Kathrin Röggla
Herausgegeben von Iuditha Balint, Tanja Nusser und Rolf Parr
Gefördert durch das Charles Phelps Taft Research Center der University of Cincinnati und die
Universität Duisburg-Essen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abruf bar.
ISBN 978-3-86916-543-1
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die
nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung
des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielf ältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen,
Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2017
Levelingstraße 6a, 81673 München
www.etk-muenchen.de
Umschlaggestaltung: Victor Gegiu
Umschlagabbildung: Karsten Thielker
© Abb. S. 275: Mit freundlicher Genehmigung des Verlagshauses Jacoby & Stuart.
Satz und Bildbearbeitung: DOPPELPUNKT, Königstraße 54 B, 70173 Stuttgart
Druck und Buchbinder: Vereinigte Druckereibetriebe Laupp&Göbel GmbH, Robert-BoschStraße 42, 72810 Gomaringen
Inhalt
Iuditha Balint, Tanja Nusser, Rolf Parr
Kathrin Rögglas Texte: Traditionslinien und Genres, literarische
Verfahren, Diskurse und Themen 9
Traditionslinien, Genrefragen
Iuditha Balint
Die Frage literarhistorischer Genrezuordnungen.
Erika Runges Bottroper Protokolle (1968) und Kathrin Rögglas
wir schlafen nicht (2004) 15
Nils Demetry
Zwischen engagierter Literatur der 1960er und Popliteratur der
1990er Jahre: Röggla/Verschuers Publikumsberatung 33
Irmtraud Hnilica
»im berühmten eigenen ton«: Kathrin Rögglas und Elfriede Jelineks
Bearbeitungen der Kampusch-Entführung 41
Sonja Lewandowski
Wi(e)der eine Grammatik der Ausnahme.
Kathrin Rögglas die alarmbereiten 54
Poetische Verfahren
Andreas Stuhlmann
»Kleine Textmonster« – Zu Kathrin Rögglas poetischem
Verfahren 79
Nicolai Glasenapp
Körper-Raum-Relationen. Status und Dynamik in Prosatexten
Kathrin Rögglas 107
Eva Kormann
Wer spricht? Zur »wackeligen« Sprechposition bei
Kathrin Röggla 124
Michael Navratil
Einspruch ohne Abbildung. Zur doppelten Diskursivität von
Kathrin Rögglas Dokumentarismus 143
Natalie Moser
Echtzeit-Fiktion. Zur Funktion des Protokolls und der Übung
in Kathrin Rögglas die zuseher (2010) 161
Rolf Parr
Das Spiel mit Texten, Fotos und Realismus-Effekten in Kathrin
Rögglas really ground zero 181
Mara Stuhlfauth-Trabert
»der schwerkraft der meisten japan-erzählungen« entgegen –
Kathrin Rögglas und Oliver Grajewskis tokio, rückwärtstagebuch 196
Diskurse, Themen
Tanja Nusser
»Doch wir können nicht einmal über die Gegenwart klare Aussagen treffen.« Die Gegenwart als Ausnahmezustand in Rögglas
Werk 219
Christian Sieg
Latenzzeiten und Diskursgewitter. Die Abwesenheit der Katastrophe und die Präsenz des Risikos in Kathrin Rögglas die alarmbereiten 236
Sabine Nöllgen
Futur Zwei. Diskurse der Zukunftsfähigkeit im Werk Kathrin
Rögglas 256
Kyra Palberg
»short sleeping, quick eating« – Produktivität und Sprechen bei
Kathrin Röggla 278
Katharina Gerstenberger
Zur Einschätzung von Umweltrisiken: Kathrin Rögglas Dokumentarfilm Die bewegliche Zukunft 298
Stefan Höppner
Geheimamerika – Daheim-Amerika? Zu Kathrin Rögglas USABild in really ground zero und fake reports 319
Felix Saure
UNgewisse Aussichten auf der Weltbühne. Zu Kathrin Rögglas
NICHT HIER oder die kunst zurückzukehren 339
Beiträger_innen
358
Sonja Lewandowski
Wi(e)der eine Grammatik der Ausnahme
Kathrin Rögglas die alarmbereiten
I. »[…] immer mit einem ausnahmezustand rechnen,
als wäre der immer einkalkuliert«
In den sieben ›Kapiteln‹ der ›Erzählsammlung‹ die alarmbereiten (2010), die
isoliert voneinander gelesen, zugleich aber ebenso als lose fortschreitende
Entwicklungsgeschichte eines namenlosen Ichs interpretiert werden können, bilden verschiedene Ausnahmezustände den unsicheren Boden der
erzählten Welt. Bereits auf dem gellenden Buchumschlag deutet sich die
Oliver Grajewskis Covergestaltung zu Kathrin
Rögglas die alarmbereiten
(2010)
54
Kathrin Rögglas die alarmbereiten
zwischen Bedrohlichkeit und Faszinationssog oszillierende Wirkkraft katastrophaler Zustände an: Die psychedelisch-grelle Gestaltung des Hintergrunds steht in starkem Kontrast zu den scherenschnittartigen Bedrohungsszenen, die in ihrer starken Konturierung lediglich Schatten ihrer Selbst
bleiben: ein vermummter Mann, untergehende Häuser, eine Hubschrauberformation, die dem Rezipienten entgegenzuf liegen scheint, sich wegduckende oder ängstlich gen Himmel blickende Menschen. Kontrastiert wird
die bunte, sogartige Konturlosigkeit des Hintergrunds damit durch konturstarke, jedoch schemenhaft verbleibende Bedrohungsmotive, wodurch eine
buchstäbliche Bedrohungskulisse entsteht, die ihre eigene Künstlichkeit
gleich mitverhandelt. Das von Oliver Grajewski gestaltete Cover visualisiert
die Faszinationskraft, die der Erzählung vom Ausnahmezustand innewohnt
und die sich aus diesen beiden Elementen zusammensetzt: jenem bunten,
entschärften Unterhaltungsmoment sowie andererseits den dunklen Bedrohungsszenarien aus etablierten Schnittmustern, die lediglich eines Umrisses
benötigen, um als Gefahr erkannt zu werden.
Mit einem weiteren Blick auf den Rückseitentext, der fragt: »Sind wir die
Helden in einem Katastrophenfilm? […] Unsere Welt im Ausnahmezustand:
Finanzkrise, Klimakatastrophe, Entführungsfälle. Das Leben wird zum worstcase-Szenario. Oder sind diese Panikszenen eine große Fiktion?«1, wird deutlich, dass der Peritext bereits die Derealisierungstendenzen des Katastrophendiskurses aufgreift, die sodann in die alarmbereiten in Form von verschiedensten
Szenarien der Ausnahme2 durchgespielt werden. Allerdings stehen im Zentrum des Erzählens vom Ausnahmezustand bei Röggla nicht die Ereignisse, die
einen ebensolchen auslösen – die Bedrohungsszenarien bleiben Schatten ihrer
selbst, darauf weist der Peritext bereits hin –, sondern die Kommunikation, das
gesprochene Wort, das den Ernstfall begleitet oder auch erst hervorruft.3 Da-
1
2
3
Kathrin Röggla: die alarmbereiten. Frankfurt a. M. 2010.
Vgl. hierzu: Matthias Schaffrick, Niels Werber (Hg.): Szenarien der Ausnahme in der
Populärkultur. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Jg. 46, 3/2016,
S. 311–320.
Daher wird in diesem Aufsatz auch auf den Begriff des Ausnahmezustands zurückgegriffen und nicht auf den der Katastrophe, denn die Erzählung vom katastrophischen Ereignis
weicht bei Röggla der Verhandlung der Reaktion auf ein solches, die sich in der titelgebenden Alarmbereitschaft äußert. Die Alarmbereiten leben im permanenten Ausnahmezustand, und sei dies auch ›nur‹ ein imaginierter, in dem die Katastrophe entweder gerade
stattgefunden hat oder unmittelbar bevorzustehen scheint. Zudem greift der Bezug auf
den Ausnahmezustand in dem Sinne weiter, als dass die Erzählungen in der säkularisierten
Jetztzeit verortet sind und somit als Reaktion auf den extremen Notfall konkrete (sicherheits-)politische Konsequenzen folgen anstelle eines ehemals erhofften apokalyptischen
Erlösungspotenzials.
