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Abhörmaßnahmen Das Subjekt, das wissen soll, und der Soundtrack des Imaginären TORSTEN MEYER Blau. Im Innern eines Trekkingzelts. Ein Mann mit Wollmütze kuschelt sich in einen dicken Schlafsack. Sein Atem wird ruhig, die Augen sind geschlossen, das olivfarbene Gebäusch des Schlafsacks hebt und senkt sich in langsamem Rhythmus. Der Mann dreht sich noch einmal um, kuschelt sich zurecht. Die Kamera schwenkt zum Dach des Zelts. In der Mitte über dem Schläfer hängt ein Mikrofon. Ein professionelles Stereo-Mikrofon mit Körperschallentkopplung. Es ist nach unten gerichtet. Es lauert auf Geräusche, die der Schläfer unter ihm verursachen könnte. Cut. Eine HiFiStereo-Lautsprecherbox steht auf dem steinigen Boden einer kargen, tundra-artigen Landschaft. Die Rückseite ist zu sehen, das Anschlusskabel läuft nach vorn aus dem Bild heraus. Das weiße Kabel hebt sich deutlich vom dunklen Boden ab. Die Lautsprecher sind auf die nahen Berge im Hintergrund gerichtet. Wind- oder Atemgeräusche sind zu hören, langsam und ruhig. Cut. Der Schläfer. Nun liegt er auf dem Rücken. Eingeschlafen, vollkommen entspannt. Er beginnt zu schnarchen. Cut. Das Zelt von außen. Es steht in derselben kargen Tundra-Landschaft. Isländische Hochebene. Das Wetter ist trübe. Ein merkwürdig indirektes Licht, schimmernd, dämmernd. Links und rechts neben dem Zelt stehen zwei Lautsprecherboxen. Gut sichtbar die weißen Anschlusskabel, die in sorgfältiger Linie in das Zelt hineinführen. Den Eingang des Zeltes sieht man nicht. Das Schnarchen des Schläfers tönt über die Landschaft. Die nahen Berge schicken ein Echo zurück. Es wirkt laut. Cut. Drei grasende Island-Ponys im trüben, dämmrigen Licht. Schnarchen. Die Pferde scheinen völlig unbeeindruckt. Cut. Das Zelt von vorne, links und rechts die beiden Lautsprecherboxen, sorgfältig inszeniert. Die karge, trübe, auf seltsame Weise unbelebt wirkende Landschaft wird überschallt mit dem gewaltigen, aber doch irgendwie beruhigenden Schlafgeräuschen des Mannes mit der Wollmütze, der offensichtlich vollkommen entspannt und in irgendwelche Träume versunken im Zelt vor sich hin schnarcht. 24 Torsten Meyer Welch ein Unsinn!! Mitten in der trüben Einsamkeit der isländischen Hochebene liegt ein Mann im Zelt und schnarcht elektrisch verstärkt die Berge an. Naturschutzgebiet womöglich! Er nervt die grasenden Ponys und vermutlich die ganze Landschaft. Was soll das? Das macht doch keinen Sinn! Das ganze technische Equipment in die widrige Periglazialwüste geschleppt, alles verkabelt und vorbereitet für die Live-Übertragung eines entsprechend gewichtigen Ereignisses – und kein Mensch hört zu. Nur die Ponys und die Berge vielleicht. Wer soll und wer will das hören? Schnarchen! Selbst wenn es jemanden gäbe, der es hören könnte, was sollte ihm das wohl sagen? Unsinn »Macht keinen Unsinn!« ist eine beliebte Ermahnung, wenn man Kinder irgendwo unbeaufsichtigt allein lässt. Damit wird – so schreibt Pazzini – »das Überich angeknipst.«1 Die Kinder werden aufgefordert, auf das zu hören, was ihnen die Eltern als innere Stimme sagen. Sie sollen vernünftig sein, die Gebote und Verbote des Überichs beachten, sich an Traditionen, Gewohnheiten, Konventionen halten. Vielleicht hätte man das hier auch noch einmal sagen sollen, bevor man Roman Signer in der isländischen Einöde allein ließ: Mach keinen Unsinn! Pazzini zieht den Schweizer Künstler als Unterstützung heran bei seinen Überlegungen zur »Produktivität von Unsinn«. Dabei geht es um Bildung in Theorie und (zum Beispiel kunstpädagogischer) Praxis. Die Szene stammt aus dem Film Signers Koffer, den Peter Liechti 1996 über Roman Signer und seine Arbeit gedreht hat. Island II: