Focus on German Studies 22
Der Mythos der ungehörten Seherin in der Literatur
und in der Musik: Christa Wolfs Kassandra
und Michael Jarrells Cassandre
Anna Maria Olivari
Freie Universität Berlin
Neulektüre eines Mythos zwischen Musik und Literatur
Kassandra ist eine sehr berühmte Figur der antiken Literatur, jedoch spielt sie selten die
Hauptrolle in den griechischen Tragödien.¹ Im musikalischen Bereich dagegen sind Kassandra
viele Werke gewidmet. Zu den berühmtesten zählt die dramatische Kantate Kassandra (1770 ca.)
von Johann Christoph Friedrich Bach. Der griechische Komponist Yannis Xenakis widmete der
mythischen Figur außerdem den zweiten Teil seines Oresteïa-Projekts (Kassandra 1987).² Auch
in der deutschsprachigen Literatur, insbesondere der des 20. Jahrhunderts, wird der Stoff häufig
verwendet, etwa von Bobrowski, Nossack, Schiller und Wolf (Epple 388-393).
Christa Wolfs Erzählung wurde bisher unter verschiedenen Perspektiven untersucht,
deren erfolgreiche musikalische Realisierung durch Michael Jarrell jedoch kaum betrachtet.
Meines Wissens existieren lediglich Rezensionen des Stückes, die aber nicht versuchen, die
Vorlage mit der Vertonung ausführlich zu vergleichen. In diesem Artikel möchte ich der Frage
nachgehen, wie sich Wolfs Text musikalisch umsetzen lässt, wie er von Jarrell interpretiert wird,
wie man einen berühmten Mythos am Ende des 20. Jahrhunderts liest, was also Wolfs Kassandra
und Jarrells Cassandre gemein und nicht gemein haben. Eine solche Untersuchung befindet sich
an der Schnittstelle zwischen Literatur und Musik und verlangt den Mut, eine musikalische
Partitur zu analysieren, selbst wenn man über wenig Sekundärliteratur verfügt.³
Im folgenden Abschnitt beschäftige ich mich mit Wolfs Erzählung und konzentriere mich
vor allem auf die Themen und formalen Aspekte, die man in der Vertonung wiederfindet,
obwohl sie dort oft auf andere Art und Weise behandelt werden. Im letzten Abschnitt analysiere
ich Jarrells Partitur und Aufnahme anhand von Christa Wolfs Text, um zu betrachten, wie ein
Komponist knapp zehn Jahre nach der Veröffentlichung der Erzählung den Text musikalisch
realisiert. Die Kategorie der 'werktreuen Vertonung' halte ich in vielen Fällen für unrealistisch:
Die Subjektivität des neuen Autors und die Materialität der Musik fließen zwangsläufig in das
Werk ein. So gewinnt der Kassandra-Mythos bei Jarrell jene religiösen Denkkategorien wieder,
von denen sich Wolf explizit distanziert, und der literarische Text passt sich der dramatischen
Form an.
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Christa Wolfs Erzählung
Christa Wolf nimmt die Herausforderung an, den Kassandra-Mythos aus einer aktuellen
Perspektive neu zu erzählen. Nicht zufällig zitiert sie am Anfang der ersten Frankfurter PoetikVorlesung ein Sprichwort aus einem chinesischen Weisheitsbuch: „Die Stadt kannst du
wechseln, den Brunnen nicht“ (13). 4 Christa Wolf ändert nicht den Brunnen, die Quelle ihrer
Geschichte, stattet aber ihre Erzählung mit verschiedenen Denkweisen und Phänomenen der
modernen Zeit aus, etwa der Frauenbewegung und der Relativierung der Religion. Der Mythos
gewinnt bei Wolf an Modernität: Der Text konzentriert sich auf die Erinnerung an den
Untergang Trojas durch die traumatisierte Kassandra, die zugleich Erzählerin, Hauptfigur und
Zeugin ist.5 Die Autorin lässt sie in einem stream of consciousness sprechen.
Die Motivation Christa Wolfs, Kassandra zu schreiben, entsteht aus der Lektüre der
Orestie des Aischylos: „Kassandra. Ich sah sie gleich. Sie, die Gefangene, nahm mich gefangen,
sie, selbst Objekt fremder Zwecke, besetzte mich“ (Voraussetzungen 15).6 Die Schriftstellerin
stützt sich auf eine griechische Tragödie, die von religiöser Furcht geprägt ist und der Moral „des
Vaterrechts“ (56), also der Männer, entspricht. Denn der Text zeigt für Wolf eine männliche
Interpretation, die sie heftig kritisiert:
So will der männliche Dichter diese Frauen sehen: haßvoll eifersüchtig, kleinlich
gegeneinander – wie Frauen werden können, wenn sie aus der Öffentlichkeit
vertrieben, an Haus und Herd zurückgejagt werden; genau dies geschah in den
Jahrhunderten, deren Summe des Aischylos großes Drama zieht. (57)
Darüber hinaus – wie Epple unterstreicht (21-22) – klagt Kassandra Apoll bereits in der
altgriechischen Tragödie an, der Mord wird aber aus religiösen Gründen nicht direkt auf der
Bühne gezeigt. Die Orestie besteht aus mehreren Teilen: Kassandra ist im Stück Agamemnon zu
finden, das von der Zeit nach dem Fall Trojas handelt. Die Seherin befindet sich als Sklavin und
Konkubine von Agamemnon in Mykene, wo sie dann zusammen mit ihm von Klytaimnestra
getötet wird. Epple erklärt: „[D]ie Königin sieht in Kassandra die Geliebte ihres Mannes und
rechtfertigt deren Tod dem Chor gegenüber als Strafe für den Ehebruch“ (21).