55
Sonja Lewandowski
mit verweigert sich das Erzählen hier nicht nur der konventionellen AbHandlung des Ausnahmezustands, die sich beim actionreichen Katastrophennarrativ maßgeblich durch Ereigniskaskaden auszeichnet, sondern deutet
zugleich darauf hin, dass die Imagination des Ausnahmezustands in Form eines Szenarios »nicht das Ereignis oder der Zustand der politischen Ausnahme
selbst« ist. Es handelt sich vielmehr um »fiktionale Versuchsanordnungen,
Möglichkeitsräume, in denen das Undenkbare, Unerwartbare, Unwahrscheinliche, Außergewöhnliche, kurzum: die Ausnahme konkretisiert werden
kann«.4 Inwiefern die alarmbereiten diesen Unterschied präsent hält, beispielsweise durch die chronisch intermediären Situationen, soll im Folgenden anhand der ersten und letzten ›Erzählung‹5 des Bandes – die zuseher und deutschlandfunk bündeln als lose erzählerische Klammer den ›Erzählband‹ – aufgezeigt
werden. An beiden Erzählungen kann außerdem veranschaulicht werden, wie
Röggla die dem Katastrophengenre anhängenden Dramatisierungsmuster,
wiederkehrende Motive, bevorzugte Protagonist_innen, typische Orte, Abläufe und Ausgänge anspielt, um dann mit ihnen zu brechen. Die aus den
»magischen medienerzählungen« 6 erwachsende Grammatik der Ausnahme
wird in die alarmbereiten einerseits adaptiert, andererseits durch deren ostentative Vorführung und Verfremdung in ihrer Künstlichkeit entlarvt. Indem sich
Röggla selbst wiederum das heuristische Potenzial der Ausnahme zunutze
macht, festgefahrene Ausdrucks- und Wahrnehmungsweisen entautomatisiert7 und den Fokus auf die Sprache über den Ausnahmezustand legt, entkommt sie der Genreerzählung und weist zugleich auf die in ihr angelegten
Normalisierungs- und Legitimierungstendenzen hin. Nicht zuletzt wird
durch die literarische ›Ent-Genrefizierung‹ deutlich, dass der »Ausnahmezustand […] kein Gegenstand [ist], den man anschauen oder anfassen kann, sondern ein erzeugtes Bild, das über Sprache impliziert wird«8.
4
5
6
7
8
56
Schaffrick, Werber: Einleitung (Anm. 2), S. 316.
Man könnte auch von Szenen oder Kapiteln sprechen, wobei jeder Versuch der Gattungsbestimmung knapp danebengreift.
Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 44.
Vgl. Victor Sklovskij: Die Kunst als Verfahren. In: Jurij Striedter (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München
4
1994, S. 3–35.
Anna-Lena Dießelmann: Ausnahmezustand im Sicherheits- und Krisendiskurs. Eine diskurstheoretische Studie mit Fallanalysen. Siegen 2015, S. 30.
Kathrin Rögglas die alarmbereiten
II. die zuseher – »eine zusätzliche aufmerksamkeit
den zusatzdingen«
In der den Band eröffnenden Erzählung die zuseher verengen, ja verkrampfen
sich der Blick und das Sprechen auf eine kommende Katastrophe, deren Eintreten sich trotz aller »Präventivrede«, »Antizipationswut« und »Erfassungsgier« der Sichtbarkeit der Zusehenden entzieht.9 Das Zusehen wird zunächst
mit der passiven Teilhabe an einem Geschehen verbunden, das allerdings auch
voyeuristische Züge annehmen kann, wenn etwa Schaulustige einer Unfallsituation beiwohnen. Mit Blick auf den Titel der zweiten Erzählung, die ansprechbare, verfestigt sich der Eindruck, dass auch über die erste Erzählung
hinaus auf einen Unfall hingewiesen wird. In der letzten Erzählung des Bandes, deutschlandfunk, wird schließlich von einem im Sterben liegenden ›Ich‹
erzählt, das »platz machen« muss »für wichtigere themen«.10 Ist das kaum vernehmbare ›Ich‹, das beinahe ausschließlich medial-gebrochen und über andere besprochen zu Wort kommt, womöglich Opfer der eigenen Daueralarmiertheit,
die aus dem permanenten »massenmediale[n] Werden der Katastrophe«11 erwächst? Man kann an dieser Stelle auf den von Paul Virilio konstatierten
»Unfall der Wahrnehmung«12 hindeuten, der sich aus den Ereigniskaskaden
gegenwärtiger Katastrophennarrative und der faktualen Berichterstattung ergibt: Dabei handelt es sich um eine Dramaturgie, deren Hauptziel es ist, »niemals die durch diese katastrophalen Szenen erzeugte Gefühlskette [zu] unterbrechen«.13
Diese Karambolage der Sinneseindrücke wird durch die zunehmende »audiovisuelle[ ] Geschwindigkeit« verursacht, ein »Schicksal[ ]«, das die »zahllose[ ]
Masse der Fernsehzuschauer«14 erleidet und in einer »Stereoangst« mündet,
die, so Virilio, die »Furcht vor dem Mangel an öffentlicher Sicherheit« vermengt mit der »Furcht vor den Bildern der ›audiovisuellen‹ Unsicherheit«.15
Ebendiese nicht abreißende »Gefühlskette«16, die stets ein Mehr an Katastrophe benötigt, um die Spannung zu halten, wird in der halbseitigen, kursiv
9
10
11
12
13
14
15
16
Kathrin Röggla: Geisterstädte, Geisterfilme. In: Dies.: besser wäre: keine. Essays und
Theater. Frankfurt a. M. 2013, S. 7–22, hier S. 21.
Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 188. Die Lesart eines prekären, kaum vernehmbaren ›Ich‹, das durch die Erzählungen wandert, gälte es an anderer Stelle zu vertiefen.
Ulrich Beck: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt a. M. 32015, S. 133.
Paul Virilio: Der eigentliche Unfall. Aus dem Französischen von Paul Maercker. Wien
2009, S. 39.
Ebd., S. 33. Kursivsetzungen stammen von den zitierten Autor_innen.
Ebd., S. 40.
Ebd., S. 34.
Ebd., S. 33.
57
Sonja Lewandowski
gesetzten Exposition zu die zuseher offenbar, die in ihrer Vagheit die Grundstimmung des ganzen Buches fasst: »mal sehen, ob die wälder wieder brennen, mal
sehen, ob starke hitze uns entgegenschlägt. mal sehen, ob der rauch die tiere aus den
büschen treibt, deren namen wir nicht kennen, mal sehen, ob das eine stille nach sich
zieht.«17 Insgesamt dreizehn Mal setzt die unsichere Vorhersage zu dem semantisch mehrfach überdeterminierten »mal sehen, ob« an, wodurch die Vielschichtigkeit der festen Wortfügung entfaltet werden kann. Verknüpft mit
der subordinierenden Konjunktion ob erfährt das mal sehen eine ›UrteilsStellung‹ und lässt zugleich die folgenden Szenarien in jenen Angstraum der
Ungewissheit abgleiten, den die Antizipation möglicher Ereignisse errichtet
hat. In seinem mystischen Habitus erinnert der Prolog nicht zuletzt an die
hypothetische Wahrnehmungsform des Hellsehens – schon die der Zahl 13
anhängende Mystik verweist auf die Magie der Erzählung von Bedrohungsszenarien. Auch könnte man die Betitelung des Zusehers als eine Fusion der
Figur des Zuschauers mit der des Hellsehers deuten. Einerseits wird durch
das »mal sehen« in Verbindung mit dem Titel die zuseher erneut die Konnotation eines voyeuristischen Zuschauens bei katastrophalen Großereignissen
lebendig, denn die repetitive Struktur greift syntaktisch die gierige Erwartungslust nach dem Zusehen bei der (nächsten) Katastrophe auf. Andererseits
kann das »mal sehen« als Verlegenheitsausdruck gedeutet werden, der ein Ausweichen gegenüber einer eindeutigen Festlegung signalisiert. In ihrem unentschlossenen Gestus widerspricht diese Vorausschau damit allerdings ihrem prophetischen Stil und kommt der mutmaßenden Szenariotechnik nahe.
Denn »[a]nders als Prophezeiungen oder Visionen, die immer eine einzige,
garantiert eintreffende Zukunft zu beschreiben vorgeben, können hypothetische Narrative das Verhältnis eines Wissens von der Zukunft zu dieser
kontingenten Zukunft deutlich machen«18. Wenn der Prolog ver schiedene
Untergangsvisionen anspielt, dann bedient er sich dabei einer apokalyptischen
Metaphorik – brennende Wälder, schwarzer Wind, Wasser massen, brechende Dämme, Staubwolken19 –, wobei »[i]n den säkularen Katastrophen
[…] die Motive der Apokalypse nur noch Versatzstücke, Zitate, entfernte
Ähnlichkeiten [sind]«20. Damit greift Röggla ein gängiges Verfahren »popu-
17
18
19
20
58
Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 7.
