängigen und zugleich völlig neuen Daseins zu sein.“ 535 „Authentisch“ heißt dem Wort nach jener, der selbst etwas anfangen und vollenden kann, also der Urheber (ὐϑέ) bzw. Mehrer, Förderer (auctor). 536 Wucherer-Huldenfeld denkt wie Heidegger und Binswanger an einen Ursprung in Gestalt des Grundes, des Schöpfers oder des Wir, der dir und mir zu sein gibt: „Je näher Menschen einander in personaler Verbundenheit kommen, desto mehr verweisen sie einander auf die ursprüngliche Gemeinsamkeit ihres je verschiedenen Ursprungseins hin. Der Andere wird also nur in seiner Selbständigkeit wahrgenommen, ja er wird in seiner Personwürde und Freiheit nur erscheinen können, wenn beide über sich hinaus verantwortlich und aufgebrochen sind. Nur aus einem gemeinsamen unverfügbaren Ursprung heraus können sie einander frei geben und füreinander da sein, und nur so ist eine (gleichrangige) Ich-Du-Beziehung möglich.“, in: Wucherer-Huldenfeld, Philosophische Anthropologie II (Fortsetzung), S. 240. 196 ergreift. Abseits von Welte und Wucherer-Huldenfeld arbeitet Hannah Arendt diesen Gedanken aus, den sie auf Augustinus bezieht: „[Initium] ergo ut esset, creatus est homo, ante quem nullus fuit.“537 – Damit ein Anfang sei, ist der Mensch geschaffen worden, vor dem nichts gewesen ist. Der geschaffene Mensch ist als gezeugter und geborener gewiss ein abhängiger, jedoch so, dass er selbst einen Anfang setzen, ein Ursprung sein kann: „Die Erschaffung des Menschen ist der Anfang des Anfangen(können)s, ein Anfang, der sich mit jeder Geburt, jedem Einzelwesen, das neu in der Welt erscheint, wiederholt.“538 Allein die Geburt verbürgt das Neue und Einzigartige eines jeden Menschen. Man kann folglich so weit gehen und sagen, dass vor der Geburt eines bestimmten (geliebten) Menschen nichts bzw. niemand war (nullus fuit). Geburt als Anfang bedeutet, als „Neuer“ – noch nie Dagewesener, nie wieder Kommender – geschaffen zu sein und selbst Neues, Eigenes hervorzubringen, das keinem vorbestimmten Ziel unterliegt; Sein und Werden sind nicht determiniert. Fortpflanzung ist im Sinn der Biologie zweckgebunden, dort dient sie der Erhaltung der Art, in der Neuem und Anderem selten Platz gewährt wird. Dennoch tritt mit der Geburt eines Menschen etwas unvergleichlich Neues ins Dasein: „Ein neues Individuum fängt an zu existieren, das von Menschen erzeugt, doch von niemandem gemacht, nicht in seinem Sein und Werden vorausbestimmt ist.“539 Das Geborene ist nicht die Vervielfältigung eines Idealbildes, welches spätestens in der Realität versagt, auch kein hypothekarisch bedrängtes Wunschkind, das als Bedürfnisbefriedigung der Eltern fungiert. Ist, wie Arendt meint, jeder Mensch ein neuer Anfang, dann ist er sogleich auch vor den Mitmenschen – den „Mitgeborenen“ – ein unvergleichlich Einziger. Die Gabe des Daseins steht unter dem Titel der Zweckfreiheit (Angehrn) und der Einzigartigkeit, in der sich ein „Jemand“ kundgibt, der einen Namen trägt, der also namhaft ist. Dass sich ein Mensch in der Geburt als etwas Neues gegeben wird, macht sich zunächst in seiner Biografie bemerkbar; er entwächst dem Elternhaus, erlangt Bildung und Beruf, gründet einen eigenen Hausstand. Abseits dieser Eckdaten ist dieser Mensch ein sich gegebener, dem das Recht auf Entfaltung des ihm zueigen Gegebenen gebührt. Dabei sollen Sozialisation und familiäre Einflüsse nicht als etwas Negatives, Entwicklungshemmendes verleumdet werden, viel eher geht es darum, das Eigene und damit das Neue (Unerwartete, Nichtberechnete) zu bewahren und zu schützen. In Anbetracht der Künste der Naturwissenschaft gibt Angehrn zu bedenken: 537 Augustinus, De civitate Dei, XII, cap. XX, zitiert in: Angehrn, Emil: Die Frage nach dem Ursprung : Philosophie zwischen Ursprungsdenken und Ursprungskritik. – München : Wilhelm Fink Verlag, 2007, S. 205 538 Angehrn, Die Frage nach dem Ursprung, S. 205 539 Angehrn, Die Frage nach dem Ursprung, S. 206 197 Er [der Gedanke von der Geburt als Setzung eines neuen Anfangs, Anm.] widersetzt sich den Visionen des Menschen als eines biotechnologischen Produkts, das vom Hersteller nach seinem Bilde gemacht wird. Die Unableitbarkeit, Ereignishaftigkeit, die im Anfangen und Freisein des Subjekts impliziert ist, setzt einen Gegenakzent gegen ein Zeitgefühl, für welches die Welt zu einem instrumentell Gemachten und Gesteuerten wird und letztlich die menschliche Natur selbst in die Kompetenz gentechnischer Verfügung fällt.540 8.4 Dankbarkeit als Art und Weise des Empfangens der Daseinsgabe Hat eine Philosophie des Miteinander ein rechtes Selbstverständnis und kann sie dieses ausweisen, so müsste sie dem Dasein in seinem Gabecharakter eine zentrale Rolle zuspielen. Merkwürdigerweise ist das nur selten der Fall, wo doch das Sein mit- und durch-einander einen Beziehungsprozess anzeigt, aus dem Ich und Du gewandelt, mit dem Eigensein bereichert hervortreten.541 So unterlässt es auch Binswanger, Dasein als Geschenk einer eingehenden Analyse zu unterziehen; er scheint das Gegebensein fraglos vorauszusetzen, wodurch das Phänomen in seiner Eigenart und Fragwürdigkeit eher verdeckt als offengelegt wird. So finden sich Anspielungen auf Heideggers Denken des „Es gibt“: „Es“ wird aus dem „Geben“ verstanden, ein Geben als „Zusprechen“ oder „Einräumen“ von „Anwesen“, als „Schicken von Sein“.542 Das in die Offenheit gebrachte Dasein artikuliert sich – im anthropologischen Sinne – in der Geburt, welche üblicherweise als Zeitpunkt des Eintritts in die Welt definiert wird. Statt „Es gibt“ kann dann gesagt werden: „Ich bin, indem ich mir gegeben bin“ und weil mir stets zu sein gegeben wird. In einem punktuellen Verständnis von Zeit bedeutet Geburt einen einmaligen, fixierten und sogar amtlich dokumentierten Eintritt in die Welt nunmehr in postnataler Daseinsweise, wodurch die Geburt – und damit auch die Gabe – zu einem Ereignis der Vergangenheit wird, an das man sich selbst zwar gar nicht erinnern kann, es aber gleichwohl feiert. Heidegger hingegen beharrt mit Recht auf das verbale und prozesshafte Verständnis von sein, das nicht einen singulären Moment darstellt, sondern ein 540 Angehrn, Die Frage nach dem Ursprung, S. 206 In der Primärliteratur finden die Phänomene „Gabe“, „Geschenk“ eher am Rande Erwähnung, einschlägige Kommentare und Interpretationen verfahren ähnlich. So kann Kurt Wolf befinden: „Eine ‚Philosophie der Gabe’ ist in Deutschland noch wenig bekannt.“, in: Wolf, Kurt: Philosophie der Gabe : Meditationen über die Liebe in der französischen Gegenwartsphilosophie. – Stuttgart : Kohlhammer, 2006, S. 9. Stärker hat sie sich im französischen Raum entwickelt, zudem ist zu bedenken, dass sie interdisziplinär auftritt – sie ist in der philosophischen Anthropologie, Ethik, der Metaphysik wie in der Theologie gleicherweise anzutreffen. 542 Heidegger, Zeit und Sein, S. 22 541 198 Geschehen: „Durch diese [i.e. Gegenwart im Sinne von Anwesenheit, Anm.] wird das Sein einheitlich als Anwesen und Anwesenlassen, d.h. Entbergung bestimmt.“543 Das „Es“, welches „gibt“, lässt sich seinerseits nicht wie ein Gegebenes definieren oder thematisieren – es hat nicht die Eigenschaft der Gegenständlichkeit –, es zeigt sich, insofern es sich der Beschreibung entzieht – der Grund des Daseins ist selbst grundlos. Zwar entzieht sich das „Es“, aber „es gibt Sein“, es reicht und schickt sich uns Sein zu: „Im Sein als Anwesen bekundet sich der Angang, der uns Menschen so angeht, daß wir im Vernehmen und Übernehmen dieses Angangs das Auszeichnende des Menschseins erlangt haben.“544 Doch wer gibt? Und: wem gilt Dank für die Gabe? Innerweltlich-ontisch ist die Gabe des Daseins im Sinn der Natalität den Eltern zu verdanken; im breiteren Rahmen ist die Weitergabe des Lebens der in der Natur angesiedelte Vorgang der Fortpflanzung. Allerdings entfällt im Naturhaften bereits das Phänomen des Dankes. Zuletzt kann auch ein göttliches oder unbekanntes Prinzip als Lebensspender bzw. Geber fungieren. Hier gilt jedoch: je weiter und umfangreicher man Gründe und Ursachen des Gegebenseins verfolgt, desto abgeflachter und verfälschter erscheint Dasein als Gabe. Unter Bezugnahme auf Heidegger und Lévinas schreibt Wolf: Gemeint sein kann hier auch die Gabe einer schwer erklärbaren „transzendentalen Energie“, die aus einem „tiefen Einst“ kommt und sich dem Menschen ohne dessen Zutun zueignet, ja ihn trägt. Diese „transzendentale Energie“ durchwaltet jenes „Es gibt“, das Sein und Zeit darreicht, und „was in ihm an Überfluss und Großmut mitschwingt“ […]. Dank des starken Ereignisses der Ankunft dieser „transzendentalen Energie“ werden Sein und Zeit jedem einzelnen Menschen in der Intensität einer „Gabe“ und Aufgabe (zur Mitgestaltung in Freiheit) nahe gebracht.545 Mit Lévinas macht Wolf einen Sprung vom „Es gibt“ respektive von einer anonymen Wirkmacht zur Gabe des personalen Seins – ich bin nicht nur etwas aus Naturprozessen (Triebe, Zeugung, Geburt etc.) Hervorgegangenes, sondern weil du mir Sein schenkst. Wie schon bemerkt, ist die Seinsgabe nicht allein der Elternschaft vorbehalten, sie umfasst auch Achtung, Förderung und Pflege der Mitdaseienden. Mit der Seinsgabe durch die Eltern kommt nicht die Ursache (Kind) einer Wirkung (Geschlechtsakt) zum Vorschein, vielmehr tritt in ihr das Neugeborene hervor als ein bestimmtes Kind, das bestimmten Eltern zugehörig ist. Es ist damit hoffentlich kein Zufallsprodukt, welches eben passiert ist. Üben die Eltern nur die Funktion der Verursacher aus, so würden sie jedes beliebige Kind in die Welt setzen, nur nicht das ihre, das sie mit Namen nennen, um seine Einzigkeit inmitten aller anderen 543 Heidegger, Zeit und Sein, S. 16. Zur lebensweltlichen Gegebenheit in der Zeitlichkeit siehe WuchererHuldenfeld: Beginn und Anfang des menschlichen Daseins, in: ders., Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein : Ausgewählte philosophische Studien I, S. 95-106, hier S. 99-102 544 Heidegger, Zeit und Sein, S. 28 545 Wolf, Philosophie der Gabe, S. 17 199 Menschen hervorzukehren. In dieser Auffassung ist vom Menschen als Gabe, der sich selbst und anderen von anderen (nämlich seinen Eltern) gegeben ist, nicht die Rede. Dagegen sind Natalität und Kreatürlichkeit der offenkundige, ursprüngliche Erweis des Seins als Gabe. Jedoch bereits „der Zugang zu sich selbst, der keineswegs Sein schafft, wird zum Erweis meines fremden Ursprungs, da kein letzter Grund meines Seins in der menschlichen und natürlichen Welt aufzufinden ist“. In mir selbst stoße ich auf einen geheimnisvollen „Ort“, der auf ein Vonwoandersher verweist. Auf den beiden Wegen der Gebürtigkeit und der Innenschau wird daher offensichtlich: trotz seiner Kraft des Gebens (in der Zeugung, in der Liebe, im Vergeben) kann der Mensch sich sein Sein nicht selbst geben. […] Ich und die anderen sind „Gabe“.546 Das Geschenk des Seins birgt auch bei Wolf den Zug des Abgeleiteten oder Abhängigen wie es zuvor bei Welte und Wucherer-Huldenfeld nachgezeichnet wurde. Zeigt die Geburt einen Anfang an, durch den ich ins Sein komme, so ist sie doch nicht der Anfang einer vereinzelten Jemeinigkeit, denn Dasein ist „aufgrund“ anderer, ist ihnen geschuldet. Dass mir Sein geschenkt wurde, versetzt mich nicht in den Knechtsstand, in dem ich permanent – zwangsweise – Dank aussprechen müsste. Seinsgabe als Freigabe in Eigensein ist kein gönnerhafter Willkürakt, sondern das Sein wird umwillen und zugunsten des Seienden geschenkt: „Weil es einfach gut ist, daß jeweils Du Du selber bist und sein kannst – nicht nur für mich –, sondern erstlich für Dich selber.“547 In der Unableitbarkeit, die sich als Ursprung (in Abhängigkeit) zeigt, erfährt sich das Dasein als Geschenk548, als kontingentes ist es kein ens causa sui und könnte als NichtNotwendiges schließlich auch nicht sein. Sein Grund ist ihm also äußerlich, jedoch so, dass dem Dasein zu sein gegeben ist. Nachdruck und Betonung liegen hier darauf, dass dem Dasein nicht „irgendein“ Sein zugesprochen wird, sondern das je eigene, unverwechselbare und einzigartige. Darüber hinaus erblickt Welte in der Seinsgabe eine Ursprünglichkeit, die gewährt, dass der sich geschenkte Mensch Neues unabhängig von anderen hervorzubringen in der Lage ist. Der Gabe entspricht bei Welte das „Hervorbringen aus dem Verborgenen“, wobei das Hervorgebrachte – das Dasein – im Entbergen ge- und bewahrt wird.549 Das in Eigensein Freigegebene ist den Eltern ihr Kind oder dem Liebenden die Geliebte, sodass man sagen kann, Liebe sei der Wille zum Sein des Anderen. Das Miteinandersein in Liebe ist wohl reich an Paradoxa, in denen eine merkwürdige existentielle Logik hervortritt: je qualitativ größer und wesenhafter das Eigensein, desto intensiver die Bindung (Abhängigkeit) an den Freigebenden. In der Weise des Umgangs mit Abhängigkeitsverhältnissen, die das Dasein konstituieren und begleiten, zeigt sich nach 546 Wolf, Philosophie der Gabe, S. 24 Wucherer-Huldenfeld, Beginn und Anfang des menschlichen Daseins, S. 102 548 Siehe AW 2, 116 549 Welte, Logik des Ursprungs und Freiheit der Begegnung, S. 55 547 200 Dieter Henrich die Dankbarkeit: „Den Grund zum Dank anerkennen heißt dagegen immer auch, in seinem Verhalten die eigene Abhängigkeit zu bestätigen.“550 Der Dank zeigt sich primär nicht in einer gut studierten, ausformulierten Geste der Höflichkeit, sondern drückt die interpersonale Realität aus – im Dank bin ich dir als Geliebter, Freund, Sohn bzw. Vater etc. verbunden, in ihm erkenne ich mich von dir bejaht. Das Danksagen ist transitiv, man kann sich schwerlich bei sich selbst bedanken; als kommunikative Handlung führt es mich von mir weg zum Geschenkgeber, der Dank ist im engen und weiten Sinn ein Ereignis in der Sprache – der Dank für etwas zeigt sich als Dank an jemanden, dem er als Instanz dargebracht wird. Eigenheit und Wesen des Dankes zu erkunden ist ausgerechnet für die Philosophie der Begegnung eine lohnenswerte und perspektivreiche Aufgabe, die noch immer nicht zur Gänze erfüllt worden ist. Bedenkenswert ist die Feststellung Gadamers zur Rezeption des Phänomens des Dankes: „Nun begebe ich mich freilich auf ein Gebiet, wo wir bei großen Denkern wenig Vorarbeit finden.“551 Dieses Ungenügen mag auch an der Komplexität des Phänomens liegen, es wird demnach nicht verwundern, dass es verschiedene Wissenschaften (Theologie, Psychologie, Soziologie) in den Blick zu bekommen trachten. Was ist unter Dank näher zu verstehen, wie zeigt er sich, wie wird er wahrgenommen bzw. angenommen? Henrich deutet die Dankbarkeit als Anerkennung der eigenen Abhängigkeit von anderen, darin zeigt sich eine Parallele zum Konzept Weltes. Im Dank (wie in der Gabe) deutet sich eine intersubjektiv bedingte Ungleichheit an: wer Dank spricht, dem wurde etwas gegeben, was er aus sich alleine heraus zu erreichen nicht fähig war. Im vornehmsten und tiefsten Sinn ist diese Gabe das eigene Dasein. Der entsprechende Dank für es kommt nicht umhin, eine Asymmetrie zwischen Geber und Empfänger anzuerkennen552, Gadamer sieht darin eine „[…] Erfahrung der Transzendenz, d.h. Danken geht immer über den Horizont hinaus, in dem menschliche Erwartungen ihre gegenseitige Bilanz 550 Henrich, Dieter: Gedanken zur Dankbarkeit, in: ders.: Bewußtes Leben : Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik. – Stuttgart: Reclam, 1999, S. 152-193, hier S. 156 551 Gadamer, Hans-Georg: Danken und Gedenken, in: Seifert, Josef (Hrsg.): Danken und Dankbarkeit : Eine universale Dimension des Menschseins. – Heidelberg : Carl Winter Universitätsverlag, 1992. – (Philosophie und Realistische Phänomenologie ; I), S. 27-36, hier S. 30 552 Die sich hier zeigende Ungleichheit – der Geber „gewährt“ die Gabe – wird meist vorschnell als negatives Abhängigkeitsverhältnis fehlgedeutet; der Gabe des Daseins wohnt Ursprünglichkeit inne: ich bin ermächtigt, von selbst Handlungen zu tätigen. Max Müller setzt an dieser Stelle seine „existenzielle Maxime“: „Tue, was nur du tun kannst und was an deiner Stelle eben niemand tun könnte.“, in: Müller, Max: Existenzphilosophie : Von der Metaphysik zur Metahistorik. – 4., erw. Aufl. hrsg. von Alois Halder. – Freiburg/Breisgau ; München : Alber, 1986, S. 38. Für das Dasein als eigenes Ursprungsein und dessen Entspringenlassen nochmals Welte, Logik des Ursprungs und Freiheit der Begegnung, S. 56: „Das heißt aber für das Wesen des Ursprungs: Er bleibt, was er ist, und er ist, was er ist, gerade darin, daß er anfangen läßt, was er nicht ist.“ Das auf diese Weise Anfangende, das Entspringende ist ein Selbständiges, andernfalls müsste es im Ursprung verbleiben – es würde so nicht „sein gelassen“, es wäre sich nicht in freigebender Abhängigkeit geschenkt. 201 aufstellen.