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Repositorium für die Geschlechterforschung Der epigenetische Körper : Zwischen biosozialer Komplexität und Umweltdeterminismus Müller, Ruth 2017 https://doi.org/10.25595/442 Veröffentlichungsversion / published version Zeitschriftenartikel / journal article Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Müller, Ruth: Der epigenetische Körper : Zwischen biosozialer Komplexität und Umweltdeterminismus, in: Open Gender Journal, Jg. 1 (2017). DOI: https://doi.org/10.25595/442. Erstmalig hier erschienen / Initial publication here: https://doi.org/10.17169/ogj.2017.17 Nutzungsbedingungen: Dieser Text wird unter einer CC BY 4.0 Lizenz (Namensnennung) zur Verfügung gestellt. Nähere Auskünfte zu dieser Lizenz finden Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de www.genderopen.de Terms of use: This document is made available under a CC BY 4.0 License (Attribution). For more information see: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.en ISSN 2512-5192 DER EPIGENETISCHE KÖRPER. ZWISCHEN BIOSOZIALER KOMPLEXITÄT UND UMWELTDETERMINISMUS RUTH MÜLLER ruth.mueller@tum.de ABSTRACT Die Umweltepigenetik erforscht, wie sich Umweltfaktoren auf die Expression des Genoms auswirken und damit auf Körper, Gesundheit und Krankheit. Dabei geht es um den Einfluss materieller Faktoren, wie etwa von Umweltgiften und Nahrungsmitteln, aber auch darum, wie soziale Erfahrungen die Genexpression verändern können. Die Umweltepigenetik konzipiert den Körper damit als ‚biosozial‘ und schafft Möglichkeitsräume, um die Auswirkungen unterschiedlicher Lebensumwelten auf die Biologie des Körpers zu untersuchen. Am Beispiel von Experimenten, die die epigenetischen Effekte ‚mütterlicher Fürsorge‘ erforschen, untersucht dieser Artikel die Potentiale, aber auch die Herausforderungen einer solchen epigenetischen Perspektive auf den Körper. Der Artikel zeigt, dass trotz eines Aufweichens der Grenzen zwischen Biologie und Sozialem traditionelle Kategorien sozialer Differenz, wie etwa Geschlecht und Schichtzugehörigkeit, häufig überraschend statisch und deterministisch gefasst werden. SCHLAGWÖRTER Körper, Biologie, Epigenetik, Gender, Klasse VERÖFFENTLICHUNGSDATUM 20. Dezember 2017 ZITATIONSEMPFEHLUNG Müller, Ruth (2017): Der epigenetische Körper. Zwischen biosozialer Komplexität und Umweltdeterminismus. In: Open Gender Journal 1. doi: 10.17169/ogj.2017.17. DOI: https://doi.org/10.17169/ogj.2017.17 Creative Commons Attribution 4.0 International Ruth Müller1 Der epigenetische Körper Zwischen biosozialer Komplexität und Umweltdeterminismus [1] In diesem Beitrag werde ich der Frage nachgehen, welche Körperkonzepte gegenwärtig im neuen lebenswissenschaftlichen Forschungsfeld der Epigenetik, im Speziellen der Umweltepigenetik (environmental epigenetics), entstehen. Ich werde erläutern, inwieweit diese Körperkonzepte erstens ein neues Verständnis des Verhältnisses von Sozialem und Biologischem in Teilbereichen der biologischen Forschung artikulieren; zweitens, wie sie damit biologische Perspektiven auf Kategorien sozialer Stratifikation wie ‚race‘,‚class‘ und ‚gender‘ rekonfigurieren; und drittens, warum deshalb eine detaillierte sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit den Arbeits- und Wissenspraxen der umweltepigenetischen Forschung besonders wichtig wird. Als analytisches Beispiel dienen Experimente zu den epigenetischen Effekten ‚mütterlicher Fürsorge‘ (maternal care), in denen die Potentiale, aber auch Herausforderungen einer umweltepigenetischen Konzeption des Körpers deutlich werden. Epigenetik. Oder: Wie das Genom eine Umwelt bekam [2] Die Epigenetik ist ein Forschungsbereich der Molekularen Biologie, der sich mit Veränderungen in der Genexpression beschäftigt, die nicht auf Veränderungen der DNA-Sequenz selbst zurückzuführen sind. Genexpression ist der Prozess des Ablesens genetischer Information, also der erste Schritt in der Übersetzung des genetischen Codes der DNA in die lebenden Strukturen des Körpers. Mutationen, also Veränderungen im Code der DNA, können diesen Prozess verändern und zu alternativen Genprodukten führen (z.B. einem non- oder dysfunktionalen Protein). Das Studium von Mutationen und ihren Auswirkungen ist ein Teilbereich der molekularen Genetik. Die Epigenetik hingegen interessiert sich für Veränderungen in diesem Übersetzungsprozess, die nicht durch Mutationen in der DNA selbst bedingt sind, sondern durch chemische Modifikationen auf der DNA (altgriechisch epi – um, auf, herum). OPEN GENDER JOURNAL (2017) | DOI 10.17169/ogj.2017.17 1 Diese Modifikationen verändern den Code selbst nicht, aber regulieren, ob und wie oft ein Gen überhaupt abgelesen wird. Sie können Gene aktivieren, stilllegen und die Rate ihrer Expression steigern oder vermindern. Chemische Modifikationen auf der DNA – wie das Hinzufügen oder Entfernen von Methylgruppen an spezifischen Stellen der DNA – agieren somit als Regulatoren der Genexpression und haben daher einen großen Einfluss darauf, was