Academia.eduAcademia.edu
Focus on German Studies 22 Der Mythos der ungehörten Seherin in der Literatur und in der Musik: Christa Wolfs Kassandra und Michael Jarrells Cassandre Anna Maria Olivari Freie Universität Berlin Neulektüre eines Mythos zwischen Musik und Literatur Kassandra ist eine sehr berühmte Figur der antiken Literatur, jedoch spielt sie selten die Hauptrolle in den griechischen Tragödien.¹ Im musikalischen Bereich dagegen sind Kassandra viele Werke gewidmet. Zu den berühmtesten zählt die dramatische Kantate Kassandra (1770 ca.) von Johann Christoph Friedrich Bach. Der griechische Komponist Yannis Xenakis widmete der mythischen Figur außerdem den zweiten Teil seines Oresteïa-Projekts (Kassandra 1987).² Auch in der deutschsprachigen Literatur, insbesondere der des 20. Jahrhunderts, wird der Stoff häufig verwendet, etwa von Bobrowski, Nossack, Schiller und Wolf (Epple 388-393). Christa Wolfs Erzählung wurde bisher unter verschiedenen Perspektiven untersucht, deren erfolgreiche musikalische Realisierung durch Michael Jarrell jedoch kaum betrachtet. Meines Wissens existieren lediglich Rezensionen des Stückes, die aber nicht versuchen, die Vorlage mit der Vertonung ausführlich zu vergleichen. In diesem Artikel möchte ich der Frage nachgehen, wie sich Wolfs Text musikalisch umsetzen lässt, wie er von Jarrell interpretiert wird, wie man einen berühmten Mythos am Ende des 20. Jahrhunderts liest, was also Wolfs Kassandra und Jarrells Cassandre gemein und nicht gemein haben. Eine solche Untersuchung befindet sich an der Schnittstelle zwischen Literatur und Musik und verlangt den Mut, eine musikalische Partitur zu analysieren, selbst wenn man über wenig Sekundärliteratur verfügt.³ Im folgenden Abschnitt beschäftige ich mich mit Wolfs Erzählung und konzentriere mich vor allem auf die Themen und formalen Aspekte, die man in der Vertonung wiederfindet, obwohl sie dort oft auf andere Art und Weise behandelt werden. Im letzten Abschnitt analysiere ich Jarrells Partitur und Aufnahme anhand von Christa Wolfs Text, um zu betrachten, wie ein Komponist knapp zehn Jahre nach der Veröffentlichung der Erzählung den Text musikalisch realisiert. Die Kategorie der 'werktreuen Vertonung' halte ich in vielen Fällen für unrealistisch: Die Subjektivität des neuen Autors und die Materialität der Musik fließen zwangsläufig in das Werk ein. So gewinnt der Kassandra-Mythos bei Jarrell jene religiösen Denkkategorien wieder, von denen sich Wolf explizit distanziert, und der literarische Text passt sich der dramatischen Form an. 21 Olivari Focus on German Studies 22 Christa Wolfs Erzählung Christa Wolf nimmt die Herausforderung an, den Kassandra-Mythos aus einer aktuellen Perspektive neu zu erzählen. Nicht zufällig zitiert sie am Anfang der ersten Frankfurter PoetikVorlesung ein Sprichwort aus einem chinesischen Weisheitsbuch: „Die Stadt kannst du wechseln, den Brunnen nicht“ (13). 4 Christa Wolf ändert nicht den Brunnen, die Quelle ihrer Geschichte, stattet aber ihre Erzählung mit verschiedenen Denkweisen und Phänomenen der modernen Zeit aus, etwa der Frauenbewegung und der Relativierung der Religion. Der Mythos gewinnt bei Wolf an Modernität: Der Text konzentriert sich auf die Erinnerung an den Untergang Trojas durch die traumatisierte Kassandra, die zugleich Erzählerin, Hauptfigur und Zeugin ist.5 Die Autorin lässt sie in einem stream of consciousness sprechen. Die Motivation Christa Wolfs, Kassandra zu schreiben, entsteht aus der Lektüre der Orestie des Aischylos: „Kassandra. Ich sah sie gleich. Sie, die Gefangene, nahm mich gefangen, sie, selbst Objekt fremder Zwecke, besetzte mich“ (Voraussetzungen 15).6 Die Schriftstellerin stützt sich auf eine griechische Tragödie, die von religiöser Furcht geprägt ist und der Moral „des Vaterrechts“ (56), also der Männer, entspricht. Denn der Text zeigt für Wolf eine männliche Interpretation, die sie heftig kritisiert: So will der männliche Dichter diese Frauen sehen: haßvoll eifersüchtig, kleinlich gegeneinander – wie Frauen werden können, wenn sie aus der Öffentlichkeit vertrieben, an Haus und Herd zurückgejagt werden; genau dies geschah in den Jahrhunderten, deren Summe des Aischylos großes Drama zieht. (57) Darüber hinaus – wie Epple unterstreicht (21-22) – klagt Kassandra Apoll bereits in der altgriechischen Tragödie an, der Mord wird aber aus religiösen Gründen nicht direkt auf der Bühne gezeigt. Die Orestie besteht aus mehreren Teilen: Kassandra ist im Stück Agamemnon zu finden, das von der Zeit nach dem Fall Trojas handelt. Die Seherin befindet sich als Sklavin und Konkubine von Agamemnon in Mykene, wo sie dann zusammen mit ihm von Klytaimnestra getötet wird. Epple erklärt: „[D]ie Königin sieht in Kassandra die Geliebte ihres Mannes und rechtfertigt deren Tod dem Chor gegenüber als Strafe für den Ehebruch“ (21). Christa Wolf „ent-mythologisiert“ und „ent-heroisiert“ (Koskinas 23) nach einer inspirierenden Reise durch Griechenland, die in den Frankfurter Vorlesungen geschildert wird, die Geschichte Kassandras und die griechische Kultur.7 Aus dem folgenden Zitat geht hervor, dass sie in der Tat 'normalisiert' wird: Doch auch ich [Christa Wolf] bin am stärksten angerührt von diesen kleinen Terrakottafiguren, die keine Ideale bilden wie die Kunst des klassischen Altertums, sondern alle Spuren des Alltagslebens tragen, […] und die mir, viel stärker als irgendein Apollon von Belvedere, das Gefühl vermitteln, daß es, im Grunde, die gleichen Menschen