Der Schnarcher ist der lapidare Titel. Signer ist bekannt durch jede Menge Unsinn mit Dynamit und Modellhubschraubern. Es geht um Sprengarbeiten: Immer brennt irgendwo eine Lunte, schreibt Pazzini2 (und entzündet damit eine). Man kann über Signer lesen, er sei weder ein Intellektueller noch ein Handwerker, kein Aktionskünstler, kein Sprengmeister, kein Clown, kein Schamane. Dennoch drängen sich genau diese Bezeichnungen assoziierend auf – um festzustellen, dass es genau das nicht ist, was Roman Signer ausmacht.3 Oder wenn schon, dann nur in der Summe (oder in der Differenz?). Seine Kunst ist keine »Konzeptkunst«, kein »Minimalismus«, erst recht – auch wenn das hier gewählte Beispiel es in gewisser Weise behauptet – keine »Land Art«. Der Versuch, die üblichen Gat1 2 3 Pazzini, Karl-Josef: Über die Produktivität von Unsinn – Ex- und Implosionen des Imaginären, in: Warzecha, Birgit (Hg.): Hamburger Vorlesungen über Psychoanalyse und Erziehung, Hamburg: Lit Verlag 1999, S. 137-158, 141. Vgl. http://mms.uni-hamburg.de/blogs/pazzini/wp-content/uploads/ 2008/03/unsinn.pdf. Ebd. Senser, Armin: Roman Signer, in: BOMB Nr. 105/ Fall 2008. Vgl. http://bombsite.com/issues/105/articles/3176. Abhörmaßnahmen 25 tungsbegrifflichkeiten anzusetzen, führt zu Unsinn. In diesem Fall allerdings zu gänzlich unproduktivem. Seine Aktionen sind keine »Installationen« und keine »Performances«. Dafür sind sie erstens zu genial und zweitens viel zu lustig. »Ob es gewaltig oder lächerlich wird, ist mir egal«, sagt Roman Signer.4 Am besten trifft deshalb wohl die Formulierung, Signer arbeite an jenen Randzonen der Existenz, »wo sich Erhabenheit und Nonsens auf beruhigende Weise vermischen«.5 Höhere Wesen und schnarchende Künstler Der Mann im Zelt ist der Künstler selbst. Das ist beruhigend. »Vielleicht habe ich hier ganz stille, einfache Träume gehabt. Einfach so ein Schweben in der Natur.« Ein paar Minuten zuvor erzählt Roman Signer von seinen Eindrücken auf der IslandReise. »Es ist so eine Stimmung in der Natur, die Nacht bedeutet, obwohl es Licht hat. Aber Nacht ist offenbar auch ein Rhythmus – es ist halt doch Mitternacht. So eine Andacht ist in der Natur, so eine Ruhe, so ein Warten. Sie liegt so da, diese Landschaft, so verhalten, und erwartet den neuen Tag.«6 Insbesondere die skandinavische Sommernacht hat es ihm wohl angetan: Die Dauer der Tageshelligkeit ist dort höher als in südlichen Ländern. Das liegt an der Neigung der Erdachse. Weil die Lichtstrahlen der Sonne in der Atmosphäre stark gebrochen werden, ist es dort im Sommer auch nachts hell. Auch wenn die Sonne am Horizont gar nicht zu sehen ist. Das indirekte Licht sorgt für ständig schimmernde Dämmerung in der Nacht. Vielleicht hat das zu sehr irritiert, dieses Licht in der Nacht, diese Stimmung in der Natur. Diese Stimmung, die »Nacht bedeutet«, aber irgendwie nicht Nacht ist. Vielleicht meinte Signer, die Landschaft zur Nacht überreden zu können, indem er wenigstens für den richtigen Soundtrack sorgt? Indem er – ich weiß nicht wem, vielleicht irgendwelchen höheren Wesen (die über die Beleuchtung wachen) – auf seine naiv scheinende, aber hinterlistig wirkende Art zu verstehen gibt, dass es eigentlich nun Nacht und also dunkel zu sein hat. Künstler hätten, so sagte man vor einiger Zeit, einen besonders kurzen Draht zu solch höheren Wesen. Sie wurden von Musen geküsst, von Göttern gezeugt, mit dem ihnen eingehauchten Ingenium gab – wie Kant es formulierte – die Natur der Kunst die Regel. 7 Das Künstler-Sein bestand exklusiv in diesem kurzen Draht zum 4 5 6 7 taz Berlin, zitiert nach http://www.peterliechti.ch/page.php?de,0,10,4. Claus Löser, Tipp, zitiert nach http://www.absolutmedien.de/main.php?view=film&id=440. Liechti, Peter: »Signers Koffer. Unterwegs mit Roman Signer«, Schweiz 1995; 0:57:52–0:58:20. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft §46. 26 Torsten Meyer Höheren. Höhere Wesen befahlen und Künstler führten aus: obere rechte Ecke schwarz, Trekkingzelt innen blau.8 Aber war nicht der kurze Draht als kommunikative Einbahnstraße gedacht? Der Künstler hört, die Wesen befehlen. Funktioniert das auch in die andere Richtung? Ob Signer seinen Hinweis auf die falsche Beleuchtung schnarchend vermitteln kann? Skepsis ist angesagt. Die Nacht bleibt hell. Babyphone Wenn man Kinder allein lässt, reicht oft die Ermahnung, keinen Unsinn zu machen. Sobald es ein Überich gibt, das angeknipst werden kann, funktioniert das. Bei jüngeren Kindern greifen sorgende Eltern anstelle dessen gern zum Babyphone. Die Abhöranlage gibt eine gewisse Sicherheit. Unregelmäßigkeiten, Gefahr, Unsinn würden sich aller Wahrscheinlichkeit nach akustisch bemerkbar machen. Man kann dann schnell ins Kinderzimmer gehen und nach dem Rechten sehen. Schlafgeräusche hingegen beruhigen die Eltern. Wer schläft, sündigt nicht und macht auch sonst keinen Unsinn. Unsinn macht man mit vollem Bewusstsein. Schlaflabor Der Künstler hat sein Überich ausgeknipst und ist schlafen gegangen. Das Licht hat er angelassen. – Wir sehen dann besser, was geschieht. Das Genie war sich selbst immer ein Geheimnis, schrieb Schiller.9 Vielleicht ging es Signer darum, dieses Geheimnis zu erforschen. Das ganze Setting – Zelt, Schlafplatz, Mikrofon, Verstärkeranlage – könnte ein Versuchsaufbau sein, ein Experiment in freier Natur, ungestörte Empirie. Die Abhöranlage dient dem Versuch, das Ingenium zum Sprechen zu bringen, die höheren Wesen bei der Inspiration direkt zu belauschen, irgendwie mess- und wahrnehmbar zu machen, was da im Imaginären geschieht. Vorsichtshalber – Enlightenment! – bleibt das Licht an. Der Schlaf/Traum der Vernunft könnte Ungeheuer gebären. (Aber nur im Dunkeln.)10 8 Vgl. Sigmar Polkes inzwischen zur Klassik gewordene Auseinandersetzung mit dem Künstlerbild der Moderne (Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!, 1969) oder auch Jonathan Monks Untitled (Höhere Wesen befahlen) von 2007, in der er Polke formal und maßstabsgetreu kopiert, aber genau das Gegenteil von dem tut, was die höheren Wesen (Polke) befahlen: Er färbt die rechte obere Ecke in allen erdenklichen Farben – orange, blau, braun, gelb, grau … – nur nicht schwarz. 9 Schiller, Friedrich (1795/96): Über naive und sentimentalische Dichtung, S. 18, in: Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie, S. 44943 (vgl. Schiller, Friedrich: S.W., Bd. 5, S. 704f.). 10 Am Rand mitdenken kann man Goyas Schlaf/Traum der Vernunft (Capricho No. 43, 1799). Abhörmaßnahmen 27 Nun gilt es, die Schlafgeräusche des Künstlers zu interpretieren, den Soundtrack seiner genialischen Träume in helllichter Nacht. Was brütet er aus? Er birgt ein Geheimnis, dieser schlafende Künstler. Ein Geheimnis, das er exklusiv teilt mit jenen höheren Wesen. So jedenfalls unser Verdacht. Er weiß etwas, so unterstellen wir. Aber er weiß es nicht wirklich. Er könnte es uns nicht sagen. Er weiß es ungewusst. Er ist eines Wissens verdächtig, das er selbst nicht kennt. Das Genie weiß ohne wirklich zu wissen. Das Subjekt – supposed to know, aber unwissend. Es ist Medium. Es weiß nicht, was es weiß. Das Genie verfährt – Schiller schrieb es – »nicht nach selbst erkannten Prinzipien, sondern nach Einfällen und Gefühlen; aber seine Einfälle sind Eingebungen eines Gottes, seine Gefühle sind Gesetze für alle Zeiten und für alle Geschlechter der Menschen«.11 Lauschangriff Supposed to know, verdächtig eines ungewussten Wissens. Nur ein Richter darf das Abhören