Die beiden Notationen der sämavedischen svaras
Harry Falk
Die Harappä-Schrift war in letzter Zeit Objekt einer inflationären Serie von Entzifferungen, die den Begriff decipherment mehr und mehr in schiefes Licht gebracht hat.
W. Howard wird es zu verdanken sein, sollte nun das Vertrauen in Entzifferer wieder
zunehmen, denn er hat tatsächlich ein altes Rätsel gelöst. 1 Wie bekannt, ist die Rezitation des Sämaveda nicht einheitlich. Ein RäQ.äyaniya aus Gujarat und ein Jaiminiya
aus Kerala präsentieren ein und denselben Text höchst unterschiedlich. Zu diesen
Unterschieden im mündlichen Vortrag der verwendeten Töne kommen jene der Notation, der schriftlichen Fixierung. Man muß im folgenden drei Gruppen genau auseinanderhalten:
1) Die Kauthumas und RäQ.äyaniyas notieren die Zahlen 1 bis 5 (und ra für lange
·Vokale).
2) Die Jaiminiyas in Tamilnadu hingegen schreiben mehr als zehn Silben, um die
Tonhöhen der einzelnen Silben im Text zu markieren.
3) Die ebenfalls zu den Jaiminiyas zählenden Nambüdiris in Kerala verschmähen jede
Schriftform und schwören auf mündliche Tradition.
Die Töne des Textes ägne mrlämä/zalrl ytisi o hä o hä würden bei den Kauthumas
mit den Zahlen 3-4-3-ra-4-3ra-3/234-3/234-5 bezeichnet und bei den Jaiminiyas mit
den Silben 1J,a-pha-1J,i-pha-phä-khä-kha-.sa. Wie die Zahlen mit den Silben korrespondieren, das war selbst Caland ein Rätsel.
Howard präsentiert 79 Sämans in synoptischer Form, so daß deutlich wird, daß
Silben und Zahlen wie im folgenden Beispiel nicht dieselben Töne bezeichnen:
Jaim.:
Kau.:
Q.a pha
Q.i pha
phä
khä
kha
sa
ä- gne lllf-lä mä-harp yä-si o hä
o
hä
3 4 3 ra
4
3ra 3/234 3/234 5
Howard weist nach, daß die Silbennotierung aus zwei Teilen besteht. Der Kon-
1
Wayen Howard, The Decipherment of the Sämavedic Notation of the Jaiminiyas (Studia Orientalia,
63). Helsinki 1988.
BERLINER INDOLOGISCHE STUDIEN (BIS)
7.1993, pp. 103-107.
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H. Falk
sonant bezeichnet einen der Töne und der Platz des folgenden Vokals im Alphabet
legt fest, für wieviele Silbes des Textes der Ton zu halten ist. Das Kürzel wird auf der
letzten der betroffenen Silben geschrieben. Ein 'IJ,a z.B. bezeichnet durch den ersten
Vokal, a, eine einzige zu rezitierende Silbe, 'IJ,i dagegen sagt mit dem dritten Vokal,
i, daß ein Ton namens 'IJ,- auf drei Silben zu singen ist (170ff.). In einem ausführlichen
Belegteil identifiziert Howard dann die Zahlen der Kauthumas mit den einzelnen
Konsonanten der Jaiminiyas und kann zeigen, daß z.B. einem k- im allgemeinen eine
2 entspricht oder einem kh- im Satzinnern immer eine Folge 3/234. Im Großen und
Ganzen läßt sich so voraussagen, welcher Kauthuma-Notation welche Jaiminiya-Notation entspräche. Abweichungen und Ausnahmen halten sich dabei in einem erträglichen Rahmen.
Obwohl dieses Verhältnis klar herausgearbeitet wurde, greift Howard bei der
Identifikation von Zahlen und Silbenkürzeln (175-249) ein wenig zu kurz. Denn immer
identifiziert er beide Notationen, als ginge es überall um eine einzige zu intonierende
Silbe. Zu kh- etwa schreibt er: "Letter kh has as its numerical counterpart the sequence 3/234" (182). Das ist richtig, aber nur was kha angeht, also kh- auf einer Silbe.
