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FORUM FEDERALE Ein Ende nach 469 Jahren? Die Abmarkungspflicht in Thüringen FRANK REICHERT | COTTBUS I mmer wieder wird die Frage nach dem Zweck und Nutzen einer Abmarkungspflicht gestellt. Ein in dieser Diskussion vielfach bemühtes Argument ist, dass Grundstücksgrenzen infolge der technischen Entwicklung heute auch ohne sichtbare Kennzeichnung jederzeit zuverlässig bestimmt werden können. Solchen Einwänden ist jedoch entgegenzuhalten, dass eine möglichst dauerhafte Abmarkung dem Eigentümer jeweils zuverlässig anzeigt, wie weit sich sein Recht an Grund und Boden erstreckt. Sichtbare Grenzzeichen tragen wesentlich zur störungsfreien Besitzausübung und damit zur Sicherung des Grenzfriedens bei. Die Kennzeichnung der Grenzen in einem gesetzlich geregelten Verfahren liegt somit nicht nur im Interesse des Eigentümers, sondern dient dem Rechtsfrieden und damit den Interessen der Allgemeinheit. Wie in anderen Bundesländern auch, sind deshalb in Thüringen die Grundeigentümer verpflichtet, bei einer Vermessung ihrer Grundstücke die Grenzen dauerhaft kenntlich machen zu lassen. Im Thüringer Gesetz über die Abmarkung der Grundstücke vom 7. August 1991 ist das Verfahren öffentlich-rechtlich normiert. Gemäß § 5 entsteht die gesetzliche Pflicht zur Abmarkung immer dann, wenn Grundstücksgrenzen nicht ausreichend durch Grenzzeichen abgemarkt sind sowie ein entsprechender Anlass gegeben ist. Diesen Anlass sieht das Gesetz 437 3 regelmäßig gegeben, wenn Grenzen auf Antrag ermittelt oder festgestellt werden bzw. durch Neubildung von Grundstücken entstehen. Mit dieser Regelung der Abmarkungspflicht knüpft das Gesetz inhaltlich an die ursprüngliche Rechtslage des 1920 gebildeten Landes Thüringen an, in dessen Abmarkungsordnung vom 1. September 1930 es in § 2 schon hieß: »Abmarkung muß stattfinden, wenn bisherige Grenzen, die bestehen bleiben, fest- FORUM FEDERALE gestellt werden oder neue Grenzen entstehen, also besonders bei Neumessungen, bei Grundstückszusammenlegungen und bei Einzelmessungen, die eine Formveränderung an einem Grundstücke zum Ziele haben, sowie bei Messungen, die lediglich auf die Feststellung von Grenzen abzielen. Außerdem müssen alle in einer vollstreckbaren gerichtlichen Entscheidung oder einem sonstigen vollstreckbaren Titel ermittelten, festgesetzten oder vereinbarten Grenzen im Wege der Abmarkung vermarkt werden.« Mit dem Erlass dieser Abmarkungsordnung, die mit Gesetz vom 14. Februar 1931 förmlich in den Rang eines Gesetzes erhoben wurde, war Thüringen den Empfehlungen des Beirats für Vermessungswesen von 1923 gefolgt, eine entsprechende Verpflichtung landesrechtlich zu verordnen. Ein reichliches Dreivierteljahrhundert später ist nun im Gegensatz zur damaligen Situation ein Trend zur Lockerung der Abmarkungspflicht zu beobachten. In einigen Bundesländern ist der Gesetzgeber sogar dazu übergegangen, auf eine Abmarkung von Grundstücksgrenzen gänzlich zu verzichten. Es gibt aber auch Länder, die in ihren kürzlich erfolgten Novellierungen der Vermessungsgesetze an der generellen Abmarkungspflicht festhalten. So ist im Sächsischen Vermessungs- und Geobasisinformationsgesetz vom 29. Januar 2008 die Abmarkung weiterhin verpflichtend verankert und auch im Saarland wurde mit der Änderung des Vermessungsund Katastergesetzes vom 21. November 2007 die Abmarkung als Regelfall beibehalten. Im Freistaat Thüringen hingegen plant man nach dem Vorbild des Nachbarlandes Hessen, die Abmarkung vollständig in das Ermessen der Antragsteller zu geben. Der Gesetzentwurf der Landesregierung für das Thüringer Vermessungs- und Geoinformationsgesetz vom 25. Juni 2008 (Drucksache 4/4248) sieht zu den Grundsätzen der Abmarkung in § 14 lediglich noch eine Legaldefinition vor: »Grenzpunkte werden auf Antrag dauerhaft durch Grenzmarken abgemarkt (Abmarkung).