“553 Für die Gabe bedeutet dies, dass sie jenseits der Berechnungen und Vorstellungen des Empfängers steht, sie ist in diesem Sinn stets auch eine „Überraschung“.554 Dass das Geschenk von dir stammt – das erst macht es wertvoll und darin zeigst du dich in deiner Gewogenheit. Diese Frohmut vonseiten deiner kann ich nicht adäquat wiedergeben, weil sie ja von dir ausging und mich betrifft, die einzig angemessene Antwort ist der Dank: Dies [der Dank, Anm.] ist nicht einfach ein Retournieren von etwas, sondern es ist das Anerkennen des Anderen in seiner Verbundenheit mit mir und meiner eigenen Verbindlichkeit, die ich in dem Annehmen des Geschenkes oder irgendeiner Gabe einging.555 Dank erschöpft sich nicht in einer Gegenleistung, in der man das Erhaltene abzugelten versucht, sondern steht in einem offenen, bewussten Verhalten gegenüber dem Geber. Ob der Empfänger Dank ausspricht – dies liegt nicht in der Macht des Gebers, der Zwang zum Dank widerspricht dem Wesen der Gabe.556 Der ausgebliebene oder unerfüllte Dank offenbart oftmals die überzogene, zum Teil arrogante Erwartungshaltung, die der Gebende innehat (aus welchem Grund?). Gabe meint Freigabe in je eigenes Seinkönnen, Dank bedeutet die entsprechende Antwort auf die mir widerfahrene Sorge. Dank, selbst noch der Undank, hat den Charakter einer Antwort, die sich nicht immer in einer Gegengabe artikuliert – wie sollte diese angesichts der Gabe des Daseins überhaupt beschaffen sein? Diesbezüglich kann sich der Dank nur als Anerkennung des anderen erweisen, der mich mir gab; in meiner Beziehung zu ihm habe ich mich „gewonnen“.557 Für Henrich folgt aus dieser Beziehung die Authentizität des eigenen Lebens. Das folgt daraus, daß diese Dankbarkeit nicht Dank an eine Person für ihre Gabe ist, daß sie vielmehr Dank ist für einen Menschen, der in unser Leben eintrat und durch den dieses Leben in seine eigentliche Wirklichkeit gebracht wurde – ein 553 Gadamer, Danken und Gedenken, S. 30 Das altgriechische Verb ί, aus dem das Nomen ά(Dank) hervorgeht, meint „froh sein, sich freuen, Vergnügen an etwas haben“ – der Beschenkte erfreut sich der Gabe, darin liegt bereits der ursprüngliche Sinn des Dankes. Cháris selbst bedeutet weiters „Anmut, Gnade, Liebesgabe, Huld, Gunst, Wohlwollen“. Bezeichnend ist, dass die im Deutschen voneinander getrennten Begriffe „Gabe“ und „Dank“ im Griechischen zusammengefasst sind. Die Gabe trägt – zumindest im Griechischen – in sich schon Dank. 555 Gadamer, Danken und Gedenken, S. 34 556 Gadamer sieht das Verhältnis von Geber, Geschenk und Empfänger wie folgt: „Geschuldeter Dank – oh, da sind wir in einem fatalen Kalkül – erwarteter Dank, der ausgeblieben ist und den man dann Undank nennt – auch das ist sicherlich kaum Dankbarkeit. Die Dankbeziehung ist überhaupt nicht primär die Haltung des Urteilens über ein Verhalten. Dankbarkeit ist vor allen Dingen etwas, was in einem selber wächst […].“, in: Danken und Gedenken, S. 35. Gabe, die sich an der erwartbaren Dankbarkeit orientiert, ist eine verlorene Investition. Dank lässt sich, so Gadamer, nicht immer eindeutig und unmissverständlich als solcher deuten oder identifizieren, manchmal am wenigsten zwischen Gebenden und Dankenden. 557 Den Anderen anerkennen heißt, ihn präsent halten, an ihn denken, es ist das Bewusstsein und Bewusstbleiben von Gabe. Von da aus spannt Peter Handke den Bogen zur Religion: „Die Religiosität läßt sich wie folgend kurzfassen: Statt: ‚Das werde ich nie vergessen’ sage ich: ‚Das werde ich DIR nie vergessen’.“, in: Handke, Peter: Am Felsfenster morgens : (und andere Ortszeiten 1982-1987). – München : Deutscher Taschenbuch Verlag, 2000, S. 94 554 202 Dank für sein Dasein selber und in einem damit für alles, was ihn zu dem macht, der er ist. So danken Eltern für das Kind, von dem sie sagen müssen, daß es ihnen geschenkt und anvertraut ist. So dankt der, der eigentlich liebt, für den geliebten Menschen, und gewiß nicht nur dafür, daß auch dessen Liebe sich ihm zuwandte, sondern dafür, daß es ihn gibt in der Welt und zu der Zeit, in die die Spanne des eigenen Lebens gebunden ist.558 Der Dank wird alsbald verkürzt zu einer Hilfeleistung in Extremsituationen, wodurch auch jenes nivelliert wird, wofür gedankt wird: das Leben, welches bloß als Kette reibungslos ablaufender Ereignisse und Prozesse interpretiert wird, kann nach erfolgreicher Hilfe „weiterlaufen“.559 Ein daseins- und mitseinsoffenes Verständnis schließt in den Dank auch Lehrer und Vorbilder sowie die namentlich nicht Bekannten ein, mit denen man im Leben konfrontiert wird. Das führt schließlich dazu, die richtigen Zeitpunkte und Gelegenheiten in den Dank einzubeziehen, Aspekte jedenfalls, die nicht bewerkstelligt (aber wohl „herbeigesehnt“) werden können. Der Dank gilt und kommt jenem zugute, der mein Eigensein (ὐϑέ in Offenheit als Wahres (ἀής freigibt und hält.560 Damit nähert sich Henrich dem Denken des Anfangs und des Ursprungs bei Welte und Wucherer, als die wir uns gegeben sind. Ich bin in mein Eigensein freigegeben, ich habe als dieser so und so Bestimmte zu sein, aber die Freigabe ist Tat und Leistung eines Anderen, der mich überhaupt erst in das Sein führt. Dank für das eigene Dasein weitet sich darum zum Dank für das Dasein anderer Menschen561, worin er sich vom geheuchelten Dank des Pharisäers wesentlich abhebt, der in seinem Stolz den Anderen nicht wahrnehmen kann. Für Henrich nimmt das Gewahren des Eigenseins eine Geste der Demut an: Wir danken dafür, daß unser Wirken in diese Welt den Segen hat, anderen wohltätig zu sein durch solche Kräfte und Gaben, die wir uns selbst nicht geben konnten und die wir allenfalls gepflegt und vor Entstellung bewahrt haben.562 Selbstverständlich setzt der Dank erst ein, sobald ich Gutes und Förderliches erfahren habe, er kommt aber nur dann zur vollen Geltung, wenn ich mich selbst als Ursprung des Dankens erkenne. Das setzt wiederum das Wissen um das Dasein als Geschenk voraus, welches ich 558 Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, S. 161f Den Grund des Dankes nur in der Abwendung von Lebensgefahren und Bedrohlichkeiten sehen, ist eine Auffassung, die den Dank verfehlt: „Wer aber nur will, daß sein Dasein geschützt vor Leid und Sog des Endes weiter dahingehe, dankt nicht wirklich für dies Dasein selbst, sondern nur für dessen Fortbestand.“, in: Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, S. 167 560 Ursprungsein (Sich-Gegebensein) in Abhängigkeit führt Henrich auf das griechische Denken zurück, leider ohne dies näher auszuweisen: „Und solcher Dank zeigt dann auch, was anders zu sehen den Griechen gar nicht in den Sinn gekommen wäre: daß Dankbarkeit nicht etwa die Gestalt einer Knechtstugend annehmen muß, daß sie vielmehr ein Signum der Freiheit ist.“, in: Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, S. 164 561 In gleicher Weise ist es durchaus denkbar, dass andere für mein Dasein danken, wenn ich ihnen ihre Seinsweisen erschließe, wozu sie alleine von sich aus nicht imstande wären. Man dankt nur für etwas oder jemanden, das bzw. der nicht unter der eigenen Verfügungsmacht steht. „Der Andere dankt für den Menschen, indem er für das dankt, was er ihm war und was er doch nicht aus eigenem Willen hat erbringen können.“, in: Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, S. 168 562 Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, S. 169 559 203 mir selbst nie hätte bereiten können. Obhut und Pflege der Gabe meint gerade nicht ein ängstliches Verschlossensein in sich, das sich im Egoismus verspinnt, sondern: Annahme der Daseinsgabe in Dankbarkeit öffnet mich dem, der mich mir gegeben hat und eröffnet mir die Möglichkeit, Andere in ihr selbständiges Eigensein zu bringen – sei es durch leibliche Zeugung eines Menschen, durch pädagogische bzw. therapeutische Anteilnahme am Schicksal anderer oder in liebendem Miteinander als Dualität. Das Leben als Geschenk annehmen, das klingt, als müsste man sich einer harten Übung unterwerfen, oder es erheischt bloß vorgeschobene Dankbarkeit. Dass das eigene Dasein zumeist nicht dankenswert erscheint, hat mit der unumgehbaren Faktizität dieses Dasein zu tun: ich habe mein Dasein zu übernehmen, worin sich nicht selten sein Lastcharakter offenbart. Wir können nichts für oder gegen unser In-der-Welt-sein, in unserer Ohnmacht fühlen wir uns dessen überdrüssig.563 Ein hervorstechendes Merkmal nicht nur des heutigen Menschen ist seine überproportionale, scharfe Wahrnehmung von Negativem, Mangelhaftem oder Beklagenswertem. An Vorhandenes wie an das eigene und das fremde Dasein wird ein Sollensanspruch gestellt, den diese meistens nicht erfüllen können, weil das Gesollte schlicht nicht in der Natur der Dinge bzw. der Menschen liegt. So wird das Seiende letztlich als etwas gesehen, das besser nicht geworden wäre. Dasein ist unter diesem Vorzeichen keine Gabe, vielmehr eine niederdrückende Bürde, von der man sich am liebsten lösen möchte. Die Erfahrung, dass das Leben nicht ganz frei von Not und Drangsal ist, macht jedes Kind recht bald. Welche Form nimmt der Dank für das Dasein an, das nicht stets geradlinig verläuft und rundum geglückt ist? Der Dank für eine Einzelgabe fällt hier aus, da es sich um mein Leben handelt, das ich nicht erwirkt habe, sondern das mich hervorgebracht hat durch das Wirken anderer Menschen, die mich so in mein Dasein gerufen haben. Der Dank umgreift also auch Mit- und Umwelt, in denen das Dasein angesiedelt ist. Mit Bezug auf Henrichs Entwurf schreibt Theunissen: „Ich kann nicht wirklich Dankbarkeit empfinden für mein Leben als Ganzes, ohne dankbar zu sein für das Ganze der Welt, in der ich es verbracht 563 Auch der Überdruss ist eine Weise der Realitätserschließung, deren Kraft erblickt Heidegger vor allem in negativ konnotierten Stimmungen (Angst, Langeweile), zuvor heißt es aber: „Diesen in seinem Woher und Wohin verhüllten, aber an ihm selbst um so unverhüllter erschlossenen Seinscharakter des Daseins, dieses ‚Daß es ist’ nennen wir die Geworfenheit dieses Seienden in sein Da, so zwar, daß es als In-der-Welt-sein das Da ist. Der Ausdruck Geworfenheit soll die Faktizität der Überantwortung andeuten.“, in: Heidegger, Sein und Zeit, S. 135. Die Überantwortung (das „Zu-sein-haben“) ist nichts anderes als die Aufgabe des Seins, sodass mir zu sein gegeben ist. Das Gebende (das „Es gibt“) ist in der Gabe merkwürdig absent, das „Woher und Wohin“ (eben das Gebende) ist dem Beschenkten nicht direkt zugänglich. Aus diesem sprichwörtlich Ungreifbaren lässt sich verstehen, dass Phänomene wie Langeweile und Überdruss bis hin zur Angst das Dasein bestimmen und unterdrücken können. Erst die Eigentlichkeit, die Besinnung auf das Gegebene ist ein Frei-sein für sich und für jene, die mir begegnen. 204 habe.“564 „Leben als Ganzes“ setzt jedoch voraus, dass dieses Leben möglichst unverstellt in den Blick gelangen kann, indem es etwa nicht fragmentiert wird, d.h. in einzelne, unzusammenhängende Abschnitte zerteilt wird. Im Bewahren der biographischen Linearität und Konsequenz stellen sich Empfangenes und Gegebenes, Verpasstes und Verschuldetes ihrer je eigenen Zukunft und gelangen dadurch an eine auch für andere wahrnehmbare Offenheit.565 Den Einwand, Leben sei Last, entschärft Henrich mit dem Begriff der Kontingenz – wir sind nicht notwendig auf der Welt, wir hätten nämlich auch nicht geboren werden können.566 Die Tatsache, dass wir ins Leben getreten sind, ist wiederum anderen Menschen zuzuschreiben, die uns als Kind (hoffentlich) gewollt und akzeptiert haben. Die Eltern wie all jene, durch die uns Förderung und Wohlwollen zuteil wurde, sind dementsprechend die ersten Adressaten des Dankes, hinzu kommen die, die uns ein gelingendes Leben lehren, indem sie selbst ein solches führen: Ist aber auch noch jener Dank für mein Dasein, in dem der Gedanke der Möglichkeit meiner Nichtigkeit für immer eingeschlossen ist, erst in dem Gedanken daran stabil und dauerhaft, daß mein Leben, das wirklich wurde, zugleich geborgen sein sollte, so ergibt sich schlussendlich, daß sich aller Dank für eigenes Dasein von dem Gelingen her entfaltet, zu dem ein Leben gelangt oder geführt worden ist. Dies Gelingen ist das eigentliche Gut, das verdankt ist […].567 Meine „Nichtigkeit“ meint zum einen die Möglichkeit des non ens, das wir ohne unsere Geburt als Überführung des Möglichen in Wirkliches geblieben wären. Zum anderen ist Nichtigkeit das Nichts, das Fremde bzw. Andere, von dem der Mensch umgeben ist, Nichtigkeit und Not berühren hier einander. Eine dritte Deutung schließlich sieht in der Nichtigkeit das Nichts als das Ursprüngliche in der Erfahrung des Ganzen und des Grundes des Daseins, wobei „Nichts“ das Offensein, die Weite, das Unverstelltsein, den offenen 564 Theunissen, Michael: Der Gang des Lebens und das Absolute : Für und wider das Philosophiekonzept Dieter Henrichs, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002), S. 343-362, hier S. 351 565 Das Phänomen des Lebens als Ganzes hat Romano Guardini in einer Vorlesung über Ethik durchzudenken versucht. In ihr geht er die verschiedenen Lebensalter, deren Aufbau und wechselseitige Prägung durch. Jedes Lebensalter (pränatales Dasein, Geburt, Kindheit, der junge, der mündige, der ernüchterte, der weise, schließlich der senile Mensch) ist einmalig, also nicht beliebig herstellbar, auch nicht wiederholbar; alle Lebensphasen zielen auf das Ganze, kein Lebensalter ist um seiner selbst willen da: „In Wahrheit sind jede Stunde, jeder Tag, jedes Jahr lebendige Phasen unseres konkreten Daseins, deren jede nur einmal kommt, da sie eine unvertauschbare Stelle in dessen Ganzem bildet. Darin, daß jede neu ist, noch nicht da war, einzig ist und für immer vergeht, liegt ja auch die Spannung des Daseins; der innerste Anreiz, es zu leben. […] Sie sehen, wie hier die Dialektik von Lebensphase und Lebensganzem hervortritt. Jede Phase ist ein Eigenes, das weder aus der voraufgehenden noch der folgenden abgeleitet werden kann. Andererseits ist jede Phase aber ins Ganze eingeordnet und gewinnt ihren vollen Sinn nur, wenn sie sich auch wirklich auf es hin auswirkt.“, in: Guardini, Romano: Gläubiges Dasein : Die Annahme seiner selbst. – Herausgegeben von Franz Henrich. – 3. Aufl. – Mainz : Matthias-Grünewald-Verlag ; Paderborn : Schöningh, 1993, S. 119-121 566 Siehe Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, S. 170 567 Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, S. 171 205 Bezug zu anderem und dadurch Erfüllung meint.568 Das Danksagen soll die Nichtigkeit und Qual, die das Leben zu überschatten drohen, übersteigen, indem es die Gabe über das Leid stellt. Die Gabe des Daseins zählt weitaus mehr als Not und Kümmernisse, die sich (ob aus berechtigter Sicht oder nicht, ob real oder eingebildet) zu ihm gesellen. Wohl ist die Geburt ein markantes Moment der Gabe, diese bleibt allerdings ein währender Prozess – uns wird ständig zu sein gegeben, das Seinsgeschenk ist nicht mit einem Akt abgeschlossen. Ist der Geschenkgeber von aufrichtiger und verantwortungsvoller Gesinnung, wird er, wie jeder Fördernde und Teilnehmende dem Empfänger verbunden bleiben und versuchen, ihn für sich selbst und für die Mitwelt zu „befreien“. Er wird Interesse am „Gelingen des Lebens“ bekunden, er wird zu helfen und beizustehen versuchen. Das gelungene Dasein ist wohl nicht das eines Autokraten oder Souveräns, der seine Selbstherrschaft unbedingt zur Geltung bringt, sondern dieses ist angewiesen auf konkrete andere Menschen, in deren Wohlwollen ich mich geborgen weiß. Mit Henrichs Worten: Und so muß das Gelingen, von dem gewußt ist, daß es weder erlistet noch erstritten werden kann, auch zuerst im Lichte des Daseins erfahren werden, das ebenso unverfügbar ist und der Ort des Geschehens der Bewegung, die um Gelingen besorgt und die im Gelingen erfüllt ist. Im Lichte dessen also, daß ich selbst mögliches non ens bin, erfahre ich nun allererst, was es heißt, daß Gelingen gewährt ist.569 Die bezüglich Gabe und Dank angestellten Überlegungen zeigen, dass die eigene Existenz nicht im Alleingang zu bewerkstelligen ist; darum wird nochmals die Frage nach dem Empfänger – nun des Dankes – dringlich, es sind mehrere Adressaten denkbar. In biographisch-biologischer Hinsicht sind es zunächst Eltern und Freunde, denen der Dank gilt. Als Geborene sind wir Seiende, und zwar so, dass uns Dasein übereignet wird. An uns liegt es, dein und mein Dasein anwesen zu lassen – im Bereich des Offenen.570 Hinter der Seinsgabe steht das „Es gibt“, das weder als Schöpfer noch als Weltengrund angemessen einholbar ist. Wie kann man allerdings dem, das sich entzieht, danken? Ist Danken nicht ein intentionaler Akt, der einer Person als Instanz dargebracht wird? Solches hat Binswanger im Visier, wenn er das „Mich-Dir-Schenken“ mit dem „Von-Dir-empfangen-werden“ in Beziehung setzt, die er auch als Selbstmehrung des Eros bezeichnet – je wahrer wir einander 568 Aufschlussreich ist zu diesem Themenkomplex der Aufsatz von Wucherer-Huldenfeld Das Nichts als „Ort“ der religiösen Erfahrung. Das Phänomen des Nichts und der Aufweis des Daseins Gottes, in: ders., Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein : Ausgewählte philosophische Studien II. Atheismusforschung, Ontologie, philosophische Theologie, Religionsphilosophie. – Wien [u.a.] : Böhlau, 1997, S. 305-344. Dort weitere Literaturangaben vor allem zu den verschiedenen Auffassungen von „Nichts“ in den östlichen und westlichen Philosophien. 