In: Bedorf, Thomas/ Gerlek, Selig (Hrsg.): Philosophien der Praxis. Tübingen: Mohr-Siebeck (UTB) 2019,
39-72.
G. W. F.Hegel. Geistphilosophie als Nachdenken über
die Situiertheit vernünftiger Praxis
Jan Müller
1. Einleitung
Das philosophische Projekt Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770-1831) ist
einer der Ursprünge des modernen Nachdenkens über menschliches Tätigsein
im Allgemeinen (,,Praxis") und die Formen und Gestalten, die es stützen und
prägen. Hegel greift einerseits das antike Nachdenken über „Praxis" auf und gibt
ihm ein neues Gepräge (vgl. Pinkard 2012, Ilting 1963); andererseits ist Hegel der
vielleicht wichtigste Bezugspunkt für die „Philosophien der Praxis" des 19. und
20. Jahrhunderts.
Dabei ist notorisch unklar, welche Motive und welche Argumentationen jeweils als weiterführend oder zurückzuweisen beurteilt werden; wie bei nur wenigen anderen Figuren der westlichen Geistesgeschichte sind Hegels überlegungen in ihrer genauen Absicht, ihrem Status und
ihrer Reichweite umstritten. Seine (freilich schwierigen, ,,dunklen") Formulierungen erscheinen, je nach den systematischen Bedürfnissen seiner Interpreten, als „idealistisch", ,,metaphysisch" und „subjektphilosophisch", oder umgekehrt als Vorbereitungen pragmatistischer und
materialistischer Modelle von Praxis. Derartig interessierteAneignungen sind unvermeidlich.
Hegels Philosophie und die Geschichte ihrer Rezeption konfrontiert die Interpretin indes mit
einer besonders verzwickten Variante solcher hermeneutischen Schwierigkeiten: Hier liegen die
systematische Aneignung einerseits, die den historischen Argumentationsbestand im Hinblick
auf gegenwärtige Problemlagen rekonstruiert, und andererseits die Doxographie, die Autoren oft im Licht zeitgenössischer Diskussionen und mehr oder weniger plausibler „Einflüsse" Meinungen und Auffassungen zuschreibt, bisweilen fast ununterscheidbar nahe beieinander
(vgl. Stekeler-Weithofer 2006).
Man kommt an die hegelsche Argumentation nur durch die konfliktbeladene Geschichte
ihrer Auslegungen heran. Deshalb ist es nötig, den hier vorgestellten Interpretationsvorschlag
schon vorab ungefähr in der umfänglichen und kontroversen Forschungslandschaft zu situieren. Im Versuch, Hegels Überlegungen nicht unmittelbar auf geläufige sekundärliterarische
Zuschreibungen zu reduzieren, lässt sich die „Brille der Rezeptionsgeschichte" aber auch nicht
einfach ablegen oder ignorieren. Wie jede andere, so ist auch die Inanspruchnahme Hegels für
eine Praxisphilosophie interessiert,und es wäre unanständig, sie als einen Beitrag zum (jenseits
echter Philologie ohnehin fruchtlosen) Streit um „den wahren Hegel" auszugeben. Die inhaltliche Annäherung begleitet so stets die Mitteilung darüber, welche Deutungsoptionen bestehen
und ausgeschlagen werden.
Der „kleinste gemeinsame Nenner" der ansonsten denkbar unterschiedlichen
Deutungstraditionen dürfte die Bedeutung des gemeinsamen Tätigseins für Hegels Beantwortung der Frage nach der „Natur menschlicher Subjektivität und
ihr[es] Verhältnis[ses] zur Welt" sein (Taylor 1975, 3). Hegel übernimmt diese
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Frage nach der Form, den Grenzen und der Wirklichkeit der Vernunft aus der sogenannten „klassischen deutschen Philosophie". Sein originärer Beitrag besteht
darin, die Vernunft, nach der gefragt wird, zu situieren (vgl. zu dieser Charakterisierung u. a. Henrich 1991, Pinkard 1994, Stekeler-Weithofer 2005, Förster 2010):
Man verstehe Subjektivität und ihr Verhältnis zur Welt und zur Natur erst richtig,
wenn man auch das Medium und Milieu versteht, in dem diese Verhältnisse auftauchen - das menschliche Zusammenleben mit seinen Institutionen, Gepflogenheiten, Sitten und Gebräuchen. Ein angemessenes Verständnis der Vernunft
bedürfe so nicht allein der Klärung ihrer geltungstheoretischen Möglichkeitsbedingungen, sondern müsse irgendwie die handfesten sozialen Bedingungen ihrer
Verwirklichung mitbedenken. Wenn es aber - mit einer erläuterungsbedürftigen
Merkformulierung - Vernunft nur in einer oder als eine soziale Praxis „gibt" (vgl.
etwa Bertram 2017), dann gehört zum Nachdenken über das Denken erstens auch
dazu, seine Natürlichkeit, seine Geschichtlichkeit und seine politische Dimension
als nicht nebensächlich zu begreifen. Zweitens ist jede Ausübung der Vernunft
etwas, das besser oder schlechter getan wird: es ist, wie alle menschlichen Vollzüge,
Gegenstand normativer Urteile. Dass das Ausüben vernünftiger Fähigkeiten einer
normativen Grammatik folgt (s. Müller 2003), ist zumindest ein Hinweis darauf,
dass sich „theoretische" und „praktische" Philosophie nicht wie zwei aufgrund
ihrer verschiedenen Gegenstandsbereiche grundsätzlich getrennte Unternehmen
begreifen lassen: Wenn auch die Probleme der theoretischen Philosophie begrifflich auf eine gute Ausübung vernünftiger Fähigkeiten bezogen sind, dann wird
man das Nachdenken über Wahrheits-, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie
jedenfalls methodisch bei der „praktischen", d. h. tätigen Vernunftausübung beginnen lassen müssen. Daraus müsste drittens folgen, dass das gesamte Projekt
der modernen Vernunftphilosophie grundsätzlich nicht von einem - und sei es
methodisch konstruierten - Beobachterstandpunkt, sondern nur vom Standpunkt verwickelter Teilnahme her verstanden werden kann.
Die Absicht dieses Beitrags ist es, Hegels derart radikale Praxisphilosophie
(über ihre historische Bedeutung hinaus) wenigstens plausibel zu machen. Hegel
formuliert Praxisphilosophie als eine Philosophie des Geistes. Im ersten Schritt
werden Gründe dafür gegeben, weshalb das vernünftig ist (2.); der zweite Abschnitt umreisst den methodisch „unbefangenen" Anfang einer solchen Praxisphilosophie bei der „Wirklichkeit" menschlicher Vollzüge, und stellt die Darstellungsprobleme vor, die sich aus diesem Vorgehen ergeben (3.). Die beiden letzten
Abschnitte schließlich rekonstruieren - von der Gewohnheit über das Handeln
hin zur Anerkennung und ihrem gemeinsamen Medium, der „Sittlichkeit" - die
Bestimmungen der Praxis bei Hegel (4.-5.).
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2. Praxisphilosophie als Geistphilosophie?
Hegel fasst die verwickelte Teilnahme an Vernunft, die unsere menschliche Lebensweise charakterisiert, unter dem Problemtitel des „Geistes". Dieser Umweg
zur Praxis hat Gründe: Dass bei Hegel das Wort „Praxis" kaum je auftaucht, passt
einerseits zum zeitgenössischen (auch terminologischen) Sprachgebrauch. Es
spricht jedenfalls nicht gegen die Bedeutung, die der Begriff „Praxis" in seinen
Überlegungen spielen mag - zumal Hegel natürlich die aristotelische Leitunterscheidung von poiesis und praxis kennt (vgl. etwa seine Referate der aristotelischen Philosophie, v. a. Hegel 1833, II 132 ff.), und verwandte Ausdrücke verwendet, um vergleichbare begriffliche Unterschiede zu markieren: ,,Tun",,,Tätigkeit'', ,,Herstellen': ,,Produzieren': Trotzdem sollte man Hegels Formulierungen
andererseits vielleicht nicht allzu beherzt in das terminologisch scheinbar schlankere Modell der poiesis-praxis- Unterscheidung übersetzen. Erstens wäre „ein affektierter Purismus da, wo es am entschiedensten auf die Sache ankommt, am
wenigsten am Platze" (Hegel 1831, 21). Hegels differenziertere (damit aber auch
deutungsbedürftige) Redeweise entspricht seiner überzeugung, dass „Philosophie [... ] überhaupt keiner besonderen Terminologie" bedürfe (Hegel 1831, 21).
Hat man ein denkerisches Problem, dann lässt es sich auch in alltäglicher Rede
hinreichend streng ausdrücken, und würde durch bloßes Umdefinieren allenfalls
versteckt, aber nicht geklärt. Hegels Formulierungen sind zweitens vom terminologischen Modell der „Praxis" dadurch klar unterschieden, wer oder was in
ihnen jeweils als das grammatische Subjekt der Beschreibung auftaucht. ,,Praxis"
ist eine menschliche Angelegenheit: das Tun und Handeln menschlicher Subjekte
und Personen. Wie man diese menschlichen Angelegenheiten befragt, zeichnet
vor, was als brauchbare Antwort durchgeht. Zeitgenössisch wurde nach der Bestimmung (endlicher) Subjekte und ihrer Vermögen, Erkenntnis und Handeln,
gefragt, und in Rücksicht auf unsere menschliche Verfassung geantwortet. Man
fragte, was wir (überhaupt) können, müssen und dürfen, und versprach sich Aufklärung darüber durch die Einsicht, wer „wir sind" (nämlich: endliche Vernunftwesen, und näher „Menschen").
Hegel befragt die menschlichen Angelegenheiten dagegen daraufhin, was in
welcher Weise getan wird. Er fokussiert auf das Tätigsein selbst. Verstehen, was auf
welche Weise getan wird, ermöglicht verstehen, was den Tätigen auszeichnet nicht umgekehrt. Diese Herangehensweise verspricht, dass wir uns als Subjekte
unseres Denkens und Handelns in einer Weise verstehen, die nicht von äußerlichen (,,dogmatischen", vorausgesetzten) Annahmen abhängt, sondern unbedingte (,,absolute") Selbst-Erkenntnis ist. Weil man aber über solche Tätigkeit
schlechterdings nicht sprechen und nachdenken kann, ohne ein tätiges Subjekt
zu nennen, versetzt Hegels Darstellung die Beschreibung von Tätigkeit ins Medium des Geistes. Sie schreibt die untersuchten Tätigkeiten einem formalen Subjekt
zu, einer darstellungstechnischen Kunstfigur. Weil es ihm um menschliche Angelegenheiten geht, sind die Tätigkeiten, die er beschreibt, zumindest grundsätzlich
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nicht vom Denken unabhängig. Deshalb besetzt Hegel die Stelle des grammatischen Subjekts solcher Tätigkeitsbeschreibungen mit „dem Geist".
2.1. ,,Geist": Hegels methodische Kunstfigur
Diese Verwendung des Ausdrucks „Geist" als eine methodische Kunstfigur, die
zunächst nur formal das grammatische Subjekt von Tätigkeiten im Allgemeinen
markiert, provoziert trotz aller sprachlichen Bemühungen Hegels das referenzialistische Missverständnis, der Ausdruck „Geist" müsse auf eine Sache „in der
Welt" Bezug nehmen: z.B. eine individuelle Fähigkeit einzelner Menschen (im
Sinn des engl. ,,mind"), oder eine geheimnisvolle transzendente Instanz (im Sinn
der religiösen Rede von einem „heiligen Geist"). - Tatsächlich liegt jedenfalls das
erste Missverständnis nahe. Da der Ausdruck grammatisch ein individuelles Subjekt - ,,den Geist" - benennt, scheint es plausibel, dieses formale Individuum mit
einem realen menschlichen Individuum zusammenfallen, und „Geist" dessen faktische individuelle Eigenschaft oder Fähigkeit bezeichnen zu lassen. Wäre „Geist"
aber (nur) eine individuelle Eigenschaft, dann wäre prinzipiell fraglich, wie „individuelle Geister", also die Ausprägung und Ausübung einer geistigen Fähigkeit
in verschiedenen Individuen, zusammenhängen. Man könnte sich dann weder
vorstellen, dass zwei Menschen nicht-zufällig denselben Gedanken fassen, oder
dass sie einander aus Respekt vor ihrer Würde vernünftigerweise verpflichtet sind,
weil die fraglichen geistigen Tätigkeiten bloß äußerlich zusammenhingen (gestiftet z.B. durch die Beschreibung eines unabängigen Beobachters, durch subjektives Entgegenkommen, oder ganz und gar aus Angst vor möglichen Sanktionen
im Fall des Nicht-Mitspielens).
Die Kantische Vernunftkritik reagierte auf diese Herausforderung mit dem Gedanken, dass wir,
auch wenn die Vernünftigkeit unseres Denken und Handelns in jedem einzelnen Fall fraglich
sein mag, zumindest über die reine Idee ihres Gelingens verfügen. Wir kennen die reinen Formen des Verstandes und die reine Selbstbestimmung des Wollens als Gesetz, und das zeigt
(meint Kant), dass die verschiedenen Ausübungen geistiger Fähigkeiten darin zusammenhängen, dass sie sich an einem objektiven, über-subjektiven Maßstab der Vernunft bemessen. Diese
Versicherung kommt allerdings um den Preis, dass nun umgekehrt der objektive Vernunftmaßstab dem individuellen Denken äußerlich und vorausgesetzt bleibt. Versteht man, warum
der Maßstab objektiv gelten kann, dann muss man zusätzlich erläutern, warum er auch für
mich gilt. Im Kantischen Bild hängen die Ausübungen geistiger Fähigkeiten, die Tätigkeiten von
Geistern, zwar innerlich in ihrem objektiven Maßstab zusammen, aber sie hängen sozusagen
nicht aus eigener Kraft zusammen.
Hegels neuer „Geist"-Rahmen entlarvt dieses Missverständnis als ein Darstellungsproblem, indem er vorführt, wie individuelle geistige Vollzüge (Fähigkeiten und Vorgänge) in direktem Zusammenhang mit anderen Individuen stehen.
Sie sind - metaphorisch gesprochen - Vollzüge vom selben Geist: Der Maßstab,
in dem sie zusammenhängen, besteht nicht irgendwie von ihnen getrennt (so
wie „die Vernunft"), sondern er besteht in nichts anderem als genau diesen vernünftigen Vollzügen - als der von allen, die an ihm teilnehmen, geteilte „Geist".
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Ein gutes Beispiel dafür ist das Sprechen: Einerseits „gibt es" Sprache nicht unabhängig von unseren sprachlichen Äußerungen und Tätigkeiten; andererseits
haben unsere sprachlichen Tätigkeiten ihr Maß und ihren internen Zusammenhang eben darin, dass sie (unvermeidlich mehr oder weniger gut) den Normen
der Sprachpraxis folgen. ,,Sprache': die Praxis des Miteinandersprechens, ist „das
Dasein des Geistes" (Hegel 1807, 478): An ihr zeigt sich, wie individuelle geistige
Tätigkeiten und der geteilte „Geist" ihres Mediums zusammenhängen.
So benennt Hegels Rede vom „Geist" erstens die Fähigkeit, sich selbst als Subjekt seines Denkens und Handelns zu verstehen. Der Ausdruck „Geist" funktioniert dann subjektiv: als Ausdruck für ein reflexives Selbst-Wissen. ,,Subjektiver",
als Subjekt angesprochener Geist bezeichnet den geistigen Vollzug, in dem „das,
was sein Begriff ist, für ihn wird" (Hegel 1830, § 382), man sich also als das begreift, was sich so begreift (vgl. Boyle 2011, § IV). Das wiederum beinhaltet wesentlich, sich als selbst-bestimmt zu begreifen. Natürlich findet man sich immer
auch durch Anderes bestimmt; man weiß sich dann aber als nur beiläufig äußerlich bestimmt (wäre das anders, dann könnte man sich nicht als Subjekt seines
eigenen Tätigseins, sondern allenfalls als Objekt irgendeines anderen Subjekts
ansprechen). Deshalb ist das „Wesen des Geistes[ ... ] formell die Freiheit" (Hegel
1830, § 382): Geistiges Tätigsein gelingt desto besser, je selbstbestimmter es ist.
