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Kathrin Röggla Herausgegeben von Iuditha Balint, Tanja Nusser und Rolf Parr Gefördert durch das Charles Phelps Taft Research Center der University of Cincinnati und die Universität Duisburg-Essen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abruf bar. ISBN 978-3-86916-543-1 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielf ältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2017 Levelingstraße 6a, 81673 München www.etk-muenchen.de Umschlaggestaltung: Victor Gegiu Umschlagabbildung: Karsten Thielker © Abb. S. 275: Mit freundlicher Genehmigung des Verlagshauses Jacoby & Stuart. Satz und Bildbearbeitung: DOPPELPUNKT, Königstraße 54 B, 70173 Stuttgart Druck und Buchbinder: Vereinigte Druckereibetriebe Laupp&Göbel GmbH, Robert-BoschStraße 42, 72810 Gomaringen Inhalt Iuditha Balint, Tanja Nusser, Rolf Parr Kathrin Rögglas Texte: Traditionslinien und Genres, literarische Verfahren, Diskurse und Themen 9 Traditionslinien, Genrefragen Iuditha Balint Die Frage literarhistorischer Genrezuordnungen. Erika Runges Bottroper Protokolle (1968) und Kathrin Rögglas wir schlafen nicht (2004) 15 Nils Demetry Zwischen engagierter Literatur der 1960er und Popliteratur der 1990er Jahre: Röggla/Verschuers Publikumsberatung 33 Irmtraud Hnilica »im berühmten eigenen ton«: Kathrin Rögglas und Elfriede Jelineks Bearbeitungen der Kampusch-Entführung 41 Sonja Lewandowski Wi(e)der eine Grammatik der Ausnahme. Kathrin Rögglas die alarmbereiten 54 Poetische Verfahren Andreas Stuhlmann »Kleine Textmonster« – Zu Kathrin Rögglas poetischem Verfahren 79 Nicolai Glasenapp Körper-Raum-Relationen. Status und Dynamik in Prosatexten Kathrin Rögglas 107 Eva Kormann Wer spricht? Zur »wackeligen« Sprechposition bei Kathrin Röggla 124 Michael Navratil Einspruch ohne Abbildung. Zur doppelten Diskursivität von Kathrin Rögglas Dokumentarismus 143 Natalie Moser Echtzeit-Fiktion. Zur Funktion des Protokolls und der Übung in Kathrin Rögglas die zuseher (2010) 161 Rolf Parr Das Spiel mit Texten, Fotos und Realismus-Effekten in Kathrin Rögglas really ground zero 181 Mara Stuhlfauth-Trabert »der schwerkraft der meisten japan-erzählungen« entgegen – Kathrin Rögglas und Oliver Grajewskis tokio, rückwärtstagebuch 196 Diskurse, Themen Tanja Nusser »Doch wir können nicht einmal über die Gegenwart klare Aussagen treffen.« Die Gegenwart als Ausnahmezustand in Rögglas Werk 219 Christian Sieg Latenzzeiten und Diskursgewitter. Die Abwesenheit der Katastrophe und die Präsenz des Risikos in Kathrin Rögglas die alarmbereiten 236 Sabine Nöllgen Futur Zwei. Diskurse der Zukunftsfähigkeit im Werk Kathrin Rögglas 256 Kyra Palberg »short sleeping, quick eating« – Produktivität und Sprechen bei Kathrin Röggla 278 Katharina Gerstenberger Zur Einschätzung von Umweltrisiken: Kathrin Rögglas Dokumentarfilm Die bewegliche Zukunft 298 Stefan Höppner Geheimamerika – Daheim-Amerika? Zu Kathrin Rögglas USABild in really ground zero und fake reports 319 Felix Saure UNgewisse Aussichten auf der Weltbühne. Zu Kathrin Rögglas NICHT HIER oder die kunst zurückzukehren 339 Beiträger_innen 358 Sonja Lewandowski Wi(e)der eine Grammatik der Ausnahme Kathrin Rögglas die alarmbereiten I. »[…] immer mit einem ausnahmezustand rechnen, als wäre der immer einkalkuliert« In den sieben ›Kapiteln‹ der ›Erzählsammlung‹ die alarmbereiten (2010), die isoliert voneinander gelesen, zugleich aber ebenso als lose fortschreitende Entwicklungsgeschichte eines namenlosen Ichs interpretiert werden können, bilden verschiedene Ausnahmezustände den unsicheren Boden der erzählten Welt. Bereits auf dem gellenden Buchumschlag deutet sich die Oliver Grajewskis Covergestaltung zu Kathrin Rögglas die alarmbereiten (2010) 54 Kathrin Rögglas die alarmbereiten zwischen Bedrohlichkeit und Faszinationssog oszillierende Wirkkraft katastrophaler Zustände an: Die psychedelisch-grelle Gestaltung des Hintergrunds steht in starkem Kontrast zu den scherenschnittartigen Bedrohungsszenen, die in ihrer starken Konturierung lediglich Schatten ihrer Selbst bleiben: ein vermummter Mann, untergehende Häuser, eine Hubschrauberformation, die dem Rezipienten entgegenzuf liegen scheint, sich wegduckende oder ängstlich gen Himmel blickende Menschen. Kontrastiert wird die bunte, sogartige Konturlosigkeit des Hintergrunds damit durch konturstarke, jedoch schemenhaft verbleibende Bedrohungsmotive, wodurch eine buchstäbliche Bedrohungskulisse entsteht, die ihre eigene Künstlichkeit gleich mitverhandelt. Das von Oliver Grajewski gestaltete Cover visualisiert die Faszinationskraft, die der Erzählung vom Ausnahmezustand innewohnt und die sich aus diesen beiden Elementen zusammensetzt: jenem bunten, entschärften Unterhaltungsmoment sowie andererseits den dunklen Bedrohungsszenarien aus etablierten Schnittmustern, die lediglich eines Umrisses benötigen, um als Gefahr erkannt zu werden. Mit einem weiteren Blick auf den Rückseitentext, der fragt: »Sind wir die Helden in einem Katastrophenfilm? […] Unsere Welt im Ausnahmezustand: Finanzkrise, Klimakatastrophe, Entführungsfälle. Das Leben wird zum worstcase-Szenario. Oder sind diese Panikszenen eine große Fiktion?«1, wird deutlich, dass der Peritext bereits die Derealisierungstendenzen des Katastrophendiskurses aufgreift, die sodann in die alarmbereiten in Form von verschiedensten Szenarien der Ausnahme2 durchgespielt werden. Allerdings stehen im Zentrum des Erzählens vom Ausnahmezustand bei Röggla nicht die Ereignisse, die einen ebensolchen auslösen – die Bedrohungsszenarien bleiben Schatten ihrer selbst, darauf weist der Peritext bereits hin –, sondern die Kommunikation, das gesprochene Wort, das den Ernstfall begleitet oder auch erst hervorruft.3 Da- 1 2 3 Kathrin Röggla: die alarmbereiten. Frankfurt a. M. 2010. Vgl. hierzu: Matthias Schaffrick, Niels Werber (Hg.): Szenarien der Ausnahme in der Populärkultur. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Jg. 46, 3/2016, S. 311–320. Daher wird in diesem Aufsatz auch auf den Begriff des Ausnahmezustands zurückgegriffen und nicht auf den der Katastrophe, denn die Erzählung vom katastrophischen Ereignis weicht bei Röggla der Verhandlung der Reaktion auf ein solches, die sich in der titelgebenden Alarmbereitschaft äußert. Die Alarmbereiten leben im permanenten Ausnahmezustand, und sei dies auch ›nur‹ ein imaginierter, in dem die Katastrophe entweder gerade stattgefunden hat oder unmittelbar bevorzustehen scheint. Zudem greift der Bezug auf den Ausnahmezustand in dem Sinne weiter, als dass die Erzählungen in der säkularisierten Jetztzeit verortet sind und somit als Reaktion auf den extremen Notfall konkrete (sicherheits-)politische Konsequenzen folgen anstelle eines ehemals erhofften apokalyptischen Erlösungspotenzials. 