569 Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, S. 171 570 Siehe dazu Heidegger, Zeit und Sein, S. 24 206 lieben und sein lassen, desto tiefer gelangen wir in unser je eigenes Selbst.571 Der Dank ergeht an dich, die du mich in mein Selbstsein führst und mich dadurch mir gibst; im Dank konstituieren sich Bewusstsein und -bleiben der Gabe, so kann sie auch erst recht gewürdigt werden. Von der Seite des Beschenkten bedeutet der Dank die Investitur des Gebenden. Was hat man sich unter Dank näher vorzustellen, welche konkrete Gestalt kann er annehmen? Er ist zuerst mehr und anderes als die geläufige Höflichkeitsgeste, die manchmal zur unverbindlichen Floskel herabsinkt und mit dem recht verstandenen Dank nur mehr den Namen gemeinsam hat. Das Geschehen des Dankens ist so vielfältig wie die Danksagenden und die Adressaten. Eine bereits angeführte Weise des Dankes für das Dasein ist die Weitergabe des Lebens, hier wird die Gabe zur Aufgabe: wie wir uns in Eigensein geschenkt worden sind, stehen auch wir in der Macht, andere in ihr Sein zu bringen, damit diese eigenständig sein dürfen. Wir geben so, wie uns gegeben wurde – nicht anmaßendbeherrschend, sondern freigebend, erst so vermag anderes Dasein in sein Eigenstes zu gelangen. Das ist dem Denken Heideggers geschuldet, es erinnert an sein Denken des Ganzen und des Grundes, aus dem Seiendes hervortritt.572 Als Grund stellt man sich üblicherweise eine causa efficiens vor, die Seiendes ins Werk setzt, Heidegger aber meint anderes. Die Abhandlung Vom Wesen des Grundes entfaltet die Frage nach der ontologischen Differenz: „Das Nichts ist das Nicht des Seienden und so das vom Seienden her erfahrene Sein. Die ontologische Differenz ist das Nicht zwischen Seiendem und Sein.“573 Diese Differenz gewährt Einblick in den Grund (Sein), der uns zu sein gibt und uns ins Offene bringt. Der Dank würde sich unter dieser Bestimmung als Seinswahrung bzw. Zulassen des Seins erweisen.574 Begreift man Dasein nicht bloß als eine – wenn auch ausgezeichnete – Form des Lebens auf der Erde neben anderen (vegetatives und animalisches Leben), so kann der Empfänger des Dankes jemand sein, der nicht notwendig weltimmanent bzw. kontingent ist. Der Dank meint dann nicht mehr nur unmittelbar dich – als Mutter, Vater, Freund und vertrauter, geliebter Mensch –, er wendet sich an ein uns umfassendes Seinsprinzip, an den Grund. Ihm gilt, so Henrich, 571 AW 2, 118 Näheres dazu im Kapitel 4.2 Gemeinschaft und Selbständigkeit im Wir 573 Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 5 574 Dass die ontologische Differenz keine bloße Unterscheidung, sondern ein Bezug von Seienden zum Sein ist, hebt Max Müller hervor: „Als alles gründender Grund ruht es [das Sein, Anm.] doch auch wieder im Gegründeten, und diese ‚Reziprozität’ ist gerade eine der entscheidenden, wenn auch nicht leicht zu erreichenden Ur-Erfahrungen. ‚Ur-Erfahrung’ nämlich, die erfahren wird, wenn das Denken versucht, seinen ‚Ursprung’ und den ‚Ursprung überhaupt’ zu denken, in welchem Versuch das Denken dann ‚glückt’, d.h. erfahrend wird, wenn es ‚den Anfang’ und damit ‚seinen Anfang’ nicht als Setzung setzt, sondern ‚als Gabe entgegennimmt’ und sich damit als im Anfang geschenkt erfährt, wie der späte Heidegger dann sagen wird.“, in: ders., Existenzphilosophie, S. 85. 572 207 […] die Dankbarkeit, in der sich unser Lebensgang unter Einschluß der Not zu sammeln vermag […]. Denn in ihr [in der Dankbarkeit, Anm.] wird ein Grund erfaßt, der unser Leben ermöglicht, aber nicht nur anfänglich ermöglicht, sondern der es ebenso auch tragend durchherrscht.575 Aber wer wird schlussendlich dankend angesprochen? Der durchragende Grund, ein Gott, oder – was der Erfahrungsnähe am ehesten entspricht – die geliebte Person, die einen Sinnraum im gemeinsamen Dasein stiftet? Und: schließen die drei Adressaten, Konkurrenten gleich, einander aus oder darf ich Gott und dem Menschen dankbar sein? Theunissen nimmt dazu klärend Stellung: das Gegenüber, mit dem wir in Beziehung stehen, ist uns unter dem Titel „Person“ vertraut. Der Grund, der zu sein gibt, ist indessen sensu stricto kein Begegnendes wie es etwa ein innerweltlich Seiendes ist. Ein Grund kann nie gegenüberstehen wie ein empirisch Wahrnehmbares, doch zeigt er sich in der Grunderfahrung und nimmt darin Züge des Personalen an: Aber das, was sich uns als Grund erschließt, kann im Prozess unserer Erfahrung zum Gegenüber werden, so wie umgekehrt das uns als ein Gegenüber Begegnende in den Grund gehen mag. Gewiss nötigt beides zu einem Einstellungswechsel. Das religiöse Bewusstsein, das in Kategorien der Begegnung mit einem Gegenüber denkt, muss sich, um eines Grundes ansichtig zu werden, zu einem philosophischen bilden, das philosophische, das am Gedanken des Grundes orientiert ist, muss, will es darin ein Gegenüber sehen, religiös werden. Das Religiöswerden des philosophischen Bewusstseins setzt aber ebenso wie das Philosophischwerden des religiösen ein Absolutes voraus, das an sich beides ist, Grund und Gegenüber.576 Grund bzw. Gott und der geliebte Andere sind als Adressaten des Dankes nicht zwei Seiten derselben Medaille, sie sind voneinander geschieden im Sinne des Verhältnisses von Schöpfer und dessen Kreaturen. In der Dankbarkeit zu einem konkreten anderen Menschen mag sich der uns gemeinsame Grund zeigen, der dich und mich in eigenes Sein freigibt – insofern geht das Begegnende „in den Grund“, weist ihn auf. So „rettet“ der Mensch das Sein aus dem Fluss der Verborgenheit, des Vergessens (ἡ ή. In seinen behutsam formulierten Überlegungen legt sich Henrich nicht auf einen letzten Empfänger des Dankes, auf den sich alles Seiende im Grunde bezöge, fest; ob dieser nun Gott ist, ein namenloser Grund oder ein unpersönliches Absolutes, das sich dem Dank zu entziehen scheint, bleibt unbestimmt.577 575 Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, S. 190f Theunissen, Der Gang des Lebens und das Absolute, S. 354 577 „In einem damit ist aber auch einzusehen, daß aus einer Untersuchung über die vielgestaltige humane Wirklichkeit des Dankes heraus gar nicht ohne weiteres darüber entschieden werden kann, ob wir in unserem Lebensdank einem Absoluten zugewendet sind, das als gütiger Gott zu erfahren ist, oder ob es angemessen ist, unser Leben in einer Dankbarkeit zu vollenden, die nach keiner Adresse sucht oder suchen müßte, wenn sie sich nur recht verstünde.“, in: Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, S. 191. Der paradox anmutende Verzicht auf einen Adressaten des Dankes lässt andererseits vermuten, Henrich lege den Schwerpunkt auf das Geschehen des Dankes in die Gesinnung der Demut. 576 208 Eine Deutung im Sinne des Christentums liegt gewiss nahe, erlaubt dieses doch, den Grund des Ganzen in der personalen Begegnung (zu Christus) zu gewahren.578 In der Dankbarkeit tritt in ausgezeichneter Weise eine Anerkennung intersubjektiver Realität hervor, indem sie deren Grund zum Vorschein bringt und würdigt. So bekundet sich der Dank für das Leben, für das Getragensein im Seinsganzen kaum in sprachlichen Äußerungen (wenn man von Dichtung und religiöser Literatur absieht), sondern eher als Grundhaltung. Zugleich enthält er eine Aussage über die Wertschätzung des Lebens: im Dank zeigt sich die Annahme deines, meines, unseres gemeinsamen Daseins. Dass sich im Dank eine – wie immer geartete – religiöse Dimension eröffnet, ist dabei nur konsequent. Binswanger, zu dem abschließend zurückzukehren ist, sieht und respektiert die Dankbarkeit als eine ursprüngliche Weise religiöser Praxis, er selbst kann sich expressis verbis nicht zur – namentlich christlichen – Religion durchringen, obwohl er das Naheverhältnis zu ihr auch nicht verschweigt, sondern geradezu sucht: das liebende Miteinander nennt seinen Grund und Urheber nicht „[…] wie die Philosophen, das Absolute oder das Sein, sondern den Gott oder Dich Gott […], getragen von dem Wissen, daß wir den Grund unserer Begegnung nicht nur nicht selbst gelegt, ja auch nicht von uns selbst her ergriffen haben, sondern daß er uns ‚ergriffen’ hat.“579 578 Ein Beispiel sind die Selbstoffenbarungen Jesu in Wort und Werk in Joh 14, 6-7: „Jesus sagte zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich. Wenn ihr mich erkannt habt, werdet ihr auch meinen Vater erkennen. Schon jetzt kennt ihr ihn und habt ihn gesehen.“ 579 AW 2, 346f 209 9 Die Einzigartigkeit von Ich und Du im Namen 9.1 Zur Hinführung Im Dank weiß ich mich als von Anderen Beschenkter, Angenommener; als jemand, der ohne die Seinsgabe gar nicht für diese (und anderes) danken könnte. In der Geburt gelange ich selbst als dieses Kind von diesen bestimmten Eltern zur Welt. Nur in einem von Einzelfällen abstrahierenden Verständnis von Mensch und Natur wird konkret Hervorgebrachtes (eben dieses Neugeborene als Kind dieser Eltern) in seiner einmaligen Einzigkeit übergangen, es bleibt zählbarer Teil einer Gruppe von Gliedern. Es mag in den Natur-, auch noch in den Sozialwissenschaften angehen, Individuen in ihren Eigenarten und Wesenszügen festzuhalten, zu beschreiben, um sie dann ihren grundlegenden Mustern zuordnen zu können. Wissenschaften, die sich auf instrumentell Herstellbares und auf die Steuerung desselben verstehen, werden auf ein sich selbst gegebenes Dasein nicht stoßen. Die Divergenz lässt sich damit erklären, dass Naturwissenschaften – vor allem aber die Technik – mit Hergestelltem, Gemachtem zu tun haben – lateinisch factum. Sein als Gabe durch Natalität erfährt sich als Geschaffenes – ens creatum. Dasein als geschaffenes ist nicht „produziert“, ist kein Resultat eines Fertigungsverfahrens, sondern ihm ist sein je eigenes, einzigartiges Sein gegeben. Die Philosophie der Begegnung und des Dialogs bedenkt – oftmals unkritisch – die Grundbegriffe Wir, Ich, Du, der/die Andere, sie behandelt Personalpronomina als Substantiva. Wenn auch vom Anderen die Rede ist, so meint diese Rede zumeist nicht dich als konkrete geschichtlich-leibliche Person, die mein Gegenüber bildet; diesen vom Einzelnen abstrahierenden Grundzug dialogischen Denkens weitet Binswanger auf die Liebe selbst aus: Es gehört zum anthropologischen Wesen des liebenden Miteinanderseins, es ist einer seiner phänomenalen Wesenszüge, daß es sich als „die Liebe“ metaphysisch zu substanziieren neigt, welche Substanziierung ja schon in der grammatikalischen Substantivierung vorbereitet ist.580 Im Verlauf seiner Untersuchung rückt Binswanger immer weiter vom Du in dessen tatsächlich gegebener realer Gestalt ab, sodass das „Besondere an dir“, Eigenschaften und Eigenheiten, die deine Einzigartigkeit mit ausmachen, nicht berücksichtigt werden und daher ungewürdigt bleiben. Besonderes, Individuelles, über das nur du verfügst und niemand sonst, wird zu einem austauschbaren Teil degradiert. Das heißt, daß dem Besonderen, ja der Besonderheit als solcher, in der Liebe keine selbständige Bedeutung zukommt, weder im Sinne des gedachten Sonderinhalts (Besonderes im logischen Sinne), noch im Sinne des Einzelnen (Besonderes im 580 AW 2, 346 210 Seinssinne). Nur als „Teilinhalt“ einer wirhaften Totalität empfängt das Einzelne und Besondere hier Sinn und Bestand [...].581 Binswanger argumentiert mit klassischen Begriffen, die eine lange und nicht immer friktionsfreie Tradition haben – Ganzes-Teil, Allgemeines-Besonderes, Totalität- Individualität, konkretes Du-allgemeines Du. Diese Gegensatzpaare als kontradiktorische verstehen heißt aber, den phänomenalen Gehalt, um den es geht (Ich, Du, Wir), übersehen. Dem konkret-leiblichen Du liegt ein allgemeines Du als Denk- und Erkenntnismuster zugrunde – ich muss überhaupt schon anderes als anderes erkannt haben, um dich als jemand Anderer erkennen zu können. Nicht weniger sieht sich das einzelne Ich in einem idealen „Ich überhaupt“ „verkörpert“. Und das Besondere, das dem geliebten Menschen per Zufall anhaftet, muss keine unwesentliche, wechselnde Eigenschaft dieser Person sein.582 Ist es, im Rahmen einer Philosophie des Miteinanderseins zumal, nicht denkbar, dass gerade „Besonderheiten“, Wesenszüge, Charakterspuren – allesamt Akzidentia, die mithin auch nicht auftreten könnten – dich und mich derart prägen, dass wir ohne sie nicht so wären, aufträten und lebten, wie wir dies eben tun? Sind persönliche Eigenheiten nicht das, wodurch wir jeweils einzigartig und unvertauschbar sind, wenn sie auch nicht dem Wesen (ἡ ὐί) oder dem Zugrundeliegenden (ὸὑί) im Sinne der Metaphysik zuzurechnen sind? Freilich ist hier vor einer Begriffsverwirrung zu warnen, denn die eigentümliche Natur eines Menschen (sein „Wesen“), die die Grundzüge des Wollens, Handelns und Verhaltens bestimmt, ist wohl eher ein Studienobjekt der Psychologie denn der Metaphysik. Wofür sich Philosophie hingegen wohl interessieren darf, ist der unklare Status von allgemeinem und konkretem Ich bzw. Du. Binswanger wertet das Besondere zugunsten des Allgemeinen ab, mit welchem Grund? Ist denn in der Liebe nicht stets ein konkretes Du zugegen, oder, wie im zweiten Teil der Grundformen exponiert, rückt das einzelne Du – und damit ein einzigartiger, unverwechselbarer Mensch – in den Rang eines abstrakten Gegenübers? Und: ist ein Abstraktes, Generelles der Liebe fähig und bedürftig?583 Es scheint, dass sich liebendes Miteinander nur unter „transzendentalen Subjektivitäten“ ereignet, zumindest lässt Binswangers Ausführung daran denken: 581 AW 2, 459 Das an der Substanz – oder in diesem Kontext richtiger: am Dasein, am Ich und am Du – zufällig, also nicht notwendig Haftende bestimmt Aristoteles wie folgt: „Akzidens nennt man (1.) dasjenige, was sich zwar an etwas findet und mit Wahrheit von ihm ausgesagt werden kann, aber weder notwendig noch in den meisten Fällen sich findet [...].“, in: Aristoteles: Metaphysik : griechisch-deutsch ; Neubearbeitung der Übersetzung von Hermann Bonitz. – mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Horst Seidl. – 3., verbesserte Auflage. – Hamburg : Meiner, 1989, 1025 a14f 583 Hier ist wieder an das Zitat aus Hegels theologischen Jugendschriften zu erinnern: „Ein Gedachtes kann kein Geliebtes sein.“, in: Hegel: Werke I, S. 362 582 211 Wir haben von Anfang an betont, daß die Duhaftigkeit oder Duheit überhaupt im Sein der Liebe nicht möglich ist ohne Wirheit überhaupt, was immer auch heißt, ohne Ichheit überhaupt, ohne diejenige Ichheit also, welche „von Gnaden“ der Duheit ist. Nicht nur Du, auch ich wandle mich in der Liebe aus dem Seinsstand konkreter Singularität oder Individualität in den Seinsstand dualer Wirhaftigkeit. Wie Du nur geliebtes Du bist im Zusammenfallen Deiner als dieses konkreten Dus und Deiner als Wesen Du-überhaupt, bin Ich nur liebendes Ich im Zusammenfallen Meiner als dieses konkreten Ichs und Meiner als liebendes Ich-überhaupt.584 Theunissen konstatiert den „Rückfall in die Transzendentalphilosophie“585, in der das singulare Du mit dem „Wesen Du“ eins ist. Wer aber liebt ein Wesen, ein Allgemeines, in das sich ein konkretes Du verflüchtigt haben soll? In dieser Hinsicht kann Binswanger Einseitigkeit und Selbstwiderspruch nicht leugnen. Letztlich bleibt ungeklärt, warum Individuelles, damit schließlich auch das Einzigartige deines und meines personalen Seins zugunsten des Allgemeinen unterdrückt wird586; gerade deshalb lohnt es, zu sehen, ob diese Unterdrückung im Werk Binswangers konsequent durchgehalten wird. Die Kontroverse um das konkrete und das allgemeine Du und Ich sowie die Priorität des Wir bzw. des Generellen wird untergraben, sobald dein und mein Dasein als Gabe gefasst wird, die nur dir respektive mir zukommt – in der Liebe zu dir bin ich nicht auswechselbar, weil eben du jene Person bist, deren Sein ich in Liebe würdige und bewahre. Der geliebte Andere ist freilich kein „irgendjemand“, sondern vielmehr vertraut und intim. Er ist als solcher namhaft, hat also einen Namen, mit dem er gerufen wird. Der Name spiegelt Eigenart und Vielfalt der Person. Was den Personennamen zunächst von jeder Sachbezeichnung unterscheidet, ist der Charakter eines Rufnamens, der sich einzig darin bewährt, daß einer auf ihn hört und antwortet.587 9.2 Zur Philosophie des Namens 9.2.1 Das Konzept Binswangers: „Das Nehmen beim Namen. Die Historizität“ Was an einem Namen ist so bemerkens- und bedenkenswert, dass sich die Philosophie ihm zuwenden soll, schließlich werden wir alle bei unserem Namen genannt, antworten wir auf 584 AW 2, 587. Auf Seite 235 der Grundformen hingegen ist noch von einer „dialektischen Bewegung von konkret-singularem und konkret-allgemeinem Du“ die Rede. 585 Theunissen, Der Andere, S. 466-474 586 Damit steht Binswanger nicht alleine da, so hat bereits auch Buber Ebners Denken als „akosmisch“ und „ananthropisch“ charakterisiert, siehe dazu Casper, Das dialogische Denken, S. 237. Mit Blick auf Binswanger und Harry Stack Sullivan schreibt Roger Frie: „Somit meint Binswanger, daß im Unterschied zur Fülle der Erfahrung in der Ich-Du-Beziehung das individuelle Selbst eine defizitäre Seinsweise darstellen muß. Um die Beziehung zwischen Liebe und individueller Existenz darzustellen, zitiert er den jungen Hegel: „das Zürnen der Liebe gegen die Individualität“ [...]. Dieser Bezug auf Hegel ist typisch für bestimmte anti-individualistische Tendenzen in Binswangers Werk. [...] Ich glaube allerdings, daß sowohl Binswanger als auch Sullivan dazu neigen, die Bedeutung der individuellen Identität als zentralem Bestandteil unseres Selbstverständnisses zu vernachlässigen.