,,Das Sein des Geistes ist ihm, bei sich, d. i. frei zu sein" (Hegel 1830, § 385).
Solches „bei sich-Sein" kann man sich nicht nur als durch das Tun eines individuellen Subjekts bewirkt vorstellen; ein „geistiges Individuum" kann sich das
Maß seiner Vollzüge weder selbst geben, noch es bloß vorfinden. - Das Sprachspiel des „Geistes" zeigt aber, dass man sich geistiges Tun ohnehin nie rein individuell vorstellt. Unser geistiges Tun hat sein Maß nie nur (obzwar immer auch) in
uns, sondern immer auch (aber nie nur) darin, wie man so etwas tut, d.h. in der
allgemeinen Form solchen Tuns - nicht nur im subjektiven Geist, sondern auch
im Geist der Tätigkeit. Deshalb muss man vom „Geist" zweitens auch objektiv
sprechen, Denn der Art, ,,wie man etwas macht" (der Form dieser Handlung),
begegnet man in der Welt - nicht als etwas schlechthin von uns Unabhängigem
(denn ohne unser rp-en „gibt es" die Form „wie man rp-t" nicht), aber auch nicht
als etwas einfach von je mir Gemachtem (denn ich kann nicht beliebig das, was
ich tue, als gutes rp-en ausgeben). Diese objektive Beschreibung thematisiert geistige Tätigkeit „in der Form der Realität als eine[] von ih[r] hervorzubringende[]
und hervorgebrachte[] Welt, in welcher die Freiheit als vorhandene Notwendigkeit ist" (Hegel 1830, § 385): denn nur vor dem Hintergrund der Üblichkeiten
und Institutionen einer solchen normativen „Welt" ist es verständlich, subjektive
geistige Tätigkeiten als besser oder schlechter zu beurteilen, ja sogar (aus „vorhandener Notwendigkeit") unumgänglich, weil man nicht sagen kann, dass die Güte
des eigenen Tuns einem bloß zustoße.
So ist man, wenn man tätig ist, beim Geist, und das heißt, bei sich. Man spricht
nicht von „zwei Geistern", sondern aus zwei unterschiedlichen Perspektiven über
ein und denselben Geist. Geistiges Tätigsein „objektiv" betrachten heißt, seine
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allgemeine Form aussagen, die wir Individuen gemeinsam haben. Sich als Subjekt wissen heißt, aus der subjektiven Teilnehmerperspektive um das geistige Tätigsein wissen, das man mit allen möglichen Subjekten teilt und an jedem Subjekt
exemplifiziert findet: ,,Das allgemeine Selbstbewußtsein ist das affirmative Wissen
seiner selbst im anderen Selbst, deren jedes als freie Einzelheit", als tätiges Individuum, ,,absolute Selbstständigkeit hat'~ sich aber hinsichtlich seiner Form „nicht
vom anderen unterscheidet, allgemeines und objektiv ist" (Hegel 1830, § 436).
„Geist" besteht oder ist wirklich in dem und als das, was unserem geistigen Tun
gemeinsam ist. ,,Diese Allgemeinheit ist [... ] sein Dasein. [... ] Die Bestimmtheit
des Geistes ist daher die Manifestation. Er ist nicht irgendeine Bestimmtheit oder
Inhalt, dessen Äußerung oder Äußerlichkeit nur davon unterschiedene Form
wäre; so daß er nicht etwas offenbart", was dann losgelöst von ihm da wäre, ,,sondern seine Bestimmtheit und Inhalt ist dieses Offenbaren selbst" (Hegel 1830,
§ 383). ,,Geist" ist nichts Anderes als unser geistiges Tun; er ist das, was sich in unseren Tätigkeiten manifestiert, indem wir sie als mehr oder weniger vernünftig,
und damit uns als Subjekte unseres Tuns und Handelns begreifen.
Begreifen wir unser geistiges Tun so aus subjektiver und objektiver Perspektive,
dann denken wir unsere menschlichen Angelegenheiten selbst: wir denken den
Geist als unbedingt, als „absoluten Geist". Wir denken unser Denken dann „in an
und für sich seiender und ewig sich hervorbringender Einheit der Objektivität des
Geistes und[ ... ] seines Begriffs" (Hegel 1830, § 385). Das „Geist"-Modell für die
Formulierung hergebrachter vernunftphilosophischer Fragen macht ,,Vernunft"
als nichts Anderes als die Form unseres wirklichen Tätigseins sichtbar, als den internen Zusammenhang unserer menschlichen Angelegenheiten. ,,Vernunft" manifestiert sich als unsere Praxis.
2.2. Zwei Arten des Nachdenkens über geistiges Tätigsein:
,,Philosophie der Praktiken" oder „Praxisphilosophie"
Praxisphilosophie geht es (mit einer programmatischen Formulierung von Volker Schürmann) ,,nicht primär um das Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft" im Sinn individuell verstandener subjektiver Vermögen, ,,sondern um die Einbettung und damit Bedingtheit von Vernunft in ,Geist', ,Praxis',
,Leben', ,Gesellschaft"'. Deshalb stellt sie „von einer [... ] Bewusstseinsphilosophie
auf eine Philosophie des Geistes" um (Schürmann 2017, 121). Hegel realisiert
diese „Umstellung" durch einen neuen Beschreibungsrahmen, der Tätigsein und
Handeln in subjektiver, in objektiver und in unbedingter Perspektive thematisiert.
Das korrigiert nicht den Gegenstandsbereich der aufklärerischen Vernunftphilosophie, sondern verändert die Art und Weise des Nachdenkens über vernünftiges
Denken und Handeln. Man spricht aus der Perspektive eines exemplarischen,
repräsentativen Teilnehmers über Vernunft als etwas, zu dem unsere Teilnahme unbeschadet ihrer unbedingten objektiven Ansprüche - dazugehört.
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Das ist eine Praxisphilosophie, weil die Form solchen Teilnehmens an Vernunft praktisch ist - etwas, das getan wird. - Es geht in Hegels Überlegungen
aber auch noch in einem anderen Sinn um „Praxis": Nämlich in Bezug auf die
rechtlichen, staatlichen, pädagogischen Institutionen (und ihre Geschichte), in
denen sich das faktische Subjektwerden von Menschen und ihr Zusammenleben
abspielt. Der Unterschied beider Akzente lässt sich markieren, indem man im
ersten Sinn von einer „Praxisphilosophie", im zweiten Sinn von einer „Theorie
von Praktiken" spricht. Als Praxisphilosophie gelesen macht Hegel mit der Auffassung Ernst, dass das Nachdenken über menschliche Angelegenheiten ein Nachdenken über Tätigsein ist (und eine verkomplizierende Konsequenz davon ist,
dass dieses Nachdenken dann selbst als Exempel desselben Tätigseins begriffen
werden muss). Als Theorie der Praktiken gelesen liefert Hegel begriffliche Modelle der sozialen Institutionen, in denen die Ausübungen der Vernunft verortet
sind. Die Lesart als Praxisphilosophie bedeutet eine Veränderung des Stils und
des Modus, in dem über die (stets mehr oder weniger vernünftigen) menschlichen Angelegenheiten nachgedacht wird: Nicht mehr ausgehend vom Modell
der Subjekt-Objekt-Relation, sondern vom Vollziehen von Tätigkeit. Die Lesart
als „Theorie von Praktiken" beinhaltet (scheinbar bescheidener) keine andere Art
und Weise, sondern nur einen veränderten Gegenstand des Nachdenkens: Hegel
(so sagt man dann) empfiehlt uns, neben den üblichen subjektphilosophischen
Themen auch (womöglich sogar insbesondere) über „Praxis" nachzudenken.
Beide Arten des Nachdenkens über geistiges Tätigsein hängen zusammen:
Hegels radikale geistphilosophische Praxisphilosophie wäre ohne „Theorie von
Praktiken" eine blasse Konzeption situierter Vernunft, die nichts darüber sagt,
wo sie situiert ist.
Dass auch eine „Theorie der Praktiken" ohne Praxisphilosophie, ohne die reflexive Transformation des Beschreibungsrahmens, unsinnig wäre, ist umgekehrt viel weniger selbstverständlich,
und hängt entscheidend davon ab, wie sehr Hegels methodische Umstellung auf den Rahmen
des „Geist"-Sprachspiels überzeugt. Die fachphilosophische Kontroverse darüber wird immer
noch von Deutungen bestimmt, die das „Geist"-Modell nicht als methodisches Mittel, sondern
als eine Meinung Hegels lesen, die (in doxographischer Nacherzählung) zu tolerieren oder (in
systematischer Fortführung) zu korrigieren wäre. Historisch sind solche Deutungen nachvollziehbar: Hegel entwickelt seine Überlegungen in Auseinandersetzung mit den zeitgenössisch
avanciertesten Vorschlägen - also an Kant, Reinhold, Fichte und Schelling, und sachlich am
epistemologischen Modell von Subjekt und Objekt, das das nachkantische Problemfeld prägt.
Teils wird er durch diesen Diskursrahmen und seine Redeweisen eingeschränkt und fehlgeleitet
(so Adorno 1963); teils verdecken seine diskursiven Verstrickungen den innovativen Gebrauch,
den er von beherzt umgewidmeten Begriffsmitteln macht (so Stekeler-Weithofer 2005, Kap. 1).
Deshalb bleibt prekär, in welcher Betonung man Hegels Wortgebrauch hören und welchen systematischen Status man ihm zubilligen soll. Exemplarisch: In Hegels erstem umfassenden Ent wurf einer Situierung der Vernunft in der Phänomenologie des Geistes (1807) geht es um den
Begriff des Wissens - denn er beginnt methodisch bei der Thematisierung geistigen Tätigseins
aus der Subjekt-Perspektive, und mithin bei der Frage, wie man um sein Tätigsein weiß. Es
macht aber einen Unterschied, ob man die Phänomenologie als Antwort auf die (begriffliche)
Frage „Was ist ,Geist'?", oder auf die (epistemologische) Frage ,,Wie kann man ,Geist' (überhaupt) erkennen?" liest (vgl. etwa Emundts / Horstmann 2002, 36 f., und mit derselben Strategie
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Pippin 1989). Am Status, den man dem „Geist"-Modell zuschreibt, entscheidet sich so, ob man
sich vom hegelschen Projekt eine Fortführung, eine Radikalisierung, oder eine systematische
Überwindung der Kantischen Reflexionsphilosophie erhofft, und alle Urteile über sein Gelingen werden im Licht solcher Hoffnungen gefällt (vgl. exemplarisch Cassirer 1920, Henrich
1991, Halbig 2004, Pippin 2008, Förster 2010, Khurana 2017). Dabei hilft gewiss nicht, dass
die Denunziation des „Geist"-Modells historisch mit politischen Transformationen koinzidierte
(1848, 1871, 1917, 1968), während derer behutsame Lektüre nachvollziehbarerweise weniger
drängte als identitätspolitische Abgrenzung.
Hegels „geistphilosophische" Situierung der Vernunft provoziert zwei typische Abstossungsreaktionen: Man kann erstens meinen, das unter dem Titel „Geist" Verhandelte sei im einfacheren Modell menschlicher Praxis eigentlich besser und sparsamer gefasst. Hegels Rede von
,,geistiger Tätigkeit" wird dann übersetzt in die Vorstellung einer besonderen Lebens-Tätigkeit,
und im Rahmen eines ethischen Naturalismus entfaltet (vgl. etwa Lukacs 1948, 826ff. u. 1984,
Kap. III; Arndt 2003, Kap. III; Pinkard 1994 u. 2012; immer noch wegweisend für das Nachdenken der in solchen Paraphrasen enthaltenen Naturvorstellungen Ruben/Warnke 1979).
Man kann zweitens die Rede vom „Geist" grundsätzlich suspekt finden, weil man ihre referentialistische Ausdeutung für unvermeidlich hält. Als Lackmustest für die Zumutbarkeit des
„Geist"-Modells dient dann oft das, was man Hegels „Geschichtsphilosophie" nennt: Wenn in
das Sich-Selbst-Verstehen des Geistes eine Spannung zwischen subjektiver und objektiver Perspektive eingetragen ist, und wenn sich dieses Verhältnis in „absoluter" Perspektive in unseren
menschlichen Angelegenheiten selbst manifestiert - dann muss man provozierenderweise sagen,
dass „der Geist" eine Geschichte hat, in der er sich entwickelt und verändert. Und wenn man an
dieser Stelle die methodische Umstellung auf „Geist" nicht mitvollzieht, sondern als einen spieen
Hegels versteht, dann behauptet Hegels „Geschichtsphilosophie" in der Tat eine unbegründbare
teleologische Ausrichtung historischen Geschehens, an deren Ende aus metaphysischer Notwendigkeit der „preußische Staat", das „Ende der Kunst", und die Selbsterhebung der „Philosophie"
über andere (religiöse, wissenschaftliche, ästhetische) Weltverhältnisse steht - anstatt das reflexive Durchprobieren von Modellen vorzuführen, in denen man über Geschichte, auch die des
Geistes, nachdenken kann (vgl. zur ersten Lesart exemplarisch Honneth 2014, Schnädelbach
2000a oder Jaeschke 2010, 385, zur zweiten gelungen Pinkard 2017). Unter dem Druck dieses
Verdachts wird Hegels Praxisphilosophie verbreitet als überambitioniert und „nicht aktualisierbar" zurückgewiesen (vgl. etwa Siep 2010, Abschn. IIIc), seine überlegungen zu einer „Theorie
von Praktiken" aber nutzbar gemacht. So kommt man um Hegels Revision der subdisziplinären
Arbeitsteilung im Nachdenken über menschliche Angelegenheiten herum, und kann gleichwohl
Lehren für Probleme der „theoretischen" oder der „praktischen" Philosophie ziehen. So wurde
Hegels methodisch-metaphorische Rede von der „Entäußerung" des Geistes an die Diskussion
der sogenannten „Philosophy of Mind" assimiliert und handlungstheoretisch nutzbar gemacht
(vgl. Quante 1993 u. 2011, v.a. 324ff.; in kritischer Absetzung vom handlungstheoretischen
Rahmen Yeomans 2015), oder - vor allem anhand der Grundlinien der Philosophie des Rechts
(1821) - in meta-ethische, moralpsychologische und sozialphilosophische Argumentationen
integriert. In dieser Lektüre wird Hegels „Theorie des objektiven Geistes" zum Stichwortgeber
für eine Theorie der Praktiken (vgl. Schnädelbach 2000b), und genauer für den Gedanken, dass
sich die politischen und sozialen Institutionen des Zusammenlebens als verhältnismäßig vernünftig so beschreiben lassen, dass mit ihrer Entstehung soziale Ansprüche verbunden sind. Der
„objektive Geist" betitelt dann die sozialen und institutionellen Rahmenbedingungen, die erfüllt
sein müssen, damit Menschen sich zu einander als Personen und zu sich selbst als Subjekte verhalten können. Er erklärt die Konstitution sozialer Praktiken (vgl. Honneth 2001, Abschn. 1),
und zwar als eine Stufung verschiedener Sphären der Intersubjektivität, die die Institutionen der
bürgerlichen Gesellschaft und des (modernen) Staates zugleich hervorbringen und von ihnen
gestützt werden (vgl. die aktuellste Fassung dieses Arguments in Honneth 2011). Eine solche
Theorie des Sozialen ermöglicht es, indem sie die institutionellen und sozialen Bedingungen der
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Entwicklung normativer Selbstverhältnisse nennt, Erfahrungen des Leidens und des Nicht- oder
Fehlfunktionierens als diesen Institutionen immanente soziale „Pathologien" zu problematisieren, und zugleich den vermeintlich „rechtfertigenden" Status der hegelschen Beschreibungen
des „objektiven Geistes" zu vermeiden (vgl. in diesem Sinn Jaeggi 2014, Kap. 7).