aus der DNA in einer Zelle tatsächlich entsteht. [3] Epigenetische Regulationsprozesse spielen eine zentrale Rolle in der Zelldifferenzierung, das heißt in jenem Prozess, durch den aus menschlichen Stammzellen die unterschiedlichen Zelltypen eines Körpers entstehen. Eine Hautzelle und eine Leberzelle sind zum Beispiel genetisch ident (von sporadischen Mutationen abgesehen), aber epigenetisch hochgradig unterschiedlich. Die Differenz zwischen diesen Zellen entsteht durch die unterschiedlichen epigenetischen Modifikationen, die ihr Genom jeweils aufweist. Das heißt, dass in ihrem Zellkern dieselbe DNA liegt, ihre unterschiedlichen epigenetischen Modifikationen aber zu einem völlig anderen Ablesemuster dieser DNA führen. Dass es prinzipiell epigenetische Prozesse gibt, die in der körperlichen Entwicklung eine zentrale Rolle spielen, ist schon seit etwa Mitte des vergangenen Jahrhunderts bekannt (vgl. Waddington 1942) und ein Thema, das zum Beispiel in der Entwicklungsbiologie erforscht wurde und wird. Epigenetische Differenzierungswege werden dabei häufig als relativ stabil betrachtet: Zelldifferenzierung verläuft von der Embryonalphase an in geregelten Bahnen entlang von Programmen, die genetisch festgelegt sind. [4] Seit den frühen 2000er Jahren werden epigenetische Prozesse allerdings auch verstärkt unter einem anderen Gesichtspunkt betrachtet: Experimente haben die Frage aufgeworfen, inwieweit epigenetische Modifikationen auf der DNA durch Umweltfaktoren beeinflusst und verändert werden können. Dies ist die Grundfrage des wachsenden Feldes der Umweltepigenetik (vgl. Feil/Fraga 2011; vgl. Skinner 2015). Studien in diesem Feld beschäftigen sich damit, wie Umweltfaktoren wie etwa Toxine, Ernährung, Bewegung, aber auch soziale Erfahrung Einfluss auf das epigenetische Profil bestimmter Körperzellen haben können und damit auf die Expression der Gene in diesen Zellen. Diese Umweltfaktoren werden hinsichtlich ihrer Wirkungen im erwachsenen Menschen untersucht, aber im Besonderen auch auf ihre Bedeutung in der als epigenetisch plastisch verstandenen pränatalen und frühkindlichen Entwicklung (vgl. Szyf 2009). Erforscht wird, wie Umweltfaktoren die körperlichen Entwicklungen mitformen und damit die Rahmenbedingungen für Gesundheit und Krankheit im späteren Lebensverlauf entscheidend gestalten. OPEN GENDER JOURNAL (2017) | DOI 10.17169/ogj.2017.17 2 Hier gewinnen die Experimente zu mütterlichen epigenetischen Effekten (maternal epigenetic effects), die analytischer Gegenstand dieses Beitrags sind, an Bedeutung. [5] Ein wichtiger Aspekt der gegenwärtigen umweltepigenetischen Forschung ist, dass epigenetische Veränderungen als potentiell vererbbar verstanden werden. Eine Anzahl von Studien deuten darauf hin, dass epigenetische Modifikationen eventuell nicht auf das exponierte Individuum beschränkt bleiben, sondern möglicherweise von Generation zu Generation weitergegeben werden könnten (vgl. Hanson/Skinner 2016). Das würde bedeuten, dass es neben der genetischen Vererbung auch epigenetische Formen der Vererbung gibt, die epigenetische Reaktionen auf Umwelteinflüsse weitergeben. In diesem Kontext haben vor allem solche Studien Aufsehen erregt, die eine mögliche epigenetische Vererbbarkeit von traumatischen physischen und psychischen Erfahrungen postulieren, wie etwa von Hungererfahrungen (vgl. Heijmans et al. 2008) oder Verfolgung und Gewalt (vgl. Yehuda et al. 2015). Ob diese epigenetischen Vererbungsprozesse allerdings tatsächlich stattfinden, ist wissenschaftlich umstritten (vgl. Heard/Martienssen 2014). Der epigenetische Körper: veränderbar und biosozial [6] An dieser Konzeption des Körpers, die wir in der Umweltepigenetik vorfinden, sind nun mindestens zwei Aspekte hochgradig bemerkenswert. Erstens finden wir hier ein Model eines biologischen Körpers vor, der bis in sein Innerstes, bis hin zur Expression der DNA im Zellkern, für Einflüsse aus der Umwelt offen ist. Dies bedeutet – zumindest auf theoretischer Ebene – einen Bruch mit einem Verständnis von DNA innerhalb der Biologie als jenem ,Buch des Lebens‘, das eine stabile Blaupause für den Bau des Körpers liefert. Im epigenetischen Modell öffnet sich nun der Zellkern der Umwelt und nimmt Signale daraus auf, die verändern können, wie genetische Information abgelesen wird. Das ,Buch des Lebens‘ ist nun keine eindeutige und lineare Geschichte mehr, sondern kann in verschiedener Weise gelesen werden, je nachdem in welcher Umwelt ein Körper lebt. Genetische Passagen können übersprungen oder lesbar gemacht werden, manche häufiger und andere weniger häufig abgelesen werden. Wir treffen hier auf ein responsives Genom (vgl. Keller 2015), das kontinuierlich auf Signale aus der Umwelt reagiert und den Bauplan des Körpers verändert. Die Umweltepigenetik denkt damit Körper als im dichten Wechselspiel mit der Umwelt stehend und als geformt von dieser Umwelt und seinen Interaktionen mit ihr. Das Versprechen, diese Verschränkungen verstehen zu lernen, macht die Umweltepigenetik zu einem OPEN GENDER