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376 Beide Herausgeber weisen auf die Grenzen ihrer Arbeitsfähigkeit hin: Sie konnten nicht einzelnen Archivalien nachgehen; sie haben mit umso mehr Menschen gesprochen und viele für die Mitarbeit gewonnen. Stegemann beschreibt die slawische und deutsche Besiedlung ebenso wie die Fürstenberger Grafschaft im Mittelalter. Dazu treten Darstellungen von lokaler Agrar-, Handwerks- und Industriegeschichte. Prägende Persönlichkeiten werden gewürdigt, darunter der Rektor Wille Schulz (1881-1952), der für viele Lebende noch ein Zeitgenosse war. In diesem Band werden die Namen der jüdischen Fürstenberger aufbewahrt und z. B. auch die der »allhier wohnenden Ausländer zu Ravensbrück« (1774). Namenslisten in anderen Sachzusammenhängen folgen. Die Flurnamen werden festgehalten und insgesamt materielle und ideelle Geschichte, die zusammen die Würde und Bürde einer Stadt ausmachen. Im zweiten Band kulminiert die Zusammenarbeit der beiden Herausgeber. Am Schluß zählen sie dankbar auf einer ganzen Seite die Mitwirkenden auf, ohne die eine solche Arbeit nicht zu denken wäre. Aus den Schätzen des »Fürstenberger Anzeigers«, mündlicher und schriftlicher Erinnerungen entfaltet sich die Stadt vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik (mit einer deutschen Familie aus Usbekistan – auf S. 529 ein berührendes Gedicht aus der Familie), mit starken Beiträgen zu 1933/45 und einer selten so konsequent verfolgten Partizipation am Schicksal Ravensbrücks, an den Wegen seiner Täter und Opfer nach 1933 und nach 1945, seiner Weiternutzung durch die Rote Armee. Feinarbeit wurde vollbracht, um die Erinnerungen an Begegnungen mit den sowjetischen Soldaten (präsent in sechsfacher Überzahl zur Bevölkerung) zu bewahren, schlimme, normale, alltägliche, bewegende. Der kleine Aufsatz »Ein Fürstenberger Kommunist erzählt«: nichts Weltbewegendes, vieles sehr bekannt, aber er hat in der Stadt gelebt und ist in ihr gegenwärtig, findet seinen Platz, muss ihn ja finden in einer historischen Darstellung, die – wie hier – diesen Namen verdient. Stegemann erzählt seine anderen Erfahrungen mit der DDR nebst ihren Sicherheitsorganen – und vermag als Herausgeber auch diesen Beitrag auszuhalten. Spannend die jeweiligen Berichte zu den Zeiten des Machtvakuums nach den einzelnen Sys- Bücher . Zeitschriften temabbrüchen und das Ringen um die Ravensbrücker Gedenkstätte, um ihren Platz in der Bevölkerung, in der Stadt und einer transparenten Geschichte. Persönlich hat mich die Spurensicherung auf dem Weg des Olof-Palme-Friedensmarsches von Ravensbrück nach Sachsenhausen (1987) berührt: Die Teilnahme daran bedeutete für unseren damals dreizehnjährigen Sohn eine politische Initialzündung, und in diesem Band werden über einen solchen subjektiven Eindruck hinaus die historischen und politischen Bedingungen eines außerordentlichen Vorgangs objektiviert und für die Nachwelt fixiert. Diese »Heimatkunde« steht in weitgreifenden historischen Zusammenhängen und besteht sie. Ein Glücksfall! JENS LANGER Riccardo Bavaj: Von links gegen Weimar. Linkes antiparlamentarisches Denken in der Weimarer Republik, J. H. W. Dietz Nachf. Bonn 2005, 535 S. (38 €) Vor über 40 Jahren veröffentlichte Kurt Sontheimer seine »Studie über antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik«. Der kürzlich verstorbene Politologe setzte sich seinerzeit hauptsächlich mit den politischen Ideen der nationalistischen Rechten auseinander, die seines Erachtens maßgeblich zum unrühmlichen Ende der ersten deutschen Republik beigetragen hatten. An diesem Werk knüpft nun Riccardo Bavaj mit seiner Dissertationsschrift an. Er gibt zu bedenken, dass auch die radikale Linke einen Anteil am Untergang der ersten deutschen Demokratie gehabt habe. Deren Ideenwelt möchte er nun in seiner Gesamtdarstellung ergründen. Denn bis heute sei »eine übergreifende, um historiographische Objektivität bemühte Darstellung des linksextremen Denkens während der Weimarer Republik ein zentrales Desiderat der Geschichtswissenschaft« (S. 16). In knapp dreißig Kurzkapiteln stellt Bavaj die unterschiedlichsten Organisationen und Vordenker der Weimarer Linken vor und versucht, Bücher . Zeitschriften so die Forschungslücke zu schließen. Hierbei beschränkt er sich nicht nur auf die parteipolitische Ebene, sondern legt