Umgekehrt bliebe es unbefriedigend, wenn man Hegels „Theorie von Praktiken"
metaphysik-skrupulös einfach von seiner Praxisphilosophie entkoppelte. Einerseits wäre durchaus fraglich, ob Hegels Beschreibungen der (seither erheblich
fortentwickelten) bürgerlichen Gesellschaft unverändert nützlich sind; immerhin wurde das Ungenügen seiner Beschreibung des entstehenden Kapitalismus
bereits zeitgenössisch bemängelt. Es müsste zuerst gezeigt werden, dass seine
,,Theorie von Praktiken" (etwa in den Grundlinien) beanspruchen darf, die institutionelle Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft im Wesentlichen erfasst zu haben
(denn nur unter dieser Voraussetzung ließe sich an faktischen Institutionen zugleich ein normativer Anspruch identifizieren, an den eine kritische Theorie die
bürgerliche Gesellschaft erinnert; vgl. Honneth 2001, 43). Andererseits muss eine
Theorie von Praktiken den inneren Zusammenhang der vielen vielgestaltigen
Praktiken erklären können; andernfalls wäre sie nur eine äußerlich sortierende
,,Gewürzkrämerbude" (Hegel 1807, 50).
Hegels Vorschlag ist so aufregend, weil er verspricht, dass diese interne Verbindung im geistphilosophischen Darstellungsrahmen nicht bloß vorausgesetzt ist,
sondern sich im wirklichen Vollzug geistiger Tätigkeit, in den Praktiken, exemplifiziert. In den mannigfaltigen Praktiken manifestiert sich die Form der Praxis im
Allgemeinen; an unserem Tätigsein zeigt sich der interne normative Zusammenhang der menschlichen Angelegenheiten. Das ist eine vermutlich „anspruchsvollere" Deutung (aber keine furchtbar heterodoxe: vgl. bei allen Unterschieden
etwa Hubig 1985, Stekeler-Weithofer 2005 und 2014a, Menke 1996, Holz 2010,
Arndt 2003, Pinkard 2012 u. 2017, Weisser-Lohmann 2011, 264ff.). Zu ihren Begründungshypotheken gehören wenigstens drei Posten: Erstens liest sie Hegels
Texte im interessierten Rückblick als gleichberechtigte Beiträge zu einem kontinuierlichen Projekt und bleibt deshalb, weil sie dabei über manche biographische
Brüche hinwegsieht, wie jede systematische Aneignung philologisch anfällig.
Zweitens schreibt sie Hegel aus Interesse an einer undogmatischen - nicht im
Sinne unbegründbarer Meinungen - ,,metaphysischen" Geistphilosophie eine
(freilich auf seine Selbstkommentierung gestützte) reflexiv-ironische Aufmerksamkeit für seinen eigenen Sprachgebrauch zu - was seine Überlegungen als besonders anfällig für die entstellenden Effekte jeder Paraphrase erscheinen lässt.
Drittens ist die hegelsche Praxisphilosophie, weil sie einen methodischen Umweg
beschreitet, auf die Geduld ihrer Leserinnen angewiesen: Ihre Radikalität liegt
nicht in der direkten Beschreibung von Praktiken, sondern darin, die Tätigkeit
solchen beschreibenden Nachdenkens, die Vernunft selbst, als „praktisch" zu begreifen. Die Theorie von Praktiken hätte erst im zweiten Schritt dem Nachdenken
darüber zu folgen, wie man vernünftig über Praktiken reflektieren kann, indem
man in sie verstrickt ist. Deshalb fehlt sie in dieser Darstellung fast gänzlich.
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3. Praxis als„Aktivität des Geistes"
Wie kann man unsere menschlichen Angelegenheiten, unser Tun und Handeln,
begreifen, wenn man immer schon in Praxis verstrickt ist? Hegel meint, dass die
naheliegenden skeptischen und relativistischen Gefahren verschwinden, wenn
man das scheinbare Rätsel als den sachlichen Kern versteht. Die anleitende Problemformulierung ist dann: Wie versteht man, dass der Geist im Anderen seiner
selbst „bei sich ist", also sein eigenes Tätigsein begreift?
Hegels Vorschlag, die Form und die Ansprüche der Vernunft als derart situiert zu begreifen,
verdankt sich einem skeptischen Problem der zeitgenössischen Reflexionsphilosophie: Ist die
Idee eines objektiven Gegenstandsbezugs des Denkens einmal fraglich geworden, dann lässt
sich diese Irritation durch keine „dogmatische" Metaphysik mehr reparieren. Das war Kants
Entdeckung: Es reicht nicht, das Bestehen solchen Gegenstandsbezugs unter Voraussetzung
einer vermeintlich wohlbestimmt vorgegebenen Objektivität (der Objekte des sinnlichen und
des noumenalen Erkennens ebenso wie der Normen des Handelns) einfach zu behaupten; seine
Möglichkeit lässt sich nur mehr aus der Form der subjektiven vernünftigen Fähigkeit selbst begründen. Denkt man über das Denken nach, dann muss sich dabei auch die Möglichkeit seines
Vernünftigseins zeigen lassen - andernfalls wäre die Vorstellung, man dächte, unsinnig. Die
Kritische Philosophie entwickelt so das transzendentale erkenntnistheoretische Argument, dass
für ein vernünftiges Subjekt ein objektiver Gegenstandsbezug notwendig möglich ist (sofern
es sich eingedenk seiner Endlichkeit amphibolischer Selbstüberhebung enthält), und dass ein
vernünftiges Subjekt durch Einsicht in die Form seines Wollens bereits über das Prinzip sittlichen Handelns verfügt, nämlich die Idee der reinen (und damit allgemeinen, transsubjektiven)
Selbstbestimmung subjektiven Wollens überhaupt.
Kants Modell der Spontaneität der Verstandestätigkeit macht zwar verständlich, wie gelingender Sachbezug möglich ist; es erklärt aber nicht, ob er, wenn er wirklich besteht, vernünftig
gestiftet ist, oder nur beiläufig besteht. Dafür müsste man die Spontaneität der Verstandestätigkeit als eine echte, den Sachbezug produktiv stiftende Aktivität verstehen; und der Grund
und die Quelle dieser Aktivität kann nur Subjektivität im Allgemeinen sein. Das meinen Fichte und Schelling (und streiten über die Ausgestaltung solcher Subjektivität - individualistisch
bei Fichte, überindividuell bei Schelling). Hegel übernimmt als aufregendsten zeitgenössischen
Vorschlag diese Vorstellung, das Denken (und damit unser ganzes menschliches Tätigsein) als
eine für die menschliche Welt konstitutive Aktivität aufzufassen. Weil die zeitgenössische Diskussion diese Auffassung stets im Bild der erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Beziehung
entwickelte, lag es nahe, eine solche konstitutive Aktivität allgemein dem Subjekt zuzuschreiben.
Deshalb interessiert sich Hegel so für die Grammatik des Ausdrucks ,,leben": ,,Leben" ist das
Urbild einer Tätigkeit, die ihren Ursprung und ihre Norm in sich selbst hat, und sich durch
ihren Vollzug selbst erhält und reproduziert. Auch hier ist umstritten, wie wörtlich man Hegels
Erläuterung des Lebendigen als Form des Geistes verstehen darf (vgl. bejahend Riede! 1965,
Kap. III, und vorsichtiger Pinkard 2012). Versteht man sie nicht wörtlich, dann beschreibt „Leben" analogisch den subjektiven Modus geistiger Vollzüge und die Art und Weise, in der wir im
geistigen Tun mit den unverfügbaren Voraussetzungen unseres Tuns - der Natur - umgehen
(vgl. Menke 2005 und Khurana 2017, v. a. Kap. IV.).
G.W. F.Hegel
49
3.1. Konstitutionstheorie oder Formreflexion: Wie lässt sich die
,,Wirklichkeit der Vernunft" verstehen?
Auf den ersten Blick führt die Frage, wie man „den Geist" als „bei sich im Anderen" versteht, direkt in eine Sackgasse. Man kann unsere menschlichen An gelegenheiten nicht einfach auf eine subjektive Konstitution zurückführen. Man
müsste sich dann die Normen, an denen sich die Güte subjektiver Aktivität vernünftigerweise beurteilen lassen muss, als von derselben Aktivität konstituiert
vorstellen, die sie bemessen - so würden vernünftiger Vollzug und eitle Selbstermächtigung ununterscheidbar. Die geistphilosophische Umformulierung ändert
an dieser Folgerung scheinbar nichts: Zwar bezieht sich der Ausdruck „Geist"
nicht mehr (einfach und nur) auf individuelle „Subjekte", sondern ist ein sachliches Scharnier zwischen der Rede über „je mein" geistiges Tun, und der Rede
über überindividuelle „soziale" Vollzügen aus einer generischen „Wir"-Perspektive (vgl. exempl. Stekeler-Weithofer 2005, 48 f.). So ermächtigt sich aber lediglich
ein anderes, höherstufig-generisches eitles Subjekt selbst - nämlich „das geistige
Tätigsein", das beständig seine eigene Praxis schafft. Man hätte zwar die Vernunft
situiert (im Verhältnis zwischen individuellen Vollzügen und den normativen Institutionen), alle vernünftigen Geltungsansprüche aber relativiert. Denn die Normen, unter denen unsere individuellen geistigen Vollzüge „besser" und „schlechter" sind, wären nach diesem Bild das Produkt der gemeinsamen Praxis: bloße
Konventionen, deren „Geltung" in ihrer Genese gründete.
Diese Konsequenz ergibt sich aus einer Lesart der hegelschen Situierung der
Vernunft, die verlockend, aber weder notwendig noch (letztlich) überzeugend
ist. Man kann sie konstitutionstheoretisch nennen: Sie versteht Hegels Modell der
„Aktivität des Geistes" als Antwort auf die Frage, wie die Vernünftigkeit unserer
Vollzüge zustandekommt. Diese Frage nach dem Zustandekommen vernünftiger
Vollzüge ist aber nicht dieselbe wie die nach der Form, in der sie wirklich sind
(nach ihrer „Seinsweise").
Diese konstitutionstheoretische Lesart Hegels erklärt seine Attraktivität für
moderne Praxistheorien. Sie beschreibt Vernunft - ihre Gestalt, ihre interne
Normativität, ihren Zusammenhang - als das Produkt sozialer Praktiken, und
erklärt die Konstitution begrifflicher Gehalte wie die Konstitution praktischer
Gründe, indem sie die sozialen Praktiken rekonstruiert, die ihre notwendigen
und hinreichenden Bedingungen sind; und sie erklärt die normative Gestalt dieser Praktiken, indem sie sie als durch die individuellen Vollzüge bedingt versteht,
aus denen die Praktiken fortwährend hervorgehen (vgl. exemplarisch Pippin 2008
und 2010). Diese Beschreibung der „Performativität" von Praxis (s. Volbers 2014,
Kap. 3.4) macht klar, dass das Mitwirken anderer Subjekte eine Bedingung für das
Gelingen subjektiver Vollzüge ist; sie erklärt, wie die Ansprüche einer situierten
Vernunft uns nicht wie „von außen" betreffen, sondern dadurch, dass sie in dieser
Praxis eine Rolle spielen, die ihrerseits durch „unser" Tun und Handeln bewirkt
50
Jan Müller
ist. Es wäre sinnlos, von der Vernunft und ihren Ansprüchen unabhängig von
dieser sozialen und geschichtlichen Situiertheit zu reden.
Damit erbt die konstitutionstheoretische Lesart als Variante des hergebrachten
Modells konstitutiver Subjektivität aber auch deren doppeltes Defizit (vgl. Cassirer 1920, 280f.): Erstens entgeht sie dem geltungstheoretischen Zirkel nicht,
sondern deutet ihn nur zur „Performativität" um. Die Idee „vernünftiger Ansprüche" geht dabei aber entweder im Kollaps in einen relativistischen Historismus verloren, oder muss einen vorkritischen Gegebenheitsdogmatismus reaktivieren. Zweitens macht die konstitutionstheoretische Lesart die neue, durch das
„Geist"-Modell ermöglichte Perspektive wieder rückgängig: Sie fragt nicht nach
der wirklichen Form unserer geistigen Vollzüge, sondern übersetzt diese Frage in
die nach der (faktiven oder logisch bedingenden) Herkunft dieser Wirklichkeit
zurück. So zu fragen heißt aber, als Prinzip unserer geistigen Vollzüge eben gerade nicht sie selbst, sondern etwas anderes aufsuchen: das, was sie „konstituiert"
und worauf zurückbezogen sie gedacht werden müssen.
Diese Umformulierung der Frage unterläuft der konstitutionstheoretischen
Lesart, weil sie die Radikalität der geistphilosophischen Umstellung unterschätzt.
Sie schließt aus (erstens) dem Gedanken, dass die Idee von Vernünftigkeit nicht
unabhängig von einer Vorstellung ihrer Wirklichkeit in geistigen Tätigkeiten gefasst werden kann, und (zweitens) der Einsicht, dass die Vorstellung von einer
Ausübung geistiger Tätigkeiten allemal an unsere menschlichen Angelegenheiten
gebunden bleibt, weil unsere Praxis eben (wirklich und unhintergehbar) das Medium jeder Vorstellung von ,;vernunft" ist, dass (folglich) vernünftige Ansprüche
an unser Denken und Handeln als letztlich kontingente, jedenfalls willkürlich veränderliche Produkte unserer Praxis verstanden werden müssten (vgl. Schürmann
2015b, 170ff.). Die Alternative zur Frage nach der Konstitution der Vernunft ist
die Frage nach ihrer Form: danach, was die Vernünftigkeit unserer Vollzüge ist.
Statt nach den Gelingensbedingungen faktischer, einzelner geistiger Vollzüge
wird gefragt, was es überhaupt heißt, geistige Vollzüge als gelungen zu begreifen.
Im ersten Fall wird man Bedingungen zu formulieren versuchen, unter denen ein
Vollzug cpals mehr oder weniger gelungen beurteilbar ist. Im zweiten Fall wird
man „das wirkliche cp-en"durch die Spannung zwischen der Beschreibung meines
subjektiven Vollzugs und der allgemeinen Form des cp-ens.Man wird Vernunft als
das Verhältnis von subjektivem und objektivem Geist erläutern, und zwar anläßlich und anhand meines konkreten, situativ eingebetteten und überbestimmten
cp-ens.
Konstitutionstheorie und Formreflexion ähneln sich sehr: Beide verstehen die
Sozialität der Vernunft als begrifflich an soziale Vollzüge gebunden, und beide
verstehen die Normativität der Vernunft also genealogisch bestimmt (vgl. Menke
2005, Khurana 2017). Beide Lesarten schließlich erklären die Konstitution begrifflicher Gehalte im theoretischen wie praktischen Denken „holistisch", durch
nichts anderes als den Bezug auf soziale Praktiken (vgl. Bertram 2002). Sie unter-
G.W. F.Hegel
51
scheiden sich aber darin, womit sie anfangen, und worin sie ihr (geglücktes) Ende
erwarten.
Die konstitutionstheoretische Lesart beginnt mit einer Theorie von Praktiken:
einer faktiven Beschreibung von Institutionen, auf die sie die Kraft normativer
und begrifflicher Ansprüche zurückführt. Die formreflexive Geistphilosophie zielt
auf die wesentliche Spannung (das „dialektische Verhältnis") zwischen dem (unbedingten, zeitenthoben-objektiven) Anspruch theoretischer und praktischer
Gründe einerseits, und andererseits dem Umstand, dass solche Ansprüche nur
in einer spezifischen (historischen, sozialen, denkerischen) Situation bestehen,
indem sie sich an mehr oder weniger vernünftigen Vollzügen exemplifizieren. Ihr
glückliches Ende hat solche Formreflexion in dem Gedanken, dass ein subjektiver geistiger Vollzug dann „gut" ist, wenn er den objektiv repräsentierten Normen des überindividuellen, allgemeinen Tätigseins entspricht, und diese Entsprechung besteht, wenn der Gedanke an die Norm diese Norm selbst objektiv
vorstellt und erfüllt. Im geistigen Tun „bei sich im Anderen sein" heißt, die Form
des Gedankens, den man fasst, als Exempel des wirklichen Vollzugs geistigen Tätigseins begreifen.
Hegels geistphilosophische Umformulierung will Tätigkeit in ihrer wirklichen,
aktuellen Ausführung begreifen. Sie ist deshalb nicht bloß ein geistesgeschichtlicher Bezugspunkt der auf sie reagierenden materialistischen Positionen (vgl.
weiter Schürmann 2017, 126ff.), sondern (jenseits der schiefen, ideologisch dem
neuzeitlichen Empirismus verpflichteten Sortierung „idealistischer" vs. ,,materialistischer" Philosophien) auch sachlich das Urbild einer wahren (nämlich einer
mit idealistischen Mitteln formulierten) materialistischen Praxisphilosophie (vgl.