Christa Wolf „ent-mythologisiert“ und „ent-heroisiert“ (Koskinas 23) nach einer
inspirierenden Reise durch Griechenland, die in den Frankfurter Vorlesungen geschildert wird,
die Geschichte Kassandras und die griechische Kultur.7 Aus dem folgenden Zitat geht hervor,
dass sie in der Tat 'normalisiert' wird:
Doch auch ich [Christa Wolf] bin am stärksten angerührt von diesen kleinen
Terrakottafiguren, die keine Ideale bilden wie die Kunst des klassischen
Altertums, sondern alle Spuren des Alltagslebens tragen, […] und die mir, viel
stärker als irgendein Apollon von Belvedere, das Gefühl vermitteln, daß es, im
Grunde, die gleichen Menschen waren, wie wir es sind […]. (80)
Der Grund von Wolfs Faszination für die trojanische Priesterin besteht darin, „daß sie als
einzige in diesem Stück sich selber“ (15) kennt. Eine Person, die in der Lage ist, die Zukunft
dank ihrer Sehergabe objektiv zu betrachten, kann wahrscheinlich auch objektiver sich selbst
gegenüber sein. Jedoch bleibt Kassandra allein, niemand glaubt ihr und ihre Prophetie ist
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vergebens und ungehört; ihr Mut wird nicht geschätzt, da sie von der Gesellschaft isoliert bleibt.
Das Thema der Einsamkeit der Priesterin prägt Wolfs Erzählung an mehreren Stellen: „Ich war
mit meinem Recht allein“, sagt Kassandra (Kassandra 52). Im Gegensatz zu anderen mythischen
Figuren ist sie nie rachsüchtig, obwohl sie die Kette von Ereignissen, die zur Zerstörung Trojas
geführt haben, ins Gedächtnis zurückruft und ihre Schuld sowie die ihres Volkes in einer Form
von Selbstpsychoanalyse sucht.8
Eine 'Schuld' Kassandras lässt sich in der folgenden zweimal wiederholten Frage
erkennen: „Warum wollte ich die Sehergabe unbedingt?“ (8). Dieselbe Frage, die sich Christa
Wolf beim Nachdenken über die mythische Figur stellt: „Warum aber hat sie, indem sie sich zur
'Seherin' ausbilden ließ, einen Männerberuf gewählt. Warum wollte sie werden wie die Männer.
Wieso war eigentlich 'Seher' ein Männerberuf. Immer schon? Oder seit wann?“
(Voraussetzungen 24).
Die Kombination des Verbs 'wollen' mit 'unbedingt' zeigt, dass sich Kassandra eine Welt
ohne Seher überhaupt nicht vorstellen kann. Die persönliche Entscheidung ist relevanter als der
göttliche Ursprung ihrer Gabe, der relativiert wird: „Ich denke sie mir frei von Gottesfurcht“
(Voraussetzungen 23), stellt Christa Wolf fest.9 Und so sagt Kassandra einige Seiten später: „Ich
wollte Priesterin werden. Ich wollte die Sehergabe, unbedingt“ (Kassandra 50). Nun ist es nicht
mehr eine Frage, sondern ein affirmativer Satz, der ihr Streben nach Verantwortung, Autonomie
und Objektivität darstellt.10 Denn Kassandra will die Welt selbstständig sehen und interpretieren,
und nicht „[a]meisengleich“ der Meinung des trojanischen Palasts sein, „[n]ur um nicht sehn zu
müssen“ (57).11 Der trojanisch-griechischen männlichen Weltvorstellung entsprechend ist das
eine Schuld: „Doch eine andre 'Schuld' mag ihr zu schaffen machen: daß sie imstande war, sich
so weit außerhalb des eignen Volks zu stellen, daß sie sein unheilvolles Schicksal 'sah'“ (Wolf,
Voraussetzungen 23).
In der Tat existierten auch im antiken Griechenland Seherinnen (Epple 19). Wenn man
etwa an die römischen Sibyllen denkt, könnte man aber Epples These zustimmen: „An den
Sybillen bleiben stets ihre Sprüche wichtiger als ihr persönliches Schicksal“ (24-25).12 Das ist
nicht der Fall des Kassandra-Mythos. Christa Wolf schlägt die Möglichkeit einer weiblichen Art
des Wahrsagens vor, die nicht nur rational ist, sondern „am Körper erfahren wird“ (Delisle 73):
„Wie jedem Menschen gab mir der Körper Zeichen; anders als andre war ich nicht imstande, die
Zeichen zu übergehn“ (Kassandra 78). In Kassandras Körper hat die Todesstimme ihren Sitz.
Diese empfindet die Seherin für lange Zeit als fremd und will sie aufgrund ihrer irrationalen
Kraft nicht anerkennen, so dass sie manchmal zu dem Gedanken kommt, ihren Körper, „Ort der
Wahrnehmung, Sitz der Gefühle“ (Risse 82), zu strafen: „Ich wollte diesen verbrecherischen
Körper, in dem die Todesstimme ihren Sitz hatte, aushungern, ausdörren“ (Wolf, Kassandra 80).
Im Gegensatz zum Seher Kalchas entspricht Kassandras „inneres Auge“ (83) dem äußeren: Im
Text ist die Dichotomie von blind sein - sehen sowie taub sein - hören sehr oft zu bemerken,13
z.B. in Bezug auf den Vater, der „gegen alle Gründe, die dem Krieg entgegenstanden, schon
erblindet war, und was ihn blind und taub gemacht, das war der Satz der Truppenführer: Wir
gewinnen“ (93).
In Christa Wolfs Erzählung sind Körper und Geist im Gegensatz zur modernen
abendländischen Denkweise sehr eng verbunden: „Vor allem aber kannten sie [die alten
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Griechen] den Zusammenhang zwischen seelischen und körperlichen Leiden, auch dem
zwischen dem Befinden eines Menschen und seinen Zukunftsaussichten“ (Wolf,
Voraussetzungen 43). Wenn also Kassandra sagt: „Ich allein sah“ (Wolf, Kassandra 79), ist
dieses Sehen als Verbindung der körperlichen und geistigen Erkenntnis mit „der rationalen und
diskursiven Fähigkeit“ (Delisle 40) aufzufassen.