waren, wie wir es sind […]. (80) Der Grund von Wolfs Faszination für die trojanische Priesterin besteht darin, „daß sie als einzige in diesem Stück sich selber“ (15) kennt. Eine Person, die in der Lage ist, die Zukunft dank ihrer Sehergabe objektiv zu betrachten, kann wahrscheinlich auch objektiver sich selbst gegenüber sein. Jedoch bleibt Kassandra allein, niemand glaubt ihr und ihre Prophetie ist 22 Olivari Focus on German Studies 22 vergebens und ungehört; ihr Mut wird nicht geschätzt, da sie von der Gesellschaft isoliert bleibt. Das Thema der Einsamkeit der Priesterin prägt Wolfs Erzählung an mehreren Stellen: „Ich war mit meinem Recht allein“, sagt Kassandra (Kassandra 52). Im Gegensatz zu anderen mythischen Figuren ist sie nie rachsüchtig, obwohl sie die Kette von Ereignissen, die zur Zerstörung Trojas geführt haben, ins Gedächtnis zurückruft und ihre Schuld sowie die ihres Volkes in einer Form von Selbstpsychoanalyse sucht.8 Eine 'Schuld' Kassandras lässt sich in der folgenden zweimal wiederholten Frage erkennen: „Warum wollte ich die Sehergabe unbedingt?“ (8). Dieselbe Frage, die sich Christa Wolf beim Nachdenken über die mythische Figur stellt: „Warum aber hat sie, indem sie sich zur 'Seherin' ausbilden ließ, einen Männerberuf gewählt. Warum wollte sie werden wie die Männer. Wieso war eigentlich 'Seher' ein Männerberuf. Immer schon? Oder seit wann?“ (Voraussetzungen 24). Die Kombination des Verbs 'wollen' mit 'unbedingt' zeigt, dass sich Kassandra eine Welt ohne Seher überhaupt nicht vorstellen kann. Die persönliche Entscheidung ist relevanter als der göttliche Ursprung ihrer Gabe, der relativiert wird: „Ich denke sie mir frei von Gottesfurcht“ (Voraussetzungen 23), stellt Christa Wolf fest.9 Und so sagt Kassandra einige Seiten später: „Ich wollte Priesterin werden. Ich wollte die Sehergabe, unbedingt“ (Kassandra 50). Nun ist es nicht mehr eine Frage, sondern ein affirmativer Satz, der ihr Streben nach Verantwortung, Autonomie und Objektivität darstellt.10 Denn Kassandra will die Welt selbstständig sehen und interpretieren, und nicht „[a]meisengleich“ der Meinung des trojanischen Palasts sein, „[n]ur um nicht sehn zu müssen“ (57).11 Der trojanisch-griechischen männlichen Weltvorstellung entsprechend ist das eine Schuld: „Doch eine andre 'Schuld' mag ihr zu schaffen machen: daß sie imstande war, sich so weit außerhalb des eignen Volks zu stellen, daß sie sein unheilvolles Schicksal 'sah'“ (Wolf, Voraussetzungen 23). In der Tat existierten auch im antiken Griechenland Seherinnen (Epple 19). Wenn man etwa an die römischen Sibyllen denkt, könnte man aber Epples These zustimmen: „An den Sybillen bleiben stets ihre Sprüche wichtiger als ihr persönliches Schicksal“ (24-25).12 Das ist nicht der Fall des Kassandra-Mythos. Christa Wolf schlägt die Möglichkeit einer weiblichen Art des Wahrsagens vor, die nicht nur rational ist, sondern „am Körper erfahren wird“ (Delisle 73): „Wie jedem Menschen gab mir der Körper Zeichen; anders als andre war ich nicht imstande, die Zeichen zu übergehn“ (Kassandra 78). In Kassandras Körper hat die Todesstimme ihren Sitz. Diese empfindet die Seherin für lange Zeit als fremd und will sie aufgrund ihrer irrationalen Kraft nicht anerkennen, so dass sie manchmal zu dem Gedanken kommt, ihren Körper, „Ort der Wahrnehmung, Sitz der Gefühle“ (Risse 82), zu strafen: „Ich wollte diesen verbrecherischen Körper, in dem die Todesstimme ihren Sitz hatte, aushungern, ausdörren“ (Wolf, Kassandra 80). Im Gegensatz zum Seher Kalchas entspricht Kassandras „inneres Auge“ (83) dem äußeren: Im Text ist die Dichotomie von blind sein - sehen sowie taub sein - hören sehr oft zu bemerken,13 z.B. in Bezug auf den Vater, der „gegen alle Gründe, die dem Krieg entgegenstanden, schon erblindet war, und was ihn blind und taub gemacht, das war der Satz der Truppenführer: Wir gewinnen“ (93). In Christa Wolfs Erzählung sind Körper und Geist im Gegensatz zur modernen abendländischen Denkweise sehr eng verbunden: „Vor allem aber kannten sie [die alten 23 Olivari Focus on German Studies 22 Griechen] den Zusammenhang zwischen seelischen und körperlichen Leiden, auch dem zwischen dem Befinden eines Menschen und seinen Zukunftsaussichten“ (Wolf, Voraussetzungen 43). Wenn also Kassandra sagt: „Ich allein sah“ (Wolf, Kassandra 79), ist dieses Sehen als Verbindung der körperlichen und geistigen Erkenntnis mit „der rationalen und diskursiven Fähigkeit“ (Delisle 40) aufzufassen. Kassandra beansprucht eine weibliche Art des Wahrnehmens und Erlebens, die anders als die männliche ausgedrückt werden muss. Daher die Konfrontation mit Penthesilea, Königin der Amazonen, die „nicht nur gegen die Griechen“, sondern „gegen alle Männer“ (Wolf, Kassandra 152) kämpft und so eine andere Interpretation der Rolle der Frau repräsentiert: Frauen sollen tun, was Männer tun, d.h. entweder töten oder sterben, „um […] [ihr] Anderssein zu zeigen“ (153). Kassandra aber weist auf einen dritten Weg hin: „Zwischen Töten und Sterben ist ein Drittes: Leben“ (154), und wirft Penthesilea vor: „Du willst sterben, und die andern zwingst du, dich zu begleiten“ (154). Zum einen will Kassandra „die Todessucht bei einer Frau nicht gelten lassen“ (154), zum anderen schlägt sie eine alternative Art von Protest vor, die im Gegensatz zur Männerwelt keine Waffen und Kriege kennt, nämlich das Schweigen. So wird die trojanische Priesterin als Antikriegsheldin gekennzeichnet, die von der Idee ausgeht, dass mit dem „Schweigen, an