Holz 2010; Rödl 2007, 14f.). Womit aber fängt diese auf das Begreifen der Form
wirklichen geistigen Tätigseins zielende Praxisphilosophie an?
3.2. Wie fängt Praxisphilosophie„unbefangen an"?
Wie fängt man das Nachdenken über wirkliches geistiges Tätigsein an, so dass
dabei keine bloß empiristische Beschreibung von Praktiken herauskommt? Hegel
schlägt in der methodologischen Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des
Rechts vor, den Anfang nicht in einem besonderen Gegenstandsbereich, sondern
in einer bestimmten denkerischen Haltung zur Sache zu suchen - nämlich der
Haltung des (mit ironischer Absicht so genannten) ,,unbefangene[n] Bewußtsein[s]" (Hegel 1821, 25). ,,Unbefangenheit" ist keine Haltung inszenierter Naivität
(und also auch keine Orientierung an einer angeblichen „alltäglichen Normalität"), sondern die Tugend, sich reflexiv von den sprachlichen und denkerischen
Deformationen überkommener Denkmodelle zu befreien. Unbefangen ist klar,
dass, ,,[w]as vernünftig ist, [... ] wirklich; und was wirklich [... ] vernünftig" ist
(ausdrücklich nicht als eine Forderung an die Wirklichkeit, sie möge irgendwie
„vernünftiger" werden - dann wäre das Nachdenken „selbst nur Eitelkeit"-, und
auch nicht als eine Forderung an das Nachdenken, sich irgendwie nach einer
52
Jan Müller
Wirklichkeit zu richten - dann wäre es bloßes Meinen, für dessen Richtigkeit
etwas anderes als es selbst zuständig wäre; s. Hegel 1821, 24 f.). ,,Unbefangen" anfangen heißt ,,[d]as was ist zu begreifen" (Hegel 1821, 26).
Das ist eine formale Selbstverständlichkeit: was als Etwas gedacht wird, ist, insofern es für das
begriffliche Denken faßlich ist, ,,vernünftig" (andernfalls es nicht denk- und vorstellbar wäre).
Und indem man umgekehrt Etwas als das, was es ist, denkt und „begreift", ist das vernünftige Nachdenken „wirklich". Der normative Ausdruck „vernünftig" funktioniert hier attributiv:
Wirkliches ist vernünftig, insofern es als das, was es ist, nur im kategorialen Rahmen unseres Denkens thematisiert werden kann. Streng genommen wäre es sinnlos, von „wirklichem
Nicht-Vernünftigem" zu reden. Man darf den Ausdruck „vernünftig" dabei nicht nur in einer
(etwa: moralisch oder politisch) bewertenden Tonlage hören - so, als wäre etwa eine (unterstellt: fraglos) unvernünftige Praktik deshalb, weil sie wirklich ist, in einem bewertenden Sinn
,,vernünftig" und damit irgendwie der Kritik enthoben. Hegels Merksatz kontrastiert „vernünftig" mit seinem kontradiktorischen Gegensatz „nicht-vernünftig"; der polare, privative Gegensatz „unvernünftig" spielt seine Rolle im Verhalten zum Vernünftigen. So gehört zum Reden
über eine fraglos problematische Praktik dazu, sie als problematisch und insofern unvernünftig anzusprechen; andernfalls hätte man etwas Entscheidendes an ihrer Wirklichkeit verfehlt.
Wirklichkeit ist stets mehr oder weniger (un- )vernünftig, aber nie nicht-vernünftig.
,,Unbefangen" sucht man (ohne vorschnelle Verpflichtung auf eine bestimmte,
gar terminologische Repräsentation) zu begreifen, was einer Sache wesentlich ist.
Die Sache, um die es Hegels Praxisphilosophie geht, sind unsere menschlichen
Angelegenheiten: unser geistiges Tätigsein. Tätigsein ist ein Vollzug: es ist, was
es ist, im wirklichen Denken, im wirklichen Handeln. So kehrt in Hegels Geistphilosophie genau dasjenige Darstellungsproblem wieder, auf das sie reagierte.
Einen wirklichen Vollzug ausdrücken heißt, eine Bewegung in ihrem Fortgang,
in ihrem Gerade-dabei-Sein ausdrücken: als Vollziehen, das seinen Ursprung und
sein Prinzip in sich selbst hat. Deshalb setzt Praxisphilosophie nicht mehr einfach
bei einem „Subjekt" an, sondern bei dem Verhältnis zwischen subjektivem und
objektivem Geist. Man kann einen Vollzug nur in zwei spiegelbildlichen Perspektiven ausdrücken, die jeweils das, was sie mitteilen wollen, verzerren: In der
aufs Subjekt konzentrierten Perspektive wird der Vollzug von seinem Subjekt her
thematisiert; das Ergebnis sind Handlungssätze wie „Ich <p-e"oder „Ursula ist
dabei, zu <p-en".
In der aufs Resultat konzentrierten Perspektive wird der Vollzug
von seiner perfektiven, abgeschlossenen, objektiven Gestalt, als vom Subjekt unabhängiger generischer Handlungsbegriff thematisiert. Hegel nennt diese resultative Gestalt des Vollzugs, wie sie in Sätzen wie „es wurde <pgetan" oder „es fand
ein <p-enstatt" ausgedrückt wird, ,,die Tat".
Hegels darstellungsreflexiver Punkt ist nun, dass die Form von Vollzügen
durch das Zusammenspiel dieser beiden verschiedenen Artikulationsweisen charakterisiert ist - diese Verschiedenheitaber „unsichtbar" wird, wenn man nur auf
die propositionalen Gehalte der resultierenden Beschreibungen achtet (wenn
man die praktischen Reden nur als Sätze auffasst). In beiden Fällen ist die „Form
des Satzes[ ... ] die Erscheinung des bestimmten Sinnes oder der Akzent, der seine Erfüllung unterscheidet; daß aber das Prädikat die Substanz ausdrückt und
G.W. F.Hegel
53
das Subjekt selbst ins Allgemeine fällt, ist die Einheit, worin der Akzent verklingt"
(Hegel 1807, 59). Diese Nivellierung ist, weil sie zur repräsentationalen Form des
Satzes gehört, unvermeidlich: Die sprachliche Form drängt das Vorstellen gleichsam fort von dem, worum es gehen soll - dem Vollzug -, und hin auf entweder
das Subjekt des Vollzugs, oder auf die allgemeine resultative Form, die er exemplifiziert. Genau an dieser Stelle entsteht die konstitutionstheoretische Auffassung:
Sie verliert im „Verklingen des Akzentes" die Spannung zwischen der subjektiven
und der objektiven Perspektive auf den Vollzug aus dem Blick und muss deshalb
die Wirklichkeit des Vollziehens auf dessen Ursprung: seine Quelle, ,,Ursache",Bedingungen zurückführen. Damit aber hat sie unbemerkt nicht mehr den Vollzug selbst (seine Wirklichkeit), sondern seine Bedingungen (seine Möglichkeit)
im Blick. - Den Vollzug selbst, meint Hegel, bekommt man nur als Spannung
zweier irreduzibler Beschreibungsperspektiven auf konkretes Tätigsein in den
Blick. Deshalb kann man den Vollzug selbst nur mitteilen und darstellen, indem
man solche „einerseits-andererseits" -Perspektiven immer wieder durchspielt und
nach ihrem inneren Zusammenhang fragt. Die innere Spannung jeder Tätigkeitsbeschreibung in (subjektivistischen) Handlungssätzen und in (objektivistischen)
Ereignisbeschreibungen ist kein zu erduldendes Dilemma, sondern „diese Bewegung" muss als Nachvollzug „ausgesprochen werden; sie muß nicht nur jene
innerliche Hemmung, sondern dies Zurückgehen des Begriffs [d. h. des geistigen
Vollzugs des Begreifens] in sich muß dargestellt sein" (Hegel 1807, 61).
Auch ohne Sarkasmus kann man über das Missverhältnis zwischen der Einladung zu „unbefangener" Lektüre und den Formulierungen stolpern, mit denen Hegel seine eigene Darstellungsstrategie mitteilt. Sie stammen aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, dem zuletzt
geschriebenen Kapitel des Buches, und man könnte ihre Dunkelheit werkgeschichtlich auf die
systematische „Jugend" seines Verfassers schieben. Sachlich ist Hegels sprachliche Bemühtheit
durch den unbefangenen Anfang gut begründet: Die Phänomenologie soll eine Darstellung des
„erscheinenden Wissens" sein. Sie fragt, wie man, wenn man geistig tätig ist, um sein eigenes
geistiges Tätigsein weiß (wie einem dieses Wissen erscheint), und trägt dem Problem der Darstellung von Vollzügen dadurch Rechnung, dass sie die phänomenologische Erzählung in die
Perspektiven von Figur und Erzähler (von „erfahrendem Selbstbewusstsein" und beobachtendem Phänomenologen) differenziert. Das ,Wissen", das dabei zur Erscheinung gebracht wird,
muss also verbal, d. h. praxisphilosophisch verstanden werden; das Verbalsubstantiv „Wissen"
bezeichnet nicht einen sogenannten „mentalen Zustand" (das täte eher das Partizip Präsens
oder eine adjektivische Derivation daraus), sondern den Vollzug eines Tuns, etwas, das man irgendwie macht. Statt als (unklaren und irreführenden) terminologischen Festlegungsvorschlag
solle man Hegels vielgescholtenen „Jargon" vielleicht besser als Ringen um sachlich angemessene Formulierungen verstehen (was im Fall der Vorrede noch dadurch erschwert wird, dass sie
begriffliche Erträge andeuten soll, deren Bedeutung und Reichweite das nachfolgende Buch erst
entwickeln kann: ,,Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat,
daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein"; Hegel 1807, 23f.).
54
Jan Müller
Praxisphilosophie fängt also an mit der „Darstellung" des Nachvollzugs derjenigen „Bewegung" an, in der wir unsere menschlichen Angelegenheiten verstehen
und artikulieren.
3.3. Inwiefern fängt Praxisphilosophie beim Denken an?
Dabei war bislang für eine Praxisphilosophie allerdings so viel von „geistiger Tätigkeit" die Rede, dass der Verdacht, Hegels Vorschlag blende die üblicherweise
„handfester" vorgestellten Bereiche des leiblichen und oft nicht-bewussten Tuns
aus, nicht einfach durch den Verweis auf die fabelhaften Versprechen seiner geist philosophischen Umstellung ausgeräumt ist.
Für diese Umstellung sprach, dass der deskriptive Zugriff einer „Theorie von
Praktiken" den wirklichen Vollzug solcher Praktiken verfehlt. Man begreift einen
solchen Vollzug dann (letztlich und unbezweifelbar), wenn der begriffene Vollzug in seinem Begriffenwerden „zu sich selbst kommt" - wenn man ihn so denkt,
dass er sich selbst versteht. So schaut man immer schon auf den geistigen Aspekt
an Tätigkeiten, wenn man sie überhaupt als Tätigkeiten anspricht; und am Deutlichsten hat man ihn an der Praktik des Nachdenkens vor Augen.
Das unternimmt die Wissenschaft der Logik. Logik ist als „Wissenschaft Denken des Denkens" also das Nachdenken über denjenigen besonderen Vollzug, der in objektiver Gestalt als Gedanke erscheint. Logik begreift diejenige Praktik, die „die Gedanken [... ] als Gedanken in den Kopf
bekommt" (Hegel 1830, § 19, Hervorh. JM). Selbst die Wissenschaft der Logik ist also Praxisphilosophie, und die Praktik, der sie sich widmet, hat überdies den methodischen Vorteil, dem
„unbefangenen Bewusstsein" darin entgegenzukommen, dass „das eigene Denken und dessen
geläufige Bestimmungen[ ... ] das Elementarische [... ,]das Bekannteste" ist (ebd.).
Folgt aber daraus, dass „Denken" vielleicht tatsächlich die jeder Denkenden bekannteste und uns gemeinsam deshalb deutlichste Tätigkeit ist, dass man an ihr
auch die wesentlichen Aspekte unserer anderen menschlichen Angelegenheiten
versteht? Reicht dafür, dass diese Angelegenheiten vom Denken nicht gänzlich
unabhängig verständlich sind?
Praxisphilosophie versteht unser menschliches Tätigsein als Wirkliches. Etwas als wirklich denken beginnt mit der Realisierung, dass es einen Unterschied
macht, ob man sich eine Sache vorstellt, um dann ergänzend zu fragen, was die
notwendigen und hinreichenden Bedingungen ihres Daseins und Vorliegens wären - oder ob man sich eine Sache so vorstellt, dass ihre Wirklichkeit zu ihrer
Form dazugehört. Eine Tätigkeit als wirkliche vorstellen heißt, sie als den Vollzug
zu denken, der sie ist. Das ist unbezweifelbar genau dann der Fall, wenn das, was
gedacht wird, nichts anderes ist als das, was denkt - wenn der Vollzug selbstbewusst ist. Dann ist die Frage, ob das Verstandene angemessen unter einen Begriff fällt, bereits dadurch beantwortet, dass es sich selbst als unter seinen Begriff
fallend versteht. Hegel nennt eine begrifiliche Form, die das, was unter sie fällt,
nicht nur als wirklich repräsentiert, sondern es als wirklich repräsentiert, inso-
G.W.F.Hegel
55
fern es unter sie fällt, ,,Idee". Es ist klar, dass eine Idee nur eine Aktivität, ein Tun
sein kann; denn nur ein Tun kann so als intern reflexiv strukturiert verstanden
werden, dass es sich selbst unter den Begriff bringt, unter den es fällt: Denn ein
Tun wird vollzogen. ,;vollzug" ist ein Prozess, der nicht (wie andere Prozesse) eine
äußerlich gestiftete Einheit sukzessiver Ereignisse ist, sondern dessen Phasen
durch ein inneres Prinzip verbunden sind. Während Prozesse unpersönlich, d. h.
drittpersonal beschreibbar sind, brauchen Vollzüge die Darstellung aus der Teilnehmerperspektive.
Aus dieser ganz formalen Charakterisierung unserer menschlichen Angelegenheiten als Vollzüge ergibt sich, dass man über sie nicht unabhängig vom
„Denken" nachdenken kann. Dass Vollzüge ihr Prinzip und ihren Ursprung in
sich haben, ist nämlich nur genau dann keine bloße Behauptung, wenn man um
diese Form von Vollzügen im Vollzug wissen kann. Wissen, was man tut, indem
man es tut, und erkennen, was man denkt, indem man seinen Gedanken fasst,
sind daher ein und derselbe Vollzug, Ausübung ein und derselben Fähigkeit. So
bricht die praxisphilosophische Umstellung auf „Geist" mit dem Bild, nach dem
Denken und Handeln aus unterschiedlichen Quellen schöpfen und auf verschiedene Art (falls überhaupt) wirken. Die als Geist thematisierte Vernunft ist nichts
anderes als das, was sich an unserer Praxis als deren Vernünftigkeit zeigt. Dass
die „Bestimmtheit des Geistes [... ] die Manifestation", ,,seine Bestimmtheit und
Inhalt [... ] dieses Offenbaren selbst ist", besagt genau dies: Geist „manifestiert
sich" als menschliches Tätigsein; er ist nichts als unsere Praxis im Allgemeinen
(Hegel 1830, § 383).
„Denken" und „Handeln" sind dann im selben Sinne Manifestationen des
Geistes. Aspekte geistigen Tätigseins. Die Unterscheidung von „theoretischem"
(betrachtendem, das Betrachtete „lassendem") und „praktischem" Vernunftgebrauch als eine Unterscheidung von zwei Vermögen ist hinfällig: ,,Diejenigen,
welche das Denken als ein besonderes, eigentümliches Vermögen, getrennt vom
Willen, als einem gleichfalls eigentümlichen Vermögen, betrachten und weiter
gar das Denken als dem Willen, besonders dem guten Willen, für nachteilig halten, zeigen sogleich von vornherein, daß sie gar nichts von der Natur des Willens
wissen" (Hegel 1821, § 5 Anm.) - dass nämlich „Wollen" das subjektive Moment
der intentionalen Form geistigen Tätigseins ist. Der argumentative Zielhorizont
von Hegels Praxisphilosophie begreift Handeln und Wollen als immer schon,
nämlich ihrer Form nach, denkend: Handeln ist praktisches Denken; und umgekehrt ist (perzeptives, anschauend auffassendes) Denken seiner Form nach auch
begehrend und wollend, nämlich auf Angemessenheit bezogen, und also tätig.