JOURNAL (2017) | DOI 10.17169/ogj.2017.17 3 Hoffnungsfeld für die Erforschung einer Vielzahl von Krankheiten, vor allem jener Leiden, die gemeinhin als Zivilisationskrankheiten bezeichnet werden: Herz- und Kreislauferkrankungen, Diabetes, Krebs, aber auch psychiatrische Krankheitsbilder wie etwa Schizophrenie. So positioniert sich zum Beispiel das Umweltbundesamt auf seiner Webpage unter dem Titel „Epigenetik: Umwelt und Genom – ein Zusammenspiel mit Folgen. Warum das Umweltbundesamt mehr darüber wissen will“ folgendermaßen zur Epigenetik: [7] „[Die Epigenetik] liefert eine Erklärung, wie Umweltfaktoren den Aktivitätszustand von Genen verändern und wie diese Veränderungen von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden können. Die Epigenetik erklärt den Einfluss von Umweltfaktoren auf die Zelleigenschaften und den Aktivitätszustand von Genen. Eine ausgedehnte Forschung auf diesem Gebiet würde einen Beitrag zum Gesundheitsschutz der Bevölkerung leisten – auch für künftige Generationen.“ (Umweltbundesamt 2015) [8] Die Epigenetik wird also als ein Feld positioniert, das helfen könnte besser zu verstehen, wie Lebensbedingungen und Umwelteinflüsse zu Gesundheit oder Krankheit führen, und zwar innerhalb einer Generation und darüber hinaus. Epigenetik wird damit Teil biomedikalisierter Gesundheitsdiskurse (vgl. Clarke et al. 2003), die auf Risikoerkennung und Prävention abzielen, und ist als solcher bereits im deutschen Kontext angekommen. So gibt es in Deutschland Forschungsgruppen, die epigenetische Mechanismen bei der Entstehung von Krebs, Diabetes, Depression, Herzerkrankungen oder im Alterungsprozess erforschen. [9] Der zweite erstaunliche Aspekt der epigenetischen Konzeption des Körpers ist, dass nicht nur materielle, sondern auch soziale Faktoren wie zum Beispiel soziale Erfahrungen als mögliche Ursachen epigenetischer Veränderungen erforscht werden. Wie die bekannte Verhaltensepigenetikerin Francis Champagne in einem Interview in „Science“ enthusiastisch formuliert: „What's exciting to me is that the social world, which can be perceived as being this ethereal thing that may not have a biological basis, can affect these mechanisms.“ (Miller 2010, 25). [10] Das soziale Leben wird also zunehmend als etwas betrachtet, das sich über epigenetische Mechanismen in die biologische Materie des Körpers einschreiben und eventuell sogar vererbt werden kann. Damit werden soziale Kategorien wie Stress, Fürsorge oder Trauma Teil biologischer Forschungsfragen und experimenteller Anordnungen. [11] Hier zeichnet sich nun klar ab, warum eine Beschäftigung mit der Umweltepigenetik aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive nahezu unumgänglich ist: In der epigenetischen Forschung werden zunehmend Kategorien OPEN GENDER JOURNAL (2017) | DOI 10.17169/ogj.2017.17 4 mobilisiert, die traditionell in das Hoheitsgebiet der Sozial- und Geisteswissenschaften fallen (vgl. Niewöhner 2011; vgl. Singh 2012; vgl. Pickersgill et al. 2013). Am Beispiel der Forschung zu mütterlichen epigenetischen Effekten, eines Forschungsbereiches, der die epigenetischen Auswirkungen der mütterlichen Biologie und des mütterlichen Verhaltens auf die körperlichen und psychischen Entwicklungen ihres Nachwuchses erforscht, werde ich in diesem Beitrag zeigen, dass eine Analyse der gegenwärtigen Entwicklungen in der Epigenetik ein sowohl intellektuell bereicherndes als auch gesellschaftspolitisch hoch relevantes Thema für die sozialwissenschaftliche Forschung ist. Die Biosozialität des epigenetischen Körpers verlangt nach einer Beschäftigung damit, welche Vorstellungen des Sozialen in die experimentelle Erforschung dieses Körpers miteinfließen und von dieser Forschung auch wiederum produziert werden (vgl. Lux und Richter 2014; vgl. Kral und Schmitz 2016). Am Beispiel der mütterlichen epigenetischen Effekte wird deutlich, dass obwohl der epigenetische Körper als Ort der plastischen Verschränkung von Sozialem und Biologischem gedacht wird, trotzdem oft traditionelle Kategorien sozialer Differenz wie Geschlecht und Schichtzugehörigkeit überraschend statisch und teilweise deterministisch gefasst werden (vgl. Kenney/Müller 2017; vgl. Hanson/Müller 2017; vgl. Müller in Arbeit; vgl. Richardson 2017). [12] Bevor ich den Forschungsbereich der mütterlichen epigenetischen Effekte vorstelle, einige zentrale Experimente dieses Bereiches und ihre Interpretationen darlege und eine kritisch-feministische Analyse dieser Wissensanordnungen anbiete, möchte ich einen kurzen Überblick über zentrale Zugänge zu biologischer und im Spezifischen epigenetischer Forschung aus dem Feld der (feministischen) Wissenschafts- und Technikforschung geben, auf denen meine eigenen Perspektiven aufbauen. Das Biologische ist politisch: Erkenntnisse der feministischen Wissenschaftsforschung [13] Biologische Forschung, ihre Arbeitspraxen und Erkenntnismethoden sind ein Forschungsobjekt im interdisziplinären sozialwissenschaftlichen Feld der Wissenschafts- und Technikforschung (fortan: Science & Technology Studies, STS). Mit vor allem soziologischen, anthropologischen, philosophischen und historischen Methoden wird empirisch untersucht, wie die Biologie Wissen erzeugt und welche Vorstellungen von Kategorien wie Natur, Kultur und Gesellschaft in diese Forschungsprozesse miteinfließen und auch wieder von ihnen OPEN GENDER JOURNAL (2017) | DOI 10.17169/ogj.2017.17 5 produziert werden. Im Subfeld der feministischen STS stehen vor allem Fragen danach im Vordergrund, wie biologische Forschung von Kategorien sozialer Differenz wie ‚race‘,‚class‘ und ‚gender‘ geprägt ist und wiederum zur Produktion dieser Kategorien beiträgt. Autorinnen wie Ruth Hubbard (1979), Evelyn Fox Keller (1995), Londa Schiebinger (1993), Anne Fausto-Sterling (2000), Donna Haraway (1989), Nelly Oudshoorn (2000) oder Cordelia Fine (2010) haben gezeigt, wie binäre, heteronormative Vorstellungen von Geschlecht biologische Forschung in so diversen Bereichen wie Primatologie, Anatomie, Endokrinologie oder Neurobiologie mitstrukturieren. Entlang von darwinistischen Geschlechtervorstellungen, die eine Maximierung des Reproduktionserfolges als höchstes Ziel jedes biologischen Organismus annehmen, werden weibliche Körper – tierische wie menschliche – als entscheidend von und für die Geburt und Aufzucht des Nachwuchses geformt verstanden. Weibliche Körper werden daher im biologischen Diskurs oft in erster Linie als (potentielle) mütterliche Körper gedacht. Feministische WissenschaftsforscherInnen haben an diesen verkürzten und zutiefst binären Geschlechterbildern in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich Kritik geübt. Das bedeutet aber nicht, dass es sich hierbei um eine biophobische Position handelt, das heißt eine Haltung, die sich gegenüber der Erforschung des Biologischen prinzipiell oppositionell positioniert. Im Gegenteil: Viele der feministischen WissenschaftsforscherInnen haben selbst einen fachlichen Hintergrund in der Biologie und zielen mit ihrer Kritik auf eine Verbesserung, nicht eine Auflösung biologischer Forschungspraxen ab. Wie die feministische Wissenschaftsforscherin Donna Haraway, selbst ehemalige Biologin, schreibt: „I will critically analyze, or ‚deconstruct,‘ only that which I love and only that in which I am deeply implicated.“ (Haraway 1997, 151). Ziel dieses Engagements ist eine Reflexion und Neugestaltung biologischer Wissenspraxen, denen ein Bewusstsein für die Nicht-Objektivität und soziale Gebundenheit aller Wissenspraxen, ihres inhärent politischen Charakters und der Wirkmächtigkeit alltagsweltlicher sozialer Kategorien wie etwa stereotyper Vorstellungen von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ in der wissenschaftlichen Wissensproduktion zugrunde liegt. Dieses Ansinnen wurde von Sandra Harding (1986) als Streben nach einer successor science benannt, eine Wissenschaftsform, die sich in der Reflexion ihrer eigenen gesellschaftlichen Bedingtheiten übt und mit ihren Arbeiten zum Wohlergehen aller, nicht nur der mächtigeren gesellschaftlichen Gruppen, beitragen will. OPEN GENDER JOURNAL (2017) | DOI 10.17169/ogj.2017.17 6 Epigenetische Mütter [14] Sowohl die Erkenntnisse als auch die Ziele der feministischen Wissenschaftsforschung sind überaus relevant für die Analyse von gegenwärtigen umweltepigenetischen Diskursen, insbesondere wenn es sich um jenen immer prominenteren Forschungszweig handelt, der die Effekte mütterlicher Biologie und mütterlichen Verhaltens auf die epigenetische Verfasstheit ihres Nachwuchses verstehen will. Die Forschung zu mütterlichen Effekten ist im Moment hauptsächlich auf zwei Schwerpunkte konzentriert: erstens auf die Erforschung der Auswirkungen der mütterlichen Physiologie während der Schwangerschaft auf die spätere körperliche und vor allem metabolische Gesundheit des Nachwuchses (vgl. Jirtle/Skinner 2007; vgl. Wells 2010; vgl. Loi et al. 2013); und zweitens auf die Auswirkungen mütterlicher Fürsorgepraxen (maternal care) auf die psychische Gesundheit des Nachwuchses (vgl. Meaney 2001; vgl. Champagne/Mashoodh 2009; vgl. McGowan/Szyf 2010). Die Studien, die ich in diesem Beitrag diskutieren werde, sind im zweiten Bereich angesiedelt und beschäftigen sich in Experimenten mit Ratten damit, wie sich mütterliche Fürsorgepraxen auf das Stressverhalten des Nachwuchses auswirken. Beide Forschungszweige teilen die Auffassung, dass der mütterliche Körper und mütterliches Verhalten als die erste epigenetisch wirksame Umwelt eines entstehenden Lebens gelten kann. Diese erste Umgebung wird als prägend verstanden: Hier werden bestimmte Programme aktiviert, die die Entwicklung des entstehenden Körpers entscheidend formen (maternal programming). Mütter setzen durch ihre Lebensweise und durch ihr Verhalten Signale gegenüber dem Fötus und dem jungen Kind, die von einem als epigenetisch rezeptiv verstandenen Körper aufgenommen werden und zu epigenetischen Modifikationen führen. [15] Die Wissenschaftsforscherin Sarah Richardson merkt an, dass in dieser Perspektive mütterliche Körper oft primär