Eva Horn: Zukunft als Katastrophe. Frankfurt a. M. 2014, S. 40.
Vgl. Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 7.
Eva Horn: Enden des Menschen. Globale Katastrophen als biopolitische Fantasie. In: Reto
Sorg, Stefan Bodo Würffel (Hg.): Apokalypse und Utopie in der Moderne. München
2010, S. 101–118, hier S. 101. Vgl. auch Hartmut Böhme: Vergangenheit und Gegenwart
der Apokalypse. In: Natur und Subjekt. Frankfurt a. M. 1988, S. 380–399: »Die Apoka-
Kathrin Rögglas die alarmbereiten
läre[r] Unterhaltungsfiktionen« auf, die durch die Verschaltung von »modernen Vernichtungsszenarien und den biblischen Welt untergangsnarrativen«21
bei den Rezipient_innen eine Angstlust22 an den Untergangsszenarien erzeugen. Allerdings errichtet der Prolog einen dunkel leuchtenden Erwartungshorizont, der im Endeffekt erlischt, denn ein pompöses Katastrophennarrativ bleibt aus. Was tatsächlich passiert, spielt sich geradezu unverschämt
still zwischen den Zeilen ab oder bleibt in der letztlich unbefriedigenden
Möglichkeitsform. Einen ersten Erwartungsbruch stellt bereits der jähe
Wechsel von der abgründigen Vorrede zum ›profanen‹ Protokoll dar, denn
nun folgt eine Gesprächsaufzeichnung, die den Ausnahmezustand versachlicht, wie es das Geschäft der Risikokalkulation für sich brauchbar macht.
Aber ebenso wie die ominöse Vorhersage – und auf diese Analogie weist die
unmittelbare Aufeinanderfolge von sachlicher auf prophetische Antizipation
der Katastrophe hin – enthalten Risiken, so Ulrich Beck, »ein hohes Maß
von Irrealität« und sind »Resultate von Inszenierungen«.23 Sie sind »soziale
Konstruktionen und Definitionen auf dem Hintergrund entsprechender Definitionsverhältnisse. Sie existieren in Form eines (wissenschaftlichen und alternativwissenschaftlichen) Wissens. Folglich kann ihre ›Realität‹ dramatisiert oder
minimiert, verwandelt oder schlicht geleugnet werden gemäß den Normen,
nach denen über Wissen und Nichtwissen entschieden wird.«24
Die Protokolllegende suggeriert, dass in einem Tagungsraum in Los Angeles eine Gruppe zur Lageeinschätzung eines Parkplatzes zusammenkommt,
auf dem sie den Ernstfall erwartet. Die Gruppe setzt sich aus Führungskräften der Baubranche, einem Physiker sowie einem EU-Beauftragten der
Strukturförderung Ost zusammen.25 Allerdings handelt es sich auch bei dieser Zuschreibung um eine Inszenierung, da die Zuseher_innen lediglich
Rollen in einem Planspiel übernehmen, wie der Protokollant am Ende der
Erzählung zu erkennen gibt, wenn er »gegen sämtliche abkommen der desastertourism-agentur verstößt«26 und Hilfe holt.
Innerhalb des Planspiels werden vor allem technokratische Stimmen laut,
die sich mitunter einer Risikorhetorik bedienen. Die zwischen Unterneh-
21
22
23
24
25
26
lypse wird zum Bildreservoir, aus dem säkulare Interessen sich sättigen. Damit zugleich
werden die heiligen Visionen arbiträr […].« (Ebd., S. 390).
Horn: Enden des Menschen (Anm. 20), S. 101.
Vgl. Thomas Anz: Angstlust. In: Lars Koch (Hg.): Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, Weimar 2013, S. 206–217.
Beck: Weltrisikogesellschaft (Anm. 11), S. 66.
Ebd.
Vgl. Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 8.
Ebd., S. 26.
59
Sonja Lewandowski
mer- und Unterhaltungssprech oszillierende Sprache steckt die Felder ab, auf
denen das Denken über die Ausnahme fruchtbaren Boden gefunden hat:
Wasservorräte müssen »unbedingt angelegt« werden, »zu tankstellen hin, von
tankstellen weg, das ist doch jetzt die devise«, »in dieser stadt [würde man]
immer mit einem ausnahmezustand rechnen, als wäre der immer mit
einkalkuliert«.27 Es werden »hypothetische[ ] bemerkungen über warnlücken
und organisationslücken«28 gemacht.29 Noch stärker bedienen sich die Sprechenden einer der Unterhaltungsindustrie entnommenen Semantik: Es wird
gefragt, ob »so die menschen aus[sehen], die bald von der bildf läche verschwunden sein werden?«30 ; Gesprächen wird »entgegengefiebert«31, »man
dürfe nicht abschalten«32, »auch er habe in den letzten minuten nichts als
plünderungen im kopf gehabt, weil die doch immer an dieser stelle dran
seien«33, »jemand müsse diese geschichte hier überlebt haben, das sei doch so
üblich, oder?«34. Die Erwartungshaltung ist durch eine genretypische Dramaturgie geprägt. Es wird auf Plotpoints, bestimmte Steigerungs- und Entspannungsmomente gewartet.
Das für die Katastrophenerzählung in Genremanier zentrale Erzählen von
Ereignissen findet allerdings nicht statt. Durch die Form des Protokolls wird
»die permanente gegenwärtige Erzählzeit, das Jetzt, Jetzt, Jetzt«35 der Katastrophe, die sich über die szenische Gleichzeitigkeit des Erzählens ergibt, angespielt und zugleich gestört, denn ein Protokoll ist immer ein Nachtrag des
Gesprochenen. Indem der Fokus auf der Erzählung des gesprochenen und
durch Indirektheit häufig gebrochenen Wortes anstelle der von Ereignissen
liegt, enttäuscht das Erzählen die für das Katastrophengenre zentrale Affektstruktur der Leser_innen: die Erzeugung von Spannung.36 Denn »[u]m
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
60
Ebd., S. 8.
Ebd., S. 13.
Die Kommunikation über den Ausnahmezustand offenbart, dass sich der Verwendungsrahmen der einst politisch-juridischen Kategorie des Ausnahmezustands erweitert hat und
die Zuständigkeit für die Ausnahme verändert. Der Ausnahmezustand wird Gegenstand
präventiver Planung, ein stets einkalkuliertes Risiko. Vgl. zur veränderten Gestalt des
Ausnahmezustands, seiner Entgrenzung und Permanenz: Giorgio Agamben: Ausnahmezustand. Frankfurt a. M. 2003; Beck: Weltrisikogesellschaft (Anm. 11).
Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 9.
Ebd., S. 31.
Ebd., S. 30.
Ebd., S. 20.
Ebd., S. 25.
Kathrin Röggla: Essenpoetik. Drei Vorlesungen als Poet in Residence an der Universität
Duisburg-Essen, 1.–5.12.2015. In: https://www.uni-due.de/imperia/md/content/germanistik/lum/roeggla-essenpoetik.pdf (10.10.2015), S. 53.
Matías Martínez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 9. erweiterte und
aktualisierte Auf l.. München 2012, S. 167 f.
Kathrin Rögglas die alarmbereiten
Spannung zu erzeugen, muss die Handlung eines Textes ein Anfangsereignis
enthalten, dessen Folgen sich für die Protagonisten besonders gut oder
besonders schädlich auswirken können […]«37. Welches Ereignis aber steht
am Anfang von die zuseher? Ein Prolog, der erst ›mal sehen muss, ob‹ etwas
passiert, und ein Protokoll der ersten Sitzung, das nicht vorliegt: »vermutlich
ging es im zusammenhang mit den vorkommnissen um paul kirchstätter verloren.«
Auf den ersten Blick negiert die Erzählung also eine Initialzündung des
Spannungsbogens. Die angedeuteten »Vorkommnisse« werden nicht weiter
erläutert. Erst auf den zweiten Blick verknüpfen sich die Vorkommnisse um
Paul Kirchstätter, der zuvor die Gruppenleitung übernommen hat und der
»agentur ›desastertourism‹«38 angehört, mit dem sukzessiven Verschwinden
der Seminarteilnehmer_innen. Diese sehr leise Erzählung ist in dem alarmierten Redeschwall allerdings kaum zu vernehmen.
Auch die scheiternde Gattungsbestimmung verhindert ein Abrutschen in
die konventionelle Erzählung vom Ernstfall und dessen Verhandlung, denn
die alarmbereiten changiert zwischen kleinsten narrativen Passagen wie dem
Prolog und Elementen, die dem dramatischen Nebentext nicht unähnlich
sind, etwa die Protokolllegende, und verweilt zu großen Teilen in der dramatischen Rede, nicht ohne auch hier ständige Brechungen einzubauen.