dem mehrere beteiligt sind“ (119), Protest beginne. Die Dichotomie schweigen sprechen prägt den ganzen Text und verkörpert Kassandras Aufklärungsprozess: Eine Seherin, der die Menschen nicht glauben, weil sie als Frau mit einem Männerberuf nicht ernst zu nehmen ist, kann nur einen auf Schweigen und Nichtteilnehmen basierenden Widerstandsprozess aktivieren und auf diese Weise ihre Prophezeiungen nicht nur ungehört, sondern auch unausgesprochen lassen.14 Auf der politischen Ebene lässt sich dieses Konzept mit der Situation der Künstler in der ehemaligen DDR sehr gut verknüpfen, die durch Berufs- oder Druckverbot zum Schweigen gezwungen wurden oder im überkontrollierten Staat auf klare Stellungnahmen zu politischen oder künstlerischen Fragen absichtlich verzichteten.15 Der Mythos Kassandras verliert bei Wolf seine religiösen Merkmale. Die Unmöglichkeit, ihr Volk von ihrer Prophezeiung zu überzeugen, sowie ihre Vorherbestimmung als Seherin und Priesterin werden nur auf den ersten Seiten der Erzählung auf den Willen und den Fluch Apolls zurückgeführt.16 Für Wolf ist Kassandra wie jene Terrakottafiguren, die sie bei der Betrachtung griechischer Kunst stärker als Götterstatuen anrühren. Die Schriftstellerin gewährt der Priesterin, sich stufenweise von den Göttern zu distanzieren. Kassandra bemerkt, dass diese nicht perfekt sind, da sie „Unfälle zulassen und Irrtümer begehen“ (Risse 72). So zweifelt sie mehr und mehr an einer manchmal unverständlichen Götterwelt. Wenn Kassandra beispielweise über die Katastrophe Trojas nachdenkt, hält sie ihren Willen, Priesterin zu werden, für widersprüchlich: „Ich wollte die Welt nicht, wie sie war, aber hingebungsvoll wollte ich den Göttern dienen, die sie beherrschten: Es war ein Widerspruch in meinem Wunsch“ (54). Dieser Prozess führt sie, eine Priesterin, zur Ungläubigkeit, denn „Furcht alleine hält die Götter nicht, sie sind sehr eitel, man soll sie auch lieben; der Hoffnungslose liebt sie nicht“ (129).17 In der katastrophalen Nacht, in der Achill die Leiche von Patroklos verbrennen lässt und zwölf Gefangene als Opfer schlachtet, werden die Trojaner von den Göttern verlassen und Kassandra tritt „ohne Priesterkleid“ (148) auf. An diesem Punkt ist die Distanz der trojanischen Priesterin zu den Göttern unüberwindlich: Risse hebt hervor, Kassandra erlebe in der Erzählung eine doppelte Befreiung, vom Auftrag der Götter und von den Erwartungen des Palasts (60). 24 Olivari Focus on German Studies 22 Das Thema der Katastrophe spielt in der Erzählung eine zentrale Rolle.18 Sie gehört gleichzeitig zur Vergangenheit und zur Zukunft, wie in der folgenden Passage deutlich wird: „Für alles auf der Welt nur noch die Vergangenheitssprache. Die Gegenwartssprache ist auf Wörter für diese düstre Festung eingeschrumpft. Die Zukunftssprache hat für mich nur diesen einen Satz: Ich werde heute noch erschlagen werden“ (21). Hier wird gezeigt, dass die Vergangenheitssprache mit dem Erzählen der schon stattgefundenen Katastrophe der Stadt verbunden ist, die Gegenwartssprache mit dem einfachen Berichten und die Zukunftssprache mit dem prophetischen Erzählen von der bevorstehenden Katastrophe. Der Untergang Trojas ist schon geschehen: In diesem Sinne bietet die Erzählung ein dramatisches Szenario von Trümmern und Verzweiflung. Jedoch legt Kassandra schon in den ersten Zeilen fest: „Mit der Erzählung geh ich in den Tod“ (7). Die Aussage deutet auf die individuelle Katastrophe Kassandras und des Hauses von Agamemnon hin, die noch geschehen muss. Bezüglich der Hauptfigur ist deshalb die Katastrophe noch nicht vollständig: Sie weiß schon, dass sie Opfer des Teufelskreises von Schuld und Buße der griechischen Familie sein wird.19 Diese zwei Perspektiven überlagern sich im ganzen Text und bestehen an manchen Stellen sogar gleichzeitig: „Das Schlimmste kam noch, kommt noch“ (97). Ist die Katastrophe als endgültig zu betrachten oder gibt es Auswege aus dem „zerstörerischen Wiederholungszwang“ (Delisle 62)? Laut der Auffassung des Aischylos, die im Text vom Trojaner Aineias verkörpert wird,20 ist das kaum möglich: Krieg und Frieden, Leben und Tod, Katastrophe und Rettung, Schuld und Buße folgen nacheinander.21 Nicht zufällig wird gerade Aineias, der Überlebende der Katastrophe Trojas, ein neues Leben auf dem italischen Boden, später Rom, führen. So besitzt er „den Ausdruck der nicht aufgebenden Verlierer, die wissen: sie werden immer wieder verlieren, immer wieder nicht aufgeben, und das ist kein Zufall, kein Versehen oder Unglücksfall, sondern: so ist es gemeint“ (Wolf, Voraussetzungen 65). Kassandra stellt sich dieser Vision entgegen: „Siehst du Aineias, das hab ich gemeint: die Wiederholung. Die ich nicht mehr will. Der du dich ausgeliefert hast“ (Wolf, Kassandra 151). Was darf also außerhalb dieses Wiederholungszwangs bleiben? Eine erste Antwort mag man in der folgenden Passage finden: Auf der Verehrung der toten Helden beruhte unser Glauben, unser Selbstgefühl. Auf sie beriefen wir uns, wenn wir „ewig“ und „unendlich“ sagten. Ihre Größe, die wir für unerreichbar hielten, machte uns Lebende bescheiden. - Das war der Punkt. Glaubst du denn, sagte Panthoos, bescheidene Helden, die erst nach ihrem Tode hoffen können zu Ruhm zu kommen, sind die richtigen Gegner für die unbescheidenen Griechen? (132) Kassandra verkauft sich nicht wie Aineias an die Welt- und Geschichtsauffassung der Griechen, bleibt bis zum Ende ihrer trojanischen Kultur treu, die einen Ausweg aus der