Academia.eduAcademia.edu
Das individuelle Gesetz. Zu Simmels Kritik an der Lebensfremdheit der kantischen Moralphilosophie von Maria-Sibylla Lotter, Bamberg/Berlin Unter dem Titel „Das individuelle Gesetz"l kritisiert Simmel in seinen Arbeiten ab 1913 die „Vergewaltigung des Lebens durch die Logik"2 der Kantischen Moralphilosophie. Dabei versammelt er verschiedene Einwände gegen Kant: Kants Moralphilosophie sei auf moralische Probleme des wirklichen Lebens gar nicht anwendbar, da sie nicht von dem Erfahrungshorizont des je individuellen Lebens ausginge, sondern von allgemeinen Handlungstypen. Auch der moralische Imperativ Kants bleibe aufgrund seiner abstrakten Allgemeinheit dem moralischen Sollen äußerlich. Kant verfehle daher die eigentliche Pointe des moralischen Sollens. Die moralische Pflicht könne nämlich nur als eine Verpflichtung des Individuums begriffen werden, die seinem eigenen Leben entspringt; sie sei daher nicht als allgemeines Gesetz faßbar, sondern vielmehr als „individual-allgemeines Gesetz":3 und dies bedeute, daß „der quantitative Ausdruck dieser Objektivität nicht in der Gültigkeit für beliebig viele, sondern gerade nur für dieses individuelle Leben besteht."4 Vergleichbare Einwände gegen Kant, die ebenfalls mit dem Versuch gekoppelt waren, eine Ethik auf dem Begriff des je individuellen Lebens als Ursprung des moralischen Gesetzes aufzubauen, sind schon aus Hegels 1907 veröffentlichten theologischen Jugendschriften, wo der Geist als „belebendes Gesetz" den bloß positiv gegebenen Sittenvorschriften entgegengesetzt wird,5 aus den ethischen Schriften Schleiermachers, Guyaus, Nietzsches und anderer Autoren des neunzehnten Jahrhunderts bekannt. Dennoch steht gerade Simmels Begriff des individuellen Gesetzes für eine Unterströmung der Moralphilosophie, an die sich besondere Erwartungen knüpfen; so wurde es kürzlich als „schweres Versäumnis" der Moralphilosophie bezeichnet, daß seine „bedeutende Anregung zwar viel zitiert, aber systematisch 1 2 3 4 5 Georg Simmel, „Das individuelle Gesetz. Ein Versuch über das Prinzip der Ethik", in: Logos IV, 1913; hier im folgenden zitiert nach Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg. v. Michael Landmann, Frankfurt 1987. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 186. Vgl. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 229. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 220. Vgl. Hegels „Systemfragment" von 1800 in: Hermann Nohl, Hegels theologische Jugendschriften, Leibniz 1907, S. 347. Kant-Studien 91. Jahrg., S. 178-203 © Walter de Gruyter 2000 ISSN 0022-8877 Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM Zu Simmels Kritik an der Lcbensfremdheit der kantischen Moralphilosophie 179 kaum beachtet wird."6 Es scheint freilich typisch für solche Hochschätzungen zu sein, daß sie selbst auf eine systematische Explikation des Simmelschen Beitrags verzichten. Simmels „individuelles Gesetz" dient hier eher als eine Art Generalvertreter für alle Positionen der Philosophiegeschichte, die in irgendeinem Sinne die kritische Hinterfragung gegebener Begründungen mit einer Hervorhebung des „Individuums" verbinden, angefangen mit der Sokratischen Hinterfragung der Gründe unseres Handelns durch den Einzelnen bis zur Aufwertung der individuellen Eigentümlichkeit in der Romantik und bei Schleiermacher.7 Die Simmelrezeption tendiert hier dazu, Simmels eigene Perspektive zu übernehmen. Denn zum Generalvertreter aller Arten von „Individualismus" erscheint Simmels Ansatz gerade deswegen geeignet, weil er sein eigenes Konzept eines ganzheitlichen Individualismus wiederum als zeitgemäßere Fortsetzung eines „qualitativen Individualismus" des neunzehnten Jahrhunderts verstand. Begreift man diese Fortschrittsgeschichte darüber hinaus im Lichte eines immer noch verbreiteten Mythos der Moderne als einer fortschreitenden Individualisierung, beginnend mit der griechischen Erfindung, das Gute „kraft eigener Vernunft" einzusehen, die mit einen weiten Sprung über das „Mittelalter" hinwegsetzt und bei Descartes wieder weiterschreitet, während der Rest der Welt das Gute „nur