« Die zugehörige Begründung führt aus, dass es in Zukunft dem mündigen Bürger überlassen bleiben könne, aus freien Stücken zusätzlich zur Grenzfeststellung oder Grenzwiederherstellung auch die Abmarkung der Grenzpunkte zu beantragen, um beispielsweise den nachbarlichen Grenzfrieden zu sichern. Wenn dieser Entwurf wie vorgesehen umgesetzt wird, würde dies das Ende einer jahrhundertealten Rechtstradition bedeuten. Und das ausgerechnet in jenem Land, das die längste Tradition der öffentlich-rechtlichen Abmarkungspflicht im deutschsprachigen Raum vorweisen kann. Die nach derzeitigem Wissensstand älteste gesetzliche Verpflichtung zur Abmarkung von Grundstücksgrenzen findet sich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in der südthüringischfränkischen Grafschaft Henneberg, die ein großes Gebiet im Westen des Thüringer Waldes sowie den größten Teil der thüringischen Rhön umfasste. Im Zuge der allgemeinen Intensivierung der landesfürstlichen Gesetzgebung im 16. Jahrhundert war hier am 1. Januar 1539 eine eigene Landesordnung offiziell eingeführt worden. Im Ein- 438 3 FORUM FEDERALE und Staatsrecht sowie das damalige Gebiet der so genannten »guten Policey«. Dabei dominieren diejenigen rechtlichen Sachverhalte, die nach den zeitgenössischen Anschauungen das öffentliche Interesse berührten oder eine behördliche Mitwirkung erforderten. Das dritte Buch der hennebergischen Landesordnung handelt hauptsächlich von Ehe, Vormundschaft sowie Erbrecht. Im Zusammenhang mit der Erbteilung widmet es sich ausführlich den Fragen der Abmarkung von Grundstücksgrenzen. Unter der Kapitelüberschrift »Wie die Erbgüter abgetheilt sollen werden« (Buch 3, Tit. 5, Kap. 1) wird die Teilung der Nachlassgegenstände zwischen den erbberechtigten »Gebrüdern oder Schwestern« ausführlich geregelt. Dabei wird nach dem traditionellen fränkischen Realerbteilungsrecht verfahren, wonach jeder Erbe grundsätzlich das gleiche Erbrecht genießt. Landbesitz wird dabei aus der gesamten Hand in die Individualrechtssphäre der einzelnen Erbberechtigten überführt, indem »einem jeden sein teil für sein frey eigen Gut zugestellt wird«. gangsprotokoll betonte Wilhelm IV. von Henneberg-Schleusingen (1478–1559) sein Bemühen, das herkömmliche Recht zu erfassen und zu ordnen. Da das einheimische Recht nicht genug bekannt sei, hatte er seinen Kanzler und Rat Dr. Johann Gemel (1503 – nach 1556) beauftragt, »LandRecht und gewonheiten in eine gewiese ordnung zu bringen und zusammen zu tragen«. Die Kodifikation mit dem Titel »Der Fürstlichen Graffschafft Hennenbergk LandsOrdnung« behandelt in acht Büchern die unterschiedlichsten Rechtsmaterien. Im Wesentlichen enthält die Landesordnung Bestimmungen über Gerichtsverfassung, Zivil- und Strafprozess, Privatrecht, Wirtschaftsrecht, Straf- 439 3 Diese Realteilung, im Text »gründliche abtheilung« genannt, war nicht in das alleinige Ermessen der Grundeigentümer gestellt. Die Landesordnung traf dazu umfassende Regelungen. So sahen die Bestimmungen vor, dass die als »vier geschworne Steinsetzer« bezeichneten Feldgeschworenen zur Durchführung und Umsetzung der Grundstücksteilung herangezogen werden mussten. Diese vier Feldgeschworenen fungierten als eine Art bäuerliches bzw. städtisches Eigengericht und waren neben der hier normierten Funktion oft auch für die Schlichtung von Grenzstreitigkeiten zuständig. Regelungen über ihre Wahl, Amtszeit oder Eidesleistung traf die Landesordnung nicht. Vielmehr setzte sie voraus, dass auf lokaler Ebene bereits ein solches Gremium etabliert war. Damit wird deutlich, dass die Landesordnung in ihren Bestimmungen zum »Vermessungsrecht« das schon vordem in der Grafschaft Henneberg in Geltung gewesene Gewohnheitsrecht wiedergibt und einheimische Gewohnheiten berücksichtigt. Neben den Feldgeschworenen war die Hinzuziehung der Grundstücksnachbarn und, sofern es sich um ein Erb- oder Lehngut handelte, auch des Erb- oder Grundherrn zwingend erforderlich. Die Landesordnung erwähnt ausdrücklich, dass dies »von wegen ihres