56
Jan Müller
4. Die Elemente „sittlicher Wirklichkeit"
Hegels Praxisphilosophie versteht die Form des geistigen Tätigseins als die Spannung zwischen seiner subjektiven und objektiven Beschreibung. Es wurde deutlich, dass die Gegenstände der Beschreibungen - unsere geistigen Vollzüge nichts sind, das auch unabhängig von solchen Beschreibungen vorstellbar wäre.
Man „hat" ihren Begriff, indem man sie tatsächlich und angemessen begreift und
ausspricht (nicht konstitutionstheoretisch: dadurch, dass man sie ausspricht!).
Hegel umschreibt ein derart gelingendes Begreifen als eine „Versöhnung" des
Nachdenkens „mit der Wirklichkeit" und als „Einheit der Form und des Inhalts"
(Hegel 1821, 27). Darin, dass eine Sache angemessen so gedacht wird, wie sie ist,
ist das Nachdenken „mit der Wirklichkeit versöhnt" - freilich nicht mit derjenigen der gedachten Sache, sondern mit seiner eigenen: ,,die Form in ihrer konkretesten Bedeutung", schreibt Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts,
„ist die Vernunft als begreifendes Erkennen, und der Inhalt die Vernunft als das
substantielle Wesen der sittlichen wie der natürlichen Wirklichkeit" (Hegel 1821,
27). Ausgehend von diesem methodischen Kern differenziert Hegel sein Projekt
und diskutiert Problemlagen, die traditionell den philosophischen Subdisziplinen überantwortet waren, als unterschiedliche Perspektiven auf ein und dieselbe
Praxis des Geistes. Dabei bildet die Frage nach unseren menschlichen Angelegenheiten das Leitmotiv, in dem die Frage nach der „sittlichen" und die nach der
„natürlichen" Wirklichkeit zusammenhängen. Man kann diesen Zusammenhang
unterschiedlich perspektivieren - also eher auf die allgemeine kategoriale Systematik fokussieren, die unser Denken überhaupt strukturiert (das Projekt der
Wissenschaft der Logik), oder auf die Art, in der die empirischen Wissenschaften
Teil der Selbstreflexion unserer Praxis sind (das Projekt der Naturphilosophie im
zweiten Teil der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften), oder schließlich auf die Art und Weise, in der unsere menschlichen Angelegenheiten sich
in unserer Praxis manifestieren. Um diese letzte Perspektive geht es nun zuletzt.
Sie ist einerseits für die „Geschichte der Praxisphilosophie" interessant, weil sie
traditionelle „praktisch-philosophische" Aspekte behandelt. Vor allem aber ist sie
andererseits für die Systematik der Praxisphilosophie zentral, weil zur Form geistiger Tätigkeiten ihre Normativität gehört. Hegel fasst das in der Frage nach der
,,sittlichen Wirklichkeit": Das Wirksamsein praktischer Normativität im Handeln und Denken zu begreifen heißt, diese Normativität „substantiell", also als
objektiv und selbstgenügsam zu verstehen. Ihre Geltung hängt nicht von unserer
Zustimmung ab; nur deshalb können diese Normen uns vernünftigerweise binden. Zugleich aber ist „in dem, was substantiell ist, ebenso die subjektive Freiheit
zu erhalten" - denn sonst wäre die freie Anerkennung normativer Autorität von
bloßem Zwang, Vollzüge von Widerfahrnissen ununterscheidbar. Die Praxisphilosophie löst diese Spannung nicht (nach der Seite des Subjekts hin, oder nach
der Seite etwa der „Struktur" hin) auf, sondern markiert sie als das, was geistiges Tätigsein ausmacht: Die innere Spannung unseres Tätigseins steht „nicht in
G.W. F.Hegel
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einem Besonderen und Zufälligen, sondern in dem, was an und für sich ist" (Hegel 1821, 27). Methodisch beginnt die Praxisphilosophie mit dem Aufweis der
Notwendigkeit dieser Spannung, indem sie die Form unserer wirklichen Vollzüge
reflektiert, um die ,;vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen"
(Hegel 1821, 26), also: gerade in dem, was uns als Problem irritiert, die Form zu
verstehen, die sich darin exemplifiziert. Wie die Vernunft selbst ist dieses Fragen
nach ihrer Manifestation deshalb unhintergehbar situiert: es ist seiner Form nach
durch das bedingt, was es anstieß. Diese Erfahrung und Hegels Umgang mit ihr
wird im Folgenden nachvollzogen: Der Anstoß ist das irritierende Dilemma, in
das das subjektive Nachdenken über praktische Normativität führt (4.1.). Ganz
unproblematisch wirklich ist „objektive" Normativität dann, wenn sie verleiblicht
ist: als Gewohnheit (4.2.). Gewohnheit allein reicht aber nicht, um die unser Handeln bestimmende Normativität zu verstehen. In intentionalen Vollzügen zeigt
sich vielmehr, dass das, was (in der Gewohnheit) rein individuell aussah, sachlich
schon auf die Allgemeinheit praktischer Formen bezogen ist (4.3.) - sodass die
Form des individuellen Wollens seiner Form nach immer schon inter-subjektiv,
oder ein Anerkennungsverhältnis ist (4.4.).
4.1. Der Anstoß:,,Praktische Vernunft"
Auch die Praxisphilosophie beginnt mit der Subjektperspektive. Denken (und
Handeln) tauchen in ihrer „am nächsten liegenden Vorstellung [... ,] in [ihrer]
gewöhnlichen subjektiven Bedeutung" auf: ,,Das Denken als Subjekt vorgestellt
ist Denkendes, und der einfache Ausdruck des existierenden Subjekts als Denkenden ist Ich" (Hegel 1830, § 20). Noch bevor man fragt, wie sich die Normativität geistiger Tätigkeit objektiv vorstellen lässt, muss man Denken eben als mein
Denken, und „ich" mich als Subjekt meiner eigenen Selbstbestimmung auffassen.
Fragt man sich aber, wie in einer Situation richtig und gut zu handeln wäre,
dann verstrickt man sich mit diesem „unbefangenen" subjektiven Selbstverständnis unversehens im leeren Formalismus des „moralischen Bewußtseins" (vgl.
etwa Yeomans 2015, Kap. 2). Warum? - ,,Sich selbst bestimmen" heißt, das eigene
Handeln und Wollen an einem Gut zu orientieren, das als zugleich objektiv und
anerkannt vorgestellt werden muss und daher „die Bestimmung der allgemeinen
abstrakten Wesentlichkeit - der Pflicht" hat (1821, § 133). Das ist Kants Einsicht:
Nur Pflicht orientiert intern und notwendig. Der Gedanke ist aber, meint Hegel,
durch seine Abstraktheit ambivalent: ,,So wesentlich es ist, die reine unbedingte
Selbstbestimmung des Willens als die Wurzel der Pflicht herauszuheben [... ], so
sehr setzt die Festhaltung des bloß moralischen Standpunkts [... ] diesen Gewinn
zu einem leeren Formalismus[ ... ] herunter" (Hegel 1821, § 135). Setzt man „unbefangen" bei sich als „Subjekt" an, dann bleibt in konkreten Situationen unklar,
ob ein Gut, oder ob ich die Quelle der Notwendigkeit bin, die mich zum Handeln nötigt. Der Gedanke der Pflicht in seiner nötigenden Allgemeinheit ist leer;
er sagt nicht, wen er zu was genau zwingt. Man könnte deshalb - immer noch
58
Jan Müller
ganz „unbefangen" überlegend - die Aufgabe, in einer Situation auch inhaltlich
zu sagen, wozu man vernünftigerweise verpflichtet ist, in „die Besonderheit überhaupt [... verlegen,] in die Subjektivität [... ] - das Gewissen". Denn im Akzent auf
die Vernünftigkeit des Wollens fokussiert man „nur die formelle Seite der Tätigkeit
des Willens, der als dieser [d. h. als ein bestimmter Wille] keinen eigentümlichen
Inhalt hat" (Hegel 1821, § 136-37). Die inhaltliche Bestimmung (das Gewollte,
und die affektive Tönung des Wollens) muss deshalb von anderswoher rühren und woher naheliegender als aus unserer unergründlichen Individualität?
„Gewissen" ist hier der Titel für gesinnungsmäßiges Wollen. Mit dem Verweis
auf das Gewissen beansprucht man „die absolute Berechtigung des subjektiven
Selbstbewußtseins [... ], nämlich in sich und aus sich selbst zu wissen, was Recht
und Pflicht ist, und nichts anzuerkennen, als was es so als das Gute weiß, zugleich
in der Behauptung, daß, was es so weiß und will, in Wahrheit Recht und Pflicht
ist". Der Verweis aufs Gewissen ist indes ambivalent: er muß Angemessenheit,
„Wahrheit" beanspruchen, kann sie aber nicht einlösen. Denn „ob das, was [ein
Individuum] für gut hält oder ausgibt, auch wirklich gut ist, dies erkennt sich
allein aus dem Inhalt dieses Gutseinsollenden". Wenn aber der Inhalt das Maß
für die Güte des Wollens ist, dann kann er gerade nicht rein individuell bestimmt
sein, sondern muss die Form „von allgemeinen, gedachten Bestimmungen" haben,
die „Form von Gesetzen und Grundsätzen" (Hegel 1821, § 137 u. Anm.). Der unbefangene Anfang beinhaltet die Spannung, dass das so vorgestellte gewissenhafte
Subjekt zugleich „die urteilende Macht" sein soll, die sagt, was zu tun gut ist, und
,,die Macht, welcher das zuerst nur vorgestellte und sein sollende Gute eine Wirklichkeit verdankt" (Hegel 1821,§ 138). Man verstünde sich zugleich als nach Normen urteilend, und darin als die Quelle der Kraft, die diese Normen zum Maßstab macht, an dem sich Urteile orientieren können. Beim Versuch, sich selbst als
Quelle seines guten Handelns zu verstehen, entdeckt der „unbefangene" Anfang
so, dass das Gewissen „als formelle Subjektivität schlechthin [... immer] auf dem
Sprunge[ ... ist], ins Böse umzuschlagen; an der für sich seienden, für sich wissenden und beschließenden Gewißheit seiner selbst haben beide, die Moralität und
das Böse, ihre gemeinschaftliche Wurzel" (Hegel 1821, § 139 Anm.).
Wenn gewollt wird, will jemand etwas; man bekommt den konkreten wollenden Menschen nicht aus der Vorstellung vom „Wollen" heraus. Für Kant war es
gerade ein Clou der Moralbegründung, dass die Rede vom „reinen Willen" eine
Abstraktion ist, die es uns erlaubt, zwischen dem universellen Anspruch „an sich
guten Wollens" und seiner Exemplifikation in Leuten wie uns zu unterscheiden.
Hegels Analyse des „Gewissens" zeigt aber, dass diese Abstraktion von der „natürlichen" Besonderheit wollender Menschen etwas ausblendet, was zum endlichen
Wollen doch wesentlich dazugehört: Weil zur Natur von Menschen gehört, dass
sie geistig tätig sind, sind ihre „natürlichen" Triebe und das vernünftige Wollen
verbunden - vernünftiges Wollen ist nicht „rein': sondern die Transformation des
natürlichen Triebs (vgl. Hegel 1830, §474 Anm.). ,,Der Mensch ist[ ... ] zugleich
sowohl an sich oder von Natur als durch seine Reflexion in sich böse" (Hegel 1821,
G.W. F.Hegel
59
§ 139 Anm.): ,,Böse" ist es, sich seinen vermeintlich „bloß natürlichen" Trieben
zu überlassen; spiegelbildlich „böse" ist es, zu meinen, man könne sich in völliger
Abstraktion von seiner eigenen natürlichen Wirklichkeit zum Repräsentanten
des „reinen Willens" aufschwingen, und das konkrete normative Maß guten Handelns dabei nur dem eigenen „Gewissen" entnehmen. Man muss sich, wenn man
,,unbefangen" anfängt, als sich selbst bestimmendes Selbstbewusstein verstehen:
als Subjekt praktischer Vernunft. Dabei kann man aber nicht stehenbleiben: Denn
die Wirklichkeit praktischer Vernunft, die man so denkt, enhält ununterscheidbar „ebensosehr die Möglichkeit, das an und für sich Al/gemeine als die Willkür",
oder „die eigene Besonderheit[ ... ] zum Prinzipe zu machen und sie durch Handeln zu realisieren - böse zu sein" (Hegel 1821, § 139; vgl. Hegel 1830, § Sll).
4.2. Die Gewohnheit des Guten:
Die geistige Durchbildung des Natürlichen
Hegels „unbefangener" Beginn der Praxisphilosophie stößt schon im ersten
Schritt auf das Dilemma, wie man sich als Subjekt seines Denkens und Handelns
so verstehen kann, dass man unter Normen steht, und zugleich Ursprung dieser
Normen ist. Beides ist notwendig: Man muss seine Vollzüge als unter Normen
stehend begreifen können, damit man sie als „besser" oder „schlechter" verstehen kann; diese Normen können einem nicht völlig äußerlich sein, weil sie sonst
mit dem eigenen Tätigsein nur noch beiläufig zu tun hätten. Muss man aber so
grundsätzlich einsteigen, dass dieses Dilemma unausweichlich scheint?
Tatsächlich kennen wir das Phänomen eines normativen Tätigseins, bei dem
wir (in einer bestimmten, aber nicht nebensächlichen Hinsicht) buchstäblich
selbst die Quelle der Normen sind, unter denen wir stehen - nämlich das Tätigsein aus Gewohnheit. Ganz analog zur aristotelischen Erläuterung der Tugend
(vgl. auch Haase 2017) versteht Hegel Gewohnheit als eine gestaltete, erworbene
Disposition zum Tätigsein: keine einfach „natürliche" Disposition, sondern eine,
die durch die Bearbeitung und Transformation solcher natürlichen Dispositionen entsteht. Der Erwerb solcher Gewohnheiten ist leicht begreiflich: Sie entstehen durch Übung, durch Wiederholung, manchmal durch Lehre und Anleitung.
Aufregend ist, wie sie funktionieren, wenn sie bestehen: Sie gehen einem Menschen buchstäblich „in Fleisch und Blut" über und gehören zu seiner Leiblichkeit.
Wer gewohnheitsmäßig eine Tätigkeit <pausführt, der stößt ihr eigenes <p-enin
bestimmter Weise zu (sie kann sich zum Beispiel über ihr <p-enwundern). Und
in einem bestimmten Sinn ist nicht sie das Subjekt dieses <p-ens,sondern ihre
Gewohnheit: Beurteilt man z.B. ihr <p-enals schlecht, dann entschuldigt sie (in
einem gewissen Grad) die Auskunft, sie habe „aus Gewohnheit so" ge-<p-t(weil
nicht ihr aktuelles Tun, sondern die Art und Weise der Gewöhnung zu tadeln ist).
In der Gewohnheit ist einem die eigene Tätigkeit, das eigene Denken unmittelbar:
Man tut und denkt, aber man ist nicht bei seinem Tun und Denken, sondern bei
60
Jan Müller
dessen Gegenständen. Hegel nennt diese Unmittelbarkeit des eigenen Denkens
Seele; und „Seele" ist nur vorstellbar als verkörpert: als beseelter Leib. (In Hegels
Formulierung: ,,Seele" ist die „ideelle, subjektive Substantialität dieser Leiblichkeit [... ],wie sie in ihrem an sich seienden Begriff[ ... ] nur die Substanz derselben als solche war"; Hegel 1830, § 409.)