ebenso einen Schwerpunkt auf das Wirken und Denken linker Intellektueller. Dementsprechend betrachtet er nicht nur KPD, USPD oder Leninbund, sondern auch die Berliner Dada-Gruppe, die Münchener Bohème oder Franz Pfemferts Zeitschrift »Die Aktion«. Die politische Spanne der Untersuchten reicht von den Bremer Linksradikalen bis zu oppositionellen Sozialdemokraten oder – um es an Personen festzumachen – vom Linkskommunisten Karl Korsch bis zum parteilosen Intellektuellen Carl von Ossietzky. Was diese einzelnen Gruppen und Personen laut Bavaj einte, war ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Weimarer System. Anders als für Sontheimer liegt für ihn das Problem der mangelnden Anerkennung der Republik weniger im »antidemokratischen« als im stark ausgeprägten »antiparlamentarischen« Denken der Rechten und Linken. So gesteht er zwar ein, dass gerade die Linke durchaus über unterschiedliche demokratische Gesellschaftsentwürfe verfügt habe, diese aber nicht mit der parlamentarischen Demokratie vereinbar gewesen seien. Die antiparlamentarische Haltung sei bei den meisten vorgestellten Organisationen und Intellektuellen schon von Anbeginn der Republik vorhanden gewesen. Bei einigen hätte sie sich erst im Laufe der Zeit entwickelt: »Nicht wenige Anhänger der sozialistischen Strömung überschritten 1926/27, bislang von der Forschung kaum wahrgenommen, jene Schwelle, die eine punktuelle Kritik am parlamentarischen ›System‹ Weimars von prinzipiellem Antiparlamentarismus schied« (S. 489). Dies gelte insbesondere für Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky. In akribischer Kleinarbeit untersucht Bavaj auf knapp 500 Seiten die Publikationen und Reden der verschiedenen Linken. Anhand unzähliger Zitate zeigt er deren ablehnende Haltung gegenüber der Republik auf und kommt zu dem Schluß: »Letztlich [...] sollte kaum einer vom linken antiparlamentarischen Denken zur Weimarer Zeit so profitieren wie sein schärfster Gegner: Adolf Hitler. Es scheint äußerst zweifelhaft, ja unwahrscheinlich, dass Hitler auch ohne die nicht intendierte Schützenhilfe der extremen Linken an die Macht gelangt wäre« (S. 497). 377 An diesem Fazit wird die Problematik des gesamten Buches deutlich. Bavaj ignoriert konsequent die Wechselwirkung zwischen Ideen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Ohne Frage enthält seine These einen wahren Kern. Tatsächlich besteht ein Zusammenhang zwischen dem Ende von Weimar und der radikalen Linken. Ohne deren Erstarken infolge der Wirtschaftskrise und ohne die Angst der Eliten vor einem Bürgerkrieg wäre Hitler wahrscheinlich nie Kanzler geworden. Auch die Tatsache, dass die Linke sich vor allem untereinander bekämpft hat – allen voran die KPD mit ihren Angriffen gegen die »Sozialfaschisten« der SPD –, trug zur Stärkung der Nationalsozialisten bei. Aber all diese Fakten ignoriert Bavaj. Statt dessen geht er von einem abstrakten linken Antiparlamentarismus aus, der die Republik in den Untergang getrieben hätte. Zweifellos konnten sich die antiparlamentarischen Ideen der Linken in der Weimarer Gesellschaft verankern. Aber der Frage, warum dies der Fall war, geht Bavaj nicht nach. Symptomatisch hierfür ist, dass er dem Maß des gesellschaftlichen Einflusses der verschiedenen Linken kaum Beachtung schenkt. So widmet er beispielsweise der syndikalistischen Freien Arbeiter-Union (FAU) ein ganzes Kapitel, obwohl er selbst anmerkt, dass sie innerhalb der »politischen Kultur der ersten deutschen Demokratie [...] nicht viel mehr als eine sektiererische ›Meinungsinsel‹ bildete« (S. 181). Gleichzeitig sucht man in Bavajs Werk vergeblich nach Bertolt Brecht als einem der prominentesten linken Parlamentarismuskritiker. Hinzu kommt, dass Bavaj die Weimarer Demokratie als positives Gegenbild zu den Vorstellungen der Linken darstellt, ohne jedoch die Vorund Nachteile der parlamentarischen Demokratie darzustellen. Die Grundlage für Bavajs Überlegungen ist die Totalitarismustheorie. Hierbei tut er so, als sei diese These historisches Allgemeingut und als hätte nicht in den vergangen Jahrzehnten eine heftige Kontroverse hierüber stattgefunden. Eine Auseinandersetzung mit den wichtigsten Totalitarismustheoretikern fehlt völlig. Den Totalitarismusbegriff dennoch als Analyserahmen zu verwenden, ist wissenschaftlich nicht haltbar. Auch wenn er auf einen