55 Sonja Lewandowski mit verweigert sich das Erzählen hier nicht nur der konventionellen AbHandlung des Ausnahmezustands, die sich beim actionreichen Katastrophennarrativ maßgeblich durch Ereigniskaskaden auszeichnet, sondern deutet zugleich darauf hin, dass die Imagination des Ausnahmezustands in Form eines Szenarios »nicht das Ereignis oder der Zustand der politischen Ausnahme selbst« ist. Es handelt sich vielmehr um »fiktionale Versuchsanordnungen, Möglichkeitsräume, in denen das Undenkbare, Unerwartbare, Unwahrscheinliche, Außergewöhnliche, kurzum: die Ausnahme konkretisiert werden kann«.4 Inwiefern die alarmbereiten diesen Unterschied präsent hält, beispielsweise durch die chronisch intermediären Situationen, soll im Folgenden anhand der ersten und letzten ›Erzählung‹5 des Bandes – die zuseher und deutschlandfunk bündeln als lose erzählerische Klammer den ›Erzählband‹ – aufgezeigt werden. An beiden Erzählungen kann außerdem veranschaulicht werden, wie Röggla die dem Katastrophengenre anhängenden Dramatisierungsmuster, wiederkehrende Motive, bevorzugte Protagonist_innen, typische Orte, Abläufe und Ausgänge anspielt, um dann mit ihnen zu brechen. Die aus den »magischen medienerzählungen« 6 erwachsende Grammatik der Ausnahme wird in die alarmbereiten einerseits adaptiert, andererseits durch deren ostentative Vorführung und Verfremdung in ihrer Künstlichkeit entlarvt. Indem sich Röggla selbst wiederum das heuristische Potenzial der Ausnahme zunutze macht, festgefahrene Ausdrucks- und Wahrnehmungsweisen entautomatisiert7 und den Fokus auf die Sprache über den Ausnahmezustand legt, entkommt sie der Genreerzählung und weist zugleich auf die in ihr angelegten Normalisierungs- und Legitimierungstendenzen hin. Nicht zuletzt wird durch die literarische ›Ent-Genrefizierung‹ deutlich, dass der »Ausnahmezustand […] kein Gegenstand [ist], den man anschauen oder anfassen kann, sondern ein erzeugtes Bild, das über Sprache impliziert wird«8. 4 5 6 7 8 56 Schaffrick, Werber: Einleitung (Anm. 2), S. 316. Man könnte auch von Szenen oder Kapiteln sprechen, wobei jeder Versuch der Gattungsbestimmung knapp danebengreift. Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 44. Vgl. Victor Sklovskij: Die Kunst als Verfahren. In: Jurij Striedter (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 4 1994, S. 3–35. Anna-Lena Dießelmann: Ausnahmezustand im Sicherheits- und Krisendiskurs. Eine diskurstheoretische Studie mit Fallanalysen. Siegen 2015, S. 30. Kathrin Rögglas die alarmbereiten II. die zuseher – »eine zusätzliche aufmerksamkeit den zusatzdingen« In der den Band eröffnenden Erzählung die zuseher verengen, ja verkrampfen sich der Blick und das Sprechen auf eine kommende Katastrophe, deren Eintreten sich trotz aller »Präventivrede«, »Antizipationswut« und »Erfassungsgier« der Sichtbarkeit der Zusehenden entzieht.9 Das Zusehen wird zunächst mit der passiven Teilhabe an einem Geschehen verbunden, das allerdings auch voyeuristische Züge annehmen kann, wenn etwa Schaulustige einer Unfallsituation beiwohnen. Mit Blick auf den Titel der zweiten Erzählung, die ansprechbare, verfestigt sich der Eindruck, dass auch über die erste Erzählung hinaus auf einen Unfall hingewiesen wird. In der letzten Erzählung des Bandes, deutschlandfunk, wird schließlich von einem im Sterben liegenden ›Ich‹ erzählt, das »platz machen« muss »für wichtigere themen«.10 Ist das kaum vernehmbare ›Ich‹, das beinahe ausschließlich medial-gebrochen und über andere besprochen zu Wort kommt, womöglich Opfer der eigenen Daueralarmiertheit, die aus dem permanenten »massenmediale[n] Werden der Katastrophe«11 erwächst? Man kann an dieser Stelle auf den von Paul Virilio konstatierten »Unfall der Wahrnehmung«12 hindeuten, der sich aus den Ereigniskaskaden gegenwärtiger Katastrophennarrative und der faktualen Berichterstattung ergibt: Dabei handelt es sich um eine Dramaturgie, deren Hauptziel es ist, »niemals die durch diese katastrophalen Szenen erzeugte Gefühlskette [zu] unterbrechen«.13 Diese Karambolage der Sinneseindrücke wird durch die zunehmende »audiovisuelle[ ] Geschwindigkeit« verursacht, ein »Schicksal[ ]«, das die »zahllose[ ] Masse der Fernsehzuschauer«14 erleidet und in einer »Stereoangst« mündet, die, so Virilio, die »Furcht vor dem Mangel an öffentlicher Sicherheit« vermengt mit der »Furcht vor den Bildern der ›audiovisuellen‹ Unsicherheit«.15 Ebendiese nicht abreißende »Gefühlskette«16, die stets ein Mehr an Katastrophe benötigt, um die Spannung zu halten, wird in der halbseitigen, kursiv 9 10 11 12 13 14 15 16 Kathrin Röggla: Geisterstädte, Geisterfilme. In: Dies.: besser wäre: keine. Essays und Theater. Frankfurt a. M. 2013, S. 7–22, hier S. 21. Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 188. Die Lesart eines prekären, kaum vernehmbaren ›Ich‹, das durch die Erzählungen wandert, gälte es an anderer Stelle zu vertiefen. Ulrich Beck: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt a. M. 32015, S. 133. Paul Virilio: Der eigentliche Unfall. Aus dem Französischen von Paul Maercker. Wien 2009, S. 39. Ebd., S. 33. Kursivsetzungen stammen von den zitierten Autor_innen. Ebd., S. 40. Ebd., S. 34. Ebd., S. 33. 57 Sonja Lewandowski gesetzten Exposition zu die zuseher offenbar, die in ihrer Vagheit die Grundstimmung des ganzen Buches fasst: »mal sehen, ob die wälder wieder brennen, mal sehen, ob starke hitze uns entgegenschlägt. mal sehen, ob der rauch die tiere aus den büschen treibt, deren namen wir nicht kennen, mal sehen, ob das eine stille nach sich zieht.«17 Insgesamt dreizehn Mal setzt die unsichere Vorhersage zu dem semantisch mehrfach überdeterminierten »mal sehen, ob« an, wodurch die Vielschichtigkeit der festen Wortfügung entfaltet werden kann. Verknüpft mit der subordinierenden Konjunktion ob erfährt das mal sehen eine ›UrteilsStellung‹ und lässt zugleich die folgenden Szenarien in jenen Angstraum der Ungewissheit abgleiten, den die Antizipation möglicher Ereignisse errichtet hat. In seinem mystischen Habitus erinnert der Prolog nicht zuletzt an die hypothetische Wahrnehmungsform des Hellsehens – schon die der Zahl 13 anhängende Mystik verweist auf die Magie der Erzählung von Bedrohungsszenarien. Auch könnte man die Betitelung des Zusehers als eine Fusion der Figur des Zuschauers mit der des Hellsehers deuten. Einerseits wird durch das »mal sehen« in Verbindung mit dem Titel die zuseher erneut die Konnotation eines voyeuristischen Zuschauens bei katastrophalen Großereignissen lebendig, denn die repetitive Struktur greift syntaktisch die gierige Erwartungslust nach dem Zusehen bei der (nächsten) Katastrophe auf. Andererseits kann das »mal sehen« als Verlegenheitsausdruck gedeutet werden, der ein Ausweichen gegenüber einer eindeutigen Festlegung signalisiert. In ihrem unentschlossenen Gestus widerspricht diese Vorausschau damit allerdings ihrem prophetischen Stil und kommt der mutmaßenden Szenariotechnik nahe. Denn »[a]nders als Prophezeiungen oder Visionen, die immer eine einzige, garantiert eintreffende Zukunft zu beschreiben vorgeben, können hypothetische Narrative das Verhältnis eines Wissens von der Zukunft zu dieser kontingenten Zukunft deutlich machen«18. Wenn der Prolog ver schiedene Untergangsvisionen anspielt, dann bedient er sich dabei einer apokalyptischen Metaphorik – brennende Wälder, schwarzer Wind, Wasser massen, brechende Dämme, Staubwolken19 –, wobei »[i]n den säkularen Katastrophen […] die Motive der Apokalypse nur noch Versatzstücke, Zitate, entfernte Ähnlichkeiten [sind]«20. Damit greift Röggla ein gängiges Verfahren »popu- 17 18 19 20 58 Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 7. Eva Horn: Zukunft als Katastrophe. Frankfurt a. M. 2014, S. 40. Vgl. Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 7. Eva Horn: Enden des Menschen. Globale Katastrophen als biopolitische Fantasie. In: Reto Sorg, Stefan Bodo Würffel (Hg.): Apokalypse und Utopie in der Moderne. München 2010, S. 101–118, hier S. 101. Vgl. auch Hartmut Böhme: Vergangenheit und Gegenwart der Apokalypse. In: Natur und Subjekt. Frankfurt a. M. 1988, S. 380–399: »Die Apoka- Kathrin Rögglas die alarmbereiten läre[r] Unterhaltungsfiktionen« auf, die durch die Verschaltung von »modernen Vernichtungsszenarien und den biblischen Welt untergangsnarrativen«21 bei den Rezipient_innen eine Angstlust22 an den Untergangsszenarien erzeugen. Allerdings errichtet der Prolog einen dunkel leuchtenden Erwartungshorizont, der im Endeffekt erlischt, denn ein pompöses Katastrophennarrativ bleibt aus. Was tatsächlich passiert, spielt sich geradezu unverschämt still zwischen den Zeilen ab oder bleibt in der letztlich unbefriedigenden Möglichkeitsform. Einen ersten Erwartungsbruch stellt bereits der jähe Wechsel von der abgründigen Vorrede zum ›profanen‹ Protokoll dar, denn nun folgt eine Gesprächsaufzeichnung, die den Ausnahmezustand versachlicht, wie es das Geschäft der Risikokalkulation für sich brauchbar macht. Aber ebenso wie die ominöse Vorhersage – und auf diese Analogie weist die unmittelbare Aufeinanderfolge von sachlicher auf prophetische Antizipation der Katastrophe hin – enthalten Risiken, so Ulrich Beck, »ein hohes Maß von Irrealität« und sind »Resultate von Inszenierungen«.23 Sie sind »soziale Konstruktionen und Definitionen auf dem Hintergrund entsprechender Definitionsverhältnisse. Sie existieren in Form eines (wissenschaftlichen und alternativwissenschaftlichen) Wissens. Folglich kann ihre ›Realität‹ dramatisiert oder minimiert, verwandelt oder schlicht geleugnet werden gemäß den Normen, nach denen über Wissen und Nichtwissen entschieden wird.«24 Die Protokolllegende suggeriert, dass in einem Tagungsraum in Los Angeles eine Gruppe zur Lageeinschätzung eines Parkplatzes zusammenkommt, auf dem sie den Ernstfall erwartet. Die Gruppe setzt sich aus Führungskräften der Baubranche, einem Physiker sowie einem EU-Beauftragten der Strukturförderung Ost zusammen.25 Allerdings handelt es sich auch bei dieser Zuschreibung um eine Inszenierung, da die Zuseher_innen lediglich Rollen in einem Planspiel übernehmen, wie der Protokollant am Ende der Erzählung zu erkennen gibt, wenn er »gegen sämtliche abkommen der desastertourism-agentur verstößt«26 und Hilfe holt. Innerhalb des Planspiels werden vor allem technokratische Stimmen laut, die sich mitunter einer Risikorhetorik bedienen. Die zwischen Unterneh- 21 22 23 24 25 26 lypse wird zum Bildreservoir, aus dem säkulare Interessen sich sättigen. Damit zugleich werden die heiligen Visionen arbiträr […].« (Ebd., S. 390). Horn: Enden des Menschen (Anm. 20), S. 101. Vgl. Thomas Anz: Angstlust. In: Lars Koch (Hg.): Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, Weimar 2013, S. 206–217. Beck: Weltrisikogesellschaft (Anm. 11), S. 66. Ebd. Vgl. Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 8. Ebd., S. 26. 59 Sonja Lewandowski mer- und Unterhaltungssprech oszillierende Sprache steckt die Felder ab, auf denen das Denken über die Ausnahme fruchtbaren Boden gefunden hat: Wasservorräte müssen »unbedingt angelegt« werden, »zu tankstellen hin, von tankstellen weg, das ist doch jetzt die devise«, »in dieser stadt [würde man] immer mit einem ausnahmezustand rechnen, als wäre der immer mit einkalkuliert«.27 Es werden »hypothetische[ ] bemerkungen über warnlücken und organisationslücken«28 gemacht.29 Noch stärker bedienen sich die Sprechenden einer der Unterhaltungsindustrie entnommenen Semantik: Es wird gefragt, ob »so die menschen aus[sehen], die bald von der bildf läche verschwunden sein werden?«30 ; Gesprächen wird »entgegengefiebert«31, »man dürfe nicht abschalten«32, »auch er habe in den letzten minuten nichts als plünderungen im kopf gehabt, weil die doch immer an dieser stelle dran seien«33, »jemand müsse diese geschichte hier überlebt haben, das sei doch so üblich, oder?«34. Die Erwartungshaltung ist durch eine genretypische Dramaturgie geprägt. Es wird auf Plotpoints, bestimmte Steigerungs- und Entspannungsmomente gewartet. Das für die Katastrophenerzählung in Genremanier zentrale Erzählen von Ereignissen findet allerdings nicht statt. Durch die Form des Protokolls wird »die permanente gegenwärtige Erzählzeit, das Jetzt, Jetzt, Jetzt«35 der Katastrophe, die sich über die szenische Gleichzeitigkeit des Erzählens ergibt, angespielt und zugleich gestört, denn ein Protokoll ist immer ein Nachtrag des Gesprochenen. Indem der Fokus auf der Erzählung des gesprochenen und durch Indirektheit häufig gebrochenen Wortes anstelle der von Ereignissen liegt, enttäuscht das Erzählen die für das Katastrophengenre zentrale Affektstruktur der Leser_innen: die Erzeugung von Spannung.36 Denn »[u]m 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 60 Ebd., S. 8. Ebd., S. 13. Die Kommunikation über den Ausnahmezustand offenbart, dass sich der Verwendungsrahmen der einst politisch-juridischen Kategorie des Ausnahmezustands erweitert hat und die Zuständigkeit für die Ausnahme verändert. Der Ausnahmezustand wird Gegenstand präventiver Planung, ein stets einkalkuliertes Risiko. Vgl. zur veränderten Gestalt des Ausnahmezustands, seiner Entgrenzung und Permanenz: Giorgio Agamben: Ausnahmezustand. Frankfurt a. M. 2003; Beck: Weltrisikogesellschaft (Anm. 11). Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 9. Ebd., S. 31. Ebd., S. 30. Ebd., S. 20. Ebd., S. 25. Kathrin Röggla: Essenpoetik. Drei Vorlesungen als Poet in Residence an der Universität Duisburg-Essen, 1.–5.12.2015. In: https://www.uni-due.de/imperia/md/content/germanistik/lum/roeggla-essenpoetik.pdf (10.10.2015), S. 53. Matías Martínez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 9. erweiterte und aktualisierte Auf l.. München 2012, S. 167 f. Kathrin Rögglas die alarmbereiten Spannung zu erzeugen, muss die Handlung eines Textes ein Anfangsereignis enthalten, dessen Folgen sich für die Protagonisten besonders gut oder besonders schädlich auswirken können […]«37. Welches Ereignis aber steht am Anfang von die zuseher? Ein Prolog, der erst ›mal sehen muss, ob‹ etwas passiert, und ein Protokoll der ersten Sitzung, das nicht vorliegt: »vermutlich ging es im zusammenhang mit den vorkommnissen um paul kirchstätter verloren.