Katastrophe bietet, und zwar durch die Erinnerung an die Helden, die auf diese Weise die Ewigkeit gewinnen und den Wiederholungszwang überwinden. Es gibt außerdem einen anderen Ausweg aus der „Wiederkehr des Gleichen“ (161), der sowohl für Kassandra als auch für die Kunst und die Literatur gilt. Das wird von Panthoos, dem 25 Olivari Focus on German Studies 22 Griechen, Kassandra enthüllt: „Du lügst, wenn du uns allen den Untergang prophezeist. Aus unserm Untergang holst du dir, indem du ihn verkündest, deine Dauer. Die brauchst du dringlicher als das bißchen Nestglück jetzt. Dein Name wird bleiben. Und das weißt du auch“ (17). Die Verkündigung der Katastrophe findet außerhalb des sich wiederholenden Kreises statt und gewinnt an Dauer, an Stabilität, denn „Erzählen ist human und bewirkt Humanes, Gedächtnis, Anteilnahme, Verständnis – auch dann, wenn die Erzählung teilweise eine Klage ist über die Zerstörung des Vaterhauses, den Verlust des Gedächtnisses, das Abreißen von Anteilnahme, das Fehlen von Verständnis“ (Wolf, Voraussetzungen 50-51). Genau wie die steinernen Löwen des Tors von Mykene, die die Erzählung öffnen und schließen: „Das letzte wird ein Bild sein, kein Wort. Vor den Bildern sterben die Wörter“ (Wolf, Kassandra 30). Die von den Löwen verkörperte Kunst überwindet den Wiederholungszwang sowie die Katastrophe und ist sogar dem Erzählen überlegen:22 Der Mythos kann in seiner mündlichen und schriftlichen Überlieferung andere Konnotationen annehmen, während die Kunst auch nach ihrer Entdeckung viele Jahrhunderte später fast unberührt bleibt, eine nicht modifizierbare Spur ihrer Herkunft trägt und alle Erfindungen des Mythos entlarvt. Michael Jarrells Monodrama In Michael Jarrells Monodrama Cassandre kommen fast alle Themen von Wolfs Erzählung vor, etwa die Isolierung und Einsamkeit der Priesterin, die Überlagerung der zwei Perspektiven (die vor und nach der Katastrophe), das Streben nach Autonomie und das Schweigen als Protestform. Auch formal betrachtet, weist die Komposition eine Kreisstruktur wie bei Wolf auf: Die Sprechoper für Schauspielerin, Ensemble und Elektronik des Komponisten (*1958) lässt sich also unter mehreren Aspekten von der Erzählung inspirieren.23 Dennoch findet man bei Jarrell eine größere Nähe zu Aischylos' Orestie, und im Allgemeinen zur griechischen Tragödie, wie ich am Ende dieses Abschnitts erklären werde. Das Monodrama dauert ungefähr fünfzig Minuten und wurde 1994 im Pariser Théâtre du Châtelet uraufgeführt. Aufgrund seines Erfolgs folgten der Premiere zahlreiche weitere Aufführungen in vielen anderen Sprachen, nämlich Deutsch, Finnisch, Italienisch, Spanisch und Englisch.24 Es gibt keine Pausen, die Oper fließt ununterbrochen und besteht aus vierzehn Episoden und zwei Interludien. Cassandre sollte eine Oper sein, „die gleichzeitig den Gesichtspunkt der Sieger und der Besiegten dargestellt hätte: Einerseits der Text von Homer, andererseits ein Sopran in der Rolle von Wolfs Kassandra“ (Albèra 21). Jarrell zweifelte aber mehr und mehr daran, dass Kassandra singen sollte, da dies einen nicht gewünschten lächerlichen Effekt produziert hätte. Aufgrund der Grausamkeiten des Golfkrieges und des Krieges in Jugoslawien entschied sich der Komponist für den Gesichtspunkt der besiegten Trojaner, d.h. nur für die Verwendung des Textes von Christa Wolf, der zu DDR-Zeiten und ebenfalls in einer Phase von „Geschichtspessimismus“ (Epple 278) entstand. Der Text basiert auf der Rundfunkbearbeitung Gerhard Wolfs, dem Ehemann Christas. Die erste Episode,25 „Apollon te crache dans la bouche...“, präsentiert das Thema von Apolls Fluch, das in Jarrells/Gerhard Wolfs Bearbeitung eine zentrale Rolle spielt. Der Hörer 26 Olivari Focus on German Studies 22 wird sofort – wie bei C. Wolf – in eine dunkle Atmosphäre versetzt, da Kassandras zweites Sprichwort auf ihre individuelle Katastrophe hindeutet: „Avec ce récit, je descends dans la mort“ [Mit der Erzählung geh ich in den Tod] (Jarrell 2 T. 4-5; Wolf, Kassandra 7).26 Ein plötzliches Crescendo führt dann zur Betonung des Wortes „incorrigible“ [[u]nbelehrbar] (11 T. 38; 10); es geht zurück, als Kassandra von Aineias spricht. Die Figur des trojanischen Helden ist an vielen Stellen mit leiser, melancholischer und nachdenklicher Musik, auch in der Erzählung übernimmt er eine tröstliche Funktion. Die erste Episode beinhaltet also viele zentrale Themen von C. Wolfs Text, etwa Apolls Fluch, Kassandras Schicksal, den Unterschied zwischen der autonomen Seherin und ihrem gehorsamen Volk und ihre Liebe für Aineias. Die zweite Episode, „Hécube, ma mère...“, handelt von Kassandras Familie, insbesondere wird angesichts der feministischen Perspektive der Erzählung ihre zwiespältige Beziehung zum Vater hervorgehoben. Die früher erwähnten Worte, die die Koexistenz einer Perspektive vor der Katastrophe und einer danach explizit machen, nämlich: „Für alles auf der Welt nur noch die Vergangenheitssprache“ (Wolf, Kassandra 21; Jarrell 32 T. 114), werden von keiner Musik begleitet und damit besonders betont. „Le cyprès...“, der mit Sterben und Trauer verbundene Baum, öffnet dramatisch die dritte Episode, die von Vergewaltigung handelt, die Konsequenz des Männerkrieges gegen die Frauen. „Vers le soir...“ erzählt von Kassandras prophetischem Traum der Reise des Aineias, die ihn zum heutigen Italien führen wird.27 Die fünfte Episode, „Quand je remonte...