als „vectors of developmental or epidemiological risk“ (Richardson 2015, 227), also als Vektoren eines entwicklungsbiologischen und epidemiologischen Risikos verstanden werden. Als mangelhaft betrachtete Ernährung und ebensolcher Lebensstil sowie als inadäquat betrachtetes Verhalten führen in dieser Perspektive unweigerlich zu negativen epigenetischen und somit in weiterer Folge physiologischen Veränderungen des Nachwuchses. So wird zum Beispiel mangelnde Nährstoffversorgung oder Übergewicht bei der Mutter mit einer höheren Wahrscheinlichkeit von Stoffwechselerkrankungen im späteren Lebensverlauf des Kindes in Verbindung gebracht, und mangelnde mütterliche Fürsorge, wie wir sehen werden, mit späteren Neigungen zu Angst und Aggression. Während diese OPEN GENDER JOURNAL (2017) | DOI 10.17169/ogj.2017.17 7 Korrelationen und die daraus resultierenden Handlungsanweisungen an Schwangere nicht unbedingt neu sind, verändert eine epigenetische Perspektive doch ihre Tragweite, vor allem durch eine veränderte biologische Temporalität, die die Epigenetik mit sich bringt. Diese veränderte Temporalität hat zwei Dimensionen: Erstens ist aus einer epigenetischen Perspektive nicht nur mütterliches Verhalten während der Schwangerschaft für die körperliche Verfasstheit des Kindes relevant. Da der epigenetische Körper als kontinuierlich von seinen Umweltinteraktionen geformt verstanden wird, können auch Handlungen und Verhaltensmuster Jahre vor einer Schwangerschaft oder auch schon das Verhalten der Mutter der gegenwärtig Schwangeren vor oder während ihrer eigenen pränatalen oder frühkindlichen Entwicklung relevant dafür sein, welche Entwicklungsumgebung ein mütterlicher Körper zum Zeitpunkt einer Schwangerschaft darstellen kann (vgl. auch Waggoner 2015). Zum anderen geraten durch die Perspektive einer möglichen Vererbung von epigenetischen Markierungen auch zukünftige Generationen ins Blickfeld: Die Handlungen der Mütter im Jetzt legen nicht nur die epigenetische Verfasstheit ihrer Kinder fest, sondern könnten eventuell auch die epigenetischen Profile von Enkelkindern und weiteren zukünftigen Nachkommen beeinflussen. Hannah Landecker und Martine Lappé (2015) identifizieren diese temporalen Verschiebungen als einen Kernaspekt einer epigenetischen Reformulierung des Körpers. Nahrung wird in der epigenetischen Perspektive zu etwas, das den Körper nach seiner Einverleibung in gewisser Weise nie wieder verlässt. Die molekularen Wirkstoffe der Nahrungsmittel formen diesen mittels epigenetischer Mechanismen mit und werden damit Teil der Rahmenbedingungen für die Aufnahme und Verarbeitung von neuer Nahrung (vgl. Landecker 2011). In einer multigenerationalen Perspektive kann diese Nahrung dann nicht nur in den Körper eingeschrieben sein, der die Nahrung konsumiert hat, sondern auch in die Körper nachfolgender Generationen. Ähnliches gilt in einer epigenetischen Perspektive für soziale Erfahrung, die eingeschrieben und tradiert werden kann. Hier emergiert ein epigenetischer Prägungs- und Risikodiskurs, der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft intensiv miteinander verknüpft und Verantwortungs- und Schulddiskurse erzeugt, die quer zu diesen Zeitebenen liegen (vgl. Kenney/Müller 2017; vgl. Müller in Arbeit). OPEN GENDER JOURNAL (2017) | DOI 10.17169/ogj.2017.17 8 Von Ratten und Frauen: Epigenetische Effekte mütterlicher Fürsorge [16] Die bis jetzt relativ abstrakt formulierten Punkte sollen nun anhand der Analyse einer zentralen Experimentreihe der umweltepigenetischen Forschung illustriert werden: den Experimenten zur epigenetischen Programmierung des Nachwuchses durch mütterliches Verhalten der Forschungsgruppen um Moshe Szyf und Michael Meaney an der McGill Universität in Montreal, Kanada (vgl. Weaver et al. 2004; vgl. McGowan/Szyf 2010). Diese Experimente werden heute als paradigmatischer proof of concept dafür verstanden, dass die epigenetische Forschung die biologischen Einflüsse von sozialer Erfahrung identifizieren und analysieren kann. [17] Um was geht es in diesen Experimenten? Anfang der 2000er Jahre begann die Gruppe um Szyf und Meaney zu untersuchen, wie sich die Häufigkeit einer Reihe von Aktivitäten von Rattenmüttern, die die Gruppe als Akte mütterlicher Fürsorge bei Ratten beschreiben, auf das epigenetische Profil ihrer Nachkommen auswirken. Konkret geht es um die Frage, ob es einen epigenetischen Einfluss hat, wie oft eine Rattenmutter ihre Nachkommen ableckt, putzt und mit durchgedrücktem Rücken säugt (licking, grooming and archedback nursing). In den Experimenten der Gruppe stellte sich heraus, dass die Häufigkeit, mit der Rattenmütter diese Aktivitäten durchführen, die Anzahl eines Stresshormonrezeptors, konkret des Glucocorticoidrezeptors, im Hippocampus des Nachwuchses verändert. Eine geringe Anzahl dieses Rezeptors führt im Versuch zu einer verlängerten Stressantwort und allgemein zu ängstlicherem und aggressiverem Verhalten. Ratten, die weniger oft abgeleckt, geputzt und mit durchgedrücktem Rücken gesäugt