Kassandra beansprucht eine weibliche Art des Wahrnehmens und Erlebens, die anders als
die männliche ausgedrückt werden muss. Daher die Konfrontation mit Penthesilea, Königin der
Amazonen, die „nicht nur gegen die Griechen“, sondern „gegen alle Männer“ (Wolf, Kassandra
152) kämpft und so eine andere Interpretation der Rolle der Frau repräsentiert: Frauen sollen tun,
was Männer tun, d.h. entweder töten oder sterben, „um […] [ihr] Anderssein zu zeigen“ (153).
Kassandra aber weist auf einen dritten Weg hin: „Zwischen Töten und Sterben ist ein Drittes:
Leben“ (154), und wirft Penthesilea vor: „Du willst sterben, und die andern zwingst du, dich zu
begleiten“ (154). Zum einen will Kassandra „die Todessucht bei einer Frau nicht gelten lassen“
(154), zum anderen schlägt sie eine alternative Art von Protest vor, die im Gegensatz zur
Männerwelt keine Waffen und Kriege kennt, nämlich das Schweigen. So wird die trojanische
Priesterin als Antikriegsheldin gekennzeichnet, die von der Idee ausgeht, dass mit dem
„Schweigen, an dem mehrere beteiligt sind“ (119), Protest beginne. Die Dichotomie schweigen sprechen prägt den ganzen Text und verkörpert Kassandras Aufklärungsprozess: Eine Seherin,
der die Menschen nicht glauben, weil sie als Frau mit einem Männerberuf nicht ernst zu nehmen
ist, kann nur einen auf Schweigen und Nichtteilnehmen basierenden Widerstandsprozess
aktivieren und auf diese Weise ihre Prophezeiungen nicht nur ungehört, sondern auch
unausgesprochen lassen.14 Auf der politischen Ebene lässt sich dieses Konzept mit der Situation
der Künstler in der ehemaligen DDR sehr gut verknüpfen, die durch Berufs- oder Druckverbot
zum Schweigen gezwungen wurden oder im überkontrollierten Staat auf klare Stellungnahmen
zu politischen oder künstlerischen Fragen absichtlich verzichteten.15
Der Mythos Kassandras verliert bei Wolf seine religiösen Merkmale. Die Unmöglichkeit,
ihr Volk von ihrer Prophezeiung zu überzeugen, sowie ihre Vorherbestimmung als Seherin und
Priesterin werden nur auf den ersten Seiten der Erzählung auf den Willen und den Fluch Apolls
zurückgeführt.16 Für Wolf ist Kassandra wie jene Terrakottafiguren, die sie bei der Betrachtung
griechischer Kunst stärker als Götterstatuen anrühren. Die Schriftstellerin gewährt der Priesterin,
sich stufenweise von den Göttern zu distanzieren. Kassandra bemerkt, dass diese nicht perfekt
sind, da sie „Unfälle zulassen und Irrtümer begehen“ (Risse 72). So zweifelt sie mehr und mehr
an einer manchmal unverständlichen Götterwelt. Wenn Kassandra beispielweise über die
Katastrophe Trojas nachdenkt, hält sie ihren Willen, Priesterin zu werden, für widersprüchlich:
„Ich wollte die Welt nicht, wie sie war, aber hingebungsvoll wollte ich den Göttern dienen, die
sie beherrschten: Es war ein Widerspruch in meinem Wunsch“ (54).
Dieser Prozess führt sie, eine Priesterin, zur Ungläubigkeit, denn „Furcht alleine hält die
Götter nicht, sie sind sehr eitel, man soll sie auch lieben; der Hoffnungslose liebt sie nicht“
(129).17 In der katastrophalen Nacht, in der Achill die Leiche von Patroklos verbrennen lässt und
zwölf Gefangene als Opfer schlachtet, werden die Trojaner von den Göttern verlassen und
Kassandra tritt „ohne Priesterkleid“ (148) auf. An diesem Punkt ist die Distanz der trojanischen
Priesterin zu den Göttern unüberwindlich: Risse hebt hervor, Kassandra erlebe in der Erzählung
eine doppelte Befreiung, vom Auftrag der Götter und von den Erwartungen des Palasts (60).
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Das Thema der Katastrophe spielt in der Erzählung eine zentrale Rolle.18 Sie gehört
gleichzeitig zur Vergangenheit und zur Zukunft, wie in der folgenden Passage deutlich wird:
„Für alles auf der Welt nur noch die Vergangenheitssprache. Die Gegenwartssprache ist auf
Wörter für diese düstre Festung eingeschrumpft. Die Zukunftssprache hat für mich nur diesen
einen Satz: Ich werde heute noch erschlagen werden“ (21). Hier wird gezeigt, dass die
Vergangenheitssprache mit dem Erzählen der schon stattgefundenen Katastrophe der Stadt
verbunden ist, die Gegenwartssprache mit dem einfachen Berichten und die Zukunftssprache mit
dem prophetischen Erzählen von der bevorstehenden Katastrophe. Der Untergang Trojas ist
schon geschehen: In diesem Sinne bietet die Erzählung ein dramatisches Szenario von Trümmern
und Verzweiflung. Jedoch legt Kassandra schon in den ersten Zeilen fest: „Mit der Erzählung
geh ich in den Tod“ (7). Die Aussage deutet auf die individuelle Katastrophe Kassandras und des
Hauses von Agamemnon hin, die noch geschehen muss. Bezüglich der Hauptfigur ist deshalb die
Katastrophe noch nicht vollständig: Sie weiß schon, dass sie Opfer des Teufelskreises von
Schuld und Buße der griechischen Familie sein wird.19 Diese zwei Perspektiven überlagern sich
im ganzen Text und bestehen an manchen Stellen sogar gleichzeitig: „Das Schlimmste kam
noch, kommt noch“ (97).