“, handelt von Kassandras Reflektion über den Krieg und ihrer Berufung zur Priesterin: Hier, wahrscheinlich eine Neuheit in der Bearbeitung Gerhard Wolfs, wird der Traum Kassandras von Apoll, der ihr in den Mund spuckt, durch Panthoos gedeutet.28 Zum zweiten Mal erscheint also das Motiv des Gottesfluchs. Ein instrumentales Interludium folgt der fünften Episode. „Polyxène, ma sœur...“ thematisiert das dramatische Ende der Schwester Polyxena, in die Achill verliebt war und die er zur Frau wollte. Polyxena, die damit nicht einverstanden war, teilte Paris den wunden Punkt Achills mit, den der griechische Krieger ihr anvertraut hatte.29 Die Antwort der Griechen kam bald. Die Geschichte von Kassandras Schwester ist ein weiteres Beispiel der vielen Teufelskreise von Katastrophen, die die Erzählung prägen und auch in Jarrells Vertonung nicht fehlen. Die achte Episode, „C'était la veille du départ...“, wird durch bewegte und gespannte Musik des Orchesters und das erregte Deklamieren der Schauspielerin charakterisiert und erzählt von den Veränderungen im Palast: Priamos verlässt sich jetzt auf die Ratschläge von Eumelos, und Kassandra spürt, dass sie zur Katastrophe führen. Auch bei Jarrell steht das Thema von Kassandras Einsamkeit oft im Mittelpunkt: Die Priesterin schreit die Wahrheit, wird aber nicht gehört und in ihr Zimmer eingeschlossen. In derselben Episode, der längsten der ganzen Oper, wird auch von Helenas Ankunft erzählt. Die sehr kurze neunte Episode, „Remarquez bien...“, handelt von dem Schrei Kassandras „Malheur, nous sommes perdus“ [Weh, wir sind verloren] (Jarrell 118 T. 449; „Libretto“ 31) als Warnung vor dem Aufenthalt Helenas in Troja. Er bleibt ungehört und wird gestraft. Dieser kurzen Episode folgt ein rein instrumentales Interludium. „Cétait une journée pareille...“ handelt vom vergeblichen Versuch Kassandras, Priamos von der Gefahr der Präsenz Helenas in Troja zu überzeugen. Wichtig sind die Worte: „Alors je lui promis de garder le secret“ [Da versprach ich ihm, zu schweigen] (134 T. 520; 32). Kassandra 27 Olivari Focus on German Studies 22 lernt hier die friedliche Waffe des Schweigens als Mittel gegen die Ungläubigkeit ihres Volkes kennen. Die zwölfte Episode, „Je vis mon frère Hector...“, bringt uns direkt in den Krieg. Die Ankunft Achills im Tempel ist von erregter Musik und pathosgeladenem Rezitieren gekennzeichnet. Er tötet Troilos gerade an einem Kultort und Kassandra beschimpft ihn: Que voulait donc cet homme? Que venait-il faire dans le temple, tout armé? L'instant le plus atroce: je le savais déjà. Alors il se mit à rire. Comment cet ennemi s'approchait-il de mon frère? Comme un assassin? Comme un séducteur? Cela existait-il donc: le désir meurtrier et le désir amoreux dans le mȇme homme? (148-150)30 Diese Passage findet man in der Erzählung nicht: Die Vertonung bzw. G. Wolfs Rundfunkbearbeitung wirkt bedrohlicher als Christa Wolfs Text. Die nächste Episode, „Enée vint à la nouvelle lune...“ handelt von einem Treffen Kassandras mit Aineias, bei dem sie nochmals fühlt, dass er weggehen will. „Depuis qu'en ce lieu...“ erzählt von dem Plan des Priamos, Achill zu töten, dem aber Kassandra nicht zustimmt, weil sie schon fühlt, dass Polyxena genau aus diesem Grund getötet wird. Die darauffolgende sehr dramatische Episode, „L'effondrement vint vite...“, thematisiert das Erscheinen des berühmten Pferdes, das nach Troja geholt wird. Kassandra versucht vergeblich, das zu verhindern. „Qu'on fasse entrer le cheval“ [Nun holt das Pferd herein] (151, T. 687; 35): Diese Worte werden von einer bedrohlichen Musik mit Fortissimo-Dynamik und schweren Schlägen betont. Sie erreicht einen äußerst dramatischen Höhepunkt. Das Leitmotiv von Apolls Fluch kommt zum dritten Mal vor, aber nun distanziert sich Kassandra deutlich von dem bösen Gott: „C'est là que j'ai compris ce que le dieu avait décrété: tu diras la vérité, mais personne ne te croira. Alors j'ai maudit Apollon“ [Jetzt verstand ich, was der Gott verfügte: Du sprichst die Wahrheit, aber niemand wird dir glauben. […] Da habe ich den Gott Apoll verflucht] (173; Wolf, Kassandra 177). Danach wird die Vergewaltigung Kassandras durch Aias erzählt und die Musik kommt zum zweiten dramatischen Höhepunkt.31 „Oui, ce fut ainsi...“, die letzte Episode, ist von einer leisen, resignierten Musik gekennzeichnet. Kassandra trifft Aineias zum letzten Mal: Er will sie wegbringen, aber die trojanische Priesterin weigert sich: „Je ne puis aimer un héros“ [Einen Helden kann ich nicht lieben] (187 T. 752; 178-179). Der Bezug auf den Fluch Apolls schließt das Stück. Er bestätigt seine Kreisstruktur. Musikalisch betrachtet, vermitteln die Tamtams, die mit dem Fluch verbunden und auch im Fall der ersten Erwähnung des Themas zu hören sind, ein Gefühl vom Kommen der Katastrophe, quasi vom Jüngsten Gericht. Außerdem werden im Text die Schlüsselwörter „Gabe“, „Person“, „Zukunft“ und „glauben“ akzentuiert.32 Sie stellen eine starke Bezugnahme auf die ungehörte Ankündigung der Katastrophe dar. Asynchronen und murmelnden Stimmen werden diese Worte zugewiesen, die im Hintergrund zu hören sind und zur bedrohlichen Atmosphäre beitragen. So sieht das Motiv im letzten Takt des Stückes aus (188 T. 780): 28 Olivari Focus on German Studies 22 Die Isolation und das traurige Schicksal Kassandras wurden anlässlich einer Aufführung der französischen Version in Mailand effektiv inszeniert: Die Schauspielerin, in diesem Fall keine Geringere als Fanny Ardant, betritt die Bühne mit einer schwarzen Seidentunika und einem Haarband und rezitiert