wurden, haben eine geringere Anzahl an Glucocorticoidrezeptoren, da das Gen für den Rezeptor ein verändertes epigenetisches Profil aufweist (Hypermethylierung). Ihr Verhalten wird als ängstlicher und aggressiver als das jener Ratten beschrieben, die öfter abgeleckt, geputzt und mit durchgedrücktem Rücken gesäugt wurden. Diese Unterschiede im epigenetischen Status, in der Rezeptoranzahl und auch im Verhalten werden als stabil und anhaltend über den Lebenslauf der Ratte hinweg beschrieben. [18] In diesen Experimenten wird das Verhalten von Rattenmüttern zu einem zentralen Einflussfaktor für die psychische Verfasstheit und das soziale Verhalten ihrer Nachkommen. Vermittelt wird dieses Verhalten des Nachwuchses durch epigenetische Mechanismen und Signalkaskaden, die im Körper die Anzahl der Berührungen in einen höheren oder geringeren Methylierungsstatus eines Gens umsetzen. In wissenschaftlichen Artikeln, die diese Experimente OPEN GENDER JOURNAL (2017) | DOI 10.17169/ogj.2017.17 9 beschreiben, und verstärkt auch in populärwissenschaftlichen Medien werden diese Ergebnisse als relevant für menschliche mütterliche Fürsorgepraxen beschrieben. Im Rekurs auf psychologische Studien zur Wichtigkeit mütterlicher Fürsorge für die physische und psychische Entwicklung des Kindes (vgl. z. B. Cameron et al. 2008) oder in Anspielung auf die zutiefst prägende Rolle der Mutter, die schon die Psychoanalyse attestiert hatte (in populärwissenschaftlichen Artikeln wie zum Beispiel Hurley 2013), beschreiben beide Genres diese epigenetischen Experimente als biologischen ‚Beweis‘ für die zentrale Rolle der mütterlichen Fürsorge für die Entwicklung des Nachwuchses. „Cuddle your Kid!“ war in diesem Sinne der instruktive Titel eines OpinionEditorials der „New York Times“ (vgl. Kristof 2012), das die Resultate dieser Experimente diskutierte und sehr direkt auf menschliche Lebenswelten umlegte. Epigenetische Modifikation als Umweltadaption [19] Nachdem die McGill-Gruppe diesen Zusammenhang zwischen mütterlichem Verhalten, epigenetischer Modifikation, verringerter Expression des Glucocorticoidrezeptors und schlussendlich einer bestimmten Verhaltensvariante hergestellt hatte, war die nächste Frage, die sich die Gruppe stellte, was der Sinn dieser Variation als Antwort auf eine bestimmte soziale Erfahrung sein könnte. Die Frage nach dem Warum, nach der Sinnhaftigkeit eines bestimmten beobachteten Zusammenhangs ist in der biologischen Forschung eine wichtige, da Antworten auf diese Frage zur Einbettung eines bestimmten Wissensbestandes in ein grundsätzlicheres Verständnis von Biologie und von Leben an sich dienen. Fragen der Einbettung und ihre Antworten verweisen in diesem Sinn häufig auf die übergeordneten biologischen Theorien und Sichtweisen, die einem bestimmten Forschungsfeld zugrunde liegen. In der epigenetischen Forschung zu mütterlichen Effekten wird deutlich, dass den Experimenten und ihren Interpretationen in erster Linie darwinistische und neodarwinistische Perspektiven auf biologische Vorgänge zugrunde liegen, die Begriffe wie Evolution, Reproduktionserfolg und Adaption zentral stellen. Die darwinistisch-evolutionsbiologische Vorstellung, dass alles Leben nach einer Maximierung des eigenen Reproduktionserfolgs strebt und sich jene biologischen Veränderungen durchsetzen und vererben, die zu einer solchen Optimierung beitragen, ist ein zentrales Dogma der modernen Biologie (vgl. Roughgarden 2004; vgl. Roughgarden 2009). Die veränderte Stressantwort, die in den Rattenexperimenten beobachtet wurde, wurde in diesem Sinne als OPEN GENDER JOURNAL (2017) | DOI 10.17169/ogj.2017.17 10 eine potentiell adaptive Veränderung betrachtet und erforscht. Im ersten Experiment, das ich in der letzten Sektion beschrieben habe, hatten die ForscherInnen der McGill Universität ,natürliche Varianten‘ des mütterlichen Verhaltens untersucht; das heißt sie hatten beobachtet, welche Mütter ihre Jungen mehr und weniger oft ablecken, putzen und mit durchgedrücktem Rücken säugen, und trennten anschließend den Nachwuchs in zwei Gruppen (lowLGABN und high-LGABN [= licking, grooming and arched-back nursing]) und analysierten diese im Hinblick auf biologische Differenz. Im nächsten Experiment, das Fragen des biologischen Sinns der beobachteten Verhaltensveränderungen adressieren sollte, verfolgten sie die Hypothese, dass das unterschiedliche Verhalten der Mütter durch deren eigene unterschiedliche Umwelterfahrungen ausgelöst sein könnte. Sie untersuchten, ob Stresserfahrungen während der Schwangerschaft dazu beitragen könnten, dass Rattenmütter ihre Jungen weniger ablecken, putzen und mit durchgedrücktem Rücken säugen. Sie stressten also schwangere Ratten experimentell, indem sie sie während der letzten sieben Tage der Schwangerschaft dreimal täglich für 30 Minuten in unregelmäßigen Intervallen in eine enge Röhre aus Plexiglas (plexiglass restrainer) sperrten, die sie beinahe völlig immoblisierte. Im Vergleich zur Kontrollgruppe, mit der keine Stressexperimente durchgeführt wurden, sank