Ist die Katastrophe als endgültig zu betrachten oder gibt es Auswege aus dem
„zerstörerischen Wiederholungszwang“ (Delisle 62)? Laut der Auffassung des Aischylos, die im
Text vom Trojaner Aineias verkörpert wird,20 ist das kaum möglich: Krieg und Frieden, Leben
und Tod, Katastrophe und Rettung, Schuld und Buße folgen nacheinander.21 Nicht zufällig wird
gerade Aineias, der Überlebende der Katastrophe Trojas, ein neues Leben auf dem italischen
Boden, später Rom, führen. So besitzt er „den Ausdruck der nicht aufgebenden Verlierer, die
wissen: sie werden immer wieder verlieren, immer wieder nicht aufgeben, und das ist kein
Zufall, kein Versehen oder Unglücksfall, sondern: so ist es gemeint“ (Wolf, Voraussetzungen
65). Kassandra stellt sich dieser Vision entgegen: „Siehst du Aineias, das hab ich gemeint: die
Wiederholung. Die ich nicht mehr will. Der du dich ausgeliefert hast“ (Wolf, Kassandra 151).
Was darf also außerhalb dieses Wiederholungszwangs bleiben? Eine erste Antwort mag
man in der folgenden Passage finden:
Auf der Verehrung der toten Helden beruhte unser Glauben, unser Selbstgefühl.
Auf sie beriefen wir uns, wenn wir „ewig“ und „unendlich“ sagten. Ihre Größe,
die wir für unerreichbar hielten, machte uns Lebende bescheiden. - Das war der
Punkt. Glaubst du denn, sagte Panthoos, bescheidene Helden, die erst nach ihrem
Tode hoffen können zu Ruhm zu kommen, sind die richtigen Gegner für die
unbescheidenen Griechen? (132)
Kassandra verkauft sich nicht wie Aineias an die Welt- und Geschichtsauffassung der
Griechen, bleibt bis zum Ende ihrer trojanischen Kultur treu, die einen Ausweg aus der
Katastrophe bietet, und zwar durch die Erinnerung an die Helden, die auf diese Weise die
Ewigkeit gewinnen und den Wiederholungszwang überwinden.
Es gibt außerdem einen anderen Ausweg aus der „Wiederkehr des Gleichen“ (161), der
sowohl für Kassandra als auch für die Kunst und die Literatur gilt. Das wird von Panthoos, dem
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Griechen, Kassandra enthüllt: „Du lügst, wenn du uns allen den Untergang prophezeist. Aus
unserm Untergang holst du dir, indem du ihn verkündest, deine Dauer. Die brauchst du
dringlicher als das bißchen Nestglück jetzt. Dein Name wird bleiben. Und das weißt du auch“
(17).
Die Verkündigung der Katastrophe findet außerhalb des sich wiederholenden Kreises statt
und gewinnt an Dauer, an Stabilität, denn „Erzählen ist human und bewirkt Humanes,
Gedächtnis, Anteilnahme, Verständnis – auch dann, wenn die Erzählung teilweise eine Klage ist
über die Zerstörung des Vaterhauses, den Verlust des Gedächtnisses, das Abreißen von
Anteilnahme, das Fehlen von Verständnis“ (Wolf, Voraussetzungen 50-51). Genau wie die
steinernen Löwen des Tors von Mykene, die die Erzählung öffnen und schließen: „Das letzte
wird ein Bild sein, kein Wort. Vor den Bildern sterben die Wörter“ (Wolf, Kassandra 30). Die
von den Löwen verkörperte Kunst überwindet den Wiederholungszwang sowie die Katastrophe
und ist sogar dem Erzählen überlegen:22 Der Mythos kann in seiner mündlichen und schriftlichen
Überlieferung andere Konnotationen annehmen, während die Kunst auch nach ihrer Entdeckung
viele Jahrhunderte später fast unberührt bleibt, eine nicht modifizierbare Spur ihrer Herkunft
trägt und alle Erfindungen des Mythos entlarvt.
Michael Jarrells Monodrama
In Michael Jarrells Monodrama Cassandre kommen fast alle Themen von Wolfs
Erzählung vor, etwa die Isolierung und Einsamkeit der Priesterin, die Überlagerung der zwei
Perspektiven (die vor und nach der Katastrophe), das Streben nach Autonomie und das
Schweigen als Protestform. Auch formal betrachtet, weist die Komposition eine Kreisstruktur
wie bei Wolf auf: Die Sprechoper für Schauspielerin, Ensemble und Elektronik des Komponisten
(*1958) lässt sich also unter mehreren Aspekten von der Erzählung inspirieren.23 Dennoch findet
man bei Jarrell eine größere Nähe zu Aischylos' Orestie, und im Allgemeinen zur griechischen
Tragödie, wie ich am Ende dieses Abschnitts erklären werde.
Das Monodrama dauert ungefähr fünfzig Minuten und wurde 1994 im Pariser Théâtre du
Châtelet uraufgeführt. Aufgrund seines Erfolgs folgten der Premiere zahlreiche weitere
Aufführungen in vielen anderen Sprachen, nämlich Deutsch, Finnisch, Italienisch, Spanisch und
Englisch.24 Es gibt keine Pausen, die Oper fließt ununterbrochen und besteht aus vierzehn
Episoden und zwei Interludien.
Cassandre sollte eine Oper sein, „die gleichzeitig den Gesichtspunkt der Sieger und der
Besiegten dargestellt hätte: Einerseits der Text von Homer, andererseits ein Sopran in der Rolle
von Wolfs Kassandra“ (Albèra 21). Jarrell zweifelte aber mehr und mehr daran, dass Kassandra
singen sollte, da dies einen nicht gewünschten lächerlichen Effekt produziert hätte. Aufgrund der
Grausamkeiten des Golfkrieges und des Krieges in Jugoslawien entschied sich der Komponist
für den Gesichtspunkt der besiegten Trojaner, d.h. nur für die Verwendung des Textes von
Christa Wolf, der zu DDR-Zeiten und ebenfalls in einer Phase von „Geschichtspessimismus“
(Epple 278) entstand. Der Text basiert auf der Rundfunkbearbeitung Gerhard Wolfs, dem
Ehemann Christas.