aus contrainte sociale tut",8 dann muß Georg Simmels „individuelles Gesetz" schließlich als der Gipfel des Fortschritts im modernen Bewußtsein schlechthin erscheinen. Gerade Simmels eigene Arbeiten demonstrieren jedoch — im Unterschied zu seiner Interpretation der Entwicklung des Individualismus vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert 9 — daß die Aufwertung der Individualität durchaus nicht mit einer kritischen Methodologie und auch nicht mit der Anerkennung des Individuums als moralischer Instanz verbunden sein muß, sondern sich umgekehrt gerade gegen die Autonomie des Individuums wenden kann. Im folgenden soll versucht werden, Simmels Ansatz in seinem historischen und systematischen Gehalt zu erschließen. Unter Einbezug der Theorie der Persönlichkeit, die Simmel in der "Soziologie" und späteren Arbeiten zum Personenbegriff skizziert, wird der Frage nachgegangen, worin Simmels Beitrag zur Ethik eigentlich liegt. Es wird gezeigt, daß seine Kant-Kritik nicht im Sinne eines „ethischen Individualismus" interpretiert werden kann, dem es um die Anerkennung des Individuums als moralischer Instanz und um eine mehr „lebensorientierte" Beschreibung der Grundlagen moralischer Entscheidungen geht. 6 7 8 9 Vgl. Volker Gerhardt, „Das individuelle Gesetz. Über eine sokratisch-platonische Bedingung der Ethik", Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 22, l, 1997, S. 3. Vgl. Volker Gerhardt, „Das individuelle Gesetz. Über eine sokratisch-platonische Bedingung der Ethik", S. 12. Michael Landmann, „Georg Simmel als Prügelknabe", in: Philosophische Kundschau 14, 1967, S. 264. Vgl. hierzu Georg Simmel, „Die beiden Formen des Individualismus", in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901 — 1908, hg. v. Rüdeger Kramme, Angela Rammstedt u. Otthein Rammstedt, Frankfurt 1995, S. 49 ff. Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM 180 Maria-Sibylla Lotter /. Simmels Kritik an der Lebensferne der kantischen Moralphilosophie In seiner Kritik an der kantischen Moralphilosophie beruft Sich Simmel auf die Einheit des je „individuellen Lebens": „Solange die einzelnen Lebensmomente, Antriebe, Entschlüsse in die Einheit einer stetigen Existenz verwebt sind, haben sie nur in Beziehung zu deren Zentrum und Ablauf eine Bedeutung, bestehen überhaupt nur als die Atemzüge solchen individuellen Lebens."10 Das kantische Sittengesetz hingegen, so Simmel, „beurteilt und fordert die Handlung nicht, wie sie als Welle des einheitlichen Lebens entsteht, sondern wie der Begriff ihres individuellen Vollzuges von dem allgemeinen Begriff der Handlung bestimmt wird."11 Denn der kategorische Imperativ „trennt die Lüge oder Aufrichtigkeit, Wohltat oder Hartherzigkeit usw. von ihrem Subjekt, behandelt sie als logisch freischwebenden Inhalt und fragt nun nach ihrer Zulässigkeit; diese bestimmt er nach dem, was sie an und für sich, nicht nach dem, was sie an dem Subjekt, an dem sie haftet, bedeutet."12 Formulierungen wie diese legen noch nicht fest, wie die Beurteilung einer Handlung als „Welle des einheitlichen Lebens" im Unterschied zu ihrer Bestimmung durch allgemeine Begriffe zu denken wäre. Kritisiert Simmel allein schon die Klassifizierung von Handlungen und Handlungsaspekten als „Lüge" etc., wie sie in jeder bewußten Beschreibung einer Entscheidungslage vorausgesetzt wird? Da man nur dann im verantwortlichen Sinne „handeln" kann, wenn man prinzipiell wissen kann, was man tut, würde eine solche Kritik jedoch den Handlungsbegriff selbst aufheben und sich somit die eigene Grundlage entziehen.13 Richtet sich Simmels Kritik vielmehr auf die Subsumptionsbeziehung zwischen dem moralischen Einzelfall und dem moralischen Begriff bei Kant: nämlich als Kritik an der Selbstverständlichkeit, mit der Kant den jeweiligen Fall einem allgemeinen Handlungsbegriff subsumiert, der dann eingebettet in eine allgemeine Maxime der Prüfung des kategorischen Imperativs unterzogen wird? Verlangt Simmel also, von der Lebenssituation des Einzelnen auszugehen und mittels der reflektierenden Urteilskraft ihre moralisch relevanten Aspekte überhaupt erst einmal festzustellen? 