Diese polymodale Erzählweise führt dazu, dass die Erzählung sich nicht innerhalb einer Form einrichten und eine homogene Erzählweise in Genremanier etablieren kann. Jeder Wechsel zu einer neuen Darstellungsebene zeigt
für die vorherige deren Künstlichkeit auf, etwa der von der prophetischen
Vorrede zum Protokoll. Jede Unterbrechung, jeder Wechsel zu einer neuen
Erzählform unterbricht den Erzählf luss und vergegenwärtigt damit ständig
den Akt des Erzählens als Finden einer Form. Zugleich wechselt der Erzählmodus unauf hörlich zwischen direkter und indirekter Rede, wobei Letztere
tendenziell dominiert.
Hinzu kommt die extensive Verwendung des Konjunktivs, die maßgeblich ein Klima der Vagheit erzeugt, denn durch den Konjunktiv werden
Aussagen »nur mittelbar und ohne Gewähr wiedergegeben, als möglich vorgestellt, irreal dargestellt«.39 Was der Prolog zwar noch im Indikativ, aber mit
der abwägenden »mal-sehen«-Formel in Gang bringt, setzt die konjunktivische Rede fort: eine Möglichkeitsform(el). Nicht zuletzt ist »die grammatische Form des Konjunktivs nach Arno Schmidt das ›linguistische Mißtrau-
37
38
39
Ebd., S. 168.
Ebd., S. 8.
o.A.: http://www.duden.de/rechtschreibung/Konjunktiv (06.10.2015).
61
Sonja Lewandowski
ensvotum‹«, wodurch die Ereignisse, Protagonist_innen und das Erzählen
»zu sich selbst in ein merkwürdig zweifelhaftes Verhältnis gesetzt werde[n]«.40
Der für Protokolle und Berichte gängige Konjunktiv verdeutlicht außerdem,
»dass nicht die eigene Meinung oder Wahrnehmung […] berichtet, sondern
die Äußerung eines Dritten wiedergegeben wird«.41 Alo Allkemper erörtert
die Wirkung der konjunktivistischen, indirekten Rede unter Bezugnahme
auf Karin Krauthausens Beobachtungen prägnant: »[E]ine solche Rede ist
zunächst eine bearbeitete Rede, sie stellt sich als solche aus und changiert
zwischen mündlicher Präsenz und zeitlich verschobener schriftlicher Wiedergabe und, da Röggla zusätzlich die inquit-Formel ausspart, verliert der
Sprecher und seine Rede an Eindeutigkeit der Aussage und der Zuordnung;
Krauthausen vergleicht das mit der Erzählfigur der ›erlebten Rede‹, die nicht
klar differenzieren lässt zwischen Erzähler- und Figurenrede; […] so greift
doch die künstlich bestimmte Unbestimmtheit indirekter konjunktivistischer Rede auch auf den Redenden über; die Ich-Form fällt weg und damit
das sichere selbstidentische Sprechen, es entsteht immer der Eindruck, dass
jemand gesprochen wird, und gleichzeitig versucht, sich dagegen zu
wehren.«42 Gerade das Aufzeichnungsmedium Protokoll bildet als Schnittstelle zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit dieses ›Gesprochen Werden‹ ab, indem eben Gesagtes sogleich von einem Dritten schriftlich festgehalten, sprachlich womöglich anders eingefärbt und durch den Transfer in
die Schriftsprache abgewandelt wird. Dabei weist der Protokollant direkt zu
Beginn der Erzählung auf die Unvollständigkeit des vorhandenen Berichts
hin, denn »das protokoll der ersten sitzung ist verschwunden […]«43. Dadurch wird
die Ausschnitthaftigkeit des Dargelegten, die Unmöglichkeit einer (nicht
nur medialen) ganzheitlichen Erfassung bereits auf der ersten Seite betont
und der »dokumentarische[ ] […] Gestus eine[r] Wirklichkeitsbehauptung
für das Geschriebene aufgerufen, aber der Gestus sofort als Gestus ausgestellt
und formal gestört […]«44. Gemeinsam mit den typografischen Leerräumen
entsteht eine elliptische Erzählweise, die keinen Anspruch auf Geschlossen-
40
41
42
43
44
62
Alo Allkemper: Kathrin Röggla: ›stottern‹. In: Ders., Norbert Otto Eke, Hartmut Steinecke (Hg.): Poetologisch-Poetische Interventionen: Gegenwartsliteratur schreiben. München 2012, S. 417–430, hier S. 425.
Konjunktiv. In: Wikipedia. https://de.wikipedia.org/wiki/Konjunktiv (06.03.2016).
Allkemper: Kathrin Röggla: ›stottern‹ (Anm. 41), S. 425.
Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 7.
Karin Krauthausen: Gespräche mit Untoten. Das konjunktivistische Interview in Kathrin
Rögglas Roman wir schlafen nicht. In: Hilde Kernmayer (Hg.): Schreibweisen. Poetologien 2. Zeitgenössische österreichische Literatur von Frauen. Wien 2010, S. 191–215, hier
S. 194.
Kathrin Rögglas die alarmbereiten
heit erhebt, sondern die Fragmentierung und Störanfälligkeit des Erzählens
betont. Eine erzählerische Homogenität kann nicht entstehen. Stattdessen
herrscht ein dramatischer Modus vor. Durch die szenische Darstellung wird
zwar auf den ersten Blick eine Art Mauerschau der Ereignisse angeboten, die
eine unmittelbare Nähe zum (wenn auch nur) ›ersprochenen‹ Geschehen
verspricht, allerdings wird den Leser_innen ebendiese Unmittelbarkeit durch
die indirekte/konjunktivische Rede sofort wieder genommen und auch sogleich auf die Künstlichkeit dieser sekundären Oralität hingewiesen. Die
konsequente Kleinschreibung, die treibende Interpunktion und die kurzen
Sätze beschleunigen das Erzähltempo. Durch den häufigen Gebrauch von
Kommata und die Kleinschreibung fingiert die syntaktische Struktur wiederum eine hektische Mündlichkeit, denn zum einen bilden Kommata im
Gegensatz zum Punkt niedrigere Schwellen während des Lesens; zum anderen kann die konsequente Kleinschreibung als Erinnerung an die Mündlichkeit gedeutet werden, schließlich wird in der mündlichen Kommunikation
aufgrund der fehlenden Visualität der Zeichen nicht zwischen Klein- und
Großschreibung unterschieden. Trotz der szenischen Darstellung wohnt
dem Text durch die Protokollform und den dominanten Konjunktiv eine
Nachträglichkeit inne, wie sie auch dem Ausnahmezustand inhärent ist, der
immer nur eine Reaktion auf den Ernstfall ist. Die evozierte Hektik suggeriert den Eindruck eines ständigen ›Zu-spät-Kommens‹ den verzweifelten
Ver such der Zuseher_innen, aber auch des Erzählens selbst, mit den temporeichen Erzählungen des Katastrophischen mitzuhalten.
Dabei scheint der alarmierte, präsentische Redeschwall nicht einmal in
den vielen Leerräumen abzubrechen, in denen die Gespräche offenbar fortgeführt werden. Diese lauten Leerräume ergeben sich dadurch, dass häufig
auf einen Gesprächsteil zurückverwiesen wird, der nicht unmittelbar an das
Ende des vorigen Abschnitts anschließt. Wiederholende Rückfragen zu Beginn des neuen Abschnitts können sich dann nur auf Gesagtes in den Leerräumen beziehen: »was jetzt geschehe? die antwort liege doch auf der hand.«45
Gleichzeitig ignorieren sich die Teilnehmer_innen zunehmend, die Stimmung wirkt angespannt: »aber ob wir ihm überhaupt zuhörten? oder ob wir
mit den gedanken ganz woanders seien.«46, »spreche er etwa nicht laut genug,
liege es daran? er habe den eindruck, als gebe es hier einige, die überhaupt
nicht reagierten.«47 Es entsteht der Eindruck, dass zwischen den Abschnitten
45
46
47
Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 14.
Ebd., S. 10.
Ebd., S. 13.
63
Sonja Lewandowski
eine in ihrer Mündlichkeit verweilende – und daher für die Schriftsprache
unfassbare – Kommunikation stattfindet, wodurch erneut erzählerische
Unzulänglichkeit über die fragmentarische Darstellungsweise betont wird.