Interesse« geschehen sollte. Bei näherer Betrachtung erweist sich die bis heute selbstverständliche Regelung als Fortbildung des überlieferten gemeinen Rechts. Bereits im mehr als 300 Jahre älteren Sachsenspiegel war bestimmt: »Wer malboume oder marksteine seczsit, der sal den da bi haben, der ander sit lant da bi hat« (Landrecht 2, Kap. 50). FORUM FEDERALE Ganz und gar neu hingegen war das in der hennebergischen Landesordnung von 1539 erstmals begründete Gebot, im Zuge einer Grundstücksteilung die Grenzen nach außen hin sichtbar zu machen. Die Abmarkungspflicht bestimmte, dass die Teilungsgrenzen durch »die geschwornen Steinsetzer mit einem Marckstein […] versteint werden« mussten. Die Art und Weise der Abmarkung blieb dabei dem ortsüblichen Gebrauch überlassen und konnte »wie von alters her oder sonsten kündlich« geschehen. Ausgehend von der Regelung des spezifischen Sonderfalls einer Grundstücks- bzw. Erbteilung statuiert das anschließende Kapitel (Buch 3, Tit. 5, Kap. 2) eine weit darüber hinausgehende generelle Abmarkungspflicht: Bei allen Grundstücken, die mit »unwissenheit untereinander vermengt« waren und keine »kündliche abmarckung« hatten, sollte »eine gründliche versteinung und vermarckung« vorgenommen werden. Dabei sollten nicht nur die jeweiligen geschworenen Steinsetzer und Grundstücksnachbarn, sondern auch die Richter und Schöffen der regionalen Gerichte beteiligt werden. Anlass für dieses aktive Einmischen in die Belange der Untertanen war die Erkenntnis, dass nichtgesicherte Eigentumsgrenzen im Laufe der Zeit Veränderungen erfahren und deshalb häufig Rechtsunsicherheit, Streit oder Übergriffe auf fremdes Eigentum zur Folge haben. Die bemängelten Zustände »vielfeltiger gebrechen« sollten wieder zu rechter Ordnung geführt werden, damit in Zukunft keinem mehr in »gefehrlicher weise vor dem andern das seine genommen oder entzogen« wird. Der Landesherr demonstrierte so seine Vorsorge für Gemeinwohl und gute Ordnung. Gleichzeitig ließ sich das angestrebte Regelungsziel mit den gemeinsamen Interessen von Obrigkeit und Bevölkerung an der Erhaltung und Förderung des Grenzfriedens legitimieren. Im Zusammenhang mit den staatlich angeordneten präventiven Maßnahmen steht die Frage der Sanktionierung von Eigentumsverletzungen. Die Landesordnung sah für das Übertreten der »versteinten« Grenze z. B. bei der Feldbestellung und Ernte eine Geldstrafe vor. Ein genaues Strafmaß war nicht festgelegt; die Geldbuße sollte sich »nach gestalt der sachen« richten. Wer aber ein Grenzzeichen in böser Absicht entfernte, machte sich eines schweren Kriminalvergehens schuldig. Die Landesordnung drohte für diesen Friedensbruch Leibesstrafen an: »Wo aber einer dem andern solche vermarckte Stein und Rein gefehrlichen ausgrübe unnd zerisse, der sol an Leib, Ehr und Gut, nach grösse und eigenschafft des Guts ernstlichen gestrafft werden.« Auch 469 Jahre nach der Publikation der Landesordnung kommt der Grenzabmarkung noch immer eine hohe Bedeutung zu. Der über Jahrhunderte bewährte Abmarkungsgrundsatz hat für die Eigentümer von Grundstücken stets die Sicherung ihrer Eigentumsrechte in der Örtlichkeit erheblich erleichtert. Auch das spezifische öffentliche Interesse an der Verhinderung von Grenzstreitigkeiten und der Erhaltung des Grenzfriedens besteht noch unverändert. Trotz moderner Messmethoden und kontinuierlicher Qualitäts- und Genauigkeitsverbesserung des Liegenschaftskatasters besteht keine Veranlassung, auf den Abmarkungsgrundsatz zu verzichten. Der Staat würde sich lediglich aus seiner ordnenden Verantwortung zurückziehen, ohne dass dies für den Bürger zu einer vertretbaren Verwaltungsoptimierung oder tatsächlichen Kostensenkung führt. Allenfalls würde die Eigenverantwortlichkeit der Grundstückseigentümer gestärkt – doch um welchen Preis? Dipl.-Ing. Frank Reichert Geschäftsstelle BDVI Brandenburg Madlower Hauptstraße 7 | 03050 Cottbus E-Mail reichert@bdvi-brandenburg.de