Wenn aber khä oder khi verglichen wird, müßte die Definition anders aussehen: "khbezeichnet alle Reihen von a/cyaras, die mit 3 beginnen und auf 3/234 enden". Das
Beispiel oben liefert beide Fälle. Berücksichtigt man nun diese rückwärts gerichtete
Wirkung der Jaiminiya-Notation, wird der unterschiedliche Charakter beider Systeme
viel deutlicher:
1. Die Kauthumas rechnen mit sechs Tönen, die als Zahlen geschrieben werden. Eine
Zahl bezeichnet die erste relevante Silbe und gilt solange weiter, bis sie von einer
anderen abgelöst wird. Es gibt neben den einfachen Tönen auch konventionelle, feste
Folgen dieser Töne auf einer einzigen zu rezitierenden Silbe, die als Folgen von Zahlen über und hinter dem betreffenden alcyara geschrieben werden. Der erste Bestandteil einer solchen Bewegung wird selbst dann geschrieben, wenn er mit dem davor
gültigen Grundelement identisch sein sollte (z.B. vier Silben: 1-[1]-[1]-1\2345).
2. Die Jaiminiyas beginnen am entgegengesetzten Ende und sagen sich, daß auf einer
einzigen zu rezitierenden Silbe nur eine relativ begrenzte Menge von feststehenden
Tonsequenzen möglich sind. Jede dieser Folgen beginnt mit einem gewissen Ton. Für
den Fall, daß die Silbe davor nicht anders bezeichnet war, gilt der erste Ton der Folge
auch für die Silben davor. Das Symbol t- steht für die Bewegung 1/23, und ein vacätä
z.B. (290) wird von den Kauthumas
1 ra 1
ti
vacätä23 geschrieben, von den Jaiminiyas aber vacätä weil t- eine Schlußbewegung
1/23 impliziert, der, durch den dritten Vokal i angedeutet, nur 1 auf zwei Silben vorausgehen kann.
Die beiden Notationen
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Die Entsprechungen zwischen Kauthumas und Jaiminiyas sind nun bekannt,
ebenso wie die Unterschiede. Die einen beginnen von vorn und denken in Tönen, die
zumeist in Sequenzen auf einer einzigen Silbe enden, die anderen gehen von diesen
Schlußsequenzen aus, denen etwas ganz Bestimmtes vorausgehen muß.
Auch wenn diese Beziehung zwischen den Systemen der Kauthumas und der
J aiminiyas nun deutlich sind, so wissen wir doch etwas ganz wichtiges immer noch
nicht: Was verbirgt sich denn hinter den Zahlen der Kauthumas? Was macht einen
Ton aus? Ist es ein einziger, in seiner Höhe festgelegter Ton, wie dies die ältere Forschung annahm, oder eine Phrase, ein Motiv, eine festgelegte Folge von Tönen, wie
dies Howard zuvor immer wieder behauptet hat? Wie hörte sich eine Reihung, etwa
3/234, einst an? Wenn wir das wüßten, wäre auch geklärt, wie die Jaiminiyas ihr kha
sangen, denn kha entspricht 3/234. Ist aber 3/234 verständlich, wenn wir es mit einer
Tonfolge A/H-A-G vergleichen, oder müssen wir uns unter jeder einzelnen Zahl
eine Phrase (z.B. H-A-H-A-C) vorstellen?
Einigen Notationssilben der J aiminiyas steht eine Reihe von Varianten bei den
Zahlen gegenüber.pi- z.B. kann mit 4 beginnen und endet dann auf 4/5. Es kann aber
auch auf 5 beginnen mit einem Schluß von 5/6. Beginnt es jedoch mit 3, dann endet
es ohne Veränderung auch auf 3. Das Kürzel pi- steht also nicht für eine feste Tonfolge, eine Phrase, sondern allenfalls für mehrere, kontextbedingte Folgen, und dies
legt nahe anzunehmen, die Zahlen bezeichneten zu keiner Zeit Phrasen, sondern
immer nur relativ festgelegte Tonhöhen. Ihre Anzahl ließe sich damit gut vereinen.