Die erste Episode,25 „Apollon te crache dans la bouche...“, präsentiert das Thema von
Apolls Fluch, das in Jarrells/Gerhard Wolfs Bearbeitung eine zentrale Rolle spielt. Der Hörer
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wird sofort – wie bei C. Wolf – in eine dunkle Atmosphäre versetzt, da Kassandras zweites
Sprichwort auf ihre individuelle Katastrophe hindeutet: „Avec ce récit, je descends dans la mort“
[Mit der Erzählung geh ich in den Tod] (Jarrell 2 T. 4-5; Wolf, Kassandra 7).26 Ein plötzliches
Crescendo führt dann zur Betonung des Wortes „incorrigible“ [[u]nbelehrbar] (11 T. 38; 10); es
geht zurück, als Kassandra von Aineias spricht. Die Figur des trojanischen Helden ist an vielen
Stellen mit leiser, melancholischer und nachdenklicher Musik, auch in der Erzählung übernimmt
er eine tröstliche Funktion. Die erste Episode beinhaltet also viele zentrale Themen von C. Wolfs
Text, etwa Apolls Fluch, Kassandras Schicksal, den Unterschied zwischen der autonomen
Seherin und ihrem gehorsamen Volk und ihre Liebe für Aineias.
Die zweite Episode, „Hécube, ma mère...“, handelt von Kassandras Familie, insbesondere
wird angesichts der feministischen Perspektive der Erzählung ihre zwiespältige Beziehung zum
Vater hervorgehoben. Die früher erwähnten Worte, die die Koexistenz einer Perspektive vor der
Katastrophe und einer danach explizit machen, nämlich: „Für alles auf der Welt nur noch die
Vergangenheitssprache“ (Wolf, Kassandra 21; Jarrell 32 T. 114), werden von keiner Musik
begleitet und damit besonders betont.
„Le cyprès...“, der mit Sterben und Trauer verbundene Baum, öffnet dramatisch die dritte
Episode, die von Vergewaltigung handelt, die Konsequenz des Männerkrieges gegen die Frauen.
„Vers le soir...“ erzählt von Kassandras prophetischem Traum der Reise des Aineias, die ihn zum
heutigen Italien führen wird.27 Die fünfte Episode, „Quand je remonte...“, handelt von
Kassandras Reflektion über den Krieg und ihrer Berufung zur Priesterin: Hier, wahrscheinlich
eine Neuheit in der Bearbeitung Gerhard Wolfs, wird der Traum Kassandras von Apoll, der ihr
in den Mund spuckt, durch Panthoos gedeutet.28 Zum zweiten Mal erscheint also das Motiv des
Gottesfluchs. Ein instrumentales Interludium folgt der fünften Episode.
„Polyxène, ma sœur...“ thematisiert das dramatische Ende der Schwester Polyxena, in die
Achill verliebt war und die er zur Frau wollte. Polyxena, die damit nicht einverstanden war, teilte
Paris den wunden Punkt Achills mit, den der griechische Krieger ihr anvertraut hatte.29 Die
Antwort der Griechen kam bald. Die Geschichte von Kassandras Schwester ist ein weiteres
Beispiel der vielen Teufelskreise von Katastrophen, die die Erzählung prägen und auch in
Jarrells Vertonung nicht fehlen. Die achte Episode, „C'était la veille du départ...“, wird durch
bewegte und gespannte Musik des Orchesters und das erregte Deklamieren der Schauspielerin
charakterisiert und erzählt von den Veränderungen im Palast: Priamos verlässt sich jetzt auf die
Ratschläge von Eumelos, und Kassandra spürt, dass sie zur Katastrophe führen. Auch bei Jarrell
steht das Thema von Kassandras Einsamkeit oft im Mittelpunkt: Die Priesterin schreit die
Wahrheit, wird aber nicht gehört und in ihr Zimmer eingeschlossen. In derselben Episode, der
längsten der ganzen Oper, wird auch von Helenas Ankunft erzählt. Die sehr kurze neunte
Episode, „Remarquez bien...“, handelt von dem Schrei Kassandras „Malheur, nous sommes
perdus“ [Weh, wir sind verloren] (Jarrell 118 T. 449; „Libretto“ 31) als Warnung vor dem
Aufenthalt Helenas in Troja. Er bleibt ungehört und wird gestraft. Dieser kurzen Episode folgt
ein rein instrumentales Interludium.
„Cétait une journée pareille...“ handelt vom vergeblichen Versuch Kassandras, Priamos
von der Gefahr der Präsenz Helenas in Troja zu überzeugen. Wichtig sind die Worte: „Alors je
lui promis de garder le secret“ [Da versprach ich ihm, zu schweigen] (134 T. 520; 32). Kassandra
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lernt hier die friedliche Waffe des Schweigens als Mittel gegen die Ungläubigkeit ihres Volkes
kennen. Die zwölfte Episode, „Je vis mon frère Hector...“, bringt uns direkt in den Krieg. Die
Ankunft Achills im Tempel ist von erregter Musik und pathosgeladenem Rezitieren
gekennzeichnet. Er tötet Troilos gerade an einem Kultort und Kassandra beschimpft ihn:
Que voulait donc cet homme? Que venait-il faire dans le temple, tout armé?
L'instant le plus atroce: je le savais déjà. Alors il se mit à rire. Comment cet
ennemi s'approchait-il de mon frère? Comme un assassin? Comme un séducteur?
Cela existait-il donc: le désir meurtrier et le désir amoreux dans le mȇme homme?
(148-150)30
Diese Passage findet man in der Erzählung nicht: Die Vertonung bzw. G. Wolfs
Rundfunkbearbeitung wirkt bedrohlicher als Christa Wolfs Text.