Man weiß in der Ausübung der Gewohnheit nicht um sich (allenfalls hat man,
sagt Hegel, ein „Selbstgefühl"); trotzdem muss man sich im Zweifelsfall das, was
man aus Gewohnheit getan hat, als eigenes Tun zuschreiben, und sich also auch
zuschreiben, dass man es unmittelbar auf eine gewisse Art und Weise, nämlich gewohnheitsmäßig besser oder schlechter getan hat. Und in dieser unmittelbaren,
nicht-bewussten Weise sind wir als Gewohnheit zugleich diejenigen, die cp-en,
und die Verkörperung der Norm des cp-ens.Als Gewohnheit hat die „Seele [... ]
den Inhalt[ ... ] in Besitz und enthält ihn so an ihr, da sie in solchen Bestimmungen nicht als empfindend ist, nicht von ihnen sich unterscheidend im Verhältnisse zu ihnen steht noch in sie versenkt ist" - denn wenn wir gewohnheitsmäßig
handeln, dann orientieren wir unser Tun nicht an einer objektiv vorgestellten
Norm, sondern handeln unmittelbar auf die Art normativ, die uns zur Gewohnheit wurde. Die Seele hat die Norm dann „empfindungs- und bewußtlos an ihr"
(Hegel 1830, § 410): sie ist ein Teil ihrer individuellen Gestalt geworden.
Mit der Gewohnheit erinnert Hegel aber nicht nur an eine uns ganz „unbefangen" bekannte Art und Weise, in der die Norm einer Tätigkeit und der Vollzug
dieses Tätigseins unproblematisch zusammenfallen, ohne in das leitmotivische
Dilemma der Subjektphilosophie zu geraten. Er macht auch auf die Unmittelbarkeit des gerade-wirklich- Vollziehens als den Modus dieses Zusammenfallens
aufmerksam. Wohlgemerkt: Hier geht es nicht um einen vermeintlichen Unterschied von (nicht-denkendem) ,,Handeln" und (irgendwie distanziertem) ,,Nachdenken" - sondern um den Modus, in dem man sich (unbefangen und im ersten
Schritt) den Vollzug geistigen Tätigseins vorstellen muss. ,,Gewohnheit" ist der
Name für den Umstand, dass wir ständig in dieser Weise unmittelbar dabei sind,
unsere menschlichen Angelegenheiten auszuführen: ,,Die Form der Gewohnheit
umfaßt alle Arten und Stufen der Tätigkeit des Geistes", vom aufrechten Gang
(,,der Mensch steht nur, weil und sofern er will, und nur so lange, als er es bewußtlos will"), über die Tätigkeit des Sehens, bis hin zu den „vielen Bestimmungen der Empfindung, des Bewußtseins, der Anschauung, des Verstandes", die
,,unmittelbar [... ] in einem einfachen Akt vereint" sind, wenn wir z.B. ein Rotkehlchen wahrnehmen, zum Kaffee greifen, oder in der Rede unseres Gegenübers
der Pause entgegenfiebern, in der wir sprechen dürfen. ,,Das ganz freie, in dem
reinen Elemente seiner selbst tätige Denken bedarf ebenfalls der Gewohnheit und
Geläufigkeit, dieser Form der Unmittelbarkeit, wodurch es ungehindertes, durchgedrungenes Eigentum meines einzelnen Selbsts ist". Warum? Weil das, worauf
man sich bezieht, wenn man von sich als geistig Tätiger, oder als einem geistigen
Wesen spricht, zunächst nicht die avancierte Vorstellung eines „sich selbst bestimmenden Subjekts" ist, sondern die Vorstellung einer habituell geistig Tätigen.
G.W.F.Hegel
61
,,Erst durch diese Gewohnheit existiere Ich als denkendes für mich" (Hegel 1830,
§ 410 Anm.): Die einzige Gestalt, auf die wir Bezug nehmen können, wenn wir
von uns als „Denkenden" reden, ist die verkörperte Gewohnheit des Denkens.
Der methodische Anfangspunkt der Praxisphilosophie beim Vollzug ist, nolens
volens, der Anfang bei einem konkret, leiblich exemplifizierten Vollzug - beim
unmittelbaren Tun eines Menschen. Leiblichkeit ist kein einfacher Zusatz zum
geistigen Tun, sondern sein Medium: ,,Die Seele ist als diese Identität des Inneren mit dem Äußeren, das jenem unterworfen ist, wirklich; sie hat an ihrer
Leiblichkeit ihre freie Gestalt, in der sie sich fühlt und sich zu fühlen gibt" (Hegel
1830, § 411). Man muss „sich von der Trennung" losmachen, die man „einmal
zwischen den Seelenvermögen, dem Gefühl, dem denkenden Geiste willkürlich
gemacht hat, [... ] und zu der Vorstellung[ ... ] kommen, daß im Menschen nur
eine Vernunft im Gefühl, Wollen und Denken ist"; dann verschwindet auch das
Unbehagen vor der Einsicht, ,,daß die Ideen, die allein dem denkenden Geiste
angehören, Gott, Recht, Sittlichkeit, auch gefühlt werden können. Das Gefühl ist
aber nichts anderes als die Form der unmittelbaren eigentümlichen Einzelheit
des Subjekts, in die jener Inhalt, wie jeder andere objektive Inhalt, dem das Bewußtsein auch Gegenständlichkeit zuschreibt, gesetzt werden kann" (Hegel 1830,
§ 471 Anm.). Praxisphilosophie fasst unsere menschlichen Angelegenheiten in
ihrer tätigen Wirklichkeit. Die erste, unbefangene Erscheinung solchen Tätigseins ist die Gewohnheit: der Norm und Ausübung, ,,Innen" und „Außen" unmittelbar verbindende, gefühlte, wirkliche Vollzug.
4.3. Tätige Selbstständigkeit: Die Öffentlichkeit des Handelns
Der Bereich der menschlichen Tätigkeit mag auf Gewohnheiten aufruhen; er geht
aber nicht im Gewohnten auf. Deshalb wird die Unmittelbarkeit des Vollzugs für
die Praxisphilosophie genau dann problematisch, wenn man das Handeln in den
Blick nimmt: Tätigsein, in dem das Verhältnis von Tun und Norm nicht bloß gefühlt wird. Man nimmt sich vor, zu ip-en; man weiß, wie man qi-t (man kennt die
fragliche Handlungsform, den Handlungsbegrqf) - und dann macht man sich daran, die fragliche Handlung auszuführen. Diese (selbst schon einigermaßen technische) Beschreibung bleibt dem subjektphilosophischen Modell treu - demjenigen Modell, dem beim Versuch, den Vollzug ins Zentrum zu stellen, der grammatische Fokus unbemerkt auf das handelnde Subjekt wanderte. Hegel begegnet
dieser grammatischen Tendenz in einer dichten Passage der Phänomenologie des
Geistes, die von der Unmittelbarkeit geistiger Vollzüge handelt.
Was also ist ein wirklicher Vollzug? Er ist, erstens, Vollzug von etwas, ein ip-en etwas, das unter einen resultativen Handlungsbegriff fällt. Hegel nennt das „die
Tat": ,,Die Tat ist ein Einfach-Bestimmtes, Allgemeines, in einer Abstraktion zu
Befassendes; sie ist Mord, Diebstahl oder Wohltat, tapfere Tat usf., und es kann
von ihr gesagt werden, was sie ist." Als Tat ist er, zweitens, jemandes Vollzug; und
im ersten, unbefangenen Schritt ist dieses Subjekt nichts als das Subjekt dieser
62
Jan Müller
bestimmten Tat: Die Tat „ist dies [- ein <p-en,ein µ-en,- ... ], und der individuelle
Mensch ist, was sie ist; in der Einfachheit dieses Seins ist er für andere seiendes,
allgemeines Wesen". Er ist, z.B., ein <p-ender,und geht im Vollzug in seinem Tätigsein auf: ,,nur die Tat [ist, für den Moment,] als sein echtes Sein zu behaupten, - nicht[ ... ], was er zu seinen Taten meint, oder was man meinte, daß er tun
nur könnte. Ebenso indem andererseits sein Werk und seine innere Möglichkeit,
Fähigkeit oder Absicht, entgegengesetzt werden, ist jenes allein für seine wahre
Wirklichkeit anzusehen, wenn auch er selbst sich darüber täuscht und, aus seiner
Handlung in sich gekehrt, in diesem Innern ein Anderes zu sein meint als in der
Tat" (Hegel 1807, 243). Wenn man praxisphilosophisch auf die wirklichen Vollzüge unserer Angelegenheiten schaut, sagt Hegel, dann darf man auch nur auf
diese wirklichen Vollzüge schauen und muss der Versuchung widerstehen, den
Vollzug des <p-ensunwillkürlich schon als das Werk seines Subjekts, und das heißt
von dessen Absichten, Fähigkeiten, Eigenschaften her zu denken.
Aber was bleibt dann noch von der subjektiven Erfahrung des Vollzugs? ,,Betrachten wir [... ] den Inhalt dieser Erfahrung in seiner Vollständigkeit, so ist er das
verschwindende Werk; [ ... ] das Verschwinden ist selbst wirklich und an das Werk
geknüpft und verschwindet selbst mit diesem". Das Vollziehen besteht so lange,
wie man wirklich <p-t.Mit dem Getanhaben verschwindet das ,,Werk",und übrig
bleibt nur die gleichsam verklingende Erinnerung, ,,das Verschwinden" (Hegel
1807, 302). - Man hat das häufig so gedeutet, als wolle Hegel sagen, das Tun sei
irgendwie nur in dem vorhanden und greifbar, was es hervorbringt und was von
ihm sozusagen übrigbleibt (ein „Produktions"- oder „Entäußerungs"-Modell,
das irgend plausibel ohnehin nur bei ganz handfestem, dinglichem Herstellen
wäre). Das Gegenteil ist richtig: Das „Werk",vorgestellt als das dingliche Produkt
des Handelns, verspricht vielleicht, der Beweis für das Getan-Haben zu sein; das
Handeln aber terminiert im Werk. Man sieht, buchstäblich, den Dingen ihr Gemachtwordensein nicht an; sie sind in ihrer Bestimmtheit von diesem Handeln
logisch unabhängig. Das „wahre Werk ist nur jene Einheit des Tuns und des Seins,
des Wollens und Vollbringens" (Hegel 1807, 302f.): der wirkliche Vollzug. Hier
entdeckt Hegel die bereits bekannte perspektivische Spannung wieder: Der wirkliche Vollzug ist, dass eine Tat getan wird - dass einerseits ein Individuum subjektiv etwas will und tut; und dass andererseits objektiv etwas getan wird. Beide
Perspektiven hängen zusammen, müssen aber nicht zusammenfallen. Subjektiv
ist das „reine Tun [... ] wesentlich Tun dieses Individuums"; objektiv ist „dieses
Tun[ ... ] ebenso wesentlich eine Wirklichkeit oder eine Sache. Umgekehrt ist die
Wirklichkeit wesentlich nur als sein [konkretes] Tun sowie als Tun überhaupt", als
exemplarischer Handlungsbegriff. Die Idee gelingenden Handelns ist dann nichts
anderes als die situative Koinzidenz dieser beiden Perspektiven: Dass das Individuum das will, was es tut, und dass das getan wird, was es tun will. Dem Handelnden ist es „um eine Sache zu tun und um die Sache als die seinige": Wer handelt,
will z.B. <p-en;und indem er <p-t,manifestiert er die allgemeine Form praktischer
Wirklichkeit: dass es uns im Wollen und Handeln um Etwas geht, um „die Sache
G.W. F.Hegel
63
überhaupt oder die an und für sich bleibende Wirklichkeit"- letztlich um die Praxis im Allgemeinen (Hegel 1807, 307). Wie aber weiß man, wenn man handelt,
was es ist, das man tut? Wenn die Idee gelingenden Handelns im situativen Zusammenfallen der subjektiven und der objektiven, der inneren und der externen
Perspektive besteht - wie kann man, jenseits dieser formellen Einsicht, wissen, ob
dieses oder jenes konkrete Tun gut gelungen war?
Im Handeln treten das subjektive Wollen und Tun und die objektive, wie von
außen schauende normative Beurteilung dieses Tuns auseinander. Anders als
im unmittelbaren gewohnheitsmäßigen Tun bleibt es für uns im Handeln immer fraglich, ob das, was wir zu tun meinen, auch das ist, was objektiv getan
wird. Man könnte an dieser Stelle auf den Konventionalismus einer Theorie der
Praktiken zurückfallen und sagen: Die Entscheidung darüber, was objektiv getan
wird, obliegt in der Tat nicht dem Handelnden, sondern den Anderen; das wird
irgendwie „sozial ausgemacht". - Hegel zeigt in einer besonders unterhaltsamen
Passage, dass diese Ansicht in der Komödie einer fortgesetzten allseitigen Enttäuschung kollabiert. Denn die Anderen, die zu einem individuellen Handeln die
„objektive Perspektive" beisteuern sollen, unterstellen, dass es dem Handelnden
um eine solche objektive Einschätzung geht, dass er „ein Interesse an der Sache
als solcher und für den Zweck [hat], daß die Sache an sich ausgeführt sei, gleichgültig, ob von der ersten Individualität oder von ihnen". Aber sie irren: Denn dem
Handelnden geht es natürlich nicht einfach um irgendein abstraktes <p-en,sondern um sein cp-en:,,es ist sein Tun und Treiben, was [ihn] bei der Sache interessiert''. Der Irrtum ist zudem zweischneidig: ,,in der Tat war [das] Herbeieilen [der
Anderen], um zu helfen, selbst nichts anderes, als daß sie ihr Tun, nicht die Sache
selbst, sehen und zeigen wollten; d. h. sie wollten die anderen auf eben die Weise
betrügen, als sie sich betrogen worden zu sein beschweren". Sie dachten vielleicht,
dass sie eine „objektive", von jeder Subjektivität unabhängige Perspektive beisteuern - was sie tatsächlich beisteuern können, ist nur eine andere, exemplarische
subjektive Perspektive auf das, was getan wurde.
Diese Komödie der allseitigen Enttäuschung zeigt den Irrtum der konstitutionstheoretischen Auffassung, dass das Zusammenstimmen der beiden Perspektiven auf das wirkliche Tun etwas sei, das die Beteiligten irgendwie öffentlich
gemeinsam und absichtlich herzustellen hätten. Die Öffentlichkeit steckt aber bereits in der Vorstellung des individuellen Wollens: Dem handelnden Individuum
ist „nicht um die Sache als diese seine einzelne zu tun, sondern um sie als Sache,
als Allgemeines, das für alle ist". Dass „alle" Anderen sich „für betrogen halten"
dürfen, weil ihre Perspektive stets nur als eine weitere subjektive, nie als eine objektive Perspektive akzeptiert werden kann, ändert nichts daran, dass die Form
des Handelns auf solche Allgemeinheit ausgerichtet ist. Die „Verwirklichung
ist [... ] eine Ausstellung des Seinigen in das allgemeine Element, wodurch es zur
Sache aller wird und werden soll" (Hegel 1807, 308f.). Ein gutes Handeln wäre
genau insofern wirklich, als es in gleicher Weise die Sache aller ist: ,,ein Wesen,
dessen Sein das Tun des einzelnen Individuums und aller Individuen, und dessen
64
Jan Müller
Tun unmittelbar für andere oder eine Sache ist und nur Sache ist als Tun Aller und
Jeder; das Wesen, welches das Wesen aller Wesen, das geistige Wesen ist" (Hegel
1807, 310). Das ist keine Übereinstimmung, die Individuen sich sinnvoll herzustellen vornehmen könnten - denn es ist klar, dass bloß faktische Zustimmung
auch beliebig vieler Individuen ein Handeln nicht gut macht, so wie bloß faktische Zustimmung auch beliebig vieler Anderer mein µ-en nicht zu einem cp-en
macht. Es zeigt aber, wie man die normative Gutheit geistigen Tätigseins, die in
der Gewohnheit unmittelbar (aber damit eben auch un-gewußt) gegeben war,
und die im Handeln formal (und damit notwendigerweise prekär) ist, als wirklich
begreifen kann: Nicht, indem man einen bestimmten Inhalt des Wollens als etwas
erweist, das vernünftigerweise alle wollen sollten, sondern indem man den Vollzug des Handelns als je schon über-individuell versteht. So wird ein Verständnis
des Vollzugs möglich, in dem das handelnde Individuum sich unmittelbar als
vereinzeltes Exemplar einer Allgemeinheit weiß, als ein soziales Ensemble, oder
als „das Subjekt, worin die Individualität [das handelnde Individuum] ebenso
als sie selbst oder als diese wie als alle Individuen ist, und das Allgemeine, das
nur als dies Tun Aller und Jeder ein Sein ist, eine Wirklichkeit darin, daß dieses
Bewußtsein sie als seine einzelne Wirklichkeit und als Wirklichkeit Aller weiß"
(Hegel 1807, 310f.). Die Wirklichkeit des Vollzugs manifestiert sich darin, dass
eine Handelnde sich als So-Handelnde weiß. Sie weiß sich aber als Handelnde
notwendig in der Spannung zwischen ihrer und der Perspektive der Anderen auf
ihr Tun; sich als Subjekt seines Handelns denken heißt dann, sich im Verhältnis
zu diesen Anderen denken.