Howard hat versucht, die "Töne" (svara) beider schriftlicher Notationen mit den
heutzutage von den Nambüdiris noch gesungenen, nirgends aber schriftlich fixierten
Tonfolgen in Einklang zu bringen und präsentiert eine Analyse ihres Phrasenrepertoires von beeindruckendem Umfang und exemplarischer Genauigkeit. Das einzige aber,
was aus der Sammlung (311-330) hervorgeht, ist, daß es keine Übereinstimmung zwischen den von Nambüdiris gesungenen Phrasen und anderswo, bei den Jaiminiyas von
Tamilnadu, geschriebenen Tönen gibt. So wird der alte Eindruck nicht widerlegt, daß
jede Zahl bei den Kauthumas letztlich doch nichts anderes bezeichnete als einen
einzelnen Ton, bzw. eine in Relation zur Umgebung definierte Tonhöhe. Das System
der J aiminiyas von Tamilnadu arbeitete dann mit denselben Tönen, die nur anders
graphisch dargestellt wurden.
Die beiden Notationen sind ihrem Charakter nach so grundverschieden, daß nicht
erkennbar ist, wie eine aus der anderen entstanden sein könnte. Howard nimmt dennoch an, daß auch die Jaiminiyas einst Zahlen verwendeten (170). Eine Begründung
fehlt. Leichte Unterschiede zwischen der Notation einzelner Sämans zeigen, daß Ab-
2
1986.
Wayne Howard, Sämavedic Chants, New Haven 1977; ders. Veda recitation in vゥイセ。ウL@
Delhi
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H. Falle
weichungen von der anderen Schule schon zur Entstehungszeit der beiden Modelle
bestanden und sporadisch auftretende Differenzen im Detail nichts an der generellen
Übereinstimmung ändern.
Howard untersucht nicht die innere Logik der beiden Notationen. Doch fällt auf,
daß eine Zahlennotation nur in Schriftform Sinn macht. Die Bezeichnung der langen
Vokale durch ein ra hat keine Entsprechung bei den Fingerbewegungen, die bei der
Rezitation die Töne begleiten. Auch machen die mudräs keinen Unterschied zwischen
hochgestellten Zahlen und solchen auf einer Linie mit dem geschriebenen Text. Damit
ist klar, daß die Notation der Kauthumas für Zwecke der schriftlichen Fixierung geschaffen wurde. Sie kann also nicht älter sein als die erste Verschriftlichung des Samaveda der Kauthuma-Räi;iäyaniyas. Zeitlich dürfte dieses Ereignis im 1. Jahrtausend
n.Chr. zu lokalisieren sein. Bedenken wir, daß Bhavaträta noch im 7. Jh. n.Chr. 3 die
Töne der Jaiminiyas mit Namen belegt, die sich nicht von denen der Kauthumas unterscheiden, und der von 6 oder 7 Grundmustern ausgeht, dann liegt es nahe, die Erfindung der Silbennotation zum Zwecke der Verschriftlichung frühestens um 600 n.Chr.
anzusetzen.
Wir können dann allgemein sagen, daß zu der Zeit der Verschriftlichung die
Rezitation aller Schulen - außer jener der Nambüdiris - nur wenige Unterschiede
aufwies, denn sonst würden sich heute die beiden Notationen nicht so zur Deckung
bringen lassen, wie dies Howard gelungen ist. Diese erschlossene Nähe der Rezitationen der Schulen steht ganz im Gegensatz zur Variationsbreite von heute.