mit fester Stimme wie in den antiken griechischen Tragödien (Lanfossi). In Jarrells/Gerhard Wolfs Verarbeitung spielt die Religion keine untergeordnete Rolle, da Apolls Fluch vier Mal erwähnt wird; zwei Mal an wichtigen Stellen, und zwar am Anfang und am Ende des Stückes. Christa Wolfs Text öffnet und schließt dagegen mit dem Bild der „steinernen Löwen“ (Kassandra 7 und 179) des Tors von Mykene. Die Befreiung Kassandras vom Auftrag der Götter erfolgt bei Jarrell erst in den letzten Minuten, die Heldin des musikalischen Stückes ist verzweifelter und schwächer als die Christa Wolfs. Man könnte sogar vermuten, dass sie sich nie wirklich von den Göttern befreit. Zwar verflucht Kassandra Apoll in der fünfzehnten Episode, aber die sechzehnte und letzte endet mit der Erinnerung an den Fluch und daher an ihr Schicksal, dem sie nicht entgehen kann. Und die Tamtams stehen mit ihrem bedrohlichen Klang und rhythmischer Präzision gerade für diesen „Wiederholungszwang“ (Delisle 62). Jarrell stellt fest: „Der Text richtet sich nach der Musik, nicht umgekehrt“ (zit. in Albèra 22) und der Musikkritiker Philippe Albèra kommentiert: „Dieser Unterschied zum Sprechtheater ist grundlegend. Der Rhythmus der Worte ist hier in der Tat ein entscheidender Punkt, da er einer psychologisierenden Interpretation die musikalische Formalisierung entgegen setzt; die Worte sind eingesponnen in das Gewebe der musikalischen Zeit“ (22). Einer anderen Meinung ist 29 Olivari Focus on German Studies 22 Liam Cagney, der die Aussage Jarrells so kommentiert: „[T]his does not quite come across as being the case“ („Michael Jarrell: Cassandre“). Bezüglich der Gattungsklassifizierung des Stückes fragt er sich: „[S]hould it really be described as an opera, or would it more properly be seen as a theatre piece – albeit one with very sophisticated musical accompaniment?“. Angesichts der großen Bedeutung der Stimme der Schauspielerin in der Kairos-Aufnahme sowie der Notwendigkeit der Übersetzung des Textes für die Aufführung in verschiedenen Ländern teile ich Cagneys Zweifel: Es scheint, dass Text und Musik eine gleichwertige Rolle spielen und dass beide Bestandteile beim Komponieren so behandelt wurden. Jarrell lässt den Text nicht hinter den virtuosen Passagen einer Sängerin verschwinden. Nur für einige kurze Augenblicke gewinnt man den Eindruck, dass sich der Text nach der Musik richtet. Unter den vermutlichen Inspirationsquellen Jarrells ist in erster Linie Erwartung, Arnold Schönbergs expressionistisches Monodrama, zu erwähnen, „das ebenfalls eine einzelne Frau darstellt, die sich auf die Suche nach der Wahrheit begibt“ (Albèra 21). Und in der Basler Zeitung wird die Musik als „eine Synthese von Monteverdis früher Operndramatik und Berios schillernder Orchesterbehandlung“ (55) beschrieben. Jarrell liest nicht nur einen Mythos wieder, sondern auch die Musikgeschichte selbst, insbesondere die Anfänge des Musiktheaters: Sein Stück setzt sich mit der Tradition intensiv und konstruktiv auseinander. Nach Albèras Interpretation sei das Monodrama Jarrells von einer Form von „statischer Bewegung“ (23) geprägt: „Die Zeit […] ist fast immer statisch, als Zeit der Spannung, der Selbst-Erforschung, des Erwartens, der Vorahnungen“ (22). Diese Qualität findet man auch in Wolfs Erzählung, die sich an der Technik des stream of consciousness orientiert. Cagney weist auf die Dynamik der Oper hin: „The instrumental colours are dark – low horns and resonant gongs,33 murmuring washes in the electronics from time to time, pedalled notes in the strings, a quiet dynamic generally predominating. The approach is synthetic, no one instrument standing out from the cauldron of the ensemble for very long“. Die Atmosphäre von Cassandre ist tatsächlich dunkel und 'apokalyptisch', tief verzweifelt, wie eine „lange Koda“ (zit. in Albèra 21), so der Komponist, ohne Licht und Erlösung. Man mag sich hier an die Beschreibung von Leverkühns Weheklag in Thomas Manns Doktor Faustus erinnern: „[Das Werk] biete[t] bis zu seiner letzten Note irgend einen anderen Trost, als den, der im Ausdruck selbst und im Lautwerden, - also darin liegt, daß der Kreatur für ihr Weh überhaupt eine Stimme gegeben ist“ (711). Die Geschichte Kassandras wirkt bei Jarrell bedrohlicher als bei Wolf, vielleicht weil die Musik durch bestimmte Klangkombinationen und Rhythmen einfacher als das geschriebene Wort „the listeners into its dark, disturbing and utterly fascinating world“ (Reichel) führen kann. Michael Jarrells Cassandre orientiert sich größtenteils an der Erzählung, dennoch distanziert sich auch vom Vorbild und wird somit zu einem autonomen Kunstwerk. In diesem Prozess nähert sich die Realisierung jener „Gottesfurcht“ (Wolf, Voraussetzungen 23) der Orestie, von der Christa Wolf abrücken will. Jarrells Monodrama bietet außerdem eine moderne Neulektüre der griechischen Tragödie: die Sprechstimme statt der Opernsängerin, die Musik, die wie ein Chor den Text kommentiert, und das Pathos, erzeugt durch bedrohliche Klangkombinationen. Auch die Struktur spielt auf die griechischen Tragödien an, die mit einem Prolog anfangen (in diesem Fall das Thema von Apolls Fluch), Episoden und Chorpartien haben (bei Jarrell instrumentale Interludien) und mit einem Exodos schließen (das wiederholte Thema von Apolls Fluch). Trotz Christa Wolfs „prinzipieller Aversion gegen das Drama“ (Glau 179) 30 Olivari Focus on German Studies 22 nähert sich ihre Kassandra-Erzählung dem „modernen einaktigen Ein-Personen-Stück“ (185) an.34 Katharina Glau betont, die Rundfunkbearbeitung des Ehemannes helfe dem Text, sich den Konventionen des Genres wirklich anzupassen (185). Jarrell geht einen Schritt weiter und adaptiert ihn durch eine Form, die an der Schnittstelle zwischen Theater und Oper liegt. Daher schafft er mit Cassandre auch eine 'weiterführende' Vertonung, weil er in der Vorlage ein nicht erfülltes Potenzial sieht, und es realisiert. Dennoch will er auf seine eigene Interpretation von Christa Wolfs Erzählung und des Mythos selbst nicht verzichten, indem er sich der Religiosität und Schicksalsauffassung der Orestie annähert. 