4.4. Anerkanntsein: Die soziale Form des praktischen Selbstbezugs
Dass der Selbstbezug den Bezug auf Andere immer schon beinhaltet, ist vielleicht
der wirkmächtigste, jedenfalls populärste Gedanke der hegelschen Praxisphilosophie: ,,Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem und dadurch, daß es
für ein Anderes an und für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes" (Hegel
1807, 145).
Im direkten Anschluss an diese Formulierungen hat sich eine kaum noch
überschaubare Diskussion zur „Anerkennungstheorie" entwickelt.
Diese Anerkennungstheorie versteht das hegelsche Projekt typischerweise im Sinn der konstitutionstheoretischen Lesart. Sie will die Frage, wie man im Vollzug seines Handelns praktisch
um sich weiß, durch eine Erzählung beantworten, wie Selbstbewusstein zustandekommt (vgl.
als exemplarische Initialbeiträge der Debatte Siep 1979 und Honneth 1992). Die Leiterzählung der Anerkennungstheorie fragt, wie es Subjekten gelingt, sich selbst als Subjekt aufzufassen, wenn sich die übersteigerte Selbstauffassung als unbedingt freies, allein auf monologische
Selbstverwirklichung zurückgehendes Subjekt allemal daran breche, dass eine solche Haltung
nie zu einem befriedigenden, abschließenden Selbstverständnis komme. Dazu bedürfte es eines
objektiven Urteils, und das bedeute: des Urteils eines anderen Subjekts. Die Notwendigkeit
einer solchen externen Perspektive erzwinge so, dass Subjekte ihre Selbstauffassung auf andere
Subjekte hin relativieren, und so ihre Abhängigkeit von anderen Subjekten akzeptieren. Der
G.W. F.Hegel
65
anerkennungstheoretische Antwortvorschlag ist also, dass Subjekte sich gleichsam im Spiegel
anderer Subjekte selbst begegnen und erkennen. Diese Bezogenheit auf andere ist sowohl eine
faktische Bedingung menschlicher Subjektivität (man wird Subjekt durch Erziehung und Bildung, man bedarf des psychischen und emotionalen Rückhalts); sie ist aber auch eine logische
Bedingung (man begreift die eigene Autonomie falsch, wenn man sich nicht als Anderer für
Andere begreift, als Subjekt unter Subjekten). Werden diese Bedingungen nicht erfüllt, kommt
es zu schmerzhaften, manchmal zerstörerischen pathologischen Effekten. Umgekehrt ist die
Erfüllung der Anerkennungsbedingungen - stufenweise aufsteigend: in intersubjektiven Nahbeziehungen (,,Liebe"), in interpersonalen Sozialbeziehungen, schließlich im bürgerlichen
Recht - die Voraussetzung dafür, dass sich durch allgemeine und allseitige Anerkennung ein
„allgemeines moralisches Bewußtsein" realisiert (s. Siep 2000, 214). Diese „spezifische Moral
menschlicher Intersubjektivität" resultiert nach der anerkennungstheoretischen Erzählung aus
einem „wechselseitigen Reaktionsverhalten": ,,Ego und Alter ego reagieren zeitgleich aufeinander, indem sie jeweils ihre egozentrischen Bedürfnisse einschränken, wodurch sie ihre weiteren
Handlungen vom Verhalten ihres Gegenübers abhängig machen" (Honneth 2010, 31).
Diese anerkennungstheoretische Erzählung entfaltet eine Variante des subjektphilosophischen Modells: Sie geht von der Vorstellung eines selbstgenügsamen
Subjekts aus, bemerkt, dass diese Vorstellung der vorgängigen Anerkennung
durch „Andere" bedarf, und verallgemeinert dies zur Bedingung wechselseitiger Anerkennung. Man wird, gleich, für wie nützlich oder plausibel man diese
Erzählung beurteilen mag, sagen müssen, dass sie die praxisphilosophische Ausgangslage zumindest verzerrt. Sie nimmt Hegels Entdeckung der notwendigen
Perspektiven auf das eigene Tun (als subjektives „Tun" und als objektive „Tat")
auf und empfiehlt, dass man ihre Spannung in einen perennierenden Prozess der
„Anerkennung" übersetzen möge. Gelingendes Selbstbewusstsein, verspricht
diese Erzählung, ist das Ergebnis eines solchen Prozesses. Das kann praxisphilosophisch aber nicht stimmen - denn würde „Selbstbewusstsein" in dieser Weise
zustandekommen können, dann läge die „Doppelsinnigkeit des Unterschiedenen" (dass der eigene Vollzug wesentlich in zwei Perspektiven auftaucht) nicht
„in dem Wesen des Selbstbewußtseins, unendlich oder unmittelbar das Gegenteil
der Bestimmtheit, in der es gesetzt ist, zu sein". Käme „Selbstbewusstsein" durch
den „Prozess der Anerkennung" zustande, dann wäre dieser Perspektivenkonflikt
nicht sein Wesen; die perspektivische Spannung wäre nur ein zu überwindendes
Hindernis. Die Praxisphilosophie dagegen hebt gerade mit der Entdeckung dieser
Spannung im Vollzug unserer geistigen Tätigkeiten an: ,,Die Auseinanderlegung
des Begriffs dieser geistigen Einheit in ihrer Verdopplung stellt uns die Bewegung
des Anerkennens dar" (Hegel 1807, 145 f.). Die Erzählung von der „Bewegung des
Anerkennens", sagt Hegel, ist nicht das dargestellte Ergebnis einer „Auseinanderlegung des Begriffs",sondern die „Auseinanderlegung des Begriffs" wird als „Bewegung des Anerkennens" dargestellt. Man muss eine methodische Geschichte
erzählen, um zu sehen, wo das traditionelle Bild praktischen Selbtwissens einseitig ist.
Die Geschichte setzt bei der im letzten Abschnitt zurückgelassenen Idee an,
man wisse um den eigenen (subjektiven) Vollzug als (objektive) ,,Tat",indem man
ihn wie aus den Augen einer Anderen betrachtet. Das kann man, weil man ja
66
Jan Müller
schon weiß, wie das Tun Anderer einem selbst als Tat erscheint. Die „Bewegung
des Selbstbewußtseins" wird dabei im ersten Schritt nur „als das Tun des Einen"
erzählt. ,,[A]ber dieses Tun des Einen hat selbst die gedoppelte Bedeutung, ebensowohl sein Tun als das Tun des Anderen zu sein". Das eigene Tun ist demnach
seiner Form nach das Tun aller, weil mein <p-endie allgemeine und öffentliche
Form des <p-ensexemplifiziert. Das aber heißt: Im Vollzug meines <p-ensmanifestiere ich nicht einfach ein abstraktes, unpersönliches „Schema"; ich tue nicht,
was „auch ein Anderer tun könnte". Indem ich <p-e,vollziehe ich, indem ich um
mein <p-enweiß, unmittelbar das Tun des Anderen. Ich verstehe mich dann nämlich unmittelbar aus zwei Perspektiven zugleich: der „teilnehmenden" und der
,,beobachtenden"; und kommt praktisch nichts dazwischen, dann bleibt mir diese Spannung so unmittelbar wie im Handeln aus Gewohnheit. Das praktische
Selbstwissen hat, begriffiich, die Form eines Verhältnisses zwischen Subjekten: Das
ist der - mit den unvermeidlichen Mitteln des subjektphilosophischen Sprachspiels nur schwer formulierbare, und daher eigentlich nur als Prozess erzähl- oder
darstellbare - Clou des praxisphilosophischen Nachdenkens über „Subjektivität".
Im wirklichen Vollzug geistiger Tätigkeit manifestiert sich „der Geist" daher
nicht (nur) als eine allgemeine Form; er manifestiert sich als das selbstbewusste
Verhältnis von Individuen zueinander. ,,Die Bewegung ist also schlechthin die gedoppelte beider Selbstbewußtsein [sie!]. [... ] Das Tun ist also nicht nur insofern
doppelsinnig, als es ein Tun ebensowohl gegen sich als gegen das Andere, sondern
auch insofern, als es ungetrennt ebensowohl das Tun des Einen als des Anderen
ist" (Hegel 1807, 146f.). Man begreift Selbstbewusstsein - die Art und Weise, wie
wir um unser geistiges Tun wissen - nicht, wenn man es sich nur als ein monologisches „Denken" vorstellt; deshalb muss man es sich als „in die Extreme zersetzt" vorstellen, als das Verhältnis zwischen „mir" und „Dir'~ in dem beide (bloß
darstellungstechnisch erzwungenen) Pole jeweils „dem Anderen die Mitte [sind],
durch welche jede[r] sich mit sich selbst vermittelt". Selbstbewusstsein muss man
als ein Verhältnis erzählen: als die Spannung zwischen Perspektiven, die sich „als
gegenseitig sich anerkennend[ ... ] anerkennen" (Hegel 1807, 147).
Praktisches Selbstwissen ist sozial: man weiß sich in einer Spannung von
Blickwinkeln als tätig; man denkt sich unmittelbar auch aus der Perspektive des
Anderen, und also denkt man den Anderen mit, wenn man sich denkt. Das ist
die formale Charakterisierung gelingenden Selbstwissens. (Nicht alle wirklichen
Selbstverhältnisse gelingen; ihr Mißlingen wird als Unglück aber erst im Licht
der Vorstellung des gelingenden, unmittelbaren, unproblematischen Zusammenfallens sichtbar, die wir aus unseren Gewohnheiten kennen.) - Dass „Selbstbewusstsein" in einer perspektivischen Spannung wirklich ist und in der situativen
Koinzidenz dieser Perspektiven gelingt, zeigt sich vielleicht am Deutlichsten dort,
wo diese Spannung tatsächlich auf verschiedene Akteure verteilt ist. Deshalb beendet Hegel die Erzählung von der „Bewegung der Anerkennung" nicht mit der
formellen Feststellung, man müsse sich Selbstbewusstsein als „sozial" vorstellen.
Die Geschichte endet mit einem Konflikt der internen und der externen Perspek-
G.W.F.Hegel
67
tive und seiner praktischen Auflösung, der ihr unmittelbares Zusammenfallen anschaulich macht. Dabei entsteht der Konflikt, den Hegel inszeniert, nicht einfach
deshalb, weil sich zwei Beschreibungsperspektiven eines Handelns gegenüberstehen, sondern weil es in diesem Gegenüberstehen um die Beurteilung eines
Anspruchs geht, den einer gegenüber einem anderen hat - und zwar, weil dessen
<p-endem Gegenüber ein Leid oder einen Schaden zufügt. Es geht nicht um die verwandte, aber harmlosere - Frage nach der Identität der ausgeführten Tat (ich
meine, ge-<p-tzu haben, muss mich aber fragen (lassen), ob ich nicht eher ge-µ-t
habe). Es geht auch nicht um eine Situation, in der noch offen ist, ob einer dem
Anderen ein Leid zugefügt hat, und also die Bewertung der Tat strittig wäre (ich
etwa mein <p-enfür „gut" halte, der Andere aber widerspricht); in solchen Fällen
ist klar, worum gestritten wird, und auch, wie man den Konflikt ggf. unter Heranziehung eines Dritten in der Sphäre des Rechts regulieren kann (vgl. etwa Zabel
2011; Stekeler-Weithofer 20146). Hegel inszeniert stattdessen den Fall, in dem
mein Tun einem Anderen ein Leid zufügt und ich darüber Reue empfinde und
um Verzeihung bitte. Der Andere macht mich hier zu Recht für sein Leid verantwortlich; ich stimme ihm in der Beurteilung der Tat als schlecht zu - und trotzdem ist es für mich wichtig, mich von der Tat distanzieren zu dürfen. Ich möchte
sagen dürfen, dass auch mir das Leiden des Anderen nur zugestoßen ist, und dass
deshalb die „externe'~ objektive Beschreibung, aus der mein Tun ein Dem-Anderen- Leid-Zufügen war, eine zwar richtige, aber nicht das Wesentliche treffende Beschreibung dessen sei, was ich getan habe. In einer solchen Lage bedarf ich nicht
(wie im Handeln) der Perspektive des Anderen, um „objektiv" wissen zu können,
was ich tue - ich möchte diese objektive Perspektive umgekehrt relativiert wissen
und wünsche mir, dass der Andere mir verzeiht. Verzeihen ist seitens der Verletzten ,,Verzichtleistung auf sich, auf sein unwirkliches Wesen": denn die Verletzte ist
wesentlich die durch das Tun des Täters Verletzte, und ihr Verzeihen lässt dieses
,;,Nesen"unwirklich werden, nicht mehr das Tun und Sein bestimmen. Im Verzeihen lässt sie den „Unterschied des bestimmten Gedankens [an die Tat] und [ihr]
fürsichseiendes bestimmendes Urteil fahren", ignoriert also den objektiven Konflikt in der Beurteilung der Tat - so, wie der Täter „das fürsichseiende Bestimmen
der Handlung" fahrenlässt, und nicht mehr daraufbeharrt, dass das Leid der Verletzten seinem Tun eigentlich äußerlich sei. Um Verzeihung bitten und Verzeihen sind ein gutes Beispiel für die Struktur des Anerkennens, für die Spannung
polarer Perspektiven auf einen geistigen Vollzug als Tat, die im geteilten Zusammenfallen dieser Perspektiven verschwindet, ohne dass diese ,,Versöhnung" aus
einer dieser Perspektiven logisch folgen würde oder von nur einem der Beteiligten allein bewerkstelligt werden könnte. ,,Das Wort der Versöhnung", der Vollzug
des versöhnlichen Miteinandersprechens, ,,ist der daseiende Geist, der das reine
Wissen seiner selbst als allgemeinen Wesens in seinem Gegenteile", nämlich einer
konkreten, wirklichen Situation (Hegel 1807, 492), und das „versöhnende Ja,worin beide Ich von ihrem entgegengesetzten Dasein" - ihrem Konflikt - ,,ablassen,
ist das Dasein des zur Zweiheit ausgedehnten Ichs". Dieses „zur Zweiheit ausge-
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Jan Müller
dehnte Ich" ist die endlich entwickelte, exemplarisch begriffene Form von geistig
tätigem Selbstbezug überhaupt. Im Verzeihen exemplifiziert sich eine praktische
Situation, in der die subjektive Perspektive, die komplementäre Perspektive der
Anderen, und die unpersönliche Perspektive objektiver normativer Ansprüche
zusammenstimmen und in der erlebbar wird, wie mein Tun, die von Dir erfahrene
Tat und die unpersönliche Perspektive eines an objektiv vorgestellten Normen
des Guten orientierten Urteilens wirklich zusammenstimmen, ohne dass dabei
eine der Perspektiven durch die anderen überstimmt oder unterdrückt würde.
Nicht alle Situationen, in denen einer dem Anderen verzeiht, exemplifizieren
dieses Zusammenstimmen, und im Einzelfall wird es schwer sein, das Vorliegen
einer solchen Koinzidenz mit letzter Sicherheit festzustellen. Wenn eine Situation
aber derart die Wirklichkeit des Anerkennens exemplifiziert, dann ist sie ein Bild
des gelingenden vernünftigen Lebens, ein Bild glückender Praxis. Die Idee einer
derart exemplifizierten Praxis nennt Hegel „Sittlichkeit" - das Medium, in dem
„Geist" sich im Vollzug so manifestiert, dass er „der erscheinende Gott mitten
unter ihnen [ist], die sich als das reine Wissen wissen" (Hegel 1807, 494).