in dieser Gruppe dann die Häufigkeit, mit der diese Rattenmütter nach der Geburt ihre Jungen ableckten, putzten und mit durchgedrücktem Rücken säugten. Für die McGill Gruppe war dieses Experiment indikativ dafür, dass das Verhalten der Mutter gegenüber ihren Jungen von ihren eigenen Umwelterfahrungen abhängig ist. Die Idee entstand, dass sie durch die Veränderungen ihres Verhaltens gewisse Informationen über ihre Umwelt an ihre Jungen weitergibt und so Anpassungen an diese Umwelt in ihren Jungen induziert. Weaver und KollegInnen nennen dies „a forecast of the environmental conditions“ (Zhang et al. 2004, 89), also eine Vorschau auf zukünftige Umweltbedingungen durch das mütterliche Verhalten, das dann wiederum adaptive Reaktionen in den Jungen auslöst. [20] Warum sollte nun die beobachtete Reaktion – epigenetische Modifkation, geringe Anzahl an Glucocorticoidrezeptoren im Hippocampus, ängstlicheres und aggressiveres Verhalten im Vergleich zur Kontrollgruppe – eine adaptive Reaktion, also eine Anpassungsreaktion sein? Hier liefern die ForscherInnen der McGill Gruppe folgende Interpretation: Die Rattenmutter erlebt ihre Umwelt selbst als stressreich (z.B. durch die Immobilisierungsexperimente in der Plexiglasröhre). In ihrem Verhalten vermittelt sie diese Umwelterfahrung an ihre Jungen, indem sie ihnen weniger mütterliche Fürsorge bietet. Dies be- OPEN GENDER JOURNAL (2017) | DOI 10.17169/ogj.2017.17 11 reitet die Jungen darauf vor, ebenfalls in einer stressreichen Umwelt aufzuwachsen. Die ForscherInnen der McGill Gruppe schlagen vor, dass für eine solche Umwelt eine tendenziell intensivere Stressantwort mit ängstlicherem und aggressiverem Verhalten von Vorteil ist. Die weniger umsorgten Ratten wären sozusagen mehr auf der Hut, ein Verhalten, das ihre Überlebenschancen in einer feindlicher gesinnten Umwelt erhöhen würde. Diese Adaption wird allerdings als stabil und nicht mehr durch Umweltfaktoren veränderbar verstanden: Die Ratte, die durch das mütterliche Verhalten an eine zukünftig stressreiche Umwelt angepasst wurde, bliebe auch ängstlicher und aggressiver in einer ruhigen und stressarmen Umwelt. [21] Hier wird aus einem plastisch verstandenen Wechselspiel zwischen Umwelt und Körper eine Festlegung des Körpers auf und durch eine bestimmte Umwelt (vgl. Kenney/Müller 2017). Weder wissenschaftliche Publikationen in diesem Bereich noch populärwissenschaftliche Artikel zu diesem Thema sind sparsam damit, diese Ergebnisse explizit als relevant für Menschen in einer sozial stratifizierten Gesellschaft zu interpretieren. So zitieren epigenetische Artikel gern psychologische Studien, die einen Zusammenhang zwischen Armut, Vernachlässigung in der Kindheit, dem individuellen Risiko für psychische Erkrankungen und der Anfälligkeit für kriminelles Verhalten beschreiben (vgl. Meaney 2001; vgl. Champagne/Meaney 2006). Auch der oben zitierte populärwissenschaftliche Artikel „Cuddle your Kid!“ (vgl. Kristof 2012) aus der „New York Times“ verknüpft die epigenetischen Experimente an Ratten explizit mit Fragen von sozialer Stratifikation und sozialer Mobilität: [22] „This may illuminate one way that poverty replicates itself from generation to generation. Children in poor households grow up under constant stress, disproportionately raised by young, single mothers also under tremendous stress, and the result may be brain architecture that makes it harder for the children to thrive at school or succeed in the work force.“ (Kristof 2012). [23] Dieses Zitat macht deutlich, dass sich hier eine Diskursformation herausbildet, die auf eine Biologisierung sozialer Differenz, im Spezifischen von sozioökonomischem Status via epigenetischem Mechanismus hinausläuft. Armut wird als ein Phänomen interpretiert, das vernachlässigende Elternschaftspraxen nach sich zieht. Diese würden wiederum zu epigenetischen und schlussendlich physischen und psychischen Modifikationen führen, die zwar die Kinder auf die als harsch interpretierte Umgebung einkommensschwacher Nachbarschaften vorbereiten, ihnen aber gleichzeitig soziale Mobilität oder gar einen Klassenaufstieg erschweren. Ihre Biologie ist einfach nicht für eine solche andere Umgebung gemacht. Hier bildet sich eine Form von Determinismus heraus, den ich als Umweltdeterminismus (environmental determi- OPEN GENDER JOURNAL (2017) | DOI 10.17169/ogj.2017.17 12 nism) bezeichne (vgl. Kenney/Müller 2017; ausführlicher: vgl. Müller in Arbeit). Dieser Determinismus bildet sich vor allem im Wechselspiel und in der zunehmenden gegenseitigen Bezugnahme zwischen epigenetischer Grundlagenforschung an Ratten und Mäusen und epidemiologischen und psychologischen Studien heraus, die sich mit in der Gesellschaft benachteiligten Gruppen beschäftigen. Jörg Niewöhner spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Molekularisierung von Biographie und Milieu (vgl. Niewöhner 2011). Lebensumstände werden als molekular im Körper vermerkt und tradierbar betrachtet. Klassenstratifizierung geht damit nicht nur unter die Haut, sondern