In diesem gereizten Aneinandervorbeireden ist die Aufgabe der Semi narteilnehmer zum Scheitern verurteilt, nämlich »eine kommunikation über die
kommenden ereignisse zu entwickeln«48. Trotzdem zeigen die scheiternden
Kommunikationsprozesse einen wesentlichen Effekt der Rede über antizipierte Ernstfälle: Auch ohne den tatsächlichen Einbruch eines katastrophalen
Ereignisses steigern sich die Protagonist_innen in den imaginierten Ausnahmezustand, der maßgeblich durch populäre Szenarien der Ausnahme geprägt
ist. Durch die Übertragung medial-ästhetisierter Darstellungsverfahren auf
die eigenen Wahrnehmungsweisen messen sie unauffälligen Phänomenen
eine gesteigerte Bedeutung bei und deklarieren jegliche Regung als Signal
für eine Ausnahmesituation: »wir beide sollten doch nur einmal hinhören:
alleine, wie die möwen schrien, alleine, wie der wind das gras bewege. man
nehme ja nur noch die lastwagen in der ferne wahr, wie sie vorüberzögen,
dabei könne es gar keine lastwagen mehr geben, die vorüberzögen. es sei ja
niemand mehr da.«49
Eine weitere wesentliche Verweigerungsmaßnahme gegenüber der Genreerzählung bildet der Verzicht auf heldenhafte Protagonist_innen. Einhergehend mit der Vermeidung einer souveränen Erzählsituation glänzt der Erzählband durch die Abwesenheit eines Helden, einer Heldin. Lechzt das
genretypische Katastrophennarrativ nach einem innerdiegetischen, meist
männlichen Souverän, wird in die alarmbereiten bereits die Suche nach einer
individuellen Stimme problematisch. Durch die Sprachbrüche und -filter
kommt ein fremdgesteuertes Subjekt zu Wort, das durch die tagtäglich medial versprühte Verunsicherungssemantik kontaminiert ist und über seine
Sprache, so Joanna Drynda, »die erfahrenen Diskontinuitäten wiederholt«50.
Fragmentiert und verzerrt durch die Rede der anderen sowie die medialen
Filter verrauscht das Ich geradezu: »[…] das sei diese stimme aus dem radio
gewesen, die schon wieder verrauscht sei, allerlei technischer lärm habe sich
über sie gelegt, und jetzt sei nichts mehr von ihr zu hören …«51
48
49
50
51
64
Ebd., S. 11.
Ebd., S. 25.
Joanna Drynda: Verstädterte Körper. Zu Kathrin Rögglas Diagnose postindustrieller
urbaner Befindlichkeiten. In: Marcin Golaszewski, Kalina Kupczyńska (Hg.): Industriekulturen: Literatur, Kunst und Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2012, S. 291–301, hier S. 292.
Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 18.
Kathrin Rögglas die alarmbereiten
Wenn es zwar noch ein sprechendes Subjekt ist, das die Katastrophe herbeiredet, so ist es doch eines in keinem Fall mehr: ein handelndes. Hinter
einer Fensterscheibe sitzend ist die Position der Zuseher_innen geprägt durch
eine distanzierte Indirektheit, die sich in der passiven Sprachstruktur niederschlägt. Trotzdem agieren die Sprechenden, als wären sie mittendrin in den
Geschehnissen – die Kapitel-Zeichnung Oliver Grajewskis verdeutlicht dieses übersteigerte Teilnahmegefühl, wenn die vor dem Fernseher sitzende
Frau einen Mundschutz trägt, als könnte sie von den Fernsehbildern angesteckt werden (s. Abb. 2).
In der passiven Situierung und Sprache der Zuseher_innen spiegelt sich
jenes Paradoxon wider, das sich ergibt, wenn der Ausnahmezustand zunehmend in den Bereich der Risikotechnologie52 rückt: Tritt der Ausnahmezustand in diesen Berechnungsraum, wird er allein schon dadurch permanent, dass niemals von ihm abgelassen werden darf und in der Logik des
Präventivdenkens zu jedem Zeitpunkt eine Entscheidung über den Fortgang
der Ereignisse gefällt wird. Denn, so Ulrich Bröckling über die Crux des
präventiven Handelns: »Entschieden wird in jedem Fall, weil auch NichtEntscheiden eine Entscheidung darstellt.«53 Diese Erkenntnis stellt natürlich
die von Carl Schmitt einst geprägte Formel »Souverän ist, wer über den
Ausnahmezustand entscheidet« auf den Kopf und zeigt das Dilemma des
Subjekts im Präventionsdenken. Die aus dem Übergang vom Gefahren- zum
Risikodenken54 erwachsende Eigenverantwortlichkeit und der regelrechte
Zwang zur Früherkennung jeglicher potenzieller Bedrohungen versetzt das
Subjekt in ebenjene permanente Alarmbereitschaft, die es, so eine Stimme in
die zuseher, überfordere: »sicher würden sich manche hier im raum fragen,
wie das gehen solle, nachdem man in den letzten jahren permanent die aufforderung erhalten habe, den dingen aufmerksamkeit zu schenken, eine zusätzliche aufmerksamkeit den zusatzdingen, […] ›diese aufforderung hat uns
wohl alle etwas überfordert, sicher […]‹.«55 Der Sicherheitsimperativ geht in
die Sprache über, wie die Wiederholung des Wortes »sicher« andeutet. Die
52
53
54
55
Siehe diesbezüglich Kathrin Röggla: geisterstädte, geisterfilme. In: Dies.: disaster awareness fair. zum katastrophischen in stadt, land und film, Wien 2006, S. 7–30, hier S. 24:
»denn ist nicht das erstellen von zukunftsszenarien, das ausmalen der dinge, die da unweigerlich eintreten wollen, eine beliebte tätigkeit geworden? gerne begeben wir uns auf das
gebiet der spekulation und sind ständig dabei zukunftshorizonte auf- und zuzumachen,
risiken abzuschätzen und sicherheiten zu gewinnen. ein verfahren, das wir von unserer
medialen und institutionellen umgebung übernehmen.«
Ulrich Bröckling: Prävention. In: Ders., Susanne Krasmann, Thomas Lemke (Hg.): Glossar der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2004, S. 201–215, hier S. 213.
Vgl. Niklas Luhmann: Soziologie des Risikos. Berlin, New York 1991.
Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 12 f.
65
Sonja Lewandowski
Abb. 2: Fernsehen mit
Atemschutzmaske –
Übersteigertes Teilnahmegefühl oder Schutzschild
vor den massenmedialen
Angst-Ansteckungsherden?
gesteigerte Redundanz in Kombination mit den semantischen Unbestimmtheiten illustriert die Neigung zum Generalverdacht, den der präventive Blick
geradezu erzwingt.56 Hier wird durch die Ungenauigkeit der »zusatzdinge[ ]« die Unmöglichkeit deutlich, die potenzielle Bedrohung fassbar zu machen bzw. diese eindeutig zuzuschreiben, denn, um noch einmal Bröckling
zu zitieren, »[d]er Gegenstand vorbeugenden Handelns ist offen und nimmt
erst im vorbeugenden Zugriff selbst Gestalt an«57. In die zuseher wird vorge-
56
57
66
Vgl. Bröckling: Prävention (Anm. 55), S. 211.
Ulrich Bröckling: Vorbeugen ist besser … Zur Soziologie der Prävention. In: Behemoth.
A Journal on Civilisation, Jg. 1, 2008, S. 38–48, hier S. 39, zitiert nach Dießelmann: Ausnahmezustand im Sicherheits- und Krisendiskurs (Anm. 8), S. 216.
Kathrin Rögglas die alarmbereiten
führt, wie die ständige Antizipation der Katastrophe in einem präventiven
Ausnahmezustand mündet, wodurch dieser zum Normalfall mutiert. Die
Präventionsrhetorik bildet, so führt es Rögglas Text vor, ein »Grundmuster
der Grammatik der Ausnahme«58.
III. deutschlandfunk – »vollständige entwarnung
wird nicht gegeben«
Interpretiert man die letzte Erzählung als Epilog, dann wird dieser in Form
eines medialen Echos inszeniert, das die Lesarten der vorigen Kapitel erweitert und nach dem öffentlich-rechtlichen Radiosender Deutschlandfunk benannt sowie dessen Programm nachempfunden ist. Einer Regieanweisung
gleich wird die Szene in einem Berliner Krankenhaus verortet: »krankenhaus
neukölln, zimmer 243, Montag, 23.8., 11.10 uhr, radiostimmen«59. Wer die Radiostimmen vernimmt, ist nicht ganz ersichtlich. Deutet man den Erzählband allerdings als eine lose Entwicklungsgeschichte, verstirbt das – nicht
nur erzähltechnisch – versehrte ›Ich‹ in diesem Kapitel. Zuvor lauscht dieses
›Ich‹ allerdings noch einer Diskussionsrunde im Radio, die um ein katastrophisches Ereignis kreist, das nicht näher benannt wird. Erneut herrscht durch
fehlende Inquit-Formeln oder ähnliche erzählerische Ordnungsgesten ein
chaotisches Stimmengewirr. Die bereits in die zuseher vorherrschende und
sich über den gesamten Erzählband erstreckende ostentative Alarmiertheit
bildet den Kern des Gesprächs.