und Aufzeichnen von nicht-öffentlichen Äußerungen eines solch Verdächtigen anordnen. Der Abgehörte muss eines wirklich schwerwiegenden Wissens verdächtig sein, und anderweitige Ermittlungen dürfen nur wenig erfolgversprechend oder wesentlich erschwert sein. (Kein Zweifel, die Maßnahme ist gerechtfertigt. Immer noch, auch ohne Genie und höhere Wesen. Die bildenden Wirkungen lassen sich anderweitig nicht oder nur wesentlich erschwert erzeugen.) Dabei müssen die Überwacher aber sicherstellen, dass höchst private Äußerungen, wie z.B. Selbstgespräche, nicht erfasst werden. Sie müssen die Maßnahme sofort unterbrechen, sobald sie erkennen, dass – Was wäre mit Träumen? Trauminhalten, Imaginärem? Selbstgesprächen, Privatsprachen? – es sich um solche privaten Äußerungen handelt.12 Nur das Symbolische gehört ins Protokoll (zum Beispiel auf den Lehrplan), nur das, was man mit anderen teilen kann, kleinste Nenner. Innerungen sollen keine Äußerungen sein. Eigentlich. Und Schule soll Sinn produzieren, Traditionen, Gewohnheiten, Konventionen, Überich. Public Address Roman Signer schläft nicht nur in unberührter Natur. Wäre er eingeladen, so spekuliert er, etwas in einem Museum zu machen, er würde auch dort schlafen: »Weil ja 11 Ebd., S. 17. 12 Vgl. die »Rechtstipps« zum Thema »Abhören, Überwachen, Durchsuchen« unter http://www.anwalt. de/rechtstipps/abhoeren-ueberwachen-durchsuchen-was-ist-erlaubt-bei-verdacht-einer-straftat_000797. html [31.03.2010]. 28 Torsten Meyer viele Museen ziemlich langweilig sind, würde ich im Museum einfach schlafen. Ich wäre also nur nachts dort, abgeriegelt von Securitas-Wächtern und ihren Wolfshunden. Über dem Bett wären ein Mikrofon und ein Verstärker angebracht, und vor dem Museum stünden riesige Lautsprecher. Während ich also drinnen schlafe und schnarche, wäre in der Stadt auf dem Platz vor dem Museum ein schauriges Schnarchen zu hören. Tagsüber stünde einfach mein leeres Bett im Raum, am Abend käme ich dann wieder und würde darin schlafen, und so fort, während der ganzen Ausstellung.«13 Interface Mit dem Museum geht es um einen bestimmten Platz in der Symbolischen Ordnung. Wenn Wolfshunde und Securitas darüber wachen, erst recht. Die riesigen Lautsprecher tun ein Übriges. Das Geheimnis wird hinausgeblasen in die öffentliche Nacht. Es ist der Platz des Überich, Statthalter des Symbolischen. Eigentlich. Ein Platz, der – so Pazzini – »die Unterstellung des Wissens« erleichtert. 14 Das erfordert aufwendige Inszenierungen. Große Türen, hohe Fenster, Treppenaufgänge, Altar-Architekturen, Wachpersonal, Eintrittskarten, Öffnungszeiten. Oder Schulgebäude, Klassenzimmer, Lehrerpulte. Und Lehrer, die das Spiel mitspielen. In freier Natur würde auch ein Zelt genügen mit Lautsprecherboxen links und rechts, die für die Übertragung bereitstehen. Wichtig wäre aber, dass der Eingang verschlossen ist. Kein Einblick. So eine Black Box, in die man nicht hineinsehen kann, nur ahnen, was darinnen geschieht. Und dann ein schauriges Schnarchen aus den Lautsprecherboxen. Soundtrack des Imaginären, wo eigentlich das Symbolische seinen Platz hat. Un-Sinn. (Nicht NichtSinn!) Kunst-Unterricht. Übertragung Pazzini? Der ist üblicherweise der Verdächtige. Supposed to know. Verdächtig, Imaginäres ins Symbolische zu mischen, das eine auf das andere zu beziehen. Und beides aufs Reale. Seit bald 20 Jahren. Danke! Und herzlichen Glückwunsch! 13 Vgl. Liechti, »Signers Koffer«, DVD-Umschlag. 14 Pazzini, Karl-Josef: »Unmögliche Mission. Notizen zur Lehrbarkeit und zum Lehren in der Psychoanalyse«, in: André Michels/Peter Müller/Achim Perner et al. (Hg.): Jahrbuch für Klinische Psychoanalyse, Bd. 8, Wie ist Psychoanalyse lehrbar? Tübingen 2008, S. 212–235, S. 223.