kommt in der Biologie des Zellkerns an. Dies wird besonders deutlich, wenn etwa der Epidemiologe Jonathan C. K. Wells mit Bezugnahme auf epigenetische Experimente zu den Effekten mütterlicher Ernährung davon spricht, dass einkommensschwache Schichten in einem metabolischen Ghetto (vgl. Wells 2010) leben würden, in dem Lebensumstände und Lebensgewohnheiten physische, psychische und kognitive Benachteiligungen tradieren und biologisch verfestigen würden. Epigenetik und Klassengesellschaft: Ermächtigung oder Diskriminierung? [24] Viele der EpigenetikerInnen und der ForscherInnen in epidemiologischen Feldern, die sich auf Epigenetik beziehen, weisen auf diese Zusammenhänge hin, weil sie die tiefgreifenden Gesundheitsfolgen einer verteilungsungerechten Gesellschaft aufzeigen wollen. In ihrer Vorstellung soll diese biologische Evidenz, dieser epigenetische Beweis dafür, wie biologisch konsequenzenreich gesellschaftliche Benachteiligung ist, dazu führen, dass eine Verbesserung der Lebensumstände für schlechtergestellte Gesellschaftsschichten priorisiert wird (vgl. McGowan/Szyf 2010; vgl. Loi et al. 2013). Historisch gesehen hat aber die Zuschreibung von biologischer Differenz an ohnehin schon gesellschaftlich benachteiligte Gruppen selten zur Verbesserung ihrer Lebensumstände geführt (vgl. Rose 2009; vgl. Meloni 2015). [25] Mütter werden in diesem Kontext Mediatorinnen dieser biosozialen Differenz, die ihre Kinder durch ihre eigene Biologie und ihr Verhalten in eine bestimmte soziale Gruppe einschreiben. Sie werden damit Ziel von Interventionen und Fokuspunkt von verstärkt biologisierten Verantwortungs- und Schulddiskursen. So fährt der Artikel aus der „New York Times“ (vgl. Kristof 2012), der uns durch diesen Beitrag begleitet hat, nach der Diskussion der epigenetischen Studien an Ratten fort, die Wichtigkeit von Interventionspro- OPEN GENDER JOURNAL (2017) | DOI 10.17169/ogj.2017.17 13 grammen zu beschreiben, die Mütter darüber aufklären, wie sich ihr Verhalten auf die Biologie ihrer Kinder auswirkt und was adäquates mütterliches Verhalten sei. Hier zeigt sich deutlich, wie ein strukturelles Problem (ungleiche Verteilung von Ressourcen in der Gesellschaft) zu einem individuellen Problem gemacht wird (das adäquate oder inadäquate Verhalten der Mutter). Das Problem erscheint als eines, das nur durch Interventionen der privilegierten Gruppen in der Gesellschaft lösbar ist, die aber wiederum nicht auf Veränderungen der Produktionsbedingungen der Ungleichheit abzielen, sondern das Verhalten von benachteiligten Frauen regulieren. Benachteiligte Bevölkerungsgruppen erscheinen als aktive Produzenten ihres eigenen Unglücks, während ihnen aber gleichzeitig die Handlungsmacht abgesprochen wird, ihre Umstände aus eigener Kraft zu verändern. Sozialwissenschaftliche Interventionen: Biosoziale Komplexität einfordern [26] Eine sozialwissenschaftliche Analyse dieses emergierenden Diskurses, sowie gezielte Interventionen, sind aus meiner Perspektive unerlässlich. Es gilt aufzuzeigen, wie sich in der epigenetischen Forschung und vor allem ihrer Einbindung in bevölkerungsmedizinische Diskurse (public health discourses) historisch höchst problematische Konzepte von biosozialer Differenz und Hierarchie widerspiegeln. Die gesellschaftlich benachteiligte Mutter wird zum wiederholten Male zum Ziel von Regulierungsmaßnahmen, die gleichzeitig keine Kritik an herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen liefern. [27] Gleichzeitig liegt aber in der umweltepigenetischen Forschung auch das Potential, besser zu verstehen, welche tiefgreifenden gesundheitlichen Auswirkungen unsere stratifizierten Gesellschaften haben. Diese Frage wird drängender, wenn man betrachtet, dass gegenwärtig in vielen europäischen Ländern die Lebenserwartung bei einkommensschwachen Schichten zurückgeht, während sie bei einkommensstarken Schichten weiter steigt. Der wealth gap korrespondiert mit einem signifikanten health gap (vgl. Marmot 2015; vgl. Müller und Samaras im Erscheinen). Es gilt auszuloten, ob und wie gesundheitliche Belastungen und Benachteiligungen durch stratifizierte gesellschaftliche Lebensumstände in der biologischen und biomedizinischen Forschung thematisiert werden könnten, ohne schließlich wiederum zur klassisierten Einschreibung von Differenz und Devianz und vergeschlechtlichten Verantwortungsdiskursen zu führen. Hierzu ist ein interdisziplinärer Dialog zwischen den Sozialwissenschaften und der Epigenetik unerlässlich, der einer komple- OPEN GENDER JOURNAL (2017) | DOI 10.17169/ogj.2017.17 14 xer werdenden Vorstellung von Biologie einen komplexen Begriff von Sozialität und Gesellschaft entgegensetzt und im biologischen Diskurs plaziert und einfordert. Endnoten 1 Ruth Müller ist Assistant Professor of Science & Technology Policy am Munich Center for Technology in Society (MCTS) und dem Wissenschaftszentrum Weihenstephan für Ernährung, Landnutzung und Umwelt (WZW) der Technische Universität München. 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