“, in Frie, Roger: Binswanger, Sullivan und die interpersonelle Psychoanalyse, in: LuziferAmor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse 29 (2002), S. 105-122, hier S. 118f 587 B. Waldenfels, Das Zwischenreich des Dialogs, S. 284 212 die Frage nach unserer Identität, indem wir uns vorstellen – mit dem Namen eben. Ein Blick in die Grammatik gibt hier erste Sicherheit: Mit den Eigennamen werden Lebewesen, Dinge u.a. bezeichnet, die so, wie sie sind, nur einmal vorkommen, z.B. bestimmte Menschen, Länder, Städte, Straßen, Berge, Gebirge, Flüsse, Seen, Meere, [...] menschliche Einrichtungen und geistige Schöpfungen. Mit einem Eigennamen wird also etwas Bestimmtes, Einmaliges benannt; er ist in der Regel einzelnen Lebewesen oder Dingen zugeordnet und gestattet, diese zu identifizieren. Auch wenn viele Personen Peter, Müller, Schmidt oder mehrere Orte Neustadt heißen, wird mit dem Eigennamen etwas Einmaliges bezeichnet, denn jede Person und jeder Ort bleibt „Individuum“, d.h. ein bestimmtes unteilbares Einzelnes[.]588 Der Name gewährt Identität und Unverwechselbarkeit; wird der Name im Gruß genannt, so bedeutet das auch Erinnerung an den mit Namen Gegrüßten: der Gruß [...] ist dazu bestimmt, gegenwärtige Erfahrung mit erinnerter Vergangenheit zusammenzuschließen, den Gegrüßten mit demjenigen zu identifizieren, den der Grüßende aus anderen Situationen schon kennt und dem er möglicherweise in kommenden Situationen wiederzubegegnen hofft.589 Der Name ist sozusagen der Aufenthaltsort der Person, die diesen Namen trägt, der Gruß „[...] stiftet durch Identifikation des Gegrüßten Kontinuität einer Erfahrungsreihe [...].“590 Gewährt für Schaeffler der Eigenname die Identität des anderen, so dient er Binswanger dem „Haftbarmachen“, der „Greifbarkeit“ des anderen. Vermittels des Namens werde ich des anderen habhaft; der Name verbürgt zwar die Identität, er liefert sie damit allerdings auch meinem Zugriff aus. Das Namensverständnis Binswangers ist – das sollte nicht übersehen werden – an seine Auffassung des Personbegriffes gebunden. In merkwürdiger Abwendung von anderen Denkern der Begegnung eignet der Person zuvorderst nicht Einmaligkeit, individuelle Substanz, Durch-sich-sein oder In-Beziehung-sein (Relationalität), eher rückt Personalität in einen defizienten Seinsstand, wie Theunissen schreibt: Für ihn [Binswanger, Anm.] nämlich ist personales Sein Sozialität im Modus der Selbstentfremdung. Zwar teilt er mit Buber die Überzeugung, daß das Ich sein Selbst erst im „liebenden Miteinandersein“ gewinnt, doch ist dieses für ihn nicht das „personale Mitsein“, in welchem vielmehr der eine niemals das Selbst des anderen zu 588 Der Duden : in 12 Bänden; das Standardwerk zur deutschen Sprache. – Bd. 4 Duden, Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. – hrsg. vom Wissenschaftl. Rat der Dudenredaktion. – 6., neu bearbeitete Aufl. – Mannheim [u.a.] : Dudenverlag, 1998, S. 196 589 Schaeffler, Das Gebet und das Argument, S. 109 590 Schaeffler, Das Gebet und das Argument, S. 110. Schaeffler weist dem Namen demnach einen metaphysischen Rang zu: „Auch in dieser Sprachhandlung jedoch ist eine Aussage enthalten, die den Anspruch auf Wahrheit erhebt: die Aussage nämlich, eine identische Person oder Sache könne in wechselnden Situationen wiederbegegnen und dabei als die identische erkannt und angesprochen werden. Der Name benennt das Beharrende im Wandel, das Identische in der Differenz von Begegnungssituationen und setzt dadurch jene Differenz und jenen Zusammenhang, die in der späteren Sprache der Philosophie die Differenz und der Zusammenhang von Substanz und wechselnden Formen ihrer Erscheinung heißen wird.“, in: Schaeffler, Das Gebet und das Argument, S. 110 213 Gesicht bekommt, weil er ihn lediglich „bei etwas“ und „zu etwas“ nimmt, d.h. als partikuläres Mittel zu seinen Zwecken gebraucht.591 Den Terminus „Personalität“ reserviert Binswanger für das „Mitsein von Einem und einem (oder den) Anderen im Sinne des mitweltlichen Umgangs oder Verkehrs“592, wobei er diese Form des Mitseins (die Pluralität) mit Beispielen unterlegt, die nahezu das Gegenteil liebenden Miteinanderseins vorstellen. Die Grundstruktur des pluralen Modus bildet das „Nehmen-von-etwas (oder Jemanden)-bei-etwas-zu-etwas“.593 Ich nehme den anderen (oder irgendwen) bei etwas (bei einer Bestimmtheit, einem Charakterzug, bei einem Körperteil usw.) zu etwas, d.h. ich verfolge damit ein Ziel, das zu erreichen mir der andere dienlich ist. Binswanger spricht denn auch unumwunden von „Instrumentalisierung des ganzen Menschen“594 – der andere ist von Relevanz, insofern er zu etwas zu gebrauchen ist. Als jemand, der Zwecke erfüllt, verdient der andere Achtung und Anerkennung, allerdings bloß in dem Rahmen, in dem er seine Rolle erfüllt. Damit ist das verknappte Personverständnis Binswangers aufgedeckt; Person wird auf die Rolle reduziert, die sie in der sozialen Welt der vielen Subjekte annimmt. [...] Personen begegnen und umarmen sich nicht, blicken sich nicht ins Auge und grüßen sich nicht, sondern treffen sich an, zeigen mit dem Finger auf sich, erblicken und begrüßen sich; Personen sprechen auch hier nicht zueinander von- oder übereinander [...].595 Nun sind alle Personen Träger eines Eigennamens, der für Binswanger im Prinzip lediglich ein „Fremdname“ ist, weil ihn der Genannte von der Mitwelt erhalten hat, überdies ist er ein „sprachlicher Kunstgriff“596. Die einzige Funktion des Namens besteht in der Identifizierung seines Trägers, um ihn aus der Vielzahl der anderen herauszuheben und ihn so kenntlich, also aufrufbar zu machen. Die Auffassung des Namens als Kunstprodukt verweist auf eine Zivilisation bzw. Kultur, hier bezieht sich Binswanger ausdrücklich auf das Römische Recht und übernimmt auch dessen Verständnis von (Rechts)Person: Nimmt dieses, eine gesellschaftlich-staatliche Kultur voraussetzende Nehmen beim Namen den Menschen noch als Träger und Ausüber einer juristischen Funktion, einer gesellschaftlich oder staatlich festgelegten Rolle (persona), so nimmt es ihn mit zunehmender Zivilisation immer mehr auch als „bloßen Namensträger“. Der Name selbst wird dann bloßes (Schrift- oder Druck-)Zeichen innerhalb eines gesellschaftlichen Verweisungszusammenhangs, so der Name im Polizeiregister oder Telephonbuch, im Krankenhaus oder Gefängnis, um schließlich, wie im Hotel, durch eine „bloße Nummer“ ersetzt zu werden.597 591 Theunissen, Skeptische Betrachtungen über den anthropologischen Personbegriff, S. 469 So der Titel des zweiten Kapitels des ersten Teils der Grundformen, in welchem der Name thematisiert wird. 593 AW 2, 249 594 AW 2, 282 595 AW 2, 243 596 AW 2, 296 597 AW 2, 297 592 214 Der Name fungiert hier als arbiträr etabliertes Zeichen, so kam z.B. die Familie Binswanger überein, ihren Sohn Ludwig zu nennen und in Folge tat dies auch die Gesellschaft. Wiewohl durch Konvention entstanden, „haftet“ der Name an dem von ihm Benannten, sodass er gleichsam eine Biographie abgibt. Im Namen haben wir die innere und äußere Lebens-Geschichte eines Menschen, den Inbegriff dessen, was er erlitten, getan und geworden, mit anderen Worten was „man“ oder was „die Geschichte“ von ihm erzählt und was man sich auf Grund dieser Erzählung „von ihm denkt“, „vorstellt“ und „erwartet“. Der Name steht als Ruf, fama, in engster Beziehung zur Geschichtlichkeit, sein Verhältnis zum Namenträger ist in erster Linie ein historisches.598 Beim „Namen genommen zu werden“ meint zum einen den hoffentlich guten Ruf, den der Genannte genießt, zum anderen offenbart der Name die Seinsweise der mitweltlichen Zugänglichkeit und Zuhandenheit, die ihren Ort nicht im liebenden Miteinander haben: „Der Andere, das bist längst nicht mehr Du, das ist aber auch nicht mehr eine andere Existenz, sondern das ist Er, [...] der diesen bestimmten Namen trägt oder so „heißt“ [...].“599 Wenn selbst bereits mein Name meine Biographie widerspiegelt und damit einem Ruf anderer Antwort gibt, so ist es verwunderlich, dass ihm Binswanger so wenig Beachtung schenkt. Immerhin erwähnt er, dass Kleinkinder von sich selbst in der dritten Person sprechen, ebenso Infantile und gibt als Grund dafür an, diese könnten nicht mit sich selbst umgehen, hätten also noch kein Selbstverhältnis oder eben keines mehr. Zwar ist mir mein Name von anderen gegeben, doch bin ich es, auf den er getauft wurde und den ich fortan trage. Werde ich beim Namen – bei meinem Namen – gerufen, so bin ich gemeint und dann habe auch ich zu antworten. Das gilt nicht nur in meinem Mitsein als pluralem, sondern vielleicht allererst im liebenden Miteinandersein von mir und dir. Statt im Namen die Gabe des Eigenseins durch andere zu sehen, bescheidet sich Binswanger mit einem anonymen Ich und Du der Liebe: „Die ‚Eigennamen’ der Liebenden heißen Ich und Du, ihr Ruf und Ruhm ist das ‚Wunder’ ihrer Liebe.“600 Selbst in einem von der Gesellschaft abgedichteten Modus der Dualität ist die ausschließliche Nennung des Anderen als „Du“ kaum vorstellbar. Selbst die extreme Exklusivität, in der sich ein Robinson Crusoe findet, kennt Namen, wie aus dem Taufakt des Protagonisten hervorgeht: „[...] and first, I made him know his name should be Friday, which was the day I saved his life [...].“601 Im Hintergrund der Argumentation Binswangers steht 598 AW 2, 300 AW 2, 271 600 AW 2, 302 601 Defoe, Daniel: The life and adventures of Robinson Crusoe. – Edited with an introduction by Angus Ross. – Reprint. – Harmondsworth : Penguin Books, 1985. – (Penguin Classics), S. 209 599 215 Löwiths Auffassung, der Eigenname sei etwas bloß Äußerliches, Willkürliches, das nur der Nennung und Spezifizierung dient: Der sogenannte Eigenname ist [...] ein Fremdname, ein zunächst von anderen gegebener und für andere bestimmter Name. Der wahre Eigenname einer Person ist ausschließlich das persönliche Fürwort der ersten Person: „Ich“. [...] Der beste Beweis für die Uneigentlichkeit auch des Rufnamens für einen selbst ist die unwillkürliche Antwort mit „ich“ (bin da) auf die Frage eines andern, wer da sei.602 Hier sieht Löwith von der Intimität der Gesprächspartner ab; „Ich bin da“ zu sagen, anstelle den Namen zu nennen, ist der Vertrautheit zuzurechnen, in ihr ist die Erwähnung des Namens überflüssig, verrät doch bereits der Klang der Stimme ihren Sprecher. Einen weiteren Bezugspunkt für Binswanger bildet Ferdinand Ebner, der jedoch einen gänzlich anderen Zugang zum Problem des Namens hat. In einem Aufsatz im Brenner aus dem Jahr 1928, den Binswanger wahrscheinlich nicht gekannt hat, heißt es: In der Ichhaftigkeit schlechthin seiner Existenz ist der Mensch namenlos, weiß er nicht, wer er ist; seinen Namen – und sein Wissen um die Bestimmtheit seiner Existenz – hat er in der Duhaftigkeit seines Ichs. Daher gibt er von Rechts und Geistes wegen nicht sich selbst seinen Namen, sondern empfängt ihn, der dann für seine „Person“ steht, für den er mit seiner Person einzustehen hat, von den andern.603 Das Ich als solches, als transzendentales etwa, ist ohne Namen, weil es sich nicht zu einem Du verhält; ein empirisches, konkretes Ich hingegen ist primär ein passiv vom Du angesprochenes, von dem es seinen Namen und die „Bestimmtheit seiner Existenz“ erhält. Der so selbstverständliche Ausgang vom Ich bzw. cogito wird hier offensichtlich unterlaufen: zugunsten eines Du, welches mich bestimmt und mich mit (meinem) Namen ruft. Ein ähnlicher Gedanke findet sich bei B. Waldenfels, der von der Phänomenologie herkommt: Zu einer bestimmten, namhaften Person wird das Ur-Ich erst in der „Selbstdeklination“, in der Andere sich in mir konstituieren und ich mich selbst als einer unter ihnen. [...] Daß diese Namensverleihung ursprünglich nur auf Andere zurückgehen kann, weist hin auf das, was jeder in seinem Selbstsein Andern verdankt; daß die Namensgebung sich erst in der Namensübernahme vollendet, schließt jede einseitige Konstitution aus.604 Bei aller Verschiedenheit, die Ebner und Waldenfels trennt, sie kommen darin überein, dass 1) das Ich ursprünglich ein passiv Angesprochenes ist, welches 2) sein Selbstsein im Namen Anderen schuldet (oder besser: verdankt). Darauf zielen allerdings auch die Bemühungen Binswangers; lediglich in der Diskussion um den Namen bleibt er einseitig bei Löwiths Auffassung. Er sieht im Namen nicht die Gabe des Eigenseins, sondern der Name ist ihm ein Zeichen der Fremdbestimmung und nicht das Nennen der geliebten Person in deren 602 Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 20 Ebner, Schriften I. – Herausgegeben von Franz Seyr. – München : Kösel, 1963, S. 693 604 B. Waldenfels, Das Zwischenreich des Dialogs, S. 282-284 603 216 Eigenstem. Doch wandelt sich die Passivität der Namengebung in ein Tun, wie Casper mit Blick auf Rosenzweig festhält: Ich fange deshalb selbst an zu sprechen, weil ich mich als Angerufenen finde. Ich fange deshalb an zu sprechen, weil ich den Anruf erfahre. Sei! Dieser Anruf meint: Sei als du selbst, der du dich als dich äußerndes In-der-Welt-sein und angesichts des Todes in die Zukunft hinein entwirfst. [...] Ich fange wie von selbst an, In-der-Weltsein vorzubringen. Ich selbst spreche.605 Beim Namen genannt zu werden lässt mich in gewisser Weise erst sein, indem ich dem Anderen Antwort gebe. Im Namen ist die Person selbst in ihrer Einzigkeit gegenwärtig. Binswanger kann dies nur deshalb übersehen, weil er die Namhaftigkeit der Person im pluralen Modus bzw. im mitweltlichen Umgang ansiedelt. Im Folgenden wird deshalb der Versuch unternommen, Bedeutung und Tragweite des Namens näher zu erschließen. 9.2.2 Sprachphilosophische Überlegungen zum Namen und zum Nennen im Anschluss an Wucherer-Huldenfeld Ist von Namen die Rede, so unterscheidet die Grammatik, wie schon erwähnt, Gattungsname (nomen appellativum, etwa „der Tisch“) und Eigenname (nomen proprium), der auf ein Einzelwesen zielt, das wohl an der Gattung teilhat, aber darüber hinaus noch „mehr“ oder „anders“ ist. „Mit Eigennamen ist nicht notwendig eine solche Bedeutung verbunden, die etwas besagt, was auch von anderen, vergleichbaren Wesen, ausgesagt werden kann.“606 Damit unterscheidet sich der Eigenname zusätzlich vom Funktionsnamen, der übrigens nur von jemandem getragen werden kann, der auf einen Eigennamen hört. Überdies tragen selbst Tiere und Pflanzen Namen, ohne jedoch jemals bei ihrem Namen gerufen werden zu können. Dieser Umstand verdankt sich der botanischen Taxonomie Carl von Linnés, die später um eine zoologische Nomenklatur erweitert wurde, Namen im hier angestrebten Verständnis sind diese allerdings nicht.607 Wohl können aber Eigennamen und Gattungsbezeichnungen ineinander übergehen, so wird aus ὁ έ(Fels, Stein) der Apostel Petrus und daraufhin der männliche Vorname Peter. Standes- oder Berufsbezeichnungen werden gerne als Familiennamen herangezogen 605 Casper, Das Dialogische Denken, S. 126f Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung zu einer Theologie des Namens Gottes, in: ders., Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein : Ausgewählte philosophische Studien II, S. 159-217, hier S. 162 607 Einen Vorläufer der gesamten wissenschaftlichen Nomenklatur stellt der Neuplatoniker Porphyrios dar, der in seiner ἰή(Einführung in die Aristotelische Logik) eine Anleitung zur Kategorienschrift gibt. In ihr werden fünf Allgemeinbegriffe verhandelt: Gattung (genus), Art (species), Unterschied (differentia), charakteristisches Merkmal (proprium), zufälliges Merkmal (accidens). Zum Schluss tritt abrundend noch das Individuum hinzu, das die Allgemeinbegriffe in sich konkretisiert. Siehe dazu: Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie. – Die Philosophie des Altertums. – Herausgegeben von Karl Praechter. – 14. Auflage. – Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1957, S. 610 606 217 (Graf, König, Bauer, Jäger). Eine diesbezügliche Ungenauigkeit zwischen Eigen- und Gattungsnamen hebt noch nicht das Spezifikum des Namens auf: „Als das unbestreitbar Besondere der Eigennamen gegenüber den Appellativen, den Begriffswörtern, bleibt das erste Nennen.“608 Aus einigen Begriffsnamen werden zwar Eigennamen (so wird aus ὁ ἀή, der Mann, der Vorname Andreas), das Nennen bleibt dennoch das Ursprüngliche. Wucherer ortet in der Sprache eine Tendenz zu sauberer Begrifflichkeit, in der das Allgemeine gleichsam an der Spitze steht, woraus sich hernach Konkretionen herausdifferenzieren. Das führt folglich zu einer Geringschätzung des Namens – oder dessen, der mit diesem Namen genannt wird: das Individuum ist ein Einzelfall des Allgemeinen. Aufgabe und Funktion des Namens bestünden dann lediglich darin, den Einzelnen (Namensträger) vor Verwechslungen zu schützen, er ist ein bloßes Erkennungsmal. Dabei ist zu beachten, dass Sprache als verschriftlichte und in eine Grammatik gefasste ein hierarchisches Regelwerk darstellt, die die gesprochene Sprache mit ihrem Umfang und in ihrer Lebendigkeit nie zur Gänze einholen kann. Grammatik wie Schrift hinken sozusagen stets hinterher, sie zeichnen nur auf bzw. analysieren, was zuvor längst schon stattgefunden hat und mit jedem Wort neu anhebt: das Gespräch, in dem wir – du und ich – stehen, das wir, nach Hölderlin, sind. Angemahnt wird daher eine Besinnung auf das tatsächliche Gespräch. „Das möglicherweise in der grammatischen Sprachbetrachtung verschüttete Phänomen des Gesprächs ist vorsichtig wahrzunehmen, weil nur dieses uns den Zugang zur Ursprünglichkeit des Phänomens ‚Namen’ verspricht.“609 Die Bedeutsamkeit des Namens tritt erst im Sagen, Sprechen, im Nennen hervor und nur im Gespräch erhält der Name seinen Rufcharakter. Gemeinhin versteht man unter Gespräch eine kommunikative Situation, in der sich mindestens zwei Sprecher befinden, von denen einer jedoch zunächst schweigend zuhört. Damit wird dem Hören eine konstitutive Rolle im Gespräch zugewiesen. „[...] gesprochen wird normalerweise nur, weil gehört wird [...]