Die nächste Episode, „Enée vint à la nouvelle lune...“ handelt von einem Treffen
Kassandras mit Aineias, bei dem sie nochmals fühlt, dass er weggehen will. „Depuis qu'en ce
lieu...“ erzählt von dem Plan des Priamos, Achill zu töten, dem aber Kassandra nicht zustimmt,
weil sie schon fühlt, dass Polyxena genau aus diesem Grund getötet wird.
Die darauffolgende sehr dramatische Episode, „L'effondrement vint vite...“, thematisiert
das Erscheinen des berühmten Pferdes, das nach Troja geholt wird. Kassandra versucht
vergeblich, das zu verhindern. „Qu'on fasse entrer le cheval“ [Nun holt das Pferd herein] (151, T.
687; 35): Diese Worte werden von einer bedrohlichen Musik mit Fortissimo-Dynamik und
schweren Schlägen betont. Sie erreicht einen äußerst dramatischen Höhepunkt. Das Leitmotiv
von Apolls Fluch kommt zum dritten Mal vor, aber nun distanziert sich Kassandra deutlich von
dem bösen Gott: „C'est là que j'ai compris ce que le dieu avait décrété: tu diras la vérité, mais
personne ne te croira. Alors j'ai maudit Apollon“ [Jetzt verstand ich, was der Gott verfügte: Du
sprichst die Wahrheit, aber niemand wird dir glauben. […] Da habe ich den Gott Apoll verflucht]
(173; Wolf, Kassandra 177). Danach wird die Vergewaltigung Kassandras durch Aias erzählt
und die Musik kommt zum zweiten dramatischen Höhepunkt.31
„Oui, ce fut ainsi...“, die letzte Episode, ist von einer leisen, resignierten Musik
gekennzeichnet. Kassandra trifft Aineias zum letzten Mal: Er will sie wegbringen, aber die
trojanische Priesterin weigert sich: „Je ne puis aimer un héros“ [Einen Helden kann ich nicht
lieben] (187 T. 752; 178-179). Der Bezug auf den Fluch Apolls schließt das Stück. Er bestätigt
seine Kreisstruktur. Musikalisch betrachtet, vermitteln die Tamtams, die mit dem Fluch
verbunden und auch im Fall der ersten Erwähnung des Themas zu hören sind, ein Gefühl vom
Kommen der Katastrophe, quasi vom Jüngsten Gericht. Außerdem werden im Text die
Schlüsselwörter „Gabe“, „Person“, „Zukunft“ und „glauben“ akzentuiert.32 Sie stellen eine
starke Bezugnahme auf die ungehörte Ankündigung der Katastrophe dar. Asynchronen und
murmelnden Stimmen werden diese Worte zugewiesen, die im Hintergrund zu hören sind und
zur bedrohlichen Atmosphäre beitragen. So sieht das Motiv im letzten Takt des Stückes aus (188
T. 780):
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Die Isolation und das traurige Schicksal Kassandras wurden anlässlich einer Aufführung
der französischen Version in Mailand effektiv inszeniert: Die Schauspielerin, in diesem Fall
keine Geringere als Fanny Ardant, betritt die Bühne mit einer schwarzen Seidentunika und einem
Haarband und rezitiert mit fester Stimme wie in den antiken griechischen Tragödien (Lanfossi).
In Jarrells/Gerhard Wolfs Verarbeitung spielt die Religion keine untergeordnete Rolle, da
Apolls Fluch vier Mal erwähnt wird; zwei Mal an wichtigen Stellen, und zwar am Anfang und
am Ende des Stückes. Christa Wolfs Text öffnet und schließt dagegen mit dem Bild der
„steinernen Löwen“ (Kassandra 7 und 179) des Tors von Mykene. Die Befreiung Kassandras
vom Auftrag der Götter erfolgt bei Jarrell erst in den letzten Minuten, die Heldin des
musikalischen Stückes ist verzweifelter und schwächer als die Christa Wolfs. Man könnte sogar
vermuten, dass sie sich nie wirklich von den Göttern befreit. Zwar verflucht Kassandra Apoll in
der fünfzehnten Episode, aber die sechzehnte und letzte endet mit der Erinnerung an den Fluch
und daher an ihr Schicksal, dem sie nicht entgehen kann. Und die Tamtams stehen mit ihrem
bedrohlichen Klang und rhythmischer Präzision gerade für diesen „Wiederholungszwang“
(Delisle 62).
Jarrell stellt fest: „Der Text richtet sich nach der Musik, nicht umgekehrt“ (zit. in Albèra
22) und der Musikkritiker Philippe Albèra kommentiert: „Dieser Unterschied zum Sprechtheater
ist grundlegend. Der Rhythmus der Worte ist hier in der Tat ein entscheidender Punkt, da er einer
psychologisierenden Interpretation die musikalische Formalisierung entgegen setzt; die Worte
sind eingesponnen in das Gewebe der musikalischen Zeit“ (22). Einer anderen Meinung ist
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Liam Cagney, der die Aussage Jarrells so kommentiert: „[T]his does not quite come across as
being the case“ („Michael Jarrell: Cassandre“). Bezüglich der Gattungsklassifizierung des
Stückes fragt er sich: „[S]hould it really be described as an opera, or would it more properly be
seen as a theatre piece – albeit one with very sophisticated musical accompaniment?“.
Angesichts der großen Bedeutung der Stimme der Schauspielerin in der Kairos-Aufnahme sowie
der Notwendigkeit der Übersetzung des Textes für die Aufführung in verschiedenen Ländern
teile ich Cagneys Zweifel: Es scheint, dass Text und Musik eine gleichwertige Rolle spielen und
dass beide Bestandteile beim Komponieren so behandelt wurden. Jarrell lässt den Text nicht
hinter den virtuosen Passagen einer Sängerin verschwinden. Nur für einige kurze Augenblicke
gewinnt man den Eindruck, dass sich der Text nach der Musik richtet.