Die Silbennotation der Jaiminiyas müßte nicht unbedingt für Schrift geschaffen
worden sein, denn Notierungen wie ca tu ta ld ließen sich separat memorieren und
gäben eine Tonfolge für zehn a/cyaras des Textes wieder. Doch zeigt eine Neuerung,
daß solche Folgen keine Verbindlichkeit besaßen. Ein -y- nach dem Konsonanten
verschiebt in zwei Handschriften gelegentlich den Zahlenwert des Vokals um l, so
daß z.B. kyi einem alten ki entspricht. Da dem System in sich damit nicht geholfen
ist und ein neues tyi nun ein lautlich ganz verschiedenes, aber inhaltlich identisches
altes tu ersetzt, zeugt diese Neuerung nur von einer Lust am Chiffrieren, nicht jedoch
von oraler Tradition.
Noch deutlicher wird dieser Sachverhalt, liest man einen Bericht Raghavans über
die Kautuma-Rezitation von 1957.4 Demnach benutzten auch einzelne Gruppen dieser
Schule früher die alcyara-Methode, doch behandelten sie die svara-Bezeichnungen ka,
ca oder fa als "integral parts of the recital" (55), wodurch der Wortlaut des Verse zur
3 Premnidhi Shastri (Hg.):laiminiya Srauta-Sütra-Vitti of Bhavatriita (Sata-Pitaka Series, 40). New
Delhi, vikrama 2022, 258; Asko Parpola: "The literature and study of the Jaiminiya Sämaveda in retraspect
and prospect". Studia Orientalia 43.1973, 15.
4
V. Raghavan, "Present Position of Vedic Chanting and its future". Bulletin of the Institute of
Traditional Culture (Madras), 1957, 48-69; bes. S. 55 u. 67.
Die beiden Notationen
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Unkenntlichkeit verzerrt wurden. 5 Um die Rezitation wieder verständlich zu machen,
ging ein Krishnaswami Srauti von Tiruvaiyälu vor einer Generation nach Poona und
brachte von dort sowohl die Nummern-Notation in den Süden, wie auch die Methode,
die Nummern mit Hilfe eines Harmoniums in Töne umzusetzen (67). Howard erwähnt
diese Veränderungsprozesse nicht.
Damit können wir die beiden Notationen gemeinsam dem Bereich der Verschriftlichung des Sämaveda zuweisen. Die weitgehende Übereinstimmung läßt den Charakter der Rezitation in oder nach der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends erkennen.
Diese Rezitation macht einen schlichten Eindruck, viel schlichter jedenfalls als das,
was die Nambüdiris in Kerala heute singen. Sicher scheint, daß die Nambüdiris einer
ganz anderen Tradition folgen als die Jaiminiyas von Tamilnadu. Bake6 wies einst
auf die frappierende Ähnlichkeit ihres Gesanges mit dem der Toda-Priester in den
Nilgiris hin. Wenn aber die Traditionen der beiden Jaiminiya-Schulen schon lange
auseinanderliegen, muß jeder Versuch scheitern, mit Hilfe der heutigen NambüdiriJaiminiyas in Kerala herauszufinden, wie das mit Zahlen oder Silben notierte einst
bei den Kauthumas oder Jaiminiyas von Tamilnadu klang. So stehen einige Fragen
auch nach der Entzifferung noch offen. Sollte sich Howard weiterhin so scharfsinnig
mit derselben Begeisterung dem Sämaveda widmen, so werden sie nicht mehr lange
offen bleiben.
5
Auf einen ähnlichen Fehler bei einer Gruppe von Väjasaneyins in Kerala machte J.F. Staal 1975
([alias A.1.1.S. Grant], "Some Vedic Survivals. Report on Research done in India Dec. 1970 - March
1971", JGJKSV 31) aufmerksam: "the horizontal stroke under some syllables used in some manuscripts
of the SatapathabrähmQl)a is interpreted and chanted as an anudlitta" (177).
6
Arnold A. Bake, "The practice of Sämaveda", Proceedings and Transactions of the 7th All India
Oriental Conference, Baroda 1933. Baroda 1935, 151.