31 Olivari Focus on German Studies 22 1. Die Tochter von Priamos spielt nur im monologischen Drama Alexandra von Lykophron (um 320 v. Chr. nach 280 v. Chr.) die Hauptrolle (siehe Epple 26). Der Text rückt die Visionen der Seherin in den Mittelpunkt. Epple listet Texte der Antike auf, in denen die Figur der Seherin zu finden ist, sowie literarische, philosophische und essaystische Werke vom Mittelalter bis zur Gegenwart, die Bezug auf den KassandraMythos nehmen (385-393). 2. Siehe dazu Schneider und Hoffmann. 3. Für theoretische Auseinandersetzungen mit diesem Bereich, der innerhalb der deutschsprachigen Literatur von großer Bedeutung ist, siehe Rajewsky. 4. In den Frankfurter Poetik-Vorlesungen berichtet Christa Wolf u.a. vom Entstehen der Erzählung. Diese sind zuerst 1983 im Luchterhand Verlag und dann 2008 im Suhrkamp Verlag unter dem Titel Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra erschienen. 5. Siehe dazu Wolf, Kassandra 32 und Delisle 30. 6. Der ausführliche Vergleich zwischen den beiden Texten ist das zentrale Thema von Glaus Untersuchung, auf die ich verweise. 7. Siehe dazu auch Delisle 35 und Wolf, „Aus einer Diskussion an der Ohio State University“ 447. 8. Diese Tendenz Christa Wolfs zu einer Art von psychoanalytischer Prosa ist in Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (2010) besonders sichtbar. Eine ausführliche Untersuchung des Einflusses von Freuds Psychoanalyse auf Kassandra findet sich bei Koskinas (insb. 44-93). 9. Zum Thema siehe auch Delisle 32. 10. Siehe auch Risse 61. 11. Vgl. auch Wolf, Kassandra 10: „Myrine, die mich lächeln sah, als ich von Aineias sprach, schrie: Unbelehrbar, das sei ich“ (Kursivierung d. Verf.). 12. Abgesehen vom Mythos der Sybille von Cumae, der allerdings „appears to be partly modelled on the legend of Cassandra“ (Rose 143). 13. Für eine detaillierte Beschreibung und Erläuterung der sinnlichen Dichotomien im Text siehe Maisch 77-78. 14. Es muss auch hinzugefügt werden, dass Kassandra oft, wenn sie die Wahrheit über die Zukunft schreit, in ihr Zimmer eingesperrt wird (vgl. z.B. Wolf, Kassandra 79). So zwingt sie der Palast zum Schweigen. 15. Ein berühmtes Beispiel von Druckverbot ist das Libretto von Hanns Eislers nie vollendeter Oper Johann Faustus (siehe Bunge). Die zwar präsente Thematik der DDR-Kritik lasse ich aber im vorliegenden Aufsatz aus, weil sie mit Jarrells Stück, das in einem anderen Kontext entstand, wenig verknüpfbar ist. Siehe dazu Liermann 96-122. 16. Vgl. Wolf, Kassandra 33 zum Thema des Fluches: „Wenn Apollon dir in den Mund spuckt, sagte sie [Marpessa] mir feierlich, bedeutet das: Du hast die Gabe, die Zukunft vorauszusagen. Doch niemand wird dir glauben“; und 34 zum Thema der Vorherbestimmung: „Ich, Kassandra, […] war vom Gott selbst zur Seherin bestimmt. Was war natürlicher, als daß ich ihm auch als Priesterin in seinem Heiligtume diente?“. 17. Zum Thema der Distanzierung Kassandras von den Göttern siehe auch Risse 72. 18. Zum Bildinventar der Katastrophe verweise ich auf Delisle 13. 19. Vgl. Wolf, Kassandra 107: „Erschlag mich, Klytaimnestra. Töte mich. Mach schnell“. 20. Christa Wolf mischt in diesem Fall die griechische und die lateinische Literatur: Im Text spielt Aineias eine wichtige Rolle, aber in der griechischen Literatur ist er eine marginale Figur. Dennoch übernimmt er in der römischen Mythologie – und insbesondere bei Vergil – eine zentrale Funktion, da er mit der späteren Gründung Roms verbunden wird. Siehe Bettini und Lentano. Die Autorin folgt der Transliteration der griechischen Namen ins Deutsche (z.B. Aineias statt Äneas), auf die ich mich im vorliegenden Aufsatz ebenfalls beziehe. 21. Diese schwarzweiße Vorstellung der antiken Griechen ist auch in den folgenden Zeilen erwähnt: „Für die Griechen gibt es nur entweder Wahrheit oder Lüge, richtig oder falsch, Sieg oder Niederlage, Freund oder Feind, Leben oder Tod“ (Wolf, Kassandra 139). 22. Siehe dazu Delisle 76. 23. Zur Biographie und zu den Werken von Michael Jarrell siehe Cohen Lévinas et al. 24. Alle Versionen des Stückes wurden von Editions Henry Lemoine (Paris) veröffentlicht: die französische erschien 1994. Zur Aufnahme siehe die zitierte Literatur. Die Titel der Episoden werden jeweils auf Französisch erwähnt, wie in der ersten veröffentlichten Version des Stückes. 32 Olivari Focus on German Studies 22 25. Da das Stück eher rezensiert als analysiert wurde, halte ich an dieser Stelle eine Beschreibung für notwendig. Die Analyse beruht – wenn nicht anders angegeben – auf meinen Beobachtungen. 26. Ich konsultierte die französische Version der Partitur, gebe aber die entsprechenden Textstellen aus der Erzählung als Übersetzung in eckigen Klammern im Fließtext an. Wenn der Text der Sprechoper Unterschiede zu dem C. Wolfs aufweist, beziehe ich mich auf das Libretto auf Deutsch, die man zusammen mit der CD findet. Mit freundlicher Genehmigung von Kairos Music (Wien). Wenn ich Bezug auf die Partitur nehme, schreibe ich z.B.: Jarrell 20 T. 1 oder nur Jarrell 20, wenn auf das der CD beigefügte Libretto: „Libretto“ 20. 