« Auf den ersten Blick negiert die Erzählung also eine Initialzündung des Spannungsbogens. Die angedeuteten »Vorkommnisse« werden nicht weiter erläutert. Erst auf den zweiten Blick verknüpfen sich die Vorkommnisse um Paul Kirchstätter, der zuvor die Gruppenleitung übernommen hat und der »agentur ›desastertourism‹«38 angehört, mit dem sukzessiven Verschwinden der Seminarteilnehmer_innen. Diese sehr leise Erzählung ist in dem alarmierten Redeschwall allerdings kaum zu vernehmen. Auch die scheiternde Gattungsbestimmung verhindert ein Abrutschen in die konventionelle Erzählung vom Ernstfall und dessen Verhandlung, denn die alarmbereiten changiert zwischen kleinsten narrativen Passagen wie dem Prolog und Elementen, die dem dramatischen Nebentext nicht unähnlich sind, etwa die Protokolllegende, und verweilt zu großen Teilen in der dramatischen Rede, nicht ohne auch hier ständige Brechungen einzubauen. Diese polymodale Erzählweise führt dazu, dass die Erzählung sich nicht innerhalb einer Form einrichten und eine homogene Erzählweise in Genremanier etablieren kann. Jeder Wechsel zu einer neuen Darstellungsebene zeigt für die vorherige deren Künstlichkeit auf, etwa der von der prophetischen Vorrede zum Protokoll. Jede Unterbrechung, jeder Wechsel zu einer neuen Erzählform unterbricht den Erzählf luss und vergegenwärtigt damit ständig den Akt des Erzählens als Finden einer Form. Zugleich wechselt der Erzählmodus unauf hörlich zwischen direkter und indirekter Rede, wobei Letztere tendenziell dominiert. Hinzu kommt die extensive Verwendung des Konjunktivs, die maßgeblich ein Klima der Vagheit erzeugt, denn durch den Konjunktiv werden Aussagen »nur mittelbar und ohne Gewähr wiedergegeben, als möglich vorgestellt, irreal dargestellt«.39 Was der Prolog zwar noch im Indikativ, aber mit der abwägenden »mal-sehen«-Formel in Gang bringt, setzt die konjunktivische Rede fort: eine Möglichkeitsform(el). Nicht zuletzt ist »die grammatische Form des Konjunktivs nach Arno Schmidt das ›linguistische Mißtrau- 37 38 39 Ebd., S. 168. Ebd., S. 8. o.A.: http://www.duden.de/rechtschreibung/Konjunktiv (06.10.2015). 61 Sonja Lewandowski ensvotum‹«, wodurch die Ereignisse, Protagonist_innen und das Erzählen »zu sich selbst in ein merkwürdig zweifelhaftes Verhältnis gesetzt werde[n]«.40 Der für Protokolle und Berichte gängige Konjunktiv verdeutlicht außerdem, »dass nicht die eigene Meinung oder Wahrnehmung […] berichtet, sondern die Äußerung eines Dritten wiedergegeben wird«.41 Alo Allkemper erörtert die Wirkung der konjunktivistischen, indirekten Rede unter Bezugnahme auf Karin Krauthausens Beobachtungen prägnant: »[E]ine solche Rede ist zunächst eine bearbeitete Rede, sie stellt sich als solche aus und changiert zwischen mündlicher Präsenz und zeitlich verschobener schriftlicher Wiedergabe und, da Röggla zusätzlich die inquit-Formel ausspart, verliert der Sprecher und seine Rede an Eindeutigkeit der Aussage und der Zuordnung; Krauthausen vergleicht das mit der Erzählfigur der ›erlebten Rede‹, die nicht klar differenzieren lässt zwischen Erzähler- und Figurenrede; […] so greift doch die künstlich bestimmte Unbestimmtheit indirekter konjunktivistischer Rede auch auf den Redenden über; die Ich-Form fällt weg und damit das sichere selbstidentische Sprechen, es entsteht immer der Eindruck, dass jemand gesprochen wird, und gleichzeitig versucht, sich dagegen zu wehren.«42 Gerade das Aufzeichnungsmedium Protokoll bildet als Schnittstelle zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit dieses ›Gesprochen Werden‹ ab, indem eben Gesagtes sogleich von einem Dritten schriftlich festgehalten, sprachlich womöglich anders eingefärbt und durch den Transfer in die Schriftsprache abgewandelt wird. Dabei weist der Protokollant direkt zu Beginn der Erzählung auf die Unvollständigkeit des vorhandenen Berichts hin, denn »das protokoll der ersten sitzung ist verschwunden […]«43. Dadurch wird die Ausschnitthaftigkeit des Dargelegten, die Unmöglichkeit einer (nicht nur medialen) ganzheitlichen Erfassung bereits auf der ersten Seite betont und der »dokumentarische[ ] […] Gestus eine[r] Wirklichkeitsbehauptung für das Geschriebene aufgerufen, aber der Gestus sofort als Gestus ausgestellt und formal gestört […]«44. Gemeinsam mit den typografischen Leerräumen entsteht eine elliptische Erzählweise, die keinen Anspruch auf Geschlossen- 40 41 42 43 44 62 Alo Allkemper: Kathrin Röggla: ›stottern‹. In: Ders., Norbert Otto Eke, Hartmut Steinecke (Hg.): Poetologisch-Poetische Interventionen: Gegenwartsliteratur schreiben. München 2012, S. 417–430, hier S. 425. Konjunktiv. In: Wikipedia. https://de.wikipedia.org/wiki/Konjunktiv (06.03.2016). Allkemper: Kathrin Röggla: ›stottern‹ (Anm. 41), S. 425. Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 7. Karin Krauthausen: Gespräche mit Untoten. Das konjunktivistische Interview in Kathrin Rögglas Roman wir schlafen nicht. In: Hilde Kernmayer (Hg.): Schreibweisen. Poetologien 2. Zeitgenössische österreichische Literatur von Frauen. Wien 2010, S. 191–215, hier S. 194. Kathrin Rögglas die alarmbereiten heit erhebt, sondern die Fragmentierung und Störanfälligkeit des Erzählens betont. Eine erzählerische Homogenität kann nicht entstehen. Stattdessen herrscht ein dramatischer Modus vor. Durch die szenische Darstellung wird zwar auf den ersten Blick eine Art Mauerschau der Ereignisse angeboten, die eine unmittelbare Nähe zum (wenn auch nur) ›ersprochenen‹ Geschehen verspricht, allerdings wird den Leser_innen ebendiese Unmittelbarkeit durch die indirekte/konjunktivische Rede sofort wieder genommen und auch sogleich auf die Künstlichkeit dieser sekundären Oralität hingewiesen. Die konsequente Kleinschreibung, die treibende Interpunktion und die kurzen Sätze beschleunigen das Erzähltempo. Durch den häufigen Gebrauch von Kommata und die Kleinschreibung fingiert die syntaktische Struktur wiederum eine hektische Mündlichkeit, denn zum einen bilden Kommata im Gegensatz zum Punkt niedrigere Schwellen während des Lesens; zum anderen kann die konsequente Kleinschreibung als Erinnerung an die Mündlichkeit gedeutet werden, schließlich wird in der mündlichen Kommunikation aufgrund der fehlenden Visualität der Zeichen nicht zwischen Klein- und Großschreibung unterschieden. Trotz der szenischen Darstellung wohnt dem Text durch die Protokollform und den dominanten Konjunktiv eine Nachträglichkeit inne, wie sie auch dem Ausnahmezustand inhärent ist, der immer nur eine Reaktion auf den Ernstfall ist. Die evozierte Hektik suggeriert den Eindruck eines ständigen ›Zu-spät-Kommens‹ den verzweifelten Ver such der Zuseher_innen, aber auch des Erzählens selbst, mit den temporeichen Erzählungen des Katastrophischen mitzuhalten. Dabei scheint der alarmierte, präsentische Redeschwall nicht einmal in den vielen Leerräumen abzubrechen, in denen die Gespräche offenbar fortgeführt werden. Diese lauten Leerräume ergeben sich dadurch, dass häufig auf einen Gesprächsteil zurückverwiesen wird, der nicht unmittelbar an das Ende des vorigen Abschnitts anschließt. Wiederholende Rückfragen zu Beginn des neuen Abschnitts können sich dann nur auf Gesagtes in den Leerräumen beziehen: »was jetzt geschehe? die antwort liege doch auf der hand.«45 Gleichzeitig ignorieren sich die Teilnehmer_innen zunehmend, die Stimmung wirkt angespannt: »aber ob wir ihm überhaupt zuhörten? oder ob wir mit den gedanken ganz woanders seien.«46, »spreche er etwa nicht laut genug, liege es daran? er habe den eindruck, als gebe es hier einige, die überhaupt nicht reagierten.«47 Es entsteht der Eindruck, dass zwischen den Abschnitten 45 46 47 Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 14. Ebd., S. 10. Ebd., S. 13. 63 Sonja Lewandowski eine in ihrer Mündlichkeit verweilende – und daher für die Schriftsprache unfassbare – Kommunikation stattfindet, wodurch erneut erzählerische Unzulänglichkeit über die fragmentarische Darstellungsweise betont wird. In diesem gereizten Aneinandervorbeireden ist die Aufgabe der Semi narteilnehmer zum Scheitern verurteilt, nämlich »eine kommunikation über die kommenden ereignisse zu entwickeln«48. Trotzdem zeigen die scheiternden Kommunikationsprozesse einen wesentlichen Effekt der Rede über antizipierte Ernstfälle: Auch ohne den tatsächlichen Einbruch eines katastrophalen Ereignisses steigern sich die Protagonist_innen in den imaginierten Ausnahmezustand, der maßgeblich durch populäre Szenarien der Ausnahme geprägt ist. Durch die Übertragung medial-ästhetisierter Darstellungsverfahren auf die eigenen Wahrnehmungsweisen messen sie unauffälligen Phänomenen eine gesteigerte Bedeutung bei und deklarieren jegliche Regung als Signal für eine Ausnahmesituation: »wir beide sollten doch nur einmal hinhören: alleine, wie die möwen schrien, alleine, wie der wind das gras bewege. man nehme ja nur noch die lastwagen in der ferne wahr, wie sie vorüberzögen, dabei könne es gar keine lastwagen mehr geben, die vorüberzögen. es sei ja niemand mehr da.