Die Geschwindigkeit der Rede, die Wiederholungsfrequenz, aber auch
die Monochromie der Stimmen nehmen im Vergleich zum ersten Kapitel
nochmals zu, wodurch das postkatastrophische Erregungsmoment, das sich
in der Sprache der Diskutanten niederschlägt, nochmals intensiver erscheint
als das präkatastrophische Moment, wenn nicht angesichts der Permanenz
des Ausnahmezustandes beide Momente zunehmend miteinander verschmelzen. Bereits das typografische Erscheinungsbild – die nun fast durchgehende Verwendung von Dialogstrichen sowie der Flattersatz im Vergleich
zum überwiegenden Fließtext und Blocksatz in die zuseher – beschleunigt die
Rezeption, markiert den schnellen, durchaus groben Rednerwechsel und
evoziert dadurch eine hitzige Debatte und zugleich die nicht abklingende
Alarmiertheit. Ein ständiges, aufgeregt-verunsichertes, teils konjunktivi58
59
Dießelmann: Ausnahmezustand im Sicherheits- und Krisendiskurs (Anm. 8), S. 216.
Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 177.
67
Sonja Lewandowski
sches Rückfragen »was mit den betroffenen jetzt geschehe?« 60, »ob man die
donauüberschwemmung mit der situation der letzten wochen vergleichen
könne?«61, oder die zweifache Rückfragen, »hat man jetzt überlebt, oder
kommt noch was auf uns zu?« 62 illustriert eine Verunsicherung, die in Hilflosigkeit, ja Unselbstständigkeit mündet und beinahe jegliche Urteilskraft an
die Medienanstalten abtritt. Die einer Anrufung gleiche Hinwendung zum
Radio, die im Kapitel deutschlandfunk über die Anrufe der Zuhörer wortwörtlich zu verstehen ist, verschärft den Eindruck, dass den Massenmedien
im Ausnahmezustand eine gesteigerte Glaubhaftigkeit und Wissensmacht
eingeräumt wird, die sogar darüber entscheiden kann, ob »man jetzt überlebt
[hat]«. Da »in der sondersendung vor einer stunde […] darüber nichts gesagt«
wurde, weiß man es auch nicht.63 Diese ›Hörigkeit‹ gegenüber den Medien
ergibt sich daraus, dass man die »betreffenden institutionen, beispielsweise
das bbk, das bundesamt für bevölkerungsschutz und katastrophenhilfe, […]
nicht ans telefon [bekommt]« 64. Einhergehend mit der von den Diskutanten
beklagten Unerreichbarkeit und Abwesenheit staatlicher Präsenzen gewinnen die Massenmedien an entscheidender Souveränität.
Aus dem Stimmengewirr in deutschlandfunk klingt nicht zuletzt eine gewisse Sehnsucht nach der aus der Ausnahme erwachsenden Gemeinschaftlichkeit durch: »– ja, ist es nicht so? wenn die ersten schreiereien an den
u-bahnstationen stattfinden, weiß man, es ist vorbei. wenn die menschen
wieder grußlos aneinander vorübergehen, dann ist man wieder angelangt im
alltag.« 65 Das Bedauern, das hier mitschwingt, verrät, dass dem Ausnahmezustand ein gemeinsinnstiftendes Moment innewohnt, denn, so Röggla in
ihrem Essay die rückkehr der körperfresser, »[a]n diesem ereignis haben alle teilgenommen, ob sie wollten oder nicht. und meist wollten sie. und da ist es
auch schon, das kollektiv, nach dem man so verzweifelt ausschau gehalten
hat, das man so vermisst hat in den jahren unauf haltsamer individualisierung
[…]«66. Jedoch birgt dieses euphorische ›Wir-schaffen-das‹ der Ausnahmesituation auch die Gefahr des »›ideologischen kidnapping[s]‹« 67, das sich, so
60
61
62
63
64
65
66
67
68
Ebd., S. 184.
Ebd., S. 182.
Ebd., S. 180.
Ebd.
Ebd.
Ebd.
Kathrin Röggla: die rückkehr der körperfresser. In: Dies.: disaster awareness fair. zum
katastrophischen in stadt, land und film, Wien 2006, S. 31–51, hier S. 37.
Vgl. ebd., S. 38.
Kathrin Rögglas die alarmbereiten
Röggla, schnell in ein »›wir-deutschland-gefühl‹« 68 verwandeln kann. Somit
kann der Titel deutschlandfunk auch als Ausdruck einer Nationalstimmung,
die im Angesicht der Ausnahme anschwillt, verstanden werden – das Radio
als nationalsozialistisches Ideologieinstrument ist vorbelastet. Die leise Steigerung hin zum stolzen Nationalgefühl beginnt in der Gesprächsrunde im
Hörfunk mit einem Loblied auf den »opfermut der eingreifenden kräfte«69
sowie die »umfassende[n] solidaritätsaktionen genauso wie [die] spontane
nachbarschaftshilfe« und kippt schließlich in selbstgefällige Aussagen über
die ganze Nation: »– letztendlich ist man eben auch in dieser hinsicht eine
gebernation.«70 Die Notfall-Solidarität verwandelt sich in ein nationales
Überlegenheitsempfinden: »wir sind immer noch zu hilfe geeilt, wenn es
irgendwo fehlte.«71
IV. Normalisierung des Ausnahmezustands
Das Gespräch in deutschlandfunk beginnt mit dem Statement eines Pressesprechers, der Vermittlerfigur eines Unternehmens oder einer staatlichen Behörde, die den Medien entgegentritt und, diesmal in direkter Rede, wodurch
eine plötzliche Bestimmtheit Einzug in die Erzählung hält, auf eine ReNormalisierung der Ausnahmesituation pocht: »– es gilt jetzt abzuwarten,
bis eine normalisierung eintritt. es gilt zurückzukehren zu einem alltag, den
man übereilt verlassen hat.«72 Kurz darauf wird allerdings wieder gemahnt:
»doch vollständige entwarnung wird nicht gegeben, vollständige entwarnung kann auch gar nicht gegeben werden. das ist eben die situation, mit der
man leben muss. in erwartung, dass so etwas noch mal passiert.«73 Die mediale Berichterstattung oszilliert zwischen diesem Beschwichtigungs- und
Dramatisierungsgestus. Dadurch kann innerhalb der medialen Situation gar
keine Re-Normalisierung eintreten. Denn trotz des Aufrufs, wieder zum
Alltag zurückzukehren, lässt die Katastrophendramaturgie – das offenbart
die erneut verwendete Unterhaltungssemantik – sowie andererseits das Präventivdenken keine Entspannung der Lage zu: »[…] noch sind wir mitten
68
69
70
71
72
73
Ebd.
Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 177 f.
Ebd., S. 178.
Ebd.
Ebd., S. 177.
Ebd., S. 178, vgl. auch S. 180.
69
Sonja Lewandowski
drin, noch sind die dinge ja am laufen, meine damen und herren.«74 Eine
weitere Stimme bestätigt und generalisiert die Aussage entscheidend: »– die
dinge sind ja immer im laufen.«75 Durch die ständige Kommunikation über
den Ausnahmezustand wird dieser präsent gehalten, denn, so Dießelmann
über die zentrale Bedeutung der Sprache für den Ausnahmezustand, diese
fungiert »als hegemonialer Transmissionsriemen. Sie erzeugt gleichsam die
Katastrophen und die Angst vor ihnen sowie die Beschwichtigung derselben
Angst«76. Die mehrfache Indirektheit und Vagheit, die sich durch die intermediäre Situation ergibt, überspitzt die mediale Verunsicherungsgeste, die
die Zuseher_innen, die Zuhörer_innen nicht ›abschalten‹ lässt. In die alarmbereiten entblößt sich, »wie die Medien die gewünschte Habachthaltung neu
justieren hin auf die nächste drohende Katastrophe«77. Die Hörer_innen
stimmen in diesen Alarmchor mit ein: Man möchte sich »noch einmal zu
wort melden und fragen«78, »noch etwas hinzufügen«79, »nochmal reagieren«80.