. Das, worumwillen einer spricht, ist, daß er gehört wird.“610 Hören ist in diesem Sinn die Voraussetzung für das Sprechen, wenn dieses nicht ziellos in die Irre gehen soll. Die Rede hebt erst dann an, sobald jemand gegenwärtig und (mit Namen) ansprechbar ist. Vorrangig ist dann auch nicht, dass über dieses und jenes geredet wird, sondern dass zwei einander etwas zu sagen haben. Diese Gesprächspartner werden sicher auch über etwas zu berichten wissen, das ihnen genauso gut 608 Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 164. Im Nennen liegt schon ein erster Hinweis auf das dialogische Ins-Dasein-rufen der Gabe. 609 Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 169 610 Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 169 218 ein unbeteiligter Dritter mitteilen kann (Informationen, Nachrichten oder ähnliches). Dass aber sie miteinander sprechen und einander zuhören – dazu bedarf es keines Dritten, weder in Gestalt eines Moderators noch eines beide verbindenden Themas. Sprache ist in erster Linie weniger ein „Reden über ...“, eher ist sie ein „Reden zu ...“, ein „Reden miteinander“. Die Namen unserer Sprache sind in der Sprache, in der wir sprechen, und noch ursprünglicher gesehen, im Gespräch zuhause. Sprache hat da gegenüber allen nachträglichen Abstraktionen, Verwendungen und Aufbewahrungsweisen die Möglichkeit zur Leibhaftigkeit, zum Vollwort, zu vollem Ernst und unverbrüchlicher Verbindlichkeit. Lassen wir uns vom methodischen Axiom leiten, wonach eine Sprache ursprünglich nur dann und dort verstanden werden kann, wann und wo sie sich in ihrer weitesten und tiefsten Möglichkeit zu zeigen und mitzuteilen vermag, dann hat Sprache ihre ursprüngliche phänomenale Zugänglichkeit in der Gesprächssituation, im Dialog. [...] Im Geschehen des Gesprächs, wann und wo Menschen leibhaftig füreinander da und einander gegenwärtig sind, einander anblicken, in der gegenseitigen Verbindung von Hörer und Sprecher nicht nur über Gehörtes und Gesprochenes zur vollen Übereinstimmung kommen, sondern selbst, persönlich, in der weltoffenen Weite ihres Selbst-seins übereinstimmen, da ist für ein ursprüngliches Sprachverständnis der Erstzugang.611 In der für jedes echte Gespräch wesentlichen Selbstmitteilung geschieht so etwas wie Selbstwerdung – vorausgesetzt, der Dialog ist authentisch und die Gesprächspartner üben kein Rollenspiel. Das Gespräch ist daher auch identitätsstiftend, vor dem Wort des Anderen, das an mich ergeht, kann ich mich nicht vertreten lassen; ich bin es, der es vernimmt und meine Antwort ist gefragt. Aufrichtigkeit im Dialog war nie und ist keine Selbstverständlichkeit, allzu groß ist die Angst, sich in der Rede zu blamieren, etwas schon Gesagtes zu wiederholen oder für sich und die eigene Sicht der Dinge einzustehen. Und doch ist die Öffnung im Gespräch, selbst mit dem Risiko des Missverständnisses, die einzige Weise, aus diesem Gespräch bereichert hervorzugehen, sich selbst wie den Anderen ein Stück weit „erkannt“ zu haben. Gewissermaßen kommen wir erst im Dialog zur Welt: Indem sie [die Gesprächsteilnehmer, Anm.] selbst zueinander sprechen dürfen und selbst gehört werden – und nicht nur etwas gehört wird –, werden sie sich selbst wiedergegeben, empfangen sie erst ein menschenwürdiges Dasein. Niemand kann ja auf Dauer unangeredet und unbenannt sein. [...] Geschieht namentlicher Anruf, dann heißt dies soviel, wie zum Sein (Da-sein in der Offenheit der Welt des Miteinanderseins) gerufen werden.612 Ein Gespräch, ein vertrautes, intimes zumal, wird mit dem Nennen des Namens eröffnet; dabei braucht nicht ständig der Name wiederholt zu werden, denn Name meint im weiteren Sinn schon die Anwesenheit seines Trägers, des Benannten. Biographisch bzw. psychologisch sind wir wohl in erster Linie passiv Angesprochene, die Sprache geht nicht von mir aus (Ich als grammatikalisch erste Person), sondern vom Anderen (das Du als zweite 611 612 Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 171 Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 172 219 Person ist also die ansprechende, eigentlich erste Person). Das gilt bestimmt für die Welt des Kindes, das in seiner Entwicklung auf andere bezogen und von ihnen abhängig ist. Dieser Bezug zu Mitmenschen – vorausgesetzt, er ist von Zuspruch und Vertrauen getragen – hält sich über das gesamte Leben hin durch, sodass der Erwachsene, die reife Person nun ihrerseits die Initiative ergreift und andere auf deren Sein hin namentlich anzusprechen vermag, d.h. sich ihnen mitteilend öffnet. Mit Namen werden stets nur Personen genannt, jedes Individuum trägt seinen Eigennamen, der nicht mit dem Begriff zu verwechseln ist. Begriffe sagen allgemeine Merkmale einzelner Gegenstände aus; der Begriff ist „[...] eine allgemeine Vorstellung oder eine Vorstellung dessen, was mehreren Objekten gemein ist, also eine Vorstellung, so fern sie in verschiedenen enthalten sein kann.“613 Beim Begriff unterscheidet man den Inhalt (Gesamtheit der Begriffsmerkmale) vom Umfang (die Gegenstände, von denen der Begriff ausgesagt werden kann). Gemeinhin nimmt bei steigender Inhaltsfülle der Umfang ab.614 Während ein Begriff meistens mehrere Gegenstände unter sich versammelt, bezieht sich der Name auf ein „Objekt“, und zwar qualitativ und nicht numerisch, weswegen auch mehrere Menschen den selben Namen tragen können. Der Eigenname ist ein Begriff von höchstem Inhalt (Intension), der sich in seinem Umfang (Extension) auf ein Exemplar beschränkt – der Namensträger. Der Stellenwert des Namens ist in der Logik, aber auch in der Sprachwissenschaft nicht eindeutig und unumstritten. Zuweilen wird der Name dem Begriff zugeschlagen, manchmal fungiert er als äußerlich angebrachtes Identifikationszeichen eines Dinges – beide Auffassungen sind nicht gänzlich falsch, doch gehen sie am Wesentlichen vorbei. Erkundige ich mich nach dem Namen, so suche ich eigentlich keine Auskunft über etwas und von etwas zu erlangen, es wird kein Sachverhalt enthüllt, sondern es will möglich gemacht werden, daß jemand (oder etwas) überhaupt erst zu Wort kommen soll. Die Anrede ist keine Aussage, in der über einen Anderen etwas gesagt wird, sondern sie pro-voziert seine Um- und Zuwendung. Spreche ich jemanden an, so rufe ich ihn in meine (unsere) Gegenwart.615 Namentliche Nennung meint also die reale Gegenwart des Anderen, nicht bloß dessen Vorstellung oder gar Einbildung. Der Name bildet den Raum der Anwesenheit des Gerufenen, in dem dieser zur eigenständigen Antwort gerufen (pro-vocare) ist. Relevant ist ein Name dann, wenn sich der Genannte gerufen weiß – wenn er seinen Namen hörend 613 Kant, Immanuel: Logik, in: ders.: Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. – Bd. 3. – Schriften zur Metaphysik und Logik. – 5., erneut überprüfter reprograf. Nachdr. der Ausg. Darmstadt 1958, Sonderausg. – Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998, A 139f 614 Ausführliches dazu bei Menne, Albert: Einführung in die Logik. – 5., unveränderte Aufl. – Tübingen ; Basel : Francke, 1993. – (UTB für Wissenschaft ; 34), S. 26f 615 Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 180 220 vernimmt und übernimmt616 – und nicht nur verbal, sondern mit seinem Dasein als Miteinandersein antwortet: Im Gespräch, in dem wir einander verstehen lernen und nahekommen, hat das Miteinanderreden seine größte Dichte und Tiefe: Sprechen wir zueinander, so sprechen wir einander an, finden wir einander „ansprechend“ vor. Wir stehen einander gegenüber und zueinander im Verhältnis von „Du“ und „Du“. Dieses Weltverhalten in persönlicher Zuwendung, Aug in Aug, für-einander aufgeschlossen und da, ist als ursprünglichstes „dialogisches“ Weltverhalten auch der ursprüngliche Zugang zur Erfahrung der Sprache und damit des Namens.617 Was im ursprünglichen Weltverhalten, das einen Zugang zum Namen bahnt, wie selbstverständlich scheint, stellt sich im näheren Blick nicht so klar und deutlich dar – ist der namentlich genannte Andere ein Einzelfall eines Allgemeinen, ist er die Verkörperung einer Idee, die „Mensch“ genannt wird? Wie steht es dann um die Entwicklung der Fähigkeiten, die in diesem Einzelfall angelegt sind, trennen diese ihn von der Gattung? Was ist am Einzelnen, in diesem Fall Du und Ich, so einzigartig, dass es sich gegen die Subsumierung unter das Allgemeine sträubt? Im konkreten Menschen trifft viel in diskreter Weise aufeinander: er vertritt die species homo sapiens sapiens, er bewohnt und teilt mit anderen einen Erdteil, logisch weiß er sich als Einzelfall eines Allgemeinen oder er schätzt sich glaubend als Abbild Gottes. All diese vorläufigen Bestimmungen dringen nicht zu dem vor, das erst im Ruf des Namens gegenwärtig wird. Ein Einzelwesen, das zwar ein Exemplar seiner Gattung darstellt, diese aber doch individuell übersteigt, ist begrifflich nicht einholbar ohne von seiner Einzigkeit abzusehen. Für die Kontroverse Name-Begriff ergibt sich daher folgendes: Erblickt man im Namen einen Einzelbegriff, dann entsteht die ausweglose Problematik, wie der Begriff für das gebildet werden kann, was nicht Exemplar einer Gattung ist, ein nicht-identisch und nicht austauschbar Bestimmtes, eine vom Allgemeinbegriff her gesehen niemals bestimmte und bestimmbare Negation.618 616 B. Waldenfels macht darauf aufmerksam, dass der Eigenname im Zeichen der „Ansprache“ steht und im Gespräch verortet ist: „Der Rufname gehört in die Dimension der Anrede, die Benennung in die des Beredens. Seiner Herkunft nach ist der Rufname ein Name, den der Antwortende empfängt, auf den er hört und antwortet und mit dem er sich antwortend zur Stelle meldet [...], während die bloße Benennung dem Namensträger anhängt wie ein Erkennungszeichen oder ein Etikett, das angibt, wer oder was jemand oder etwas ist. Es gibt also eine Namensgebung, die einen Namensempfänger hat, dem der Name verliehen wird, und eine Namensgebung, die keinen Empfänger hat und im strengen Sinne auch ohne den Gebefall des Dativs auskommt.“, in: Waldenfels, Bernhard: Antwortregister. – Frankfurt/Main : Suhrkamp 1994, S. 259f. Während also der Rufname einer ansprechbaren und antwortfähigen Person gebührt, ist die Benennung die Identifizierung eines Objektes durch einen Außenstehenden, der mit dem Benannten weiter gar nicht in Beziehung treten muss. Folgerichtig führt Waldenfels aus, dass das Benennen einem Funktionalisieren oder „In-Betrieb-nehmen“ des Benannten gleicht. Auf S. 260 heißt es: „Mit der Funktionalisierung des Namens schwindet die Möglichkeit, daß der Benannte durch die, sei es erotische, polemische oder religiöse Namensgebung gewissermaßen ins Dasein gerufen wird als Geliebter, Befeindeter oder Auserwählter.“ 617 Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 181 618 Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 183 221 Setzt man den Namen nicht mit dem Begriff gleich, so offenbart sich die „[...] den Namen eigene Bedeutungslosigkeit; außer daß sie jeweils Einzelne(s) aus dem Bereich nennen, lassen sie sich nicht verstehen.“619 Der Name bewahrt damit das Eigentliche der Person, das ansonsten „unsagbar“ bliebe. Dennoch ist eine klare Grenze zwischen Kennzeichnung und Name nicht zu sehen. Eine Präzision ist hier jedoch anzubringen: statt „Kenntlichmachung“ bzw. Identifikation kann angemessener von ontologischer Selbigkeit des zu Nennenden gesprochen werden: „Soll etwas benannt [...] werden, so setzt dies voraus, daß der, die oder das sich situativ Zeigende in seiner ontologischen Selbigkeit vorverstanden sein muß.“620 So erfasst der Name das Unerschöpfliche der Person, „außerhalb“ des Genannten ist der Name daher auch ohne Bedeutung. Ein Problem scheint allerdings die unklare Trennung von Name und Kennzeichnung doch darzustellen, denn der Name wird ja einem Täufling etwa nicht einfach „umgehängt“, der Eigenname ist kein Namenschild wie es z.B. ein Volksschulkind trägt, d.h. der Name ist kein Gegenstand, der nachträglich mit einem anderen Gegenstand verbunden wird. Gesucht wird also der Zugang zum Phänomen des Namens oder Heißens. Offenkundig besitzt das Gerufen-werden Priorität vor der Benennung von Dingen und Menschen im Sinne der Regulierbarkeit und Kontrolle über sie, die Beziehung geht der Objektivierung voran. „Der Name, den jemand hat, gehört ihm aber nicht wie sein Eigentum, denn er hört auf ihn, er wird durch ihn zur Verantwortung gerufen, worin sein Leben sich als ‚verliehen’, als Gabe erweist.“621 Heidegger verdeutlicht, was es mit dem Heißen auf sich hat, indem er das Wort philologisch und philosophisch analysiert: „Heißen“ bedeutet kurz gesagt: ‚befehlen’, vorausgesetzt, daß wir auch dieses Wort in seinem angestammten Sagen hören. Denn ‚befehlen’ meint im Grunde nicht: kommandieren und verordnen, sondern: anbefehlen, anvertrauen, einer Geborgenheit anheimgeben, bergen. Heißen ist das anbefehlende Anrufen, das verweisende Gelangenlassen. Verheißung besagt: einen Zuruf zusprechen, so zwar, daß das hier Gesprochene ein Zugesagtes, ein Versprochenes ist. Heißen meint: zurufend in ein Ankommen und Anwesen gelangen lassen; zusprechend daraufhin ansprechen.622 Anders als ein anherrschendes Befehlen bedeutet das Heißen ein Zulassen (und Gutheißen) des Seienden in dessen Anwesen. Das im Heißen genannte andere Seiende ist zugleich „geborgen“, es steht in Obhut – was nicht mit Bevormundung zu verwechseln ist, die den 619 Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 188 Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 190 621 Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 194. In diese Richtung weist auch B. Waldenfels: „Jemand, der einen Namen empfängt, hat ihn nicht zu eigen, er wird ihm zugeeignet, indem er zur Antwort aufgerufen wird.“, in: Waldenfels, Antwortregister, S. 261 622 Heidegger, Was heißt Denken?, zitiert nach Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 194 620 222 Anderen weder nennt noch ihn zu Wort kommen lässt. Unter Obhut lässt sich vielmehr das Seinlassen des namentlich Genannten verstehen, der als jener hervortreten soll, der er – als von anderen Gerufener – ist. „Liebende und verständnisvolle Anrede spricht den Angeredeten auf sein Sein hin an: ermutigt, erweckt, heißt ihn zu sein, weil sie ihn zur Gehörsamkeit und zum Gehorsam gegenüber seinem ureigensten Sein ruft.“623 Ein Name ist also keine willkürliche Kennzeichnung eines Seienden, das eben auch da bzw. vorhanden ist, sondern meint das „ureigenste Sein“ des Anderen. Im Heißen, Nennen und Rufen gelangt der Andere in seine Anwesenheit und im Nennen des Namens wird so auch die Gabe des Daseins (i.e. der Namensträger) offenbar. Im Vortrag Die Sprache schließt Heidegger dies weiter auf: Das Nennen verteilt nicht Titel, verwendet nicht Wörter, sondern ruft ins Wort. Das Nennen ruft. Das Rufen bringt sein Gerufenes näher. Gleichwohl schafft dies Näherbringen das Gerufene nicht herbei, um es im nächsten Bezirk des Anwesenden abzusetzen und darin unterzubringen. Der Ruf ruft zwar her. So bringt er das Anwesen des vordem Ungerufenen in eine Nähe.624 Erst im Ruf ist die genannte Person tatsächlich da, während Namenlose (Anonyme) keine eigene Geschichte ausbilden können.625 Freilich dient der Name auch der identifizierenden Bezeichnung von Einzelwesen – man denke an die Nomenklatur in der Biologie –, primär jedoch ist er die Gegenwart des Gerufenen. Gegenüber einer Sprachlogik, die den höchsten Sinn und Zweck der Sprache im Begriff, im Erfassen und Identifizieren von Seienden erblickt (instrumentalisierende Sprachauffassung) wird die Verwurzelung der Sprache in der Lebenswelt der Sprechenden (und Hörenden) geltend gemacht, ohne jedoch den Wert dieser Sprachlogik schmälern zu wollen: Echtes Begreifen, Urteilen und auch das argumentierende Aufweisen des Grundes ist immer, wenn auch nicht ausdrücklich, ein Nennen, und zwar nicht nur, weil es als Sprechen etwas ins Wort ruft, sondern vielmehr deswegen, weil es mit dem Einmaligen und Einzigartigen zu tun hat, das nur ins Wort kommt, wenn es mit Namen gerufen wird.626 Dementsprechend ist der Begriff, der von Einzelwesen allgemein Geltendes zur Aussage bringt, etwas innerhalb der Sprache nachträglich, also sekundär Auftretendes. Im Vordergrund steht die Gegebenheit bzw. Konkretion des faktisch Begegnenden – dieses verlangt Aufmerksamkeit und Würdigung, nachträglich erst ist es als Exemplar eines Allgemeinen interpretierbar, das in seinem Erscheinen an die Welt gebunden bleibt. Das 623 Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 196 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, S. 21 625 Davon ist das Pseudonym zu unterscheiden, unter dem manche gezwungen sind zu leben, weil sie sonst politisch verfolgt oder aber von der Justiz belangt würden. Das berühmteste Pseudonym im Interesse des Eigenschutzes ist wohl der „Keiner“, „Niemand“ (ὖ), als der sich Odysseus bei dem Kyklop Polyphem vorstellt. 