«49 Eine weitere wesentliche Verweigerungsmaßnahme gegenüber der Genreerzählung bildet der Verzicht auf heldenhafte Protagonist_innen. Einhergehend mit der Vermeidung einer souveränen Erzählsituation glänzt der Erzählband durch die Abwesenheit eines Helden, einer Heldin. Lechzt das genretypische Katastrophennarrativ nach einem innerdiegetischen, meist männlichen Souverän, wird in die alarmbereiten bereits die Suche nach einer individuellen Stimme problematisch. Durch die Sprachbrüche und -filter kommt ein fremdgesteuertes Subjekt zu Wort, das durch die tagtäglich medial versprühte Verunsicherungssemantik kontaminiert ist und über seine Sprache, so Joanna Drynda, »die erfahrenen Diskontinuitäten wiederholt«50. Fragmentiert und verzerrt durch die Rede der anderen sowie die medialen Filter verrauscht das Ich geradezu: »[…] das sei diese stimme aus dem radio gewesen, die schon wieder verrauscht sei, allerlei technischer lärm habe sich über sie gelegt, und jetzt sei nichts mehr von ihr zu hören …«51 48 49 50 51 64 Ebd., S. 11. Ebd., S. 25. Joanna Drynda: Verstädterte Körper. Zu Kathrin Rögglas Diagnose postindustrieller urbaner Befindlichkeiten. In: Marcin Golaszewski, Kalina Kupczyńska (Hg.): Industriekulturen: Literatur, Kunst und Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2012, S. 291–301, hier S. 292. Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 18. Kathrin Rögglas die alarmbereiten Wenn es zwar noch ein sprechendes Subjekt ist, das die Katastrophe herbeiredet, so ist es doch eines in keinem Fall mehr: ein handelndes. Hinter einer Fensterscheibe sitzend ist die Position der Zuseher_innen geprägt durch eine distanzierte Indirektheit, die sich in der passiven Sprachstruktur niederschlägt. Trotzdem agieren die Sprechenden, als wären sie mittendrin in den Geschehnissen – die Kapitel-Zeichnung Oliver Grajewskis verdeutlicht dieses übersteigerte Teilnahmegefühl, wenn die vor dem Fernseher sitzende Frau einen Mundschutz trägt, als könnte sie von den Fernsehbildern angesteckt werden (s. Abb. 2). In der passiven Situierung und Sprache der Zuseher_innen spiegelt sich jenes Paradoxon wider, das sich ergibt, wenn der Ausnahmezustand zunehmend in den Bereich der Risikotechnologie52 rückt: Tritt der Ausnahmezustand in diesen Berechnungsraum, wird er allein schon dadurch permanent, dass niemals von ihm abgelassen werden darf und in der Logik des Präventivdenkens zu jedem Zeitpunkt eine Entscheidung über den Fortgang der Ereignisse gefällt wird. Denn, so Ulrich Bröckling über die Crux des präventiven Handelns: »Entschieden wird in jedem Fall, weil auch NichtEntscheiden eine Entscheidung darstellt.«53 Diese Erkenntnis stellt natürlich die von Carl Schmitt einst geprägte Formel »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet« auf den Kopf und zeigt das Dilemma des Subjekts im Präventionsdenken. Die aus dem Übergang vom Gefahren- zum Risikodenken54 erwachsende Eigenverantwortlichkeit und der regelrechte Zwang zur Früherkennung jeglicher potenzieller Bedrohungen versetzt das Subjekt in ebenjene permanente Alarmbereitschaft, die es, so eine Stimme in die zuseher, überfordere: »sicher würden sich manche hier im raum fragen, wie das gehen solle, nachdem man in den letzten jahren permanent die aufforderung erhalten habe, den dingen aufmerksamkeit zu schenken, eine zusätzliche aufmerksamkeit den zusatzdingen, […] ›diese aufforderung hat uns wohl alle etwas überfordert, sicher […]‹.«55 Der Sicherheitsimperativ geht in die Sprache über, wie die Wiederholung des Wortes »sicher« andeutet. Die 52 53 54 55 Siehe diesbezüglich Kathrin Röggla: geisterstädte, geisterfilme. In: Dies.: disaster awareness fair. zum katastrophischen in stadt, land und film, Wien 2006, S. 7–30, hier S. 24: »denn ist nicht das erstellen von zukunftsszenarien, das ausmalen der dinge, die da unweigerlich eintreten wollen, eine beliebte tätigkeit geworden? gerne begeben wir uns auf das gebiet der spekulation und sind ständig dabei zukunftshorizonte auf- und zuzumachen, risiken abzuschätzen und sicherheiten zu gewinnen. ein verfahren, das wir von unserer medialen und institutionellen umgebung übernehmen.« Ulrich Bröckling: Prävention. In: Ders., Susanne Krasmann, Thomas Lemke (Hg.): Glossar der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2004, S. 201–215, hier S. 213. Vgl. Niklas Luhmann: Soziologie des Risikos. Berlin, New York 1991. Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 12 f. 65 Sonja Lewandowski Abb. 2: Fernsehen mit Atemschutzmaske – Übersteigertes Teilnahmegefühl oder Schutzschild vor den massenmedialen Angst-Ansteckungsherden? gesteigerte Redundanz in Kombination mit den semantischen Unbestimmtheiten illustriert die Neigung zum Generalverdacht, den der präventive Blick geradezu erzwingt.56 Hier wird durch die Ungenauigkeit der »zusatzdinge[ ]« die Unmöglichkeit deutlich, die potenzielle Bedrohung fassbar zu machen bzw. diese eindeutig zuzuschreiben, denn, um noch einmal Bröckling zu zitieren, »[d]er Gegenstand vorbeugenden Handelns ist offen und nimmt erst im vorbeugenden Zugriff selbst Gestalt an«57. In die zuseher wird vorge- 56 57 66 Vgl. Bröckling: Prävention (Anm. 55), S. 211. Ulrich Bröckling: Vorbeugen ist besser … Zur Soziologie der Prävention. In: Behemoth. A Journal on Civilisation, Jg. 1, 2008, S. 38–48, hier S. 39, zitiert nach Dießelmann: Ausnahmezustand im Sicherheits- und Krisendiskurs (Anm. 8), S. 216. Kathrin Rögglas die alarmbereiten führt, wie die ständige Antizipation der Katastrophe in einem präventiven Ausnahmezustand mündet, wodurch dieser zum Normalfall mutiert. Die Präventionsrhetorik bildet, so führt es Rögglas Text vor, ein »Grundmuster der Grammatik der Ausnahme«58. III. deutschlandfunk – »vollständige entwarnung wird nicht gegeben« Interpretiert man die letzte Erzählung als Epilog, dann wird dieser in Form eines medialen Echos inszeniert, das die Lesarten der vorigen Kapitel erweitert und nach dem öffentlich-rechtlichen Radiosender Deutschlandfunk benannt sowie dessen Programm nachempfunden ist. Einer Regieanweisung gleich wird die Szene in einem Berliner Krankenhaus verortet: »krankenhaus neukölln, zimmer 243, Montag, 23.8., 11.10 uhr, radiostimmen«59. Wer die Radiostimmen vernimmt, ist nicht ganz ersichtlich. Deutet man den Erzählband allerdings als eine lose Entwicklungsgeschichte, verstirbt das – nicht nur erzähltechnisch – versehrte ›Ich‹ in diesem Kapitel. Zuvor lauscht dieses ›Ich‹ allerdings noch einer Diskussionsrunde im Radio, die um ein katastrophisches Ereignis kreist, das nicht näher benannt wird. Erneut herrscht durch fehlende Inquit-Formeln oder ähnliche erzählerische Ordnungsgesten ein chaotisches Stimmengewirr. Die bereits in die zuseher vorherrschende und sich über den gesamten Erzählband erstreckende ostentative Alarmiertheit bildet den Kern des Gesprächs. Die Geschwindigkeit der Rede, die Wiederholungsfrequenz, aber auch die Monochromie der Stimmen nehmen im Vergleich zum ersten Kapitel nochmals zu, wodurch das postkatastrophische Erregungsmoment, das sich in der Sprache der Diskutanten niederschlägt, nochmals intensiver erscheint als das präkatastrophische Moment, wenn nicht angesichts der Permanenz des Ausnahmezustandes beide Momente zunehmend miteinander verschmelzen. Bereits das typografische Erscheinungsbild – die nun fast durchgehende Verwendung von Dialogstrichen sowie der Flattersatz im Vergleich zum überwiegenden Fließtext und Blocksatz in die zuseher – beschleunigt die Rezeption, markiert den schnellen, durchaus groben Rednerwechsel und evoziert dadurch eine hitzige Debatte und zugleich die nicht abklingende Alarmiertheit. Ein ständiges, aufgeregt-verunsichertes, teils konjunktivi58 59 Dießelmann: Ausnahmezustand im Sicherheits- und Krisendiskurs (Anm. 8), S. 216. Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 177. 67 Sonja Lewandowski sches Rückfragen »was mit den betroffenen jetzt geschehe?« 60, »ob man die donauüberschwemmung mit der situation der letzten wochen vergleichen könne?«61, oder die zweifache Rückfragen, »hat man jetzt überlebt, oder kommt noch was auf uns zu?« 62 illustriert eine Verunsicherung, die in Hilflosigkeit, ja Unselbstständigkeit mündet und beinahe jegliche Urteilskraft an die Medienanstalten abtritt. Die einer Anrufung gleiche Hinwendung zum Radio, die im Kapitel deutschlandfunk über die Anrufe der Zuhörer wortwörtlich zu verstehen ist, verschärft den Eindruck, dass den Massenmedien im Ausnahmezustand eine gesteigerte Glaubhaftigkeit und Wissensmacht eingeräumt wird, die sogar darüber entscheiden kann, ob »man jetzt überlebt [hat]«. Da »in der sondersendung vor einer stunde […] darüber nichts gesagt« wurde, weiß man es auch nicht.63 Diese ›Hörigkeit‹ gegenüber den Medien ergibt sich daraus, dass man die »betreffenden institutionen, beispielsweise das bbk, das bundesamt für bevölkerungsschutz und katastrophenhilfe, […] nicht ans telefon [bekommt]« 64. Einhergehend mit der von den Diskutanten beklagten Unerreichbarkeit und Abwesenheit staatlicher Präsenzen gewinnen die Massenmedien an entscheidender Souveränität. Aus dem Stimmengewirr in deutschlandfunk klingt nicht zuletzt eine gewisse Sehnsucht nach der aus der Ausnahme erwachsenden Gemeinschaftlichkeit durch: »– ja, ist es nicht so? wenn die ersten schreiereien an den u-bahnstationen stattfinden, weiß man, es ist vorbei. wenn die menschen wieder grußlos aneinander vorübergehen, dann ist man wieder angelangt im alltag.« 65 Das Bedauern, das hier mitschwingt, verrät, dass dem Ausnahmezustand ein gemeinsinnstiftendes Moment innewohnt, denn, so Röggla in ihrem Essay die rückkehr der körperfresser, »[a]n diesem ereignis haben alle teilgenommen, ob sie wollten oder nicht. und meist wollten sie. und da ist es auch schon, das kollektiv, nach dem man so verzweifelt ausschau gehalten hat, das man so vermisst hat in den jahren unauf haltsamer individualisierung […]«66. Jedoch birgt dieses euphorische ›Wir-schaffen-das‹ der Ausnahmesituation auch die Gefahr des »›ideologischen kidnapping[s]‹« 67, das sich, so 60 61 62 63 64 65 66 67 68 Ebd., S. 184. Ebd., S. 182. Ebd., S. 180. Ebd. Ebd. Ebd. Kathrin Röggla: die rückkehr der körperfresser. In: Dies.: disaster awareness fair. zum katastrophischen in stadt, land und film, Wien 2006, S. 31–51, hier S. 37. Vgl. ebd., S. 38. Kathrin Rögglas die alarmbereiten Röggla, schnell in ein »›wir-deutschland-gefühl‹« 68 verwandeln kann. Somit kann der Titel deutschlandfunk auch als Ausdruck einer Nationalstimmung, die im Angesicht der Ausnahme anschwillt, verstanden werden – das Radio als nationalsozialistisches Ideologieinstrument ist vorbelastet. Die leise Steigerung hin zum stolzen Nationalgefühl beginnt in der Gesprächsrunde im Hörfunk mit einem Loblied auf den »opfermut der eingreifenden kräfte«69 sowie die »umfassende[n] solidaritätsaktionen genauso wie [die] spontane nachbarschaftshilfe« und kippt schließlich in selbstgefällige Aussagen über die ganze Nation: »– letztendlich ist man eben auch in dieser hinsicht eine gebernation.«70 Die Notfall-Solidarität verwandelt sich in ein nationales Überlegenheitsempfinden: »wir sind immer noch zu hilfe geeilt, wenn es irgendwo fehlte.«71 IV. Normalisierung des Ausnahmezustands Das Gespräch in deutschlandfunk beginnt mit dem Statement eines Pressesprechers, der Vermittlerfigur eines Unternehmens oder einer staatlichen Behörde, die den Medien entgegentritt und, diesmal in direkter Rede, wodurch eine plötzliche Bestimmtheit Einzug in die Erzählung hält, auf eine ReNormalisierung der Ausnahmesituation pocht: »– es gilt jetzt abzuwarten, bis eine normalisierung eintritt. es gilt zurückzukehren zu einem alltag, den man übereilt verlassen hat.«72 Kurz darauf wird allerdings wieder gemahnt: »doch vollständige entwarnung wird nicht gegeben, vollständige entwarnung kann auch gar nicht gegeben werden. das ist eben die situation, mit der man leben muss. in erwartung, dass so etwas noch mal passiert.«73 Die mediale Berichterstattung oszilliert zwischen diesem Beschwichtigungs- und Dramatisierungsgestus. Dadurch kann innerhalb der medialen Situation gar keine Re-Normalisierung eintreten. Denn trotz des Aufrufs, wieder zum Alltag zurückzukehren, lässt die Katastrophendramaturgie – das offenbart die erneut verwendete Unterhaltungssemantik – sowie andererseits das Präventivdenken keine Entspannung der Lage zu: »[…] noch sind wir mitten 68 69 70 71 72 73 Ebd. Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 177 f. Ebd., S. 178. Ebd. Ebd., S. 177. Ebd., S. 178, vgl. auch S. 180. 69 Sonja Lewandowski drin, noch sind die dinge ja am laufen, meine damen und herren.«74 Eine weitere Stimme bestätigt und generalisiert die Aussage entscheidend: »– die dinge sind ja immer im laufen.«75 Durch die ständige Kommunikation über den Ausnahmezustand wird dieser präsent gehalten, denn, so Dießelmann über die zentrale Bedeutung der Sprache für den Ausnahmezustand, diese fungiert »als hegemonialer Transmissionsriemen. Sie erzeugt gleichsam die Katastrophen und die Angst vor ihnen sowie die Beschwichtigung derselben Angst«76. Die mehrfache Indirektheit und Vagheit, die sich durch die intermediäre Situation ergibt, überspitzt die mediale Verunsicherungsgeste, die die Zuseher_innen, die Zuhörer_innen nicht ›abschalten‹ lässt. In die alarmbereiten entblößt sich, »wie die Medien die gewünschte Habachthaltung neu justieren hin auf die nächste drohende Katastrophe«77. Die Hörer_innen stimmen in diesen Alarmchor mit ein: Man möchte sich »noch einmal zu wort melden und fragen«78, »noch etwas hinzufügen«79, »nochmal reagieren«80. Die Wiederholungsadverbien verdeutlichen, dass von dem Ereignis bzw. der permanenten Alarmiertheit nicht abgelassen werden kann und der Gesprächsfaden stets wieder aufgenommen werden muss, wodurch sich dieser zu einer Endlosschleife verknüpft: »– hier werden alle gehört, auch wenn sie nicht unbegrenzte redezeit haben.