Die Wiederholungsadverbien verdeutlichen, dass von dem Ereignis bzw. der
permanenten Alarmiertheit nicht abgelassen werden kann und der Gesprächsfaden stets wieder aufgenommen werden muss, wodurch sich dieser
zu einer Endlosschleife verknüpft: »– hier werden alle gehört, auch wenn sie
nicht unbegrenzte redezeit haben.«81
In Rögglas Stimmenmontage wird ein instabiles Subjekt hörbar, das aufgrund ständiger Alarmbereitschaft, »zwischen Bedrohung und Präventivdenken eingeklemmt und dazu gezwungen, permanent Risiko abzuschätzen, um noch kurzfristig Sicherheit zu gewinnen«,82 offen ist für den
permanenten Ausnahmezustand in Form einer Ausweitung sicherheitspolitischer Maßnahmen jeglicher Art. Denn die permanente Alarmiertheit lässt
das Normalmaß an Sicherheitsmaßnahmen f lexibel werden. Wie genau sich
das ständige Antizipations- und Präventivdenken auswirkt, wird zum Ende
des letzten Kapitels deutschlandfunk angedeutet, wenn ein Hörer bemerkt:
»und doch: es hätten sich grauzonen gebildet, grauzonen in unserem sicherheitsdenken […].«83 Bezeichnenderweise wird diese leise und trotzdem dra74
75
76
77
78
79
80
81
82
83
70
Ebd., S. 177.
Ebd.
Dießelmann: Ausnahmezustand im Sicherheits- und Krisendiskurs (Anm. 8), S. 210.
Jörg Plath: Im Apokalypsenmatsch. In: Neue Zürcher Zeitung, 03.07.2010, http://www.
nzz.ch/im-apokalypsenmatsch-1.6370769 (10.02.2016).
Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 180.
Ebd., S. 182.
Ebd.
Ebd., S. 184.
Drynda: Verstädterte Körper (Anm. 52), S. 292.
Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 181.
Kathrin Rögglas die alarmbereiten
matische Konsequenz nicht weiter diskutiert. Im Gegenteil herrscht der Tenor vor, dass Einschränkungen angesichts der Lage unerlässlich seien: »– man
muss abstriche machen«84, auch »– sozialpolitik muss jetzt leider außen vor
bleiben«85.
Auf das erwartungsträchtige »mal sehen« der ersten Erzählung, das sich
pompöse Katastrophenszenarien ausmalt, folgt auch in diesem Kapitel nach
dem kaum vernehmbaren Ereignis ein Erwartungsbruch: »– […] zu sehen sei
ja eigentlich nicht viel gewesen. – man habe sich ein wenig mehr erwartet.«86
Die Erwartungsenttäuschung lässt erkennen, dass ein bestimmter Verlauf,
ein bestimmtes Ausmaß der Katastrophe und des daran anknüpfenden Ausnahmezustands ›normal‹ geworden ist, und impliziert zugleich, dass davon
abweichende Formen des Ausnahmezustands nicht erkannt werden. Die leisen Konsequenzen werden im Redeschwall überhört. Wer nicht in die aufgeregte Alarmbereitschaft einstimmt, sondern kritische Rückfragen stellt,
wirkt verdächtig, so die tatsächlich Betroffenen, etwa die Angehörigen, die
zuletzt als Schuldige dargestellt werden: »– die jeden einsatz erschweren, die
kein expertenteam arbeiten lassen und jeden entschluss einer kommission in
frage stellen.«87 Die hier anklingende Vertrauensseligkeit gegenüber dem
Staat verrät, dass dieser einen erweiterten Handlungsspielraum erhält, der
angesichts der vermittelten Dringlichkeit hohe Akzeptanz in der Bevölkerung und in den Medien findet. Denn »die Denormalisierungsängste des
Publikums [werden] strategisch eingesetzt, um Legitimitäten zu erzeugen.
Ohne die bevorstehende Katastrophe würden sinkende rechtliche Standards
und eingeschränkte Freiheiten nicht als alternativlos gelten.«88 Der Ausnahmezustand erschaffe und legitimiere »kräfte der stabilisierung«, denen »man
noch blind vertrauen müsse«, so der Wiener Standard in der Presseschau.89 Worin diese Stabilisierungsmaßnahmen genau bestehen, kommt nicht zur Sprache. Die Rhetorik im Ernstfall bedient sich einer starken, jedoch in sich
abstrakten Semantik. Der schleichende, unvermittelte Übergang von der
Diskussionsrunde hin zu der Internationalen Presseschau des Deutschlandfunks90
verrät einen Konsens zwischen internationalen Medien und Bevölkerung
über die Einschränkungstendenzen, die die Ausnahme mit sich bringt, und
84
85
86
87
88
89
90
Ebd., S. 187.
Ebd., S. 183.
Ebd.
Ebd., S. 186.
Dießelmann: Ausnahmezustand im Sicherheits- und Krisendiskurs (Anm. 8), S. 210.
Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 185.
Vgl. ebd., S. 184 f.
71
Sonja Lewandowski
betont ein weiteres Mal das Verschwimmen medialer Stimmen mit ›realen‹,
die wiederum über das Medium Telefon und Radio mehrfach gebrochen
werden. Wird zu Beginn von deutschlandfunk noch über »das phänomen der
zuseher«91 diskutiert, wodurch retrospektiv auf das erste Kapitel verwiesen
und die voyeuristische Tendenz eines »massentourismus« in Gebiete, die sich
im Ausnahmezustand befinden, angeprangert wird: »sie stehen da und starren auf das elend.«92, wechselt das Gespräch übergangslos in die Form der
rezitierenden Internationalen Presseschau93, die täglich um 12.50 Uhr im
Deutschlandfunk Stimmen zu international relevanten Ereignissen zusammenträgt: »– und la repubblica fordert: die leute sollten zu hause bleiben und
ihrer arbeit nachgehen, das helfe der situation am ehesten, wenn diese form
des ausnahmezustandes, der ja auch gewaltige volkswirtschaftliche einbußen
mit sich bringe, nicht künstlich verlängert werde.«94 Hier wird die kosmopolitische Ausweitung des Ausnahmezustands durch dessen massenmediale
Verbreitung deutlich. Weder erfährt man, was passiert ist, noch, in welchem
Land. Zugleich mischt sich die italienische Tageszeitung La Repubblica in den
Umgang mit dem Ernstfall ein, wenn sie der Bevölkerung nicht nur empfiehlt, sondern diese sogar dazu »auffordert«, zu Hause zu bleiben und ihrer
Arbeit nachzugehen, »wenn diese form des ausnahmezustandes […] nicht
künstlich verlängert werde«95, so die Aussage, müssten die Menschen selbst
durch ihr Verhalten einen normalisierten Ausnahmezustand herstellen. Zur
Mitte des Kapitels wird der Normalisierungsprozess in Form eines Imperativs an die Bevölkerung sichtbar: »[…] kehren sie zurück an ihren arbeitsplatz! gehen sie einkaufen, verbringen sie zeit mit ihrer familie, wenden sie
sich wieder ihrem leben zu!«96 Die Wiederherstellung des Alltags soll über
funktionierende Bürger_innen, die ihren konventionellen Pf lichten nachgehen, vorgenommen werden. Das Radiogespräch endet damit, dass sich die
Diskutanten in deutschlandfunk aus sich heraus und demonstrativ auf die »ökonomische Matrix«97 als Normalisierungsstrategie berufen; der Imperativ
wurde folglich bereits internalisiert und trägt nun das Label ›Sorge um sich‹.
Eine anonyme Stimme verkündet: »– keine sorge, könne auch er nur rufen,
aber erstmal würden die menschen fortfahren wollen mit ihrem leben, mit
91
92
93
94
95
96
97
72
Ebd., S. 184.
Ebd.
Es werden die für die Internationale Presseschau typischen Zeitungen zitiert, etwa The
Herald Tribune, La Libération, La Repubblica oder DER STANDARD aus Wien.
Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 185.
Ebd.
Ebd., S. 179.
Röggla: geisterstädte, geisterfilme (Anm. 54), S. 13.