626 Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 201 624 223 Nennen, mit ihm das Rufen des Namens (in die Anwesenheit oder Gegebenheit des Daseins) erfolgt je in einer bestimmten Situation, die ihren eigenen Ort zu einer gewissen Zeit „hat“. Wucherer-Huldenfeld nennt es das Verdienst B. Waldenfels’, diesen Zusammenhang herausgestellt zu haben: Aber selbst die Wörter, die aus dem Ganzen allgemeine Wesensarten und Eigenschaften herausgreifen, die sich im Einzelding beliebig konkretisieren, bewahren sich etwas vom Eigennamen, der das Konkrete selbst meint und nicht etwas an ihm. Denn das Wort weist ja von sich aus zurück auf eine bestimmte, eigentümliche oder typische Situation, in der es erstmals etwas bedeutete. Was aber auf diese Weise anfänglich zu Wort kam und als solches auftrat, war noch ein einzigartiges Ereignis, war noch kein exemplarischer Fall. Weil im Wort, konkret in den Worten, diese Anfänge aufbewahrt sind, steckt in ihm mehr als ein allgemeiner Sinn, bezeichnet es nicht bloß ein Allgemeines, sondern benennt auch ein Einmaliges.627 In weiterer Folge hebt Waldenfels denn auch die Einzigartigkeit des Du (oder: deine Einzigartigkeit) hervor, ohne das Allgemeine des je Anderen abzuwerten; dabei wahrt er die Differenz von „Du“ und „Du schlechthin“. Das in der Beziehung, im Gespräch, in der Liebe begegnende Du ist „[...] jeweils mein wirkliches Du, nicht der Fall einer allgemeinen Wesensmöglichkeit, sondern die Wirklichkeit, die künftige Möglichkeiten eröffnet, vergangene aufbewahrt [...].“628 Auch er kennt eine „Kontinuität der Erfahrungsreihe“, wie sie von Schaeffler später so genannt wurde. Diese Kontinuität lässt sich – um Kontinuität sein und bleiben zu können – nur am einmaligen Du konstatieren, wiewohl selbst dieses einzigartige Du noch abstrahierbare Merkmale der Persönlichkeit trägt und Grundweisen des Daseins mit sämtlichen anderen Menschen teilt. Die Fragesituation, ob das Allgemeine vor dem Einzelnen Priorität besitze oder ob nicht doch im Singularen das Generelle erkannt werde, entsteht nämlich nur dann, „[...] wenn man über dem allgemeinen Schema die lebendige Beziehung vergißt, der es entnommen ist [...].“629 Der „lebendigen Beziehung“ dient das Allgemeine als Hintergrund, sie ist insofern auch ein Exemplum dessen, vor allem auch deshalb, weil im begegnenden Du die gemeinsame Welt – nun neu und mit anderen Augen gesehen – erscheint.630 Was sich im Generellen, ja sogar im Unscheinbaren durchhält, ist das Selbstsein des Anderen. 627 B. Waldenfels, Das Zwischenreich des Dialogs, S. 287 B. Waldenfels, Das Zwischenreich des Dialogs, S. 291 629 B. Waldenfels, Das Zwischenreich des Dialogs, S. 293 630 Die Kontroverse um den Vorrang des Allgemeinen oder des Einzelnen ist auch durch die Faktizität der Begegnung bedingt: ich begegne dir und nicht etwa einem Generellen, und zwar so, wie du eben bist. Ich stehe damit also mit dir in einer Beziehung – und nicht mit irgendeinem anderen. Diese Situation wird zudem noch durch die Zeit und den Raum konkretisiert, in dem ich dich antreffe. So erst wird die Begegnung zu einer lebensgeschichtlich womöglich bedeutsamen. „Wie diese unsere Welt nicht bevorzugt ist auf Grund einer besonderen Qualität, etwa als die beste aller Welten, sondern einzig deswegen, weil sie unsere wirkliche Welt ist, so beruht auch die Ausschließlichkeit der Ich-Du-Beziehung, die einseitige Bevorzugung dieses Du nicht auf einem qualitativen Vorzug, sondern zuvörderst auf der Jeweiligkeit seiner aktuellen und sich in gemeinsamen 628 224 Versteht sich der Mensch, oder verstehen Du und Ich einander als solche, die in ihr Eigensein freigegeben und bei ihrem Namen gerufen werden, so sind sie „[...] in horchendvernehmender Offenständigkeit in die Rufbarkeit von allem eingelassen.“631 Der Ruf allerdings erreicht nur die, die ihn anzunehmen bereit sind, also jene, die hören. Das äußerst vielschichtige und komplexe Phänomen des Hörens ist Gegenstand zahlreicher interdisziplinärer Untersuchungen632, darum hier nur einige Notizen, die die Bedeutung des Hörens für das Begegnungsdenken aufzeigen mögen. Die philosophische Tradition hat das Hören (als einen der fünf Sinne wie als Phänomen) allzu lange nicht recht beachtet; es wurde lediglich als Komplementärphänomen des Sprechens gehandelt, als rezeptiv-passive Reaktion auf ein Angegangen- bzw. Angesprochenwerden. Der Fokus auf Sprechakte blendet die Antworten aus, obwohl Sprechakte erst dann sinnvoll gelingen, nachdem sie ein Hörer entsprechend aufgenommen hat. Während der Akt des Sehens Ursprünglichkeit, Authentizität, mithin eben Echtheit beanspruchen darf, wird das lediglich Gehörte gerne auf die Qualität eines übelwollenden Gerüchts herabgestuft. Das Hören repräsentiert damit eine abkünftige Weise der Wahrnehmung, das Gesehene erst wird mit voller Geltung für wahr befunden. Doch selbst das Sehen bedarf zuweilen der Unterstützung durch Zuhilfenahme eines weiteren Sinnes, etwa des Greifens und Tastens, der die Gültigkeit der Evidenz bestätigen soll.633 Ist einmal dem Gesichtssinn der Vorrang eingeräumt, so werden die anderen Sinne in ihrer Bedeutung und Verlässlichkeit herabgestuft. Wer in diesem Zusammenhang die Eigenständigkeit des Hörens betont, gerät selbst leicht in den Verdacht der „Hörigkeit“, die das authentische Verstehen Meinungen anderer unterordnet.634 Das Seh- und das Hörfeld jedoch sind, aufgrund der Verschiedenheit der Sinne, nie deckungsgleich: ein Gesehenes ist als solches Lebensverhältnissen habitualisierenden Gegenwart. Jede Qualifizierung wäre ein Vergleichen und würde das unvergleichbare Selbstsein des Andern aus dem Auge verlieren. Dieses Du ist im Augenblick der Zuwendung das Du. Der Auftritt des Du ist im strengen Sinn grundlos, weil unvermittelt, grundlos wie das Sein der Welt, Gegenstand des Staunens, nicht der Erklärung.“, in: Waldenfels, Das Zwischenreich des Dialogs, S. 294 631 Wucherer-Huldenfeld, Sprachphilosophische Hinführung, S. 200 632 Aus der zahlreichen Literatur sei nur erwähnt: Espinet, David: Phänomenologie des Hörens : Eine Untersuchung im Ausgang von Martin Heidegger. – Tübingen : Mohr Siebeck, 2009; ebenfalls phänomenologisch orientiert: Pöltner, Was heißt hören? Theologisch Relevantes bringt Raymund Schwager zur Diskussion: Hörer des Wortes : Eine empirische Anthropologie für die Theologie? (Karl Rahner – Alfred Tomatis – René Girard), in: Zeitschrift für Katholische Theologie 114 (1992), S. 1-23. Anthropologisch Fundamentales bei Tomatis, Der Klang des Lebens. Vorgeburtliche Kommunikation – Die Anfänge der seelischen Entwicklung. 633 Eine Illustration dafür gibt der Ungläubige Thomas, der sieht und dennoch nicht glaubt, der also dem Wahrgenommenen – dem Auferstandenen – überhaupt nicht recht zu entsprechen vermag. 634 Dazu B. Waldenfels, Antwortregister, S. 247: „Verwandt hiermit ist die Opposition gegen ein Hören, das die Eigenheit des Verstehens fremden Meinungen opfert und in eine Abhängigkeit hineingerät, die sich in einer Haltung des Gehorsams oder gar der Hörigkeit auswirkt. ‚Fides ex auditu’ ist so gesehen eine Formel, die eine Fremdbestimmung zum Ausdruck bringt. [...] Hier bleibt zu fragen, ob nicht das Hören der Rede selbst eingeschrieben ist bis hin zum Hören des eigenen Sagens, das aus dem Schweigen kommt.“ 225 nicht schon ein Gehörtes (wenn man von Fällen der Synästhesie absieht). Doch damit ist das Hören noch nicht rehabilitiert oder gewürdigt, denn selbst Sprechen und Hören, die gerne als einheitlicher Wahrnehmungsakt aufgefasst werden, entfalten sich in verschiedenen Erfahrungshorizonten – das, worüber gesprochen wird, muss nicht immer das zu Gehör Gebrachte sein. Waldenfels löst das Hören aus seiner scheinbaren Passivität, indem er in ihm eine ursprüngliche Weise der Antwort erblickt: „Wir antworten nicht auf das, was wir hören, sondern wir antworten, indem wir etwas hören.“635 Werden Hören und Antworten solchermaßen identifiziert, dann sind sie nicht als (psychische bzw. physiologische) Reaktion auf äußere Reize interpretiert, sondern zeigen sich als „horchend-vernehmende Offenheit“636 Phänomengetreu treffender muss man deswegen sagen: wir selbst hören – nicht das Ohr: „Doch ausgestattet mit unseren Ohren hören wir durch das Ohr (als vermittelndes Sinnesorgan). [...] Das funktionstüchtige Gehörorgan ist also nur eine relativ notwendige, aber keinesfalls zureichende Bedingung für unser Hören.“637 Das Hören ist mehr und qualitativ anders als eine bloße Funktion des Körpers; so kann selbst der nahezu taube Beethoven noch tiefe Musik komponieren, weil er das „Wesen der Dinge“ zu hören vermag. Umgekehrt und uns viel geläufiger ist das Überhören des Anderen oder das Weghören, welches an Menschen ohne entsprechenden Befund einer Hörbeeinträchtigung auffällt. Dass diese nicht „zuhören“, liegt nicht am durchaus tauglichen Ohr. Um angemessen hören zu können, bedarf es mehr als eines einsatzbereiten Organs, denn das Hören ist mehr als das bloße Registrieren von Umweltgeräuschen – es ist „eine existenzielle und existenziale Weise unseres Weltbezugs“638. Warum hören wir aber überhaupt? Gewiss wäre es bequemer, manches ungehört zu übergehen, dann wäre jedoch auch unser Weltbezug abgeschnitten und verkürzt, denn indem wir hören, verhalten wir uns zur Welt und zu dem in ihr Begegnenden.639 Alles ist sprachlich durchherrscht; selbst Unbelebtes oder Vegetatives geht uns in einer Weise an, die Sprachcharakter trägt. Um es wieder mit Gadamer zu sagen: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache. [...] So reden wir [...] ja überhaupt von einer Sprache, die die Dinge 635 B. Waldenfels, Antwortregister, S. 250 Wucherer-Huldenfeld, Augustinus Karl: Philosophische Theologie im Umbruch. Erster Band : Ortsbestimmung : Philosophische Theologie inmitten von Theologie und Philosophie. – Wien : Böhlau, 2011, S. 236 637 Wucherer-Huldenfeld, Philosophische Theologie im Umbruch, S. 235f 638 Wucherer-Huldenfeld, Philosophische Theologie im Umbruch, S. 237 639 Gadamer bemerkt dazu: „Die Sprache ist nicht nur eine der Ausstattungen, die dem Menschen, der in der Welt ist, zukommt, sondern auf ihr beruht, und in ihr stellt sich dar, daß die Menschen überhaupt Welt haben. Für den Menschen ist die Welt als Welt da, wie sie für kein Lebendiges sonst Dasein hat, das auf der Welt ist.“, in: Gadamer, Hans-Georg: Gesammelte Werke I : Hermeneutik : Wahrheit und Methode. – 1. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. – 6. Auflage. – Tübingen : Mohr, 1990, S. 446f 636 226 führen.“640 Im mitweltlichen Umgang, erst recht im liebenden Miteinander bedeutet das Hören das „Einräumen“ der „Räumlichkeit des Einander, des Ich und Du“.641 Im Einräumen eines Hörraumes, im Platzmachen für dich bildet sich der Raum, den Liebende einander gewähren; sie bilden als Wir-Raum eine „Heimat“, wie Binswanger betont.642 Phänomenologisch pointierter formuliert es Wucherer-Huldenfeld: Dass wir überhaupt hören, weil wir uns selbst immer schon auf das Selbstsein, das ein Miteinanderdasein ist, verstehen. Hören ist seinem Wesen nach ein Horchen, eine Weise offenständigen Eksistierens, ein Horchen auf das, was ist, was sich uns als Seiendes in seinem Sein zuspricht. [...] Wir hören erst wahrhaftig und einander zu nach Maßgabe unserer Anteilnahme an der Welt und am Selbstsein Anderer, d.h., wenn wir einander selbst mitteilen, einander unser Wesen eröffnen und schenken. Ursprünglich hören wir, wenn wir einander zuhören, mit dem Gehörten mitgehen, ihm „gehorchen“ und in der Offenheit des Horchens so da und anwesend sind, dass wir ganz Ohr füreinander werden.643 640 Gadamer, Gesammelte Werke I : Hermeneutik : Wahrheit und Methode, S. 478. In unnachahmlicher Weise hat Francis Ponge diese Poetik der Dinge vorexerziert, wenn er mit phänomenologischem Gespür das Wesen eines alltäglichen Gebrauchsgegenstandes, eine Seife etwa, zur Sprache kommen lässt und es damit dem Leser zu Gehör bringt. 641 AW 2, 72 642 So in den Grundformen: „Wenn die Liebenden sich einander einräumen, sind sie nicht unendlicher ‚Raum und Weite’ schlechthin im Sinne der schlechten Unendlichkeit, sondern ‚Heimat von Mir und Dir’, und schon das heißt gestalthafte Unendlichkeit. Daß sie auf dem Grunde dieser Einräumung sich einander schenken, bedeutet schon eine Entfaltung dieser Einräumung und Ewigung der Wirheit in die liebesdialektische Bewegungsgestalt von Einsamkeit und Zweisamkeit, von Ich-selbst und Du-selbst: Wirheit.“, in: AW 2, 122 643 Wucherer-Huldenfeld, Philosophische Theologie im Umbruch, S. 238 227 Schlusswort Die Grundstrukturen liebenden Miteinanderseins zeichnen, wie Binswanger sie dargelegt hat, keinen geradlinigen, „eindimensionalen“ Umriss des Menschen bzw. des Ich und des Du, dazu ist das Phänomen „Mensch“ zu vielgestaltig und zu komplex, dementsprechend beschränkt er sich auf die Grundformen menschlichen Daseins. Philosophiehistorisch reiht er sich damit in die Linie des dialogischen Denkens ein, das seinen Ausgang nicht bei einem isolierten „Ich denke“ nimmt, welches den Boden jeglicher Erfahrung bilden soll. Umgekehrt dringt auch ein Ausgang vom gesellschaftlichen Sein nicht zum Du und zu dessen Bezügen zum Ich vor. Der Andere wird demnach auf einer außergesellschaftlichen Ebene angesiedelt, und zwar so, dass die zwischenmenschliche Beziehung nunmehr ontologischen Rang hat. Begegnung und Beziehung sind dem Menschen nicht äußerlich, sie sind nichts Beiläufiges, das man entweder pflegen oder bleiben lassen kann. „Der einzelne Mensch ist nicht durch sich selbst, er ist immer schon durch die Beziehung zum andern, zum Du, konstituiert.“644 Indem Binswanger mit dem liebenden Miteinandersein von mir und dir einen unhintergehbaren Ausgangspunkt wählt, suspendiert er nicht nur ein selbstbezügliches Subjekt, er schließt auch die Gesellschaft als Konstituens des Ich und des Du aus. Vielmehr etabliert er sein Konzept in der Auseinandersetzung mit Ebner, Löwith und Buber, allen voran aber mit Heidegger. Ergründet die Dialogphilosophie das Wesen der Begegnung, so bietet Heideggers Denken ein solides Fundament für die tatsächliche Welthaftigkeit ebendieser Begegnung. Binswanger spannt sozusagen das dialogische Denken mit dem Seinsdenken Heideggers zusammen. Die Folgen davon sind bekannt: Binswanger erkennt sein „anthropologisches Missverständnis“ der Existenzialanalytik, gleichwohl sucht er die Liebe ontologisch zu verankern. Heideggers Reaktion ist ebenfalls bekannt: äußert er sich anfangs positiv und erfreut über die Rezeption seines Denkens, so wird der Ton zunehmend kritischer, deutlich tritt dies in den Zollikoner Seminaren zutage. Anlässlich des Erscheinens der Grundformen würdigt Heidegger deren Autor ob des Phänomenreichtums, der in ihnen vorgestellt wird, ihm bleiben aber auch die anthropologischen Bestrebungen Binswangers nicht verborgen. In einem Brief vom 24.02.1947 versichert Heidegger gegenüber Binswanger: Trotzdem Sie Ihren Weg klar abgrenzen gegen den Versuch, der einmal Fundamentalontologie hiess, trotzdem Sie innerhalb dieser Abgrenzung über S. und Z. [Sein und Zeit, Anm.] hinaus in einen höheren Bereich des Menschlichen vordringen, wird man bei der üblichen Art, die mit Namen, Titeln und Richtungen 644 Pannenberg, Wolfhart: Anthropologie in theologischer Perspektive. – 2. Aufl. – Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht, 2011, S. 174 228 rechnet, zunächst an der törichten Vorstellung hängen bleiben, dass Sie die abgewandelte Begriffssprache von S. u. Z. in die Psychopathologie übertragen und durch Philosophie die Wissenschaft gefährden.645 22 Jahre später revidiert Heidegger in einem Gespräch mit Medard Boss seine frühere Auffassung: Das völlige Mißverstehen meines Denkens verrät Binswanger am krassesten durch sein Riesenbuch ‚Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins’. In ihm glaubt er, die Sorge und Fürsorge von ‚Sein und Zeit’ durch einen ‚dualen Seinsmodus’ und durch ein ‚Über-die-Welt-hinaus-sein’ ergänzen zu müssen. Damit bekundet er aber lediglich, daß er das grundlegende Existenzial, Sorge genannt, als eine ontische Verhaltensweise im Sinne eines trübsinnigen oder bekümmert-fürsorglichen Benehmens eines bestimmten Menschen verkennt. [...] In solchem In-der-Welt-sein als Sorge gründen deshalb auch alle ontischen Verhaltensweisen der Liebenden wie der Hassenden wie des sachlichen Naturwissenschaftlers usw. gleich ursprünglich.646 Sorge als Existenzial hat einen ontologischen Stellenwert, daher bietet die Daseinsanalytik „keine bloße Beschreibung ontischer Daseinsphänomene“647. Solch eine bloße Beschreibung ist auch für Binswanger nicht ausreichend, um das Phänomen des Menschlichen angemessen würdigen zu können; ihm geht die Diskussion um die Eigentlichkeit des Daseins nicht weit genug. Wo Heidegger vom Dasein als je meines spricht, ergänzt Binswanger dieses um das Dasein als je deines und unseres. Eigentlichkeit fasst Binswanger als Einsamkeit, in der das geliebte Ich bzw. Du zu sich selbst kommt – sie ist keine isolierende, sondern in ihr bin ich mir in Eigensein gegeben. Man kann mit Angela Zabulica die seltenen Hinweise auf ein genuines Miteinandersein und die „fehlende Beteiligung der Anderen“648 bedauern, doch trifft dieser Einwand nicht das Denken Heideggers, das sich als Seins- und Grunddenken versteht. Dass es ihm darin auch um den Menschen geht, beweist gerade die existenziale Analytik (da auch die Todesanalyse). Einen weiteren, durchaus populären Kritikpunkt bildet die Faktizität; Dasein wird als Seinmüssen, als widrige Last interpretiert. Hier wird allerdings ein Ergebnis der Daseinsanalytik (eben die Faktizität) existenziell verstanden. Die Tatsache, dass uns Sein überantwortet ist, erscheint erst auf pessimistischem Hintergrund bedrückend.649 An dieser Stelle berühren Heidegger und Binswanger einander – dem Dasein, dem es um sein Sein selbst geht, wird Sein zugesprochen, gewährt – es darf sein. 645 Briefe und Briefstellen, in: AW 3, 340. Unter dem „höheren Bereich“ darf man wohl die liebende Dualität vermuten. 