«81 In Rögglas Stimmenmontage wird ein instabiles Subjekt hörbar, das aufgrund ständiger Alarmbereitschaft, »zwischen Bedrohung und Präventivdenken eingeklemmt und dazu gezwungen, permanent Risiko abzuschätzen, um noch kurzfristig Sicherheit zu gewinnen«,82 offen ist für den permanenten Ausnahmezustand in Form einer Ausweitung sicherheitspolitischer Maßnahmen jeglicher Art. Denn die permanente Alarmiertheit lässt das Normalmaß an Sicherheitsmaßnahmen f lexibel werden. Wie genau sich das ständige Antizipations- und Präventivdenken auswirkt, wird zum Ende des letzten Kapitels deutschlandfunk angedeutet, wenn ein Hörer bemerkt: »und doch: es hätten sich grauzonen gebildet, grauzonen in unserem sicherheitsdenken […].«83 Bezeichnenderweise wird diese leise und trotzdem dra74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 70 Ebd., S. 177. Ebd. Dießelmann: Ausnahmezustand im Sicherheits- und Krisendiskurs (Anm. 8), S. 210. Jörg Plath: Im Apokalypsenmatsch. In: Neue Zürcher Zeitung, 03.07.2010, http://www. nzz.ch/im-apokalypsenmatsch-1.6370769 (10.02.2016). Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 180. Ebd., S. 182. Ebd. Ebd., S. 184. Drynda: Verstädterte Körper (Anm. 52), S. 292. Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 181. Kathrin Rögglas die alarmbereiten matische Konsequenz nicht weiter diskutiert. Im Gegenteil herrscht der Tenor vor, dass Einschränkungen angesichts der Lage unerlässlich seien: »– man muss abstriche machen«84, auch »– sozialpolitik muss jetzt leider außen vor bleiben«85. Auf das erwartungsträchtige »mal sehen« der ersten Erzählung, das sich pompöse Katastrophenszenarien ausmalt, folgt auch in diesem Kapitel nach dem kaum vernehmbaren Ereignis ein Erwartungsbruch: »– […] zu sehen sei ja eigentlich nicht viel gewesen. – man habe sich ein wenig mehr erwartet.«86 Die Erwartungsenttäuschung lässt erkennen, dass ein bestimmter Verlauf, ein bestimmtes Ausmaß der Katastrophe und des daran anknüpfenden Ausnahmezustands ›normal‹ geworden ist, und impliziert zugleich, dass davon abweichende Formen des Ausnahmezustands nicht erkannt werden. Die leisen Konsequenzen werden im Redeschwall überhört. Wer nicht in die aufgeregte Alarmbereitschaft einstimmt, sondern kritische Rückfragen stellt, wirkt verdächtig, so die tatsächlich Betroffenen, etwa die Angehörigen, die zuletzt als Schuldige dargestellt werden: »– die jeden einsatz erschweren, die kein expertenteam arbeiten lassen und jeden entschluss einer kommission in frage stellen.«87 Die hier anklingende Vertrauensseligkeit gegenüber dem Staat verrät, dass dieser einen erweiterten Handlungsspielraum erhält, der angesichts der vermittelten Dringlichkeit hohe Akzeptanz in der Bevölkerung und in den Medien findet. Denn »die Denormalisierungsängste des Publikums [werden] strategisch eingesetzt, um Legitimitäten zu erzeugen. Ohne die bevorstehende Katastrophe würden sinkende rechtliche Standards und eingeschränkte Freiheiten nicht als alternativlos gelten.«88 Der Ausnahmezustand erschaffe und legitimiere »kräfte der stabilisierung«, denen »man noch blind vertrauen müsse«, so der Wiener Standard in der Presseschau.89 Worin diese Stabilisierungsmaßnahmen genau bestehen, kommt nicht zur Sprache. Die Rhetorik im Ernstfall bedient sich einer starken, jedoch in sich abstrakten Semantik. Der schleichende, unvermittelte Übergang von der Diskussionsrunde hin zu der Internationalen Presseschau des Deutschlandfunks90 verrät einen Konsens zwischen internationalen Medien und Bevölkerung über die Einschränkungstendenzen, die die Ausnahme mit sich bringt, und 84 85 86 87 88 89 90 Ebd., S. 187. Ebd., S. 183. Ebd. Ebd., S. 186. Dießelmann: Ausnahmezustand im Sicherheits- und Krisendiskurs (Anm. 8), S. 210. Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 185. Vgl. ebd., S. 184 f. 71 Sonja Lewandowski betont ein weiteres Mal das Verschwimmen medialer Stimmen mit ›realen‹, die wiederum über das Medium Telefon und Radio mehrfach gebrochen werden. Wird zu Beginn von deutschlandfunk noch über »das phänomen der zuseher«91 diskutiert, wodurch retrospektiv auf das erste Kapitel verwiesen und die voyeuristische Tendenz eines »massentourismus« in Gebiete, die sich im Ausnahmezustand befinden, angeprangert wird: »sie stehen da und starren auf das elend.«92, wechselt das Gespräch übergangslos in die Form der rezitierenden Internationalen Presseschau93, die täglich um 12.50 Uhr im Deutschlandfunk Stimmen zu international relevanten Ereignissen zusammenträgt: »– und la repubblica fordert: die leute sollten zu hause bleiben und ihrer arbeit nachgehen, das helfe der situation am ehesten, wenn diese form des ausnahmezustandes, der ja auch gewaltige volkswirtschaftliche einbußen mit sich bringe, nicht künstlich verlängert werde.«94 Hier wird die kosmopolitische Ausweitung des Ausnahmezustands durch dessen massenmediale Verbreitung deutlich. Weder erfährt man, was passiert ist, noch, in welchem Land. Zugleich mischt sich die italienische Tageszeitung La Repubblica in den Umgang mit dem Ernstfall ein, wenn sie der Bevölkerung nicht nur empfiehlt, sondern diese sogar dazu »auffordert«, zu Hause zu bleiben und ihrer Arbeit nachzugehen, »wenn diese form des ausnahmezustandes […] nicht künstlich verlängert werde«95, so die Aussage, müssten die Menschen selbst durch ihr Verhalten einen normalisierten Ausnahmezustand herstellen. Zur Mitte des Kapitels wird der Normalisierungsprozess in Form eines Imperativs an die Bevölkerung sichtbar: »[…] kehren sie zurück an ihren arbeitsplatz! gehen sie einkaufen, verbringen sie zeit mit ihrer familie, wenden sie sich wieder ihrem leben zu!«96 Die Wiederherstellung des Alltags soll über funktionierende Bürger_innen, die ihren konventionellen Pf lichten nachgehen, vorgenommen werden. Das Radiogespräch endet damit, dass sich die Diskutanten in deutschlandfunk aus sich heraus und demonstrativ auf die »ökonomische Matrix«97 als Normalisierungsstrategie berufen; der Imperativ wurde folglich bereits internalisiert und trägt nun das Label ›Sorge um sich‹. Eine anonyme Stimme verkündet: »– keine sorge, könne auch er nur rufen, aber erstmal würden die menschen fortfahren wollen mit ihrem leben, mit 91 92 93 94 95 96 97 72 Ebd., S. 184. Ebd. Es werden die für die Internationale Presseschau typischen Zeitungen zitiert, etwa The Herald Tribune, La Libération, La Repubblica oder DER STANDARD aus Wien. Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 185. Ebd. Ebd., S. 179. Röggla: geisterstädte, geisterfilme (Anm. 54), S. 13. Kathrin Rögglas die alarmbereiten ihren berufen, mit ihrer gesundheit.«98 Die Besinnung auf Arbeit, Gesundheit, auf das Leben an sich wird von einer weiteren Stimme sofort bestätigt und maßgeblich erweitert: »– mit der eigenen gesundheit fortfahren, das sei jetzt das ziel eines jeden denkenden menschen. die gesundheit vieler habe sich versammelt und wolle zu ihrem recht kommen.