reichen Fundus von Quellen und Sekundärliteratur zurückgreift, läßt Bavaj mehr als einmal Forschungskontroversen unbeachtet. So geht er beispielsweise in 378 dem Kapitel über die KPD unzureichend auf die »Stalinisierungs«-Debatte ein. Um die Entwicklung der Positionen der Kommunisten angemessen darzustellen, wäre dies allerdings notwendig gewesen. Es ist ein Unterschied, ob man davon ausgeht, dass die KPD von ihren Ursprüngen her »totalitär« gewesen sei (KlausMichael Mallmann) oder ob sie erst einen Prozess der Stalinisierung durchlaufen musste (Hermann Weber). Abschließend ist anzumerken, dass etwas kürzere Sätze und weniger Fremdwörter der Lesbarkeit des Buches sicher gut getan hätten. Dasselbe gilt für die Häufung wörtlicher Zitate. Aber auch das hätte nicht verhindern können, dass Riccardo Bavaj von seinem Ziel, zu klären, wie »Hitler an die Macht gelangen konnte, warum die Weimarer Republik nicht zu überleben vermochte« (S. 16) leider weit entfernt geblieben ist. MARCEL BOIS Stuart Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, hrsgg. von Juha Koivisto und Andreas Merkens, Argument Verlag, Hamburg 2004, 236 S. (16,90 €) Den Herausgebern zufolge steht Stuart Hall als einer der wichtigsten Begründer von »Cultural Studies« für »eine produktive Unruhe im Denken, die sich immer wieder neuen theoretischen und politischen Fragen stellt, die Grenzen überschreitet und dabei am Anspruch festhält, das unlösbare Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis aufrechtzuerhalten«. Diese kaum versteckte Laudatio direkt zu Beginn wirkt auf die Leserinnen und Leser wie ein Versprechen, das die nachfolgenden Texte des Bandes durchgehend einlösen können. Es finden sich in dieser vierten Ausgabe der »ausgewählten Schriften« Aufsätze aus den späten neunziger Jahren ebenso wie Texte, die schon über zwanzig Jahre alt sind. Interessanterweise sind es aber insbesondere die Texte älteren Datums, welche für theorieinteressierte Leserinnen und Leser mit dem größten Gewinn zu lesen sind. Bücher . Zeitschriften In dem Aufsatz »Ideologie und Ökonomie. Marxismus ohne Gewähr« (der mittlerweile zu einem Klassiker der Ideologietheorie schlechthin geworden ist, so dass ein Stuart Hall zu Ehren herausgegebener Sammelband im Titel auf diesen Text anspielt) diskutiert der Autor auf einer postmarxistischen Grundlage Probleme und Herausforderungen einer materialistischen Ideologietheorie. Der Autor opponiert hier klar gegen ökonomistische und reduktionistische Theoriemodelle auf der einen und gegen eine völlige Entsorgung des Ideologie-Begriffs durch einige poststrukturalistische Strömungen auf der anderen Seite. Insbesondere für die problematischen Marxschen Vorstellungen der »Falschheit« und »Verzerrtheit« von Bewusstseinsformen wird um eine Neukonzeption gerungen, wobei Hall an Entwürfe des italienischen KP-Gründers Antonio Gramsci und des französischen Strukturalisten Louis Althusser anknüpft. Letzterem wiederum gilt ein Großteil des nachfolgenden Aufsatzes. Hall versucht sich am schwierigen Spagat, fruchtbare Aspekte aus den Schriften des marxistischen Strukturalismus aufzugreifen, ohne allerdings die deterministischen Züge (vor allem aus »Das Kapital lesen«) einfließen zu lassen. Trotz aller notwendigen Kritik betrachtet Hall Althusser als theoretische »Schlüsselfigur« für das Verständnis von Totalität und Strukturzusammenhang; unter anderem dessen Einsichten in die Zusammenhänge von Einheit und Differenz, aber auch die Vorstellung von Ideologie als einer sozialen Praxis werden hier diskutiert. Die Relevanz von ideologischen Kämpfen veranschaulicht Hall durch die (autobiographisch untermauerte) Auseinandersetzung um die diversen Konnotationen für das Wort »schwarz«. Stuart Halls Bemühungen, die Marxschen Kategorien einerseits einer kritischen Überprüfung zu unterziehen, sie aber andererseits zu Gunsten der Erforschungen kultureller Fragestellungen nutzbar zu machen, wird an dem ebenfalls stärker bekannt gewordenen »Kodieren/Dekodieren«-Modell deutlich. Der erstmals 1977 erschienene Aufsatz bedient sich explizit des Ansatzes, den Karl Marx in seinen »Grundrissen zur Kritik der Politischen Ökonomie« entwickelt hatte, um ein kritisches Modell zur Wirkung von televisuellen Nachrichten als einem »sinntragenden Diskurs« zu entwerfen. Bis heute von Aktualität dürfte auch Halls