646 Heidegger, Zollikoner Seminare, S. 286 647 Heidegger, Zollikoner Seminare, S. 151 648 Zabulica, Angela: Endlichkeit und Mitsein : Ludwig Binswangers kritische Auseinandersetzung mit der existenzialen Analytik am Beispiel der Fallstudie Ellen West, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 5 (2006), S. 285-323, hier S. 297 649 Wucherer-Huldenfeld nimmt in der Faktizität einen ethischen Anspruch wahr: „Der schlichte Anspruch zu sein, die Herausforderung zu werden, der du bist, und zwar auf Grund dessen, was nur du – und niemand anderer – zu sein (und nicht zu sein!) vermagst. Dass es Sein gibt und du zu sein hast, d.h. dass es dir gegeben ist, besagt, es ist die aufgegeben, Auf-gabe. [...] Dass wir nichts anderes als nur zu sein haben, heißt dann erst: dass es dem 229 Zwar geht natürlich auch die Daseinsanalyse [...] davon aus, daß das Dasein seinen Grund nicht selbst gelegt hat, hingegen weiß sie von einer Freiheit zum Grunde, einer Freiheit im Sinne der Selbstverantwortung [...], und weiß sie von der Gnade der freien Begegnung von Ich und Du in der Liebe. Wie immer man diese Freiheit metaphysisch oder religiös verstehen will, die Daseinsanalyse hält sich an die Tatsache, daß das Menschsein nicht nur ein Seinmüssen, sondern auch ein Seinkönnen und Seindürfen, ein Geborgensein im Sein als Ganzem ist.650 Eine weitere Parallele bei allen Differenzen zu Heidegger zeigt sich in der Singularität oder im Sein-zum-Grunde: das liebende Ich (und desgleichen das Du), das aus dem Wir in Einsamkeit heraustritt, besinnt sich seines Grundes, den es vom Du empfangen hat; aus einer weiteren Perspektive denkt Heidegger das Sein als Grund des Seienden. Das Dasein, das umwillen seiner und des geliebten Du existiert, verdankt sich dem Grund, der ihm Sein zuschickt. Der Grund spaltet sich scheinbar in „zwei Gründe“ (das Sein, welches zu sein gibt und das liebende Wir), der Grund der Singularität und der Grund der Dualität ist einer: „Der Grund als meiner und der Grund als unserer ist gleicherweise Geheimnis. Der Unterschied kann daher nur in der Weise des Seins zum Grunde hier und dort gelegen sein.“651 Auf die Bezüge Heideggers zum Begegnungsdenken kann hier nicht in gebührender Weise eingegangen werden, einige Anmerkungen sollen jedoch auf seine Bedeutung hinweisen. Dasein als In-der-Welt-sein ist nicht nur besorgend beim Zeug, sondern vor allem ist es Mitsein; stets betont Heidegger, das Sein mit Anderen sei ontologisch verschieden vom Sein zu nicht daseinsmäßigen Seienden. Das eigentliche Selbstsein des Daseins führt nun nicht, wie man vermuten könnte, in Isolation oder Solipsismus, vielmehr bildet es das eigentliche Sein mit Anderen. Die Entschlossenheit zu sich selbst bringt das Dasein erst in die Möglichkeit, die mitseienden Anderen „sein“ zu lassen in ihrem eigensten Seinkönnen und dieses in der vorspringend-befreienden Fürsorge mitzuerschließen. [...] Aus dem eigentlichen Selbstsein der Entschlossenheit entspringt allererst das eigentliche Miteinander, nicht aber aus den zweideutigen und eifersüchtigen Verabredungen und den redseligen Verbrüderungen im Man und dem, was man unternehmen will.652 Für Binswanger jedoch ist erst dann von eigentlichem Selbstsein die Rede, wenn dieses sich selbst vom Du empfängt.653 Was Heidegger der Sphäre der vorspringend-befreienden Fürsorge zuschlägt, stellt sich bei Binswanger als Miteinandersein in Liebe heraus, die das geliebte Du in seinem Sein belässt und es würdigt und fördert. Der der Heideggerschen Dasein um gar nichts anderes gehen kann als um dieses Sein des Daseins selbst, und zwar in allem, was es sein kann (Seinsverständnis, Seinkönnen), in allem, was es besorgt und wofür es für sich und Andere in Sorge ist.“, Wucherer-Huldenfeld, Das ursprünglich Ethische im Ansatz von Heideggers „Sein und Zeit“, in: Esterbauer, Reinhold (Hrsg.): Orte des Schönen : Phänomenologische Studien. Für Günther Pöltner zum 60. Geburtstag. – Würzburg : Königshausen & Neumann, 2003, S. 217-237, hier S. 233 650 Der Fall Ellen West, in AW 4, 168 651 AW 2, 435 652 Heidegger, Sein und Zeit, S. 298 653 Vgl. AW 2, 116 230 Ontologie entnommene Gedanke des Sein-lassens ist für das dialogische Denken in sämtlichen Ausformungen von grundlegender Bedeutung. So spannt Detlev von Uslar die Frage nach dem Du mit der Frage nach dem Sein zusammen, das Mitsein von Ich und Du wird unter deren Bezug zum Sein betrachtet. Das Sein, das dir zu sein gibt, ist jenes, welches sich auch mir zuspricht: „Nur wenn beide in dem Selben gründen, aus dem Selben ermöglicht werden, kann eigentliche Begegnung möglich sein.“654 Die Begegnung findet demnach umwillen des Seins statt, dass in ihr zwei Menschen aufeinander zugehen, scheint nachrangig zu sein. Diese Sicht erinnert an Binswangers Tendenz zur Verallgemeinerung des Konkreten; statt einem einzelnen Du begegne ich einem generellen Du oder der Duhaftigkeit überhaupt. Innerster Grund und höchstes Motiv einer Beziehung ist nicht das Du, noch das Ich (also das „Wir“), sondern das Sein: Darum kann auch das Wesen der Begegnung des Daseins zum Dasein, sofern das Dasein in ihr eigentlich sein kann, nicht der ontische Bezug eines ontischen Ich zu einem ontischen Du sein [...]. Sondern das Wesen der Begegnung ist, daß das Dasein in ihr eigentlich eksistieren, das heißt, zum Sein sein kann. Die Begegnung muß, wenn sie eigentlich sein kann, das Seinsverhältnis des Daseins zum Sein des Du selbst sein.655 In diesem Verständnis bildet das Du lediglich den äußeren Anlass zur Begegnung mit dem Sein. Zuletzt ist in diesem Kontext nochmals auf Fridolin Wiplinger hinzuweisen, der sein personal-dialogisches Denken zu einem guten Teil Heidegger verdankt. Auch er erkennt den Vorrang des Seins vor allem Ontischen an. Um in einen Dialog treten, um überhaupt lieben zu können, muss sich das Sein vorgängig bereits „personal geoffenbart“656 haben: Wenn also aus der Erfahrung des mitmenschlichen DU gezeigt wird, daß im Dialog des Wahrheitswesens die Begegnung mit dem Sein Du-haften Charakter habe – dann muß angenommen werden, daß allem zuvor schon das Sein selbst im LOGOS als DU erschienen ist.657 Dialogisches Denken steht damit nicht nur unter dem Anspruch des Anderen, sondern auch noch – vorgängig – unter dem des Seins, dem es zu entsprechen hat. Seinserfahrung ist sodann gleichermaßen Erfahrung der Liebe. Dann müßten wir dort am reinsten und tiefsten das Sein erfahren, wo wir dem mitmenschlichen Du am reinsten und tiefsten begegnen, die unbedingteste Hingabe leisten, das kühnste Wagnis, den freiesten Sprung, wo wir am deutlichsten die 654 Uslar, Vom Wesen der Begegnung, S. 96 Uslar, Vom Wesen der Begegnung, S. 97 656 Wiplinger, Dialogischer Logos : Gedanken zur Struktur des Gegenüber, in: Philosophisches Jahrbuch 70 (1962), S. 169-190, hier S. 188 657 Wiplinger, Wahrheit und Geschichtlichkeit : Eine Untersuchung über die Frage nach dem Wesen der Wahrheit im Denken Martin Heideggers. – Freiburg/Breisgau ; München : Alber, 1961, S. 373 655 231 Erfahrung der Einzigartigkeit machen: in der Liebe. Und doch: was hier eigentlich und zuletzt erfahren wird, ist weder das konkrete, einzigartige Du, noch das in ihm sich offenbarende Du-hafte Sein, – sondern die Liebe selbst, der dialogische LOGOS in seiner Inkarnation [...] – die Inkarnation der Liebe in Fleisch und Blut.658 Während bei Uslar stärker noch als bei Wiplinger der Seinsgedanke ins Zentrum rückt, lässt sich bei Binswanger eine Absetzbewegung beobachten, die ihm die kritische Reaktion Heideggers einbrachte. Dessen Interesse gilt der Verfassung des Daseins als In-der-Weltsein, das nach dem Sinn von Sein fragt. Die Bedeutung, die der Mensch bei ihm innehat, ist darum nicht vernachlässigt oder an den Rand gerückt659, das bezeugt schließlich seine Analyse der Existenzialien. Hier wäre auch der Ort gewesen, um mit Binswanger in ein fruchtbares Gespräch zu treten, wenn dieser dem Begriff des Daseins als Sorge das liebende Miteinander ergänzend gegenüberstellt. Die anthropologische Umdeutung ontologischer Termini führt nicht zwangsläufig zum Scheitern seines Bestrebens, das letztlich den Menschen in den Blick rücken möchte. Indem der duale Modus der Liebe als grundlegende Form des Daseins aufzuweisen versucht wird, erscheint das Dasein als sorgendes nunmehr als abkünftige Weise des In-der-Welt-seins. Aber diese Frage [nach dem Menschsein in seinem Vollsinn, Anm.], obgleich anthropologisch verfaßt, erhebt sich auf die ontologische Höhe der Existenzialanalytik und macht dem Dasein als „Sorge“, als „Jemeinigkeit“ und „Faktizität“ den ersten Rang streitig. Das Wesen des Menschen ist erst dann angemessen bestimmt, wenn der liebenden Begegnung, dem „dualen Modus“ der ontologische Vorrang eingeräumt wird.660 Liebe als fundamentale Seinsweise übersteigt das Dasein in dessen Faktizität und Endlichkeit, wobei Liebe nicht als Gefühl, Gestimmtheit oder seelischer Zustand zu identifizieren ist. Liebe äußert sich zwar immer als Liebe zu einem konkreten Du, ihr liegt die „’Wahl’ des Daseins als Wirheit, als Erschlossenheit des Herzens, als Begegnung“661 zugrunde. Wo Heidegger von eigentlichem Selbstsein in Jemeinigkeit spricht, geht für Binswanger „das Dasein im Sinne der Liebe auf im unbegrenzten, uneingeschränkten, kurz im unbedingten Sein mit-einander“.662 Beiden geht es um das Selbstsein in Eigentlichkeit, um den letzten bzw. ersten Ursprung; dass die Antworten derart divergieren, lässt sich auch mit dem Hinweis auf Binswangers ärztliche Tätigkeit erklären. Psychotherapie – wie 658 Wiplinger, Dialogischer Logos, S. 187 Eine Trennung zwischen Ontologie und Anthropologie hält er freilich streng durch: „Ein ganz anderes Problem ist, wie jeweils für die einzelnen, faktisch ontisch-existenziellen Möglichkeiten des einzelnen Daseins das Mitdasein des Du relevant ist. Das sind aber Fragen der konkreten Anthropologie.“, in: Die Grundprobleme der Phänomenologie. – Frankfurt/Main : Klostermann, 2005. – (Klostermann Seminar ; 16), S. 394 660 Arlt, Gerhard ; Zenka, Tadeusz: Liebe und Erkenntnis : Zur Daseinsanalyse Ludwig Binswangers, in: Kühn, Rolf ; Petzold, Hilarion (Hrsg.): Psychotherapie und Philosophie : Philosophie als Psychotherapie? – Paderborn : Junfermann, 1992. – (Reihe Innovative Psychotherapie und Humanwissenschaften ; 50), S. 257-282, hier S. 267 661 AW 2, 238 662 AW 2, 61 659 232 Binswanger sie versteht – wendet sich in der Einheit von Sorge und Liebe dem Leidtragenden zu, sie ist „ärztlicher Dienst an der (als Inbegriff der seelischen Lebensfunktionen gedachten) Seele eines Mitmenschen“.663 Auf die Frage, wie Psychotherapie möglich sei, antwortet er, sie beruhe „auf einem Grundzug der Struktur des Menschseins als dem In-der-Welt-sein (HEIDEGGER) überhaupt, eben dem Mit- und Füreinandersein.“664 Binswanger war kein unkritischer, orthodoxer Heideggerianer, ob seine Rezeption deswegen schon ein „Missverständnis“ bildet, welches ihn in die Irre schickt, darf nun, am Schluss der Arbeit, bezweifelt werden. Weiters ist mit Arlt und Zenka zu fragen, „[...] ob bei Heidegger selbst das Verhältnis von Anthropologie und Ontologie so eindeutig ist, wie es oft dargestellt wird.“665 Fragt man philosophierende Zeitgenossen Heideggers, wie dieser das Verhältnis zwischen dem Ich und dem Anderen gefasst hätte, erhält man zuweilen recht eindeutige Antworten, so lesen wir bei Gabriel Marcel: Zu dem In-der-Welt-sein gehört mit Sicherheit die Pluralität. Handelt es sich aber dabei um eine Pluralität von Subjekten? Ich bin mir dessen nicht ganz sicher. Hier sehe ich nicht, daß Heidegger, der so oft von Erschlossenheit und von Entfernung spricht, wenn er die Wahrheit meint, daß also Heidegger sich je dafür interessiert hätte, was man „Öffnung auf den Anderen hin“ nennen könnte. Es war denn auch diese Dimension der Liebe, die der Psychiater und Philosoph Binswanger den heideggerschen Kategorien hinzufügen wollte.666 Neben Marcel ist Lévinas zu nennen, dessen Werk von Achtung und Wertschätzung des Denkens Heideggers getragen ist; lapidar und präzise konstatiert er: „Bei Heidegger hat das Dasein niemals Hunger.“667 Eine Spannung im Denken Binswangers wird allerdings gerade dort offenbar, wo es um das ihm Wesentliche geht – in der Liebe zum Du, das in der Gefahr steht, als einzelnes, konkretes zugunsten eines allgemeinen „Du überhaupt“ abgewertet zu werden. Mit diesem Problem steht Binswanger nicht alleine da, vor allem Ebner und Buber legen den Akzent auf ein absolutes Du, das sie mit Gott identifizieren. Dadurch aber verblasst der mir begegnende, konkrete andere Mensch. Denkt man die Absolutsetzung konsequent weiter, so gerät der geliebte Andere zu einer Chimäre, zum Abglanz des Absoluten oder zu einem bloßen Durchgangsmoment. Freilich ist der Andere dann auch nicht mehr Zweck an sich selbst, wodurch im Extremfall die Gefahr einer Du-Vergessenheit droht. Zwar warnt Binswanger 663 Über Psychotherapie, in: AW 3, 206 Über Psychotherapie, in: AW 3, 207 665 Arlt/Zenka, Liebe und Erkenntnis, S. 278f 666 Marcel, Gabriel: Werkauswahl III. Unterwegssein : Ansätze zu einer konkreten Philosophie, Dialog mit Zeitgenossen. – Mit einer Bibliographie herausgegeben von Peter Grotzer. Nachwort von Theodor-Bernhard Wolf. – Paderborn : Schöningh, 1992, S. 298 667 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 191 664 233 vor einem „Verharren in der Beschränktheit auf das einzelne Faktum oder auf die bloße Idee“668, doch ordnet er wiederholt das Besondere, Individuelle und eben damit Einzigartige des Du dem Generellen unter. Andererseits betont er, die Selbstheit von Ich und Du erwachse aus dem Wir. Meint Liebe fördernde Freigabe in je eigenes – deines und meines – Sein, so kann dein Eigensein, das unvertretbar dir und niemandem sonst gegeben ist, nicht an einem allgemeinen Du gemessen werden. Meine Liebe zu dir betrifft erstlich dich und mich und kein Du-überhaupt oder ein Eidos „Du“. In einem so verstandenen Du erblicke ich nicht den Menschen, den ich liebend bei mir weiß. Um diese missliche Diskrepanz zu umgehen, könnte allenfalls Max Müllers Definition der Person als Konkretion des Ganzen herangezogen werden: Dies aber nennen wir gerade „Personalität“: daß das Übereinzelne in der Einzigkeit, daß das Ganze in der Innerlichkeit und im verinnerlichenden Gange erst sich selbst hat. [...] So ist Person das Ereignis der Gegenwart des Ganzen im Endlich Einzelnen, welches dadurch in seiner Einzelheit unendlich bedeutsam und damit endlich und absolut wird; in diesem Sinne ist Person „Da-sein“.669 Der Vorrang des einzelnen, konkreten Du (und des Ich) vor einem bloß gedachten allgemeinen kommt dann zum Ausdruck, wenn das Dasein – deines wie meines – als Gabe empfangen wird. Binswanger plädiert für Selbständigkeit in und durch Dualität, im In-sichstehen in fremdgegebener Selbständigkeit verdankt sich das Ich dem Anderen, der es auffordert, Ich, und eben nur dieses Ich, zu sein. Vom Gabecharakter des Daseins ist in den Werken Binswangers öfter und an zentralen Stellen die Rede, umso merkwürdiger mutet es an, dass er das Thema nicht entfaltet hat. Liebe als Du-Gegründetheit, die mir Sein gewährt, zeigt sich in der Annahme seiner selbst. Allerdings interpretiert Binswanger die Liebe im Rahmen der Reziprozität: ich schenke mich dir als jener, der unvertretbar ich bin und umgekehrt schenkst du dich mir, wie es nur du zu tun vermagst. Der Schenkende will, dass der mit Dasein Beschenkte je er/sie selbst wird: sei du und ausschließlich nur du.670 In ihrer tiefsten Bedeutung wird die Gabe wohl in der Geburt eines Menschen erschlossen, der sich selbst gegeben ist. Leider hat sich Binswanger dazu nicht geäußert. Mit Rückgriff auf die Religionsphilosophie wurde die Geburt gedeutet als Freigabe in Selbstsein, welches sich allerdings einer Abhängigkeit von Anderen verdankt. Dabei meint Abhängigkeit nicht Unfreiheit, Repression oder Unmündigkeit, sondern die Abhängigkeit gewährt gleichwohl Selbstand: wird sich ein Mensch gegeben, so wird ihm zu Dasein in Eigensein verholfen. Der Mensch ist als geborener natürlich von den natürlichen Voraussetzungen (Zeugung, Geburt, 668 AW 2, 503 Müller, Max: Person und Funktion, in: Philosophisches Jahrbuch 69 (1962), S. 371-404, hier S. 396 670 Nochmals sei an Pindar und dessen III. Pythische Ode erinnert: „Meine Seele, strebe nicht nach Unsterblichkeit, das Mögliche schöpfe aus in deiner Bemühung.