Kathrin Rögglas die alarmbereiten
ihren berufen, mit ihrer gesundheit.«98 Die Besinnung auf Arbeit, Gesundheit, auf das Leben an sich wird von einer weiteren Stimme sofort bestätigt
und maßgeblich erweitert: »– mit der eigenen gesundheit fortfahren, das sei
jetzt das ziel eines jeden denkenden menschen. die gesundheit vieler habe
sich versammelt und wolle zu ihrem recht kommen.«99 Der Foucault’sche
Unterton ist in diesem Abschnitt kaum zu überhören. Die übersteigerte Bezugnahme auf die Gesundheit aller spielt auf die biopolitischen Strukturen
an, die zur Normalisierung des Ausnahmefalls beitragen, denn Gesundheit
und auch Arbeit bilden konstituierende Normalisierungsinstanzen innerhalb
einer Leistungsgesellschaft. Die abgegriffene Wendung »keine sorge« zu Beginn des Satzes ist eine unauffällige Falle, die den unbedarften Gang durch
den folgenden Satz erschwert. Denn »keine sorge« kann als zynische Anspielung auf die biopolitische Agenda gelesen werden, deren Kern eben gerade
die allumfassende Sorge des Staates um das Leben der Menschen ist – um den
individuellen Körper, aber eben auch um die Menschen als Gattung insgesamt.100 Der abstrakte Bezug auf das Leben, die Berufe und die Gesundheit
vieler spiegelt sprachlich, dass die Umfassung aller gemeint ist. Die vom
Staate ausgehende »erfassungsgier«101, etwa in Form von Datensammlungen,
in denen »die Gesundheit vieler versammelt« wird, stellt die Machttechnik
der Biopolitik dar und spielt auf die eigentliche souveräne Kraft und Methode an, die den Ausnahmezustand re-normalisiert. In dieser »Normalisierungsgesellschaft« bildet das vom Staat ausgeweitete Präventionsdenken,
das ebenso dem Subjekt abverlangt wird, so könnte man in Anlehnung an
Foucault sagen, die zwangsläufige Erweiterung der Sorgenpolitik. In die
alarmbereiten wird deutlich, dass die von Agamben konstatierte Ersetzung der
expliziten Erklärung des Ausnahmezustands »durch eine beispiellose Ausweitung des Sicherheitsparadigmas als normale Technik des Regierens«102
eine Akzeptanz und Unterstützung seitens der Mehrheitsgesellschaft erfährt,
die auf biopolitische Machtstrukturen zurückzuführen ist. Insgesamt kommen bei Röggla ebenjene »Elemente[ ] der polizeilichen Überwachung der
Bevölkerung, der Sozialpolitik und der Gesundheitspolitik zusammen«103,
aus denen sich nach Foucault das gouvernementale Sicherheitsdenken zu98
99
100
101
102
103
Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 189.
Ebd.
Vgl. Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de
France (1975–76). Aus dem Französischen von Michaela Ott. Frankfurt a. M. 1999.
Röggla: geisterstädte, geisterfilme (Anm. 54), S. 28.
Agamben: Ausnahmezustand (Anm. 29), S. 22.
Michael Ruoff: Sicherheitsdispositive. In: Foucault-Lexikon. Entwicklung – Kernbegriffe – Zusammenhänge. Paderborn 2007, S. 193 f., hier S. 193.
73
Sonja Lewandowski
sammensetzt.104 Unter dem Deckmantel des Sicherheitsparadigmas, das in
Zeiten des Ausnahmezustands ausgeweitet werden müsse, wird die Bevölkerung nicht nur von disziplinierenden Kräften kontrolliert, sondern hauptsächlich durch geschmeidige Varianten der gouvernementalen Steuerungsformen, etwa wenn, wie in die zuseher, jeder Bürger dazu angehalten wird,
seinen präventiven Blick schweifen zu lassen. Die ›weiche‹ Fremdbestimmung des Subjekts wird über dessen indirekte Besprechung sichtbar.
Zuletzt ist das Subjekt vollends ›überredet‹, wenn es zweifach trotzig
kundtut: »– ja, wir lassen uns die freude nicht kaputtmachen, die freude, dass
es uns noch gibt.«105 Die biopolitische Reduktion des Rechtssubjekts auf das
einfache (nackte) (Über-)Leben, das Agamben analysiert106, wird als letzter
Triumph gefeiert. Trotz Sicherheitsstaat, der die Subjekte in einem ambivalenten Zustand von biopolitischer Sicherheitskontrolle und gouvernementaler Selbstsorge um das eigene Leben ausharren lässt, soll das (noch) existierende Leben mit Freude gelebt werden. Dieses biopolitische Schlüsselargument
der Sicherung des Lebens durch den Staat blüht im Ausnahmezustand sehr
deutlich auf.
Im Grunde bildet dieser vorletzte Absatz eine Persif lage auf das genretypische, restaurative Happy End, das so viele Hollywoodfilme prägt. Zumeist
werden dort eine wiederhergestellte Kernfamilie – Mutter, Vater, Kind –
und eine im Vergleich zur Weltbevölkerung niedrige Zahl an Menschen
gerettet. Es stellt sich trotz enormer Opferzahlen ein fröhliches Ende ein,
denn die ›Gattung Mensch‹ hat überlebt.107
Schließlich endet das Buch mit der Auskunft über die Verkehrslage im
Deutschlandfunk. Ein tagtägliches, vermeintlich banales mediales Geschehen
wird hier aufgegriffen, allerdings in Textform gegossen und damit aus seinem ›natürlichen‹ Medium entnommen, entfremdet. Die Stauschau bildet die
Normalisierung des Unfalls schlechthin. Die halbstündig-wiederholte, monoton-monochrom geleierte Information über aktuelle Unfälle – »a1: köln
zwischen kreuz köln-nord und köln-lövenich unfall 4 km stau.«108 – führt
jenen von Virilio konstatierten »Unfall der Wahrnehmung« vor Augen, denn
104
105
106
107
108
74
Vgl. Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium,
Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France (1975–76). Aus dem Französischen von
Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder. Frankfurt a. M. 2004, S. 161 f.
Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 187. Vgl. ebd., S. 189.
Vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a. M. 2002.
Vgl. Horn: Enden des Menschen (Anm. 20).
Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 189.
Kathrin Rögglas die alarmbereiten
mit jedem Satz wird eine kleine Ausnahmesituation, ein Schicksal erzählt
und sogleich zum nächsten übergegangen. Gerade als Schlusspunkt des Erzählbandes erhält die Aufzählung der Unfälle einen bitteren Beigeschmack
und macht auf die medialen Wiederholungsschleifen und die daraus erwachsende Normalisierung der Ausnahme aufmerksam. Zuletzt schließt sich hier
die lose erzählerische Klammer zu den wahrnehmungstechnisch-verunfallten Zusehern und der Ansprechbaren vom Beginn des Bandes.
V. Erzählerischer Ausnahmezustand?
»Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall«109, konstatierte einst Carl
Schmitt. Um die Wirkkraft der Ausnahme weiß auch Röggla, denn die Erzählverfahren, die sie in ihren Texten anwendet, zeichnen sich vor allem
durch eine Abwendung von den ›klassischen‹ Erzählweisen aus. Dem zugrunde liegt offenbar ein tiefes Misstrauen gegenüber der fiktionalen und
faktualen Auseinandersetzung mit dem Ausnahmezustand: zum einen die
genretypischen Narrative über das Katastrophische, zum anderen die realen
Diskurse, die den Ernstfall verhandeln. »In der Ausnahme«, so Schmitt weiter, »durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik.«110 Was aber, wenn die Ausnahme selbst zur
»erstarrten Mechanik« wird? Röggla versucht ebenjene »Kruste«, die sich
durch die permanente Wiederholung der Ausnahme gebildet hat, durch literarische Verfahren der Ausnahme aufzubrechen. Durch die Infragestellung
der auktorialen Erzählsituation wird die Schwelle sichtbar gemacht, die
zwischen der Fiktion des Textes und der Realität des Lesers besteht; durch
die Erzählbrüche, die stets auch auf die Künstlichkeit des erzählerischen
Akts hinweisen, wird wiederum »eine vom Automatismus befreite Wahrnehmung«111 erzeugt. Durch die ausgestellte Künstlichkeit wird zugleich auf
die Tendenz der De-Realisierung des Ausnahmezustands hingewiesen. Die
Heuristik der Ausnahme fruchtbar machend, kann man sagen, dass sich das
Erzählen bei Röggla selbst im Ausnahmezustand befindet. Handelt es sich
womöglich um ein dramatisches Erzählen? Röggla erzeugt in jedem Fall
eine Zone der Ununterscheidbarkeit. Eine zwiespältige Geste, denn: Einer-
109
Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin
2004, S. 22.
Ebd.
Sklovskij: Die Kunst als Verfahren (Anm. 7), S. 31.
8
110
111
75
Sonja Lewandowski
seits wird die vorherrschende Ordnung des Erzählens gestürzt, andererseits
erweist sich das Erzählen durch ebendiese Ausrufung des erzählerischen Ausnahmezustands als überaus souverän, wird doch mit jeder Abweichung von
der Erzählnorm über eine Ausnahme entschieden. Zu fragen bleibt, ob nicht
auch Rögglas Texte durch die Permanenz des erzählerischen Ausnahmezustands wiederum einen Normalfall erschaffen.
76