5. Sittlichkeit: Die Idee der Praxis
Hegel nennt die Idee wirklichen Gelingens geistigen Tätigseins „Sittlichkeit":
,,Die Sittlichkeit", heißt es in der Enzyklopädie, ,,ist die Vollendung des objektiven Geistes, die Wahrheit des subjektiven und objektiven Geistes selbst" - dasjenige, worin die beiden Perspektiven allererst verständlich werden, nämlich
als Perspektiven auf das selbe Leben. Beide Perspektiven auf geistiges Tätigsein
waren einseitig gewesen. Die Perspektive des „objektiven Geistes" krankte daran, ,,seine Freiheit'~ d. h. sein Wirken in unseren menschlichen Angelegenheiten
„unmittelbar in der Realität, daher im Äußeren, der Sache, teils in dem Guten
als einem abstrakt Allgemeinen zu haben": die objektive Perspektive schwankte
dazwischen, einerseits der Bezug auf eine bloß „unmittelbar" vorliegende Norm
(als Konvention oder Anrufung eines „Das macht man so") zu sein, mit diesem
Bezug aber andererseits die Autorität einer tatsächlich objektiven und notwendigen Norm zu beanspruchen. - Die „Einseitigkeit des subjektiven Geistes" war
umgekehrt gewesen, ,,abstrakt gegen das Allgemeine in seiner innerlichen Einzelheit selbstbestimmend zu sein": das ist das Dilemma in der Vorstellung einer
rein subjektiven Selbstbestimmung, in der die beanspruchte Gutheit des „Gewissens" und die Bösheit schierer Selbstüberhöhung ununterscheidbar werden, und
mit dem die praxisphilosophische Rekonstruktion ja gestartet war. Sind beide
„Einseitigkeiten aufgehoben, so ist die subjektive Freiheit als der an und für sich
allgemeine vernünftige Wille, der in dem Bewußtsein der einzelnen Subjektivität
sein Wissen von sich und die Gesinnung wie seine Betätigung und unmittelbare
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allgemeine Wirklichkeit zugleich als Sitte hat, - die selbstbewußte Freiheit zur Natur geworden" (Hegel 1830, § 513).
Man hat diesen Bezug auf die „allgemeine Wirklichkeit als Sitte" oft faktiv gelesen - als Bezug
auf vorliegende Konventionen und Sitten, die den Subjekten auf dem Weg ihrer Erziehung und
Ausbildung, ihrer Subjektwerdung, zur Gewohnheit geworden sind. Wäre das gemeint, dann
wäre es in der Tat eine starke Behauptung, dass sich in diesem ganz und gar zufälligen, und
darüber hinaus schon für Zeitgenossen augenfälligerweise kaum durchgängig „guten" Ensemble von Praktiken, Gebräuchen und Normen so etwas wie ein „allgemein vernünftiger Wille"
ausdrücke. Man müsste dafür bereit seit sein, entweder bloß Faktisches als „vernünftig" anzuerkennen, und das heißt notwendig zu legitimieren (was sich letztlich wohl nur theologisch
bewerkstelligen ließe, vgl. Siep 2000, 215), oder aber einen vorliegenden Komplex von Sitten
als letztlich doch gerechtfertigt wie eine überhistorische Struktur zu konzipieren, die sich nur
beiläufig in den jeweils „aktuellen" Sitten einer Zeit oder einer Gesellschaft ausdrückt (vgl. Jaeschke 2010, 385).
Abermals ist es Hegel nicht um die Behauptung zu tun, dass solche Sittlichkeit
irgendwie unproblematisch vorliegt. Hier wie im Vorigen geht es nicht um die
Erklärung einer Genese der praktischen Vernunft, sondern um die Frage, wie
man denken kann, dass sie wirklich ist. Man versteht diese Wirklichkeit, wenn
man die perspektivische Spannung, die geistige Vollzüge auszeichnet, als situativ „aufgehoben", irrelevant und verschwindend denken kann. ,,Sittlichkeit" ist
damit der Name nicht für eine Sammlung von (wo auch immer herrührenden)
Normen, sondern für die Art und Weise, in der sie da sind: nämlich im Vollzug des
Handelns unmittelbar. So erscheint das Sittliche, wie Hegel an einer Parallelstelle
der Grundlinien schreibt, ,,in der einfachen Identität mit der Wirklichkeit der
Individuen [... ] als die allgemeine Handlungsweise derselben, als Sitte, - die Gewohnheit desselben als eine zweite Natur, die an die Stelle des ersten bloß natürlichen Willens gesetzt und die durchdringende Seele, Bedeutung und Wirklichkeit ihres Daseins ist, der als eine Welt lebendige und vorhandene Geist, dessen
Substanz so erst als Geist ist" (Hegel 1821, § 151). In Praxis, so wurde sichtbar,
,,manifestiert" sich „der Geist" - und zwar als die Spannung zwischen subjektiver, intersubjektiver und objektiver Perspektive auf unser Tätigsein. Damit dieses
geistphilosophische Modell aber nicht einfach nur eine weitere „neutrale" Beschreibung, eine Theorie von Praktiken ist, muss es beanspruchen, ein Modell
für die situierte Vernunft zu sein. Mit anderen Worten: Wenn Hegel verständlich
machen möchte, dass Vernunft überhaupt nur als situierte, sich also in unserer
Praxis manifestierende gedacht werden kann, dann muss seine Rekonstruktion
der Elemente der Praxis - der verschiedenen Aspekte, in denen die geistige Tätigkeit im Vollzug erscheinen und als Vollzug thematisiert werden kann - auf eine
Perspektive hinauslaufen, in der man die Praxis selbst zum Subjekt der Beschreibung macht. Warum? Weil man dann eine Beschreibung der Praxis geben kann,
in der sie sich selbst im Verhältnis zu ihren internen Normen und zu allgemeinen,
vernünftigen normativen Ansprüchen reflektiert. Man kann dann, meint Hegel,
eine - notwendig metaphorische - Beschreibung geben, in der sich die Vernünftigkeit der Praxis in ihrem eigenen Vollzug manifestiert.
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Die Gestalt schließlich, in der sie als unmittelbar im Vollzug gelingend vorgestellt werden kann, ist die Sittlichkeit: ,,Die Subjektivität [die geistige Tätigkeit im
Allgemeinen, die Praxis als Subjekt ausgesprochen] ist selbst die absolute Form
und die existierende Wirklichkeit der Substanz", also der wirklichen Normen der
Praxis. Sich eine solche Sittlichkeit vorstellen wiederum heißt, sich eine Praxis
vorstellen, in der die perspektivische Spannung, die unsere geistigen Vollzüge
wesentlich charakterisiert, durch die Art und Weise, in der wir sie vollziehen, im
Verschwinden begriffen ist, sodass „der Unterschied des [handelnden] Subjekts
von[ ... der Sittlichkeit] als seinem Gegenstande, Zwecke und Macht[ ... ] nur der
zugleich ebenso unmittelbar verschwundene Unterschied der Form" ist (Hegel
1821, § 152). Auf individueller Ebene ist das das tugendhafte Leben, in dem man
sich die Normen des guten Handelns und des angemessenen Urteilens (selbst
auf gute Weise) zur Gewohnheit, zur „zweiten Natur" macht. Als eine „Subjektivität, die von dem substantiellen Leben durchdrungen ist", handelt die Tugendhafte unmittelbar gut, aber eben nicht bloß aus Gewohnheit, sondern aus zur
Gewohnheit gewordener Vernünftigkeit (Hegel 1830 § 516). Dem entspricht auf
überindividueller Ebene das Bild der Sittlichkeit - einer Praxis, in der objektiver
Vernunftanspruch, intersubjektive Koordination und subjektives Selbstverhältnis
unmittelbar zusammenstimmen.
,,Sittlichkeit" zeichnet so das Bild eines Zustandes, das unmittelbar schief ist:
Denn erstens ist dieses unmittelbare Zusammenstimmen der gespannten Perspektiven auf unser Tun und Handeln, auf unser geistiges Tätigsein etwas, das
sowohl praktisch wie auch begrifflich die Ausnahme, das Erklärungsbedürftige
ist. Wenn stimmt, dass unsere Begriffe vom Vollzug und vom praktischen Wissen gerade durch die Spannung dieser Perspektiven definiert sind, dann gibt es,
streng genommen, in der Situation sittlich gelingender Praxis kein Handeln und
kein praktisches Wissen; diese Phänomene können dann schlechterdings nicht
auftauchen. Das folgt aus dem Bild der „Sittlichkeit" als eines unmittelbaren Zustands - ein Bild des Gelingens, das sich im Subjektiven an der Unmittelbarkeit
der Gewohnheit orientiert, und im Gemeinsamen an der Vorstellung einer gänzlich konfliktfreien Tugendgemeinschaft. - Umgekehrt ist ein solches Bild gerade in seiner Schiefheit unvermeidlich; denn es komplettiert die Erläuterung von
Vernunft als etwas, das überhaupt nur in unserer Praxis als existierend gedacht
werden kann, und zu deren Daseinsweise zugleich gehört, dass sie nicht aufgeht
im Gesamt derjenigen Vollzüge, Meinungen und Sitten, die sie manifestieren. Es
ist auch deshalb unvermeidlich, weil die Idee der (,,theoretischen" wie „praktischen") Tugenden, also die Idee eines im Gelingensfall unmittelbaren, inter- wie
intrasubjektiv leidensfreien und vernünftigen geistigen Tätigseins, nur vor dem
Hintergrund einer solchen Idee von Sittlichkeit, also der Vorstellung ihrer situativen Wirklichkeit, überhaupt formulierbar ist (vgl. Gobsch 2014). Man darf nur
der Suggestion dieses Bildes nicht nachgeben und meinen, dieser „verschwundene Unterschied der Form" dürfe als bestehender faktischer Abschluss, oder zumindest etwas auf einen solchen Abschluss teleologisch Hinzielendes verstanden
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werden (siehe oben, Abschn. 3.1. u. 4.1.). Liest man Hegels Praxisphilosophie so,
wie es hier umrissen wurde, materialistisch, dann wird man gegen eine solche
Tendenz daran erinnern, dass die Spannung zwischen den Perspektiven auf unser
geistiges Tun diesem Tun wesentlich ist. Es gehört zu seinem Begriff, sich in einer
solchen potentiell konflikthaften Gestalt zu manifestieren.
Hegel führt diese konflikthafte Gestalt detaillierter am bürgerlichen Recht als der Realisierungsform unserer Praxis vor, und die eigentlich unentschuldbare Aussparung der Rechtsform aus
dieser Skizze der hegelschen Praxisphilosophie hat den Preis, dass sie ein unangemessen abstraktes - nämlich von einer zentralen Bestimmung des sittlichen Mediums unserer konkreten
menschlichen Angelegenheiten absehendes - Bild zeichnet. Die Aussparung motiviert sich
durch die ungeheure Breite, die im Forschungs- und Aneignungsdiskurs der Zusammenhang
von „Recht" und „Moral" und von „Sittlichkeit" und „Politik" einnahm (vgl. nur Menke 1991,
1996 u. 2018, Weisser-Lohmann 2011), und der zur Frage nach dem systematischen Kern von
Hegels Praxisphilosophie nicht unmittelbar beiträgt. Trotzdem wird alles falsch, wenn er einfach fehlt, weil erst mit den Details der Rechtsphilosophie die Form des gemeinsamen Lebens,
auf die Hegel abzielt, als eine gesellschaftliche,genauer: eine republikanische Form verständlich
wird, und erst in diesem Licht die problematischen Aspekte an der Figur der „Sittlichkeit" etwa ihre vormodernen Konnotationen - unübersehbar werden (vgl. Novakovic 2017).
Deshalb ist die Figur des Verzeihens, mit der die Erzählung von der „Bewegung
des Anerkennens" endete, für Hegels Praxisphilosophie emblematisch. Sie ist nur
vor der begrifflichen Folie einer Idee der Sittlichkeit, oder einer Idee des gelingenden gemeinsamen Lebens verständlich, und ihre Beschreibung selbst exemplifiziert diese Idee. Sie versteht zugleich die Wirklichkeit solchen Gelingens als
prekär, weil die normative - aus unpersönlicher Perspektive „moralische", aus
individueller Perspektive „ethische" - Problemlage irreduzibel nur zur Erscheinung kommt in, und also immer bestimmt bleibt durch, die konkrete Beziehung
zwischen Individuen. Deren Beziehung betrifft deshalb, weil sie im Horizont der
objektiven normativen Ansprüche steht, die die Situation exemplifiziert, auch die
Art, in der sie um sich wissen und sich zu sich selbst verhalten, wie sie - ganz
konkret und bis in ihre affektive Leiblichkeit hinein - selbstbewusst sein können.
Die Figur des Verzeihens macht so die Wirklichkeit einer praktischen Situation
anschaulich, die die Form ihres Gelingens manifestiert, ohne selbst gelungen zu
sein; sie verdeutlicht, wie die glückliche Auflösung einer solchen Situation auf das
Tun und Handeln der beiden Beteiligten angewiesen ist (und ohne es sich nicht
einstellen kann), ohne andererseits der Ideologie reiner praktischer Selbstbestimmung Vorschub zu leisten, weil die glückliche Auflösung nie von subjektivem Tun
allein „bewirkt" wäre. Und schließlich führt die Figur vor, dass die Vorstellung
von Sittlichkeit, unmittelbar gelingender Praxis, allemal zurückverwiesen bleibt
auf das praktische Medium der Artikulation und Überwindung dieser Unmittelbarkeit. Verzeihen ist, als Koinzidenz praktischer Haltungen, auch die Koinzidenz
verzeihender Reden oder logoi; und das ganze Projekt der hegelschen Praxisphilosophie fokussiert auf solche Artikulation der Praxis. ,,Wir sehen hiermit wieder
die Sprache als das Dasein des Geistes", in dem die gespannten Perspektiven auf
das Tätigsein, und damit das Tätigsein selbst, seine anschauliche, gegenständliche,
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wißbare - und damit erst potentiell selbstbewusste - Form manifestiert. Im Miteinander-Sprechen „vernimmt [ein Selbst] ebenso sich, als es von den anderen
vernommen wird, und das Vernehmen ist eben das zum Selbst gewordene Dasein"
(Hegel 1807, 478f.). Darin, dass Hegel solche Situationen als eine angemessene
Exemplifikation der Form wirklichen menschlichen Tätigseins - jenseits konstitutionstheoretischer Zurückführungssehnsüchte, jenseits empiristisch vorausgesetzter Sachgebietsunterscheidungen wie „Handeln"-,,Denken", ,,Vernunft"-,,Gefühl", schließlich jenseits naturalisierender oder theologisierender Großerzählungen - ausschließlich aus der Immanenz unserer wirklichen Lebensvollzüge
entwickelt, und diese Selbstreflexion unserer Praxis als Form und Gehalt von
Vernunft verständlich macht, liegt seine kolossale Zumutung an unsere denkerische „Unbefangenheit", und seine Bedeutung für jede Praxisphilosophie.
Lektüreempfehlungen
Den vielleicht mitreißendsten Einstieg in sein Nachdenken über Praxis bietet
Hegels Phänomenologie des Geistes. Der einführende Kommentar von Bertram
(2017) eröffnet eine praxisphilosophische Perspektive auf den Text; der ausführliche und anspruchsvollere Stellenkommentar von Stekeler-Weithofer (2014a)
situiert ihn in modernen Debatten der Handlungstheorie und der philosophy of
mind. Über Hegels Projekt im Ganzen orientieren einführend Taylor (1975) und
die zugängliche Studie von Henrich (1991), sowie - in englischer Sprache - die
Arbeiten von Pinkard (1994 und 2012) und Pippin (2008); sie empfehlen sich
besonders wegen ihrer sprachlichen und terminologischen Unbeschwertheit.
Für gegenwärtige Debatten fruchtbare Anschlüsse zeigen schließlich beispielhaft Menke (1996 u. 2018, über die problematische Rolle der Sittlichkeit für die
moderne Moralphilosophie) und Honneth (2001, mit einer am Problem der Anerkennung interessierten Einführung in Hegels Rechtsphilosophie).