“, in: Oden, S. 105 669 234 Erziehung) abhängig, und doch ist er sich so gegeben, dass er Neues anfangen lassen kann und Eigenes hervorzubringen gerufen ist. Das solcherart nicht mehr mit Kategorien des Allgemeinen fassbare Ich bzw. Du unterläuft in seiner Konkretion Schematisierungen und Generalisierungen. In seiner Einzigkeit ist der Andere (und bin ich) jedoch namhaft. Erst im Namen kann der Gerufene zu Wort kommen und sein Eigensein zum Austrag bringen. Das Miteinandersein in Liebe bildet den Umfang der vorliegenden Arbeit; als Ausgangspunkt dafür bot sich Binswangers Phänomenologie der Liebe an; der Vielfalt und Komplexität des Phänomens gemäß spricht er dem liebenden Wir Priorität zu, als ob es etwa gälte, ein Axiom der Liebe zu deklarieren. Die Vorherrschaft des Wir und – damit einhergehend – die Tendenzen zur Verallgemeinerung hingegen drohen das aus dem Wir hervorgehende, in Eigenstand freigegebene Ich und Du zu nivellieren oder zu absorbieren, sodass es letztendlich gleichgültig ist, welches Du dem Ich ein Du ist. Die Neigung zur Generalisierung, die Binswanger pflegt, birgt in sich die Gefahr des Irrweges, denn die Liebe ist kein akosmisches Geschehen, hat sie sich doch als Grundform in der Welt zu bewähren. Die Weltlichkeit des liebenden Miteinander hat sich als ursprüngliche Weise des Daseins gerade in Hinblick auf die Geburt und auf die Seinsgabe gezeigt. Die Namhaftigkeit wiederum würdigt den Anderen als Einzigartigen, dessen Seinsgabe allein ihm zukommt. Die erwähnten Zweifel und Fragwürdigkeiten sollen Binswangers Bemühungen keineswegs schmälern: dass er Ernst macht mit der Frage nach der Begegnung mit dem Anderen, der mir weder als Exemplar einer Gattung noch als Glied einer Klasse noch als fremder Körper gegenübertritt, sondern als jemand, den ich in einem ursprünglichen Zugang als Du wahrnehme. Als grundlegende Weise des Daseins ist die Liebe der Wille zum Sein des geliebten Anderen, welcher Wille sich als Freigabe in Eigensein vollzieht. 235 Literaturverzeichnis Binswanger, Ludwig: Ausgewählte Werke in vier Bänden. – Hrsg. von Hans-Jürg Braun [...]. – Heidelberg : Asanger, 1992-1994 Band 1: Formen mißglückten Daseins. – Herausgegeben von Max Herzog Über Ideenflucht (1933) Drei Formen missglückten Daseins (1956) Band 2: Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins (1942). – Herausgegeben von Max Herzog und Hans-Jürg Braun Band 3: Vorträge und Aufsätze. – Herausgegeben von Max Herzog Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse (1926) Mein Weg zu Freud (1957) Über Phänomenologie (1922) Lebensfunktion und innere Lebensgeschichte (1927) Traum und Existenz (1930) Wandlungen in der Auffassung und Deutung des Traumes (Autoreferat) (1928) Das Raumproblem in der Psychopathologie (1932) Geschehnis und Erlebnis (1930) Über Psychotherapie (1934) Über die daseinsanalytische Forschungsrichtung in der Psychiatrie (1945) Daseinsanalyse und Psychotherapie (1954) Über den Satz von Hofmannsthal: „Was Geist ist, erfaßt nur der Bedrängte“ (1948) Über Sprache und Denken (1946) Im Anhang sind u.a. die Briefe und Briefstellen abgedruckt Band 4: Der Mensch in der Psychiatrie. – Herausgegeben von Alice Holzhey-Kunz Der Mensch in der Psychiatrie (1957) Der Fall Ellen West (1944/45) Der Fall Suzanne Urban (1952/53) Einleitung (zum Sammelband „Schizophrenie“) (1957) Melancholie und Manie (1960) Wahn (1965) 236 Ders., Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie. – Nachdruck der Ausgabe Berlin 1922 (unveränderter Lizenznachdruck) Ders.: Erinnerungen an Sigmund Freud. – Bern : Francke, 1956 Freud, Sigmund ; Binswanger, Ludwig: Briefwechsel 1908-1938. – Herausgegeben von Gerhard Fichtner. – Frankfurt/Main : Fischer, 1992 Sekundärliteratur: Angehrn, Emil: Die Frage nach dem Ursprung. Philosophie zwischen Ursprungsdenken und Ursprungskritik. – München : Wilhelm Fink, 2007 Aristoteles: Die Lehrschriften. Band 11. – Nikomachische Ethik. – Herausgegeben, übertragen und in ihrer Entstehung erläutert von Paul Gohlke. – Paderborn : Schöningh, 1956 Ders.: Metaphysik : griechisch-deutsch ; Neubearbeitung der Übersetzung von Hermann Bonitz. – mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Horst Seidl. – 3., verbesserte Auflage. – Hamburg : Meiner, 1989 Arlt, Gerhard ; Zenka, Tadeusz: Liebe und Erkenntnis : Zur Daseinsanalyse Ludwig Binswangers, in: Kühn, Rolf ; Petzold, Hilarion (Hrsg.): Psychotherapie und Philosophie : Philosophie als Psychotherapie? – Paderborn : Junfermann, 1992. – (Reihe Innovative Psychotherapie und Humanwissenschaften ; 50), S. 257-282 Baier, Karl: Fridolin Wiplingers personaldialogische Ontologie und die Frage nach der Materie, in: Vetter, Helmuth (Hrsg.): Heidegger und das Mittelalter : Wiener Tagungen zur Phänomenologie 1997. – Frankfurt am Main [u.a.] : Lang, 1999. – (Reihe der Österreichischen Gesellschaft für Phänomenologie ; 2), S. 103-131 Barrett-Browning, Elizabeth: Liebesgedichte. – Englisch und deutsch. – Übertragen von Rainer Maria Rilke. – Mit einem Nachwort von Felicitas von Lovenberg. – Frankfurt/Main : Insel, 2006 Baudelaire, Charles: Les fleurs du mal : französisch/deutsch = Die Blumen des Bösen. – Übers. von Monika Fahrenbach-Wachendorff. 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Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse Philosophisches Jahrbuch 247 Zeitschrift für philosophische Forschung Informationen aus dem Internet: Agreiter, Andreas: „Leben und Lesen ohne Poesie?“ – Bedeutung und Nutzung von Lyrik in den Öffentlichen Büchereien Wien, Projektarbeit im Rahmen der hauptamtlichen Ausbildung für Bibliothekare, 2008, S. 18-20, abrufbar unter: http:// www.bvoe.at/aus-und_fortbildung/projektarbeiten_suche, Abrufdatum: 05.04.2014 Bollnow, Otto Friedrich: Besprechungsaufsatz: Ludwig Binswanger, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, abrufbar unter: http://www.otto-friedrich-bollnow.de/doc/Binswanger.pdf. S. 5. Der Besprechungsaufsatz erschien in der Zeitschrift „Die Sammlung“, 1. Jahrgang, 2. Heft, November 1945, S. 122-128, Abrufdatum: 06.09.2012 Österreichisches Daseinsanalytisches Institut (Hrsg.): Existentialien im Überblick, S. 5, abrufbar unter: www.daseinsanalyse.at/joomla/images/DOKUMENTE/Existentialien.pdf, Abrufdatum: 25.03.2014 Vetter, Helmuth: Heidegger im Kontext der dialogischen Philosophie – mit Blick auf Eberhard Grisebach, abrufbar unter: http://sammelpunkt.philo.at:8080/941/1/Vetter,_Heidegger___Grisebach.pdf., 01.01.2012 248 Abrufdatum: Abstract Die Frage nach der Begegnung oder der Beziehung zwischen Menschen ist eine alte und oftmals diskutierte. Ist sie damit schon nach allen Seiten hin erschöpfend beantwortet oder auch erst erreicht worden? Beziehungen zu anderen erscheinen beiläufig und nebensächlich, sodass eine Verbindlichkeit in der Begegnung verdeckt wird. Lassen sich Arten der Begegnung freilegen, die dich und mich in unserem Eigensein betreffen oder dieses gar begründen? Das gewöhnliche Geschehen der Begegnung ist also auf dessen Fundamente hin zu prüfen, dem vermeintlich Selbstverständlichen ist auf den Grund zu gehen. Das bedeutet zuerst, die Frage nach dem Anderen zuzulassen, sich dieser Frage und dem Anderen zu stellen. Der Mitmensch ist in mannigfacher Weise anwesend, sei er ein Bekannter, der Nachbar oder jener, mit dem wir eine innige Beziehung pflegen – das Du. Für das Miteinandersein von Ich und Du reserviert Binswanger den Begriff Liebe bzw. Dualität: „Obwohl oder gerade weil der eigentliche Modus des Menschseins, ist der duale Modus der versteckteste, ja erdrückteste.“ Unter diesem modus dualis versteht Binswanger jene Daseinsweise, die den Ursprung jeden Daseins bildet und den er in seinem Hauptwerk Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins ausgiebig erschöpft – der Begriff der Liebe. Damit setzt er sich dezidiert von Heidegger ab, der, so Binswanger, die Sorge als Sein des Daseins versteht. Dem hält er das In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-sein entgegen, welches nicht im zu Besorgenden aufgeht. Binswanger tritt nicht in Opposition zu Heidegger, beabsichtigt er doch eine „Phänomenologie der Liebe“, diese wird sich zuweilen als Akosmismus bzw. Weltflucht erweisen. In diesem Sinn darf Binswanger dem Begegnungsdenken zugeordnet werden, das sich ihm durch seine Tätigkeit als Psychiater und Therapeut erschloss. Liebe bedeutet ihm nicht bloß das Füreinander zweier Liebender oder eine Paarbeziehung, sondern generell die Grundform des Daseins als Aufruf zum und Freigabe in eigenes Seinkönnen. Dementsprechend weitet sich das Verständnis von Liebe. Ist dieser Begriff auch abgenutzt und verbraucht, so vermag er sich dennoch Gehör zu verschaffen: „Und doch scheint der duale Modus auch in dieser Daseinsgestalt hindurch, wie es ja kaum einen Menschen geben wird, in dem kein Keim von Liebe zu entdecken ist.“ Dem Konzept der Liebe, wie es von Binswanger entworfen wurde, steht nun eine Bewährungsprobe entgegen: 1) Liebe als Begegnung mit dem Anderen muss heraustreten aus ihrem theoretischen Rahmen, um im konkreten, alltäglichen Leben standhalten zu können – hier werden wir auf wesentliche Ereignisse wie Geburt, Curricularität, Sozialität, defiziente Daseinsformen und 249 Tod des geliebten Menschen verwiesen. Kann das Konzept der Liebe dafür ein solides Fundament bilden? 2) Erweist sich die Begegnung in Liebe als ursprüngliche, also die den Grund legende Form des Daseins, dann müssen alle übrigen Daseinsformen, -weisen (das Dasein mit den anderen, Singularität) sowie -möglichkeiten aus dieser ableitbar und daher begründbar sein. Das In-Beziehung-setzen dieser verschiedenen Daseinsmodi wird nicht zu umgehen sein, Brüche und Konvergenzen werden damit offenbar. Ziel der Arbeit ist es letztlich, zu sehen, ob Dissonanzen innerhalb des Binswangerschen Denkens unvereinbar nebeneinander stehen oder ob nicht diverse andere Standpunkte und Perspektiven seine Ansätze bereichern können. So bildet die Dissertation die Wiederaufnahme seiner Denkbemühungen, um sie erneut für die Frage nach dem Du, dem Ich und nach dem Wir zu öffnen. Zum bereits Veröffentlichten zu diesem Thema ist zu sagen, dass sich eine Kluft zwischen Naturwissenschaft und Philosophie aufgetan hat. Forscher beider Disziplinen sind zuweilen zu „Grenzgängen“ aufgefordert, die mancherorts fixe Positionierungen von Geistesund Naturwissenschaft in Frage stellen bzw. diese überschreiten. Dies spiegelt sich in der Fachliteratur wider, die freilich auch einer subjektiven Auswahl unterliegt, zumal nicht alle denkerischen Bemühungen eingeholt werden können. Die Dissertation kann daher nicht philosophiehistorisch referieren, allerdings muss ihr des behandelten Themas wegen der Rückgriff auf die Tradition gestattet sein. Weder soll rezente Fachliteratur die herkömmliche dominieren noch sollen klassische Publikationen zu einem Kanon erhoben werden. Eine sich womöglich zeigende Forschungslücke ergibt sich aus dem Thema selbst: wie verhalten wir uns zu dem uns Angehenden – dem Anderen, dem Du? Diesbezüglich kann nur auf konkurrierende und kommentierende Stimmen hingewiesen werden, die Binswanger begleiteten, diskutierten und weiterentwickelten. So wird die Arbeit nicht den Anspruch erheben, eine Lücke zu schließen, wohl aber, Gräben nicht zu verbreitern oder zu vertiefen. Zur Darstellung der Forschungsmethodik: Gefordert ist das (möglichst vorurteilsfreie) Sich-Einstellen auf den Denker, um ihm auf „gleicher Augenhöhe“ begegnen zu können. Erst von da aus kann der Fortgang des Problems verfolgt werden und mit anderen Positionen sowie Einwänden konfrontiert werden. Eine totale Kontrastellung ist ebenso unangebracht wie eine unkritische Eulogie. 250 Abstract (Englisch) The question of the encounter or the relation between people is old and often discussed. Has it been answered in all respects adequately or has it at least been reached? Relations with others seem casual and secondary, so that an obligation is covered in a relationship. Can kinds of encounters be exposed which concern you and me in our own being-in-the-world or which even found this? Usual relations are to be examined on its foundations, the putatively natural is to be gone on the reason. This indicates first to admit the question after the other, to position oneself to this question and to the other. The person is present in manifold ways, he is a friend, the neighbour or that with whom we maintain an intimate relationship – the You. As for the being-together of me and you, Binswanger books the concept love or “Dualität” (duality): „Although or just because the real mode of the being, the dual mode is the most hidden, the most crushed one.“ Binswanger interprets the dual mode as the way of existence which forms the origin of every existence. The concept of love is unfolded very broadly in his major work Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins (Basic Forms and the Realization of Human “Being-in-the-World”). He presents a counterpart to Heidegger, who puts being-inthe-world as care (Sorge). Human existence is “more” or other than care, it is being-in-theworld-beyond-the-world (“In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-sein”), that does not dissolve into concern (Besorgen). He does not decidedly oppose Heidegger for he intends to establish a “phenomenology of love”. For this reason, Binswanger’s philosophy sometimes seems to be unworldly, turned off concrete circumstances respectively. In this sense, Binswanger may be assigned to the philosophy of dialogue which he was confronted with due to his profession he was a psychiatrist and therapist. To him, love means not only the “each other” of two lovers or a pair-relation, but in general the basic form of being as a call to the release into being as one specific and unique self (mine as well as your self). Therefore, the understanding of love widens. May this concept be worn and used, it still makes itself heard: „And, nevertheless, the dual mode is kept up in this form of existence as there will be hardly anyone who is not able to receive and donate love.“ The idea of love as sketched by Binswanger will be put to the test: 1) Love as an encounter of one and the other must leave the theoretical frame in order to match concrete, everyday life – this points to relevant events like birth, the life-cycle, socialization, deficient forms of existence and death of the beloved person. Can love form a solid foundation? 251 2) Binswanger interprets loving relation as the original and deepest form of beingtogether, hence all other forms of existence (friendship, plurality, singularity) must derive from it. These different modes of being might diverge from each other or reveal dissonances. The aim of the doctoral thesis is to show alternative points of views and perspectives to enrich his approaches or starting points. The question concerning the You, the I and the “We” has to be asked again; for this reason, we have to ponder on his thoughts and ideas. Concerning former publications on this subject, it is to be said that a gap between natural sciences and philosophy has opened. Researchers of both disciplines are requested now and again to "cross borders" which questions fixed scientific results of both humanities and natural sciences. This is evident in the specialist literature which is, admittedly, subject to personal and individual choice, since not all intellectual efforts can be taken into account. Neither should recent literature dominate the customary one, nor should relevant publications represent a canon. A probable interdisciplinary gap arises from the theme itself: how do we perceive ourselves in view of the one who I face – the other, the You? This puts a focus on competing and commenting voices which accompanied and discussed Binswanger’s thoughts, trying to achieve further developments. Thus the work will not raise the claim to close a gap, but it shall neither widen nor deepen ditches. To the representation of the research methodology: The demand on a (very unprejudiced) self-adjustment to the thinker enables to meet him on the „same eye level“. This is the way, the progress of problems and questions can be pursued and get confronted with other positions as well as objections. A complete contraposition is as inappropriate as an uncritical eulogy. 252 Lebenslauf Andreas Agreiter Geburtsdatum: 30.04.1974 Geburtsort: Wien Zivildienst geleistet von 02.1999 bis 01.2000 beim Österreichischen Arbeiter-Samariterbund Bildungsgang: 1980-1984: Besuch der Volksschule in Wien 1984-1992: Besuch des naturwissenschaftlichen Realgymnasiums GRG III Reifeprüfung mit ausgezeichnetem Erfolg abgelegt 1992-1994: Studium der kombinierten Religionspädagogik (röm.-kath.) sowie der Anglistik und Amerikanistik an der Universität Wien 1994-1998: Studium der Philosophie und Fächerkombination ebendort Kommissionelle Prüfung mit Auszeichnung bestanden 1999: Würdigungspreis des Bundesministers für Wissenschaft und Verkehr seit 2007: Doktoratsstudium der Philosophie Berufstätigkeit: Neben Studentenjobs und Aushilfstätigkeiten (u.a. bei der Post, am Flughafen WienSchwechat, beim Verkehrsverbund Ost-Region) Nachtlaseroperator bei AZ BertelsmannDirect, Praktikum beim Wiener Passagen-Verlag und Archivtätigkeit beim Privatfernsehsender ATV seit 2001 Bibliothekar bei den Öffentlichen Büchereien Wien. Veröffentlichungen: “Der Mensch, der das Recht hat, über sich selbst zu verfügen, der kann über alles verfügen und hat auch das Recht dazu; aber niemand hat das Recht, über sich selbst zu verfügen.” Versuch einer Darstellung des Werkes Thomas Bernhards, in: kacakyayin 35 (2006), S. 28-30 (Türkische Übersetzung: Thomas Bernhard’ in eseri üzerine bir deneme) 253 Zum Phänomen des Todes mit Rücksicht auf ein Gedicht R.M. Rilkes, in: kacakyayin 36 (2006), S. 34-36 (Türkische Übersetzung: R.M. Rilke’ nin bir siirinden esinlenerek ölüm üzerine) 254