Unter den vermutlichen Inspirationsquellen Jarrells ist in erster Linie Erwartung, Arnold
Schönbergs expressionistisches Monodrama, zu erwähnen, „das ebenfalls eine einzelne Frau
darstellt, die sich auf die Suche nach der Wahrheit begibt“ (Albèra 21). Und in der Basler
Zeitung wird die Musik als „eine Synthese von Monteverdis früher Operndramatik und Berios
schillernder Orchesterbehandlung“ (55) beschrieben. Jarrell liest nicht nur einen Mythos wieder,
sondern auch die Musikgeschichte selbst, insbesondere die Anfänge des Musiktheaters: Sein
Stück setzt sich mit der Tradition intensiv und konstruktiv auseinander.
Nach Albèras Interpretation sei das Monodrama Jarrells von einer Form von „statischer
Bewegung“ (23) geprägt: „Die Zeit […] ist fast immer statisch, als Zeit der Spannung, der
Selbst-Erforschung, des Erwartens, der Vorahnungen“ (22). Diese Qualität findet man auch in
Wolfs Erzählung, die sich an der Technik des stream of consciousness orientiert. Cagney weist
auf die Dynamik der Oper hin: „The instrumental colours are dark – low horns and resonant
gongs,33 murmuring washes in the electronics from time to time, pedalled notes in the strings, a
quiet dynamic generally predominating. The approach is synthetic, no one instrument standing
out from the cauldron of the ensemble for very long“. Die Atmosphäre von Cassandre ist
tatsächlich dunkel und 'apokalyptisch', tief verzweifelt, wie eine „lange Koda“ (zit. in Albèra 21),
so der Komponist, ohne Licht und Erlösung. Man mag sich hier an die Beschreibung von
Leverkühns Weheklag in Thomas Manns Doktor Faustus erinnern: „[Das Werk] biete[t] bis zu
seiner letzten Note irgend einen anderen Trost, als den, der im Ausdruck selbst und im
Lautwerden, - also darin liegt, daß der Kreatur für ihr Weh überhaupt eine Stimme gegeben ist“
(711). Die Geschichte Kassandras wirkt bei Jarrell bedrohlicher als bei Wolf, vielleicht weil die
Musik durch bestimmte Klangkombinationen und Rhythmen einfacher als das geschriebene
Wort „the listeners into its dark, disturbing and utterly fascinating world“ (Reichel) führen kann.
Michael Jarrells Cassandre orientiert sich größtenteils an der Erzählung, dennoch
distanziert sich auch vom Vorbild und wird somit zu einem autonomen Kunstwerk. In diesem
Prozess nähert sich die Realisierung jener „Gottesfurcht“ (Wolf, Voraussetzungen 23) der
Orestie, von der Christa Wolf abrücken will. Jarrells Monodrama bietet außerdem eine moderne
Neulektüre der griechischen Tragödie: die Sprechstimme statt der Opernsängerin, die Musik, die
wie ein Chor den Text kommentiert, und das Pathos, erzeugt durch bedrohliche
Klangkombinationen. Auch die Struktur spielt auf die griechischen Tragödien an, die mit einem
Prolog anfangen (in diesem Fall das Thema von Apolls Fluch), Episoden und Chorpartien haben
(bei Jarrell instrumentale Interludien) und mit einem Exodos schließen (das wiederholte Thema
von Apolls Fluch). Trotz Christa Wolfs „prinzipieller Aversion gegen das Drama“ (Glau 179)
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nähert sich ihre Kassandra-Erzählung dem „modernen einaktigen Ein-Personen-Stück“ (185)
an.34 Katharina Glau betont, die Rundfunkbearbeitung des Ehemannes helfe dem Text, sich den
Konventionen des Genres wirklich anzupassen (185).
Jarrell geht einen Schritt weiter und adaptiert ihn durch eine Form, die an der Schnittstelle
zwischen Theater und Oper liegt. Daher schafft er mit Cassandre auch eine 'weiterführende'
Vertonung, weil er in der Vorlage ein nicht erfülltes Potenzial sieht, und es realisiert. Dennoch
will er auf seine eigene Interpretation von Christa Wolfs Erzählung und des Mythos selbst nicht
verzichten, indem er sich der Religiosität und Schicksalsauffassung der Orestie annähert.
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1. Die Tochter von Priamos spielt nur im monologischen Drama Alexandra von Lykophron (um 320 v. Chr. nach 280 v. Chr.) die Hauptrolle (siehe Epple 26). Der Text rückt die Visionen der Seherin in den Mittelpunkt.
Epple listet Texte der Antike auf, in denen die Figur der Seherin zu finden ist, sowie literarische,
philosophische und essaystische Werke vom Mittelalter bis zur Gegenwart, die Bezug auf den KassandraMythos nehmen (385-393).
2. Siehe dazu Schneider und Hoffmann.
3. Für theoretische Auseinandersetzungen mit diesem Bereich, der innerhalb der deutschsprachigen Literatur von
großer Bedeutung ist, siehe Rajewsky.
4. In den Frankfurter Poetik-Vorlesungen berichtet Christa Wolf u.a. vom Entstehen der Erzählung. Diese sind
zuerst 1983 im Luchterhand Verlag und dann 2008 im Suhrkamp Verlag unter dem Titel Voraussetzungen
einer Erzählung: Kassandra erschienen.
5. Siehe dazu Wolf, Kassandra 32 und Delisle 30.
6. Der ausführliche Vergleich zwischen den beiden Texten ist das zentrale Thema von Glaus Untersuchung, auf
die ich verweise.
7. Siehe dazu auch Delisle 35 und Wolf, „Aus einer Diskussion an der Ohio State University“ 447.
8. Diese Tendenz Christa Wolfs zu einer Art von psychoanalytischer Prosa ist in Stadt der Engel oder The
Overcoat of Dr. Freud (2010) besonders sichtbar. Eine ausführliche Untersuchung des Einflusses von Freuds
Psychoanalyse auf Kassandra findet sich bei Koskinas (insb. 44-93).