«99 Der Foucault’sche Unterton ist in diesem Abschnitt kaum zu überhören. Die übersteigerte Bezugnahme auf die Gesundheit aller spielt auf die biopolitischen Strukturen an, die zur Normalisierung des Ausnahmefalls beitragen, denn Gesundheit und auch Arbeit bilden konstituierende Normalisierungsinstanzen innerhalb einer Leistungsgesellschaft. Die abgegriffene Wendung »keine sorge« zu Beginn des Satzes ist eine unauffällige Falle, die den unbedarften Gang durch den folgenden Satz erschwert. Denn »keine sorge« kann als zynische Anspielung auf die biopolitische Agenda gelesen werden, deren Kern eben gerade die allumfassende Sorge des Staates um das Leben der Menschen ist – um den individuellen Körper, aber eben auch um die Menschen als Gattung insgesamt.100 Der abstrakte Bezug auf das Leben, die Berufe und die Gesundheit vieler spiegelt sprachlich, dass die Umfassung aller gemeint ist. Die vom Staate ausgehende »erfassungsgier«101, etwa in Form von Datensammlungen, in denen »die Gesundheit vieler versammelt« wird, stellt die Machttechnik der Biopolitik dar und spielt auf die eigentliche souveräne Kraft und Methode an, die den Ausnahmezustand re-normalisiert. In dieser »Normalisierungsgesellschaft« bildet das vom Staat ausgeweitete Präventionsdenken, das ebenso dem Subjekt abverlangt wird, so könnte man in Anlehnung an Foucault sagen, die zwangsläufige Erweiterung der Sorgenpolitik. In die alarmbereiten wird deutlich, dass die von Agamben konstatierte Ersetzung der expliziten Erklärung des Ausnahmezustands »durch eine beispiellose Ausweitung des Sicherheitsparadigmas als normale Technik des Regierens«102 eine Akzeptanz und Unterstützung seitens der Mehrheitsgesellschaft erfährt, die auf biopolitische Machtstrukturen zurückzuführen ist. Insgesamt kommen bei Röggla ebenjene »Elemente[ ] der polizeilichen Überwachung der Bevölkerung, der Sozialpolitik und der Gesundheitspolitik zusammen«103, aus denen sich nach Foucault das gouvernementale Sicherheitsdenken zu98 99 100 101 102 103 Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 189. Ebd. Vgl. Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–76). Aus dem Französischen von Michaela Ott. Frankfurt a. M. 1999. Röggla: geisterstädte, geisterfilme (Anm. 54), S. 28. Agamben: Ausnahmezustand (Anm. 29), S. 22. Michael Ruoff: Sicherheitsdispositive. In: Foucault-Lexikon. Entwicklung – Kernbegriffe – Zusammenhänge. Paderborn 2007, S. 193 f., hier S. 193. 73 Sonja Lewandowski sammensetzt.104 Unter dem Deckmantel des Sicherheitsparadigmas, das in Zeiten des Ausnahmezustands ausgeweitet werden müsse, wird die Bevölkerung nicht nur von disziplinierenden Kräften kontrolliert, sondern hauptsächlich durch geschmeidige Varianten der gouvernementalen Steuerungsformen, etwa wenn, wie in die zuseher, jeder Bürger dazu angehalten wird, seinen präventiven Blick schweifen zu lassen. Die ›weiche‹ Fremdbestimmung des Subjekts wird über dessen indirekte Besprechung sichtbar. Zuletzt ist das Subjekt vollends ›überredet‹, wenn es zweifach trotzig kundtut: »– ja, wir lassen uns die freude nicht kaputtmachen, die freude, dass es uns noch gibt.«105 Die biopolitische Reduktion des Rechtssubjekts auf das einfache (nackte) (Über-)Leben, das Agamben analysiert106, wird als letzter Triumph gefeiert. Trotz Sicherheitsstaat, der die Subjekte in einem ambivalenten Zustand von biopolitischer Sicherheitskontrolle und gouvernementaler Selbstsorge um das eigene Leben ausharren lässt, soll das (noch) existierende Leben mit Freude gelebt werden. Dieses biopolitische Schlüsselargument der Sicherung des Lebens durch den Staat blüht im Ausnahmezustand sehr deutlich auf. Im Grunde bildet dieser vorletzte Absatz eine Persif lage auf das genretypische, restaurative Happy End, das so viele Hollywoodfilme prägt. Zumeist werden dort eine wiederhergestellte Kernfamilie – Mutter, Vater, Kind – und eine im Vergleich zur Weltbevölkerung niedrige Zahl an Menschen gerettet. Es stellt sich trotz enormer Opferzahlen ein fröhliches Ende ein, denn die ›Gattung Mensch‹ hat überlebt.107 Schließlich endet das Buch mit der Auskunft über die Verkehrslage im Deutschlandfunk. Ein tagtägliches, vermeintlich banales mediales Geschehen wird hier aufgegriffen, allerdings in Textform gegossen und damit aus seinem ›natürlichen‹ Medium entnommen, entfremdet. Die Stauschau bildet die Normalisierung des Unfalls schlechthin. Die halbstündig-wiederholte, monoton-monochrom geleierte Information über aktuelle Unfälle – »a1: köln zwischen kreuz köln-nord und köln-lövenich unfall 4 km stau.«108 – führt jenen von Virilio konstatierten »Unfall der Wahrnehmung« vor Augen, denn 104 105 106 107 108 74 Vgl. Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France (1975–76). Aus dem Französischen von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder. Frankfurt a. M. 2004, S. 161 f. Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 187. Vgl. ebd., S. 189. Vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a. M. 2002. Vgl. Horn: Enden des Menschen (Anm. 20). Röggla: die alarmbereiten (Anm. 1), S. 189. Kathrin Rögglas die alarmbereiten mit jedem Satz wird eine kleine Ausnahmesituation, ein Schicksal erzählt und sogleich zum nächsten übergegangen. Gerade als Schlusspunkt des Erzählbandes erhält die Aufzählung der Unfälle einen bitteren Beigeschmack und macht auf die medialen Wiederholungsschleifen und die daraus erwachsende Normalisierung der Ausnahme aufmerksam. Zuletzt schließt sich hier die lose erzählerische Klammer zu den wahrnehmungstechnisch-verunfallten Zusehern und der Ansprechbaren vom Beginn des Bandes. V. Erzählerischer Ausnahmezustand? »Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall«109, konstatierte einst Carl Schmitt. Um die Wirkkraft der Ausnahme weiß auch Röggla, denn die Erzählverfahren, die sie in ihren Texten anwendet, zeichnen sich vor allem durch eine Abwendung von den ›klassischen‹ Erzählweisen aus. Dem zugrunde liegt offenbar ein tiefes Misstrauen gegenüber der fiktionalen und faktualen Auseinandersetzung mit dem Ausnahmezustand: zum einen die genretypischen Narrative über das Katastrophische, zum anderen die realen Diskurse, die den Ernstfall verhandeln. »In der Ausnahme«, so Schmitt weiter, »durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik.«110 Was aber, wenn die Ausnahme selbst zur »erstarrten Mechanik« wird? Röggla versucht ebenjene »Kruste«, die sich durch die permanente Wiederholung der Ausnahme gebildet hat, durch literarische Verfahren der Ausnahme aufzubrechen. Durch die Infragestellung der auktorialen Erzählsituation wird die Schwelle sichtbar gemacht, die zwischen der Fiktion des Textes und der Realität des Lesers besteht; durch die Erzählbrüche, die stets auch auf die Künstlichkeit des erzählerischen Akts hinweisen, wird wiederum »eine vom Automatismus befreite Wahrnehmung«111 erzeugt. Durch die ausgestellte Künstlichkeit wird zugleich auf die Tendenz der De-Realisierung des Ausnahmezustands hingewiesen. Die Heuristik der Ausnahme fruchtbar machend, kann man sagen, dass sich das Erzählen bei Röggla selbst im Ausnahmezustand befindet. Handelt es sich womöglich um ein dramatisches Erzählen? Röggla erzeugt in jedem Fall eine Zone der Ununterscheidbarkeit. Eine zwiespältige Geste, denn: Einer- 109 Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin 2004, S. 22. Ebd. Sklovskij: Die Kunst als Verfahren (Anm. 7), S. 31. 8 110 111 75 Sonja Lewandowski seits wird die vorherrschende Ordnung des Erzählens gestürzt, andererseits erweist sich das Erzählen durch ebendiese Ausrufung des erzählerischen Ausnahmezustands als überaus souverän, wird doch mit jeder Abweichung von der Erzählnorm über eine Ausnahme entschieden. Zu fragen bleibt, ob nicht auch Rögglas Texte durch die Permanenz des erzählerischen Ausnahmezustands wiederum einen Normalfall erschaffen. 76