27. Siehe Wolf, Kassandra 26: „Gegen Abend schlief ich ein, ich weiß noch, ich träumte von einem Schiff, das den Aineias über glattes blaues Wasser von unserer Küste wegführte“. 28. Die Traumdeutung erfolgt in Wolfs Erzählung durch Marpessa: Vgl. das Zitat der Anmerkung 16. 29. Vgl. Wolf, Kassandra 140-141 und 162-164. 30. „Was wollte dieser Mensch? Was suchte er bewaffnet hier im Tempel? Grässlicher Augenblick. Ich wusste es schon. Dann lachte er. Wie näherte sich dieser Feind dem Bruder? Als Mörder? Als Verführer? Ja, gab es das denn: Mörderlust und Liebeslust in einem Mann?“ („Libretto“ 33). 31. Vgl. Wolf, Kassandra 177. Thomas Epple erklärt, die Vergewaltigung werde schon im Ilias geschildert (20). 32. „Cassandre" (S. 188) un monodrame de Michael Jarrell © Editions Henry Lemoine, d'après le récit de Christa Wolf "Kassandra" © Gustav Kiepenheuer, adaptation de Gerhard Wolf, traduction d'Alain Lance. 33. Genauer gesagt, ist es ein Tamtam, im Gegensatz zum Gong ist das Tamtam nicht gestimmt. 34. Für C. Wolf ist Prosa „die intimste Form“ („Aus einer Diskussion an der Ohio State University“459), die – wie Glau erklärt - „ihrem Bedürfnis nach Subjektivität“ (179) entspricht. 33 Olivari Focus on German Studies 22 Literaturverzeichnis Aischylos. Orestie. Hrsg. v. Dietrich Ebener. Leipzig: Insel 1971. Print. Albèra, Philippe: „Cassandre von Michael Jarrell“. Cassandre (Libretto der CD). Wien: Kairos 2009, 21-24. Print. Bettini, Maurizio, und Mario Lentano. Il mito di Enea. Immagini e racconti dalla Grecia a oggi. Turin: Einaudi, 2013. Print. Bunge, Hans. Die Debatte um Hanns Eisler „Johann Faustus“. Eine Dokumentation. Hrsg. v. Brecht-Zentrum Berlin. Berlin: BasisDruck 1991. Print. Cagney, Liam. „Michael Jarrell: Cassandre“. MusicalCriticism.com. 2009. Web. 30. Dez. 2014. <http://www.musicalcriticism.com/recordings/cd-jarrell-cassandre-0809.shtml>. Cohen Lévinas, Danielle, et al. Michael Jarrell. Paris: IRCAM 1992. Print. Delisle, Manon. Weltuntergang ohne Ende. Ikonographie und Inszenierung der Katastrophe bei Christa Wolf, Peter Weiss und Hans Magnus Enzensberger. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001. Print. Epple, Thomas. Der Aufstieg der Untergangsseherin Kassandra: Zum Wandel ihrer Interpretation vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1993. Print. Glau, Katharina. Christa Wolfs „Kassandra“ und Aischylos' „Orestie“. Zur Rezeption der griechischen Tragödie in der deutschen Literatur der Gegenwart. Heidelberg: C. Winter, 1996. Print. Hoffmann, Peter. „Xenakis, Yannis“. The New Grove Dictionary of Music and Musicians. 2001. (Eingeschränkter Zugriff via Oxford Music Online). Jarrell, Michael. Cassandre. Bearb. v. Gerhard Wolf, übs. v. Alain Lance. Paris: Henry Lemoine, 1994. Print. ---. Cassandre. Kairos, 2009. CD. “klassik-cd. Kassandra geht”. Basler Zeitung. 7. Nov. 2009: 55. Print. Koskinas, Nikolaos-Ioannis. “Fremd bin ich eingezogen, fremd ziehe ich wieder aus”. Von Kassandra, über Medea, zu Ariadne: Manifestationen der Psyche im spätesten Werk Christa Wolfs. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008. Print. Lanfossi, Carlo. “Fanny Ardant voce profetica. Jarrell, Cassandre”. Il Giornale della Musica. 34 Olivari Focus on German Studies 22 2010. Web. 30. Dez. 2014. <http://www.giornaledellamusica.it/rol/?id=3340>. Liermann, Susanne. Die Vermehrung des Schweigens. Selbstbilder später DDR-Literatur. Leipzig: Plöttner, 2012. Print. Lykophron. Alexandra. Hrsg. v. Karl von Holzinger. Hildesheim u.a.: Olms, 1973. Print. Maisch, Christine. Ein schmaler Streifen Zukunft: Christa Wolfs Erzählung “Kassandra”. Würzburg: Könighausen & Neumann,1986. Print. Mann, Thomas. “Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde”. 1947. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Hrsg. v. Ruprecht Wimmer und Stephan Stachorski. Bd 10.1. Frankfurt am Main: Fischer, 2007. Print. Michael Jarrell. N.p., n.d. Web. 23. April 2015. <http://www.michaeljarrell.com/>. Rajewsky, Irina O.: Intermedialität. Tübingen: Francke, 2002. Print. Reichel, Edward. „Michael Jarrell is a Composer of Imaginative Profound Works“. Reichel Recommends. 2012. Web. 23. April 2015. <http://www.reichelrecommends.com/michaeljarrell-is-a-composer-of-imaginative-profound-works/>. Risse, Stefanie. Wahrnehmen und Erkennen in Christa Wolfs Erzählung „Kassandra“. Pfaffenweiler: Centaurus, 1986. Print. Rose, Herbert J. A Handbook of Greek Mythology including its extension to Rome. London: Methuen, 1928. Print. Schneider, Frank und Michael. „Kassandra“. Klassikthemen. Stoffe und Motive der Musik. 2011. Web. 23. April 2015. <http://klassikthemen.net/datakat.php>. Wolf, Christa. „Aus einer Diskussion an der Ohio State University“. Gespräch mit Christa und Gerhard Wolf. Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959-1985. 1986. Hrsg.v. Angela Drescher. Bd. 2. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag, 1989. Print. ---. Kassandra. 1983. 6. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2013. Print. ---. Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Berlin: Suhrkamp, 2010. Print. ---. Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. 1983. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008. Print 35 Olivari