9. Zum Thema siehe auch Delisle 32.
10. Siehe auch Risse 61.
11. Vgl. auch Wolf, Kassandra 10: „Myrine, die mich lächeln sah, als ich von Aineias sprach, schrie:
Unbelehrbar, das sei ich“ (Kursivierung d. Verf.).
12. Abgesehen vom Mythos der Sybille von Cumae, der allerdings „appears to be partly modelled on the legend
of Cassandra“ (Rose 143).
13. Für eine detaillierte Beschreibung und Erläuterung der sinnlichen Dichotomien im Text siehe Maisch 77-78.
14. Es muss auch hinzugefügt werden, dass Kassandra oft, wenn sie die Wahrheit über die Zukunft schreit, in ihr
Zimmer eingesperrt wird (vgl. z.B. Wolf, Kassandra 79). So zwingt sie der Palast zum Schweigen.
15. Ein berühmtes Beispiel von Druckverbot ist das Libretto von Hanns Eislers nie vollendeter Oper Johann
Faustus (siehe Bunge). Die zwar präsente Thematik der DDR-Kritik lasse ich aber im vorliegenden Aufsatz
aus, weil sie mit Jarrells Stück, das in einem anderen Kontext entstand, wenig verknüpfbar ist. Siehe dazu
Liermann 96-122.
16. Vgl. Wolf, Kassandra 33 zum Thema des Fluches: „Wenn Apollon dir in den Mund spuckt, sagte sie
[Marpessa] mir feierlich, bedeutet das: Du hast die Gabe, die Zukunft vorauszusagen. Doch niemand wird dir
glauben“; und 34 zum Thema der Vorherbestimmung: „Ich, Kassandra, […] war vom Gott selbst zur Seherin
bestimmt. Was war natürlicher, als daß ich ihm auch als Priesterin in seinem Heiligtume diente?“.
17. Zum Thema der Distanzierung Kassandras von den Göttern siehe auch Risse 72.
18. Zum Bildinventar der Katastrophe verweise ich auf Delisle 13.
19. Vgl. Wolf, Kassandra 107: „Erschlag mich, Klytaimnestra. Töte mich. Mach schnell“.
20. Christa Wolf mischt in diesem Fall die griechische und die lateinische Literatur: Im Text spielt Aineias eine
wichtige Rolle, aber in der griechischen Literatur ist er eine marginale Figur. Dennoch übernimmt er in der
römischen Mythologie – und insbesondere bei Vergil – eine zentrale Funktion, da er mit der späteren
Gründung Roms verbunden wird. Siehe Bettini und Lentano. Die Autorin folgt der Transliteration der
griechischen Namen ins Deutsche (z.B. Aineias statt Äneas), auf die ich mich im vorliegenden Aufsatz
ebenfalls beziehe.
21. Diese schwarzweiße Vorstellung der antiken Griechen ist auch in den folgenden Zeilen erwähnt: „Für die
Griechen gibt es nur entweder Wahrheit oder Lüge, richtig oder falsch, Sieg oder Niederlage, Freund oder
Feind, Leben oder Tod“ (Wolf, Kassandra 139).
22. Siehe dazu Delisle 76.
23. Zur Biographie und zu den Werken von Michael Jarrell siehe Cohen Lévinas et al.
24. Alle Versionen des Stückes wurden von Editions Henry Lemoine (Paris) veröffentlicht: die französische
erschien 1994. Zur Aufnahme siehe die zitierte Literatur. Die Titel der Episoden werden jeweils auf
Französisch erwähnt, wie in der ersten veröffentlichten Version des Stückes.
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25. Da das Stück eher rezensiert als analysiert wurde, halte ich an dieser Stelle eine Beschreibung für notwendig.
Die Analyse beruht – wenn nicht anders angegeben – auf meinen Beobachtungen.
26. Ich konsultierte die französische Version der Partitur, gebe aber die entsprechenden Textstellen aus der
Erzählung als Übersetzung in eckigen Klammern im Fließtext an. Wenn der Text der Sprechoper Unterschiede
zu dem C. Wolfs aufweist, beziehe ich mich auf das Libretto auf Deutsch, die man zusammen mit der CD
findet. Mit freundlicher Genehmigung von Kairos Music (Wien). Wenn ich Bezug auf die Partitur nehme,
schreibe ich z.B.: Jarrell 20 T. 1 oder nur Jarrell 20, wenn auf das der CD beigefügte Libretto: „Libretto“ 20.
27. Siehe Wolf, Kassandra 26: „Gegen Abend schlief ich ein, ich weiß noch, ich träumte von einem Schiff, das
den Aineias über glattes blaues Wasser von unserer Küste wegführte“.
28. Die Traumdeutung erfolgt in Wolfs Erzählung durch Marpessa: Vgl. das Zitat der Anmerkung 16.
29. Vgl. Wolf, Kassandra 140-141 und 162-164.
30. „Was wollte dieser Mensch? Was suchte er bewaffnet hier im Tempel? Grässlicher Augenblick. Ich wusste es
schon. Dann lachte er. Wie näherte sich dieser Feind dem Bruder? Als Mörder? Als Verführer? Ja, gab es das
denn: Mörderlust und Liebeslust in einem Mann?“ („Libretto“ 33).
31. Vgl. Wolf, Kassandra 177. Thomas Epple erklärt, die Vergewaltigung werde schon im Ilias geschildert (20).
32. „Cassandre" (S. 188) un monodrame de Michael Jarrell © Editions Henry Lemoine, d'après le récit de Christa
Wolf "Kassandra" © Gustav Kiepenheuer, adaptation de Gerhard Wolf, traduction d'Alain Lance.
33. Genauer gesagt, ist es ein Tamtam, im Gegensatz zum Gong ist das Tamtam nicht gestimmt.
34. Für C. Wolf ist Prosa „die intimste Form“ („Aus einer Diskussion an der Ohio State University“459), die –
wie Glau erklärt - „ihrem Bedürfnis nach Subjektivität“ (179) entspricht.
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