10 11 12 13 Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 187. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 195. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz* S. 182; Herv. M-S. L. So versteht Harald Delius Simmels Ansatz und kritisiert entsprechend den Gedanken des individuellen Gesetzes als unmöglich, weil er nicht den Bedingungen moralischer Verständigung genügen kann. VgL hierzu Harald Delius, Kategorischer Imperativ und individuelles Gesetz. Bemerkungen zu Georg Simmels Kritik der Kantischen Ethik, in: Argumentationen. Pestschrift für Josef König, hg. v. Harald Delius/Günther Patzig, Göttingen 1964, bes. S. 72 ff. Simmel ist sich jedoch durchaus bewußt, daß begriffliche Verallgemeinerung zum Zwecke praktischer Entscheidungen unerläßlich ist. Vgl. Georg Simmel, Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe, S. 50: „Die Notwendigkeit des theoretischen Erkennens, mit allgemeinen Begriffen zu arbeiten, deren Unzulänglichkeit man doch einsieht, wiederholt sich auch im Praktischen." Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM Zu Simmels Kritik an der Lebensfremdheit der kantischen Moralphilosophie 181 Auch wenn diese zweite Interpretation zutrifft, würde Simmels Kritik mit einem weitverbreiteten Vorverständnis des Ethischen in Konflikt geraten. Denn beziehen sich nicht alle unsere moralischen Urteile auf die Handlung, sofern sie an einer allgemeinen Norm meßbar ist, und gerade nicht auf diejenigen Aspekte der Handlung, die nur in bezug auf das Leben des Einzelnen Bedeutung haben? Im Gegenzug könnte Simmel jedoch geltend machen, daß unsere wirkliche Praxis des moralischen Beurteilens sehr viel mehr an den individuellen Umständen des Falles orientiert ist, als die Moralphilosophen in der kantischen Tradition zugeben wollen. Im alltäglichen Leben beurteilen wir nämlich eine Handlung durchaus nicht nur mit Blick auf den Zweck, dem ein allgemeiner Handlungstypus zugeordnet ist, noch allein am Maßstab der Verallgemeinerbarkeit einer Maxime, sondern berücksichtigen selbstverständlich den Lebenskontext des Handelnden. Es scheint sogar die Besonderheit von moralischen Bewertungen im Unterschied zu Rechtsurteilen auszumachen, daß der Lebenskontext nicht nur im Sinne „mildernder Umstände" berücksichtigt wird, sondern einen unverzichtbaren Bestandteil des moralrelevanten Sachverhalts abgibt. Nehmen wir zum Beispiel an, Frau Meier leiht ihrer Nachbarin Müller, die gerade knapp bei Kasse ist, eine nicht unerhebliche Geldsumme. Unter kantischen Voraussetzungen könnte sie ihre Absicht auf die Maxime zurückführen, Personen, die sich in schwierigen Lagen befinden, stets nach Möglichkeit zu unterstützen — eine Maxime, an der moralisch nichts auszusetzen ist. Ein Außenstehender könnte den Fall jedoch auch anders beschreiben und beispielsweise auf die Maxime zurückführen, sich andere Personen nach Möglichkeit zu verpflichten, um die eigene Macht zu vergrößern. Welche Maxime die relevantere ist, kann in solchen Fällen nur aufgrund weiterer Informationen bezüglich der individuellen Umstände, Meiers Charakter und ihrer Absichten entschieden werden. Ohne Kenntnis solcher „näheren Umstände" würden wir im Alltagsleben kaum ein Urteil darüber abgeben, ob wir es für Meiers Pflicht halten, ihre Nachbarin zu unterstützen, noch ob wir eine solche Unterstützung für moralisch zulässig halten. Beispiele wie diese zeigen, daß die Eignung einer Maxime als Sittengesetz im kantischen Sinne keineswegs unser moralisches Urteil im alltäglichen Leben entscheidet, das vielmehr auf die besonderen Umstände der Handlung Rücksicht nimmt. Wir berücksichtigen die Umstände hierbei nicht nur, um herauszufinden, welchen "Sinn" die Handlung für den Handelnden selbst hat, sondern auch um ihren moralischen Wert zu bestimmen. Dies betrifft nicht nur die wichtige Frage, welche Handlungsbeschreibung einer jeweiligen Situation angemessen ist, sondern auch das bekannte Problem eines Konflikts von Pflichten, der in der vereinfachten Rückführung einer Handlung auf einen einzigen Typ von Maxime nicht zum Vorschein kommt. So wäre beispielsweise die Maxime, herrenlose und verlauste Hunde aufzunehmen und zu pflegen, moralisch einwandfrei; dies freilich nur solange man von den Lebensumständen der Handelnden und ihren anderen Verpflichtungen gegenüber einer an engen Wohnverhältnissen und schweren Hundeallergien leidenden Familie und der Hauskatze absieht. Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM 182 Maria-Sibylla Lotter Ein solcher Konflikt von Pflichten stellt nun im „gewöhnlichen Leben" eher den Normalfall als die Ausnahme dar. Wenn wir uns fragen, was wir in einem solchen Konfliktfall tun sollen, kann die Antwort nicht in der Konstruktion eines allgemeinen Sittengesetzes bestehen, weil jedes allgemeine Gesetz nur einen Aspekt des Falles erfaßt. Ein Sollen, das in den komplexen Lagen des wirklichen Lebens Geltung hat, müßte sich vielmehr aus der wechselseitigen Berücksichtigung und relativen Gewichtung aller Aspekte des Falles ergeben. Dies ist im Rahmen der kantischen Ethik grundsätzlich nicht möglich, weil sie gar nicht von den komplexen Situationen des gewöhnlichen Lebens, sondern von vereinzelten Handlungstypen ausgeht.14 Kant selbst macht dies an dem berühmten Beispiel seiner Frage deutlich, ob eine Notlüge erlaubt sei, um einen bedrohten Menschen zu helfen.15 Daß dieselbe Situation auch andere moralische Fragen aufwirft wie die Frage, ob man einen bedrohten Menschen ausliefern darf, um eine Lüge zu vermeiden, wird hier von vornherein ausgeblendet. Ein Konflikt zwischen Verpflichtungen kann im Rahmen Kants nur die Gestalt der Frage annehmen, ob in diesem Fall eine Ausnahme von dem (einen) Sittengesetz erlaubt sei: Eine Frage, die von Kant abschlägig beschieden werden muß, weil andernfalls die Annahme eines kategorischen Imperativs als Prinzip der Ethik aufgegeben werden müßte. Daraus, daß man generell nicht möchte, daß überhaupt gelogen wird, folgt jedoch nicht im Geringsten, wie Simmel einwendet, daß man in einem besonderen Fall, in dem es um Dinge geht, die einem wichtiger sind als die Lüge, nicht grundsätzlich und immer wieder die Lüge für moralisch geboten halten könnte.16 Insofern als im „wirklichen Leben" bei moralischen Pflichten immer möglich ist, daß sie hinter andere Pflichten aufgrund moralischer Abwägungen zurückgestellt werden müssen, scheinen wir unsere Pflichten daher gewöhnlich nicht kategorisch, sondern hypothetisch zu verstehen: sie verpflichten uns nur unter der Bedingung, daß nicht andere, jeweils wichtigere Aufgaben und Pflichten durch sie beeinträchtigt würden. Wenn wir Simmels Kritik an der kantischen Ethik im soeben rekonstruierten Sinne verstehen könnten, wäre daher folgerichtig zu erwarten, daß er gerade den Gedanken eines kategorischen Imperativs als besonders „lebensfremd" ablehnen müßte. Das Gegenteil ist der Fall: Simmel besteht darauf, daß das Sollen, das aus dem individuellen Lebens folgt, nicht hypothetisch, sondern kategorisch verstanden werden muß. Hier zeigt sich, daß der soeben unternommene Versuch, Simmels Kritik an dem kategorischen Imperativ im Sinne unserer sehr viel stärker kontextorientierten Alltagspraxis moralischen Urteilens zu verstehen, Simmels eigenes Anliegen noch nicht trifft. Denn die Komplexität wirklicher Umstände auf der einen 14 15 16 Vgl. Simmels Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe, hg. v. Christian Köhnke, GSG 4, Frankfurt 1992, S. 77. Vgl. Immanuel Kant, Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen, insbes. A 306 ff. Vgl. hierzu Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe, S. 46 f. Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM Zu Simmels Kritik an der Lebensfremdheit der kantischen Moralphilosophie 183 Seite und die praktische Schwierigkeit, alle moralrelevanten Aspekte einer Situation angemessen zu berücksichtigen und abzuwägen, läßt die Herleitung einer kategorischen Pflicht nicht zu.17 //. Das Individuum als Ideal Aus der Perspektive des „späten" Simmel erscheinen auch seine eigenen früheren Versuche, eine kategorische Pflicht aus den komplexen Umständen einer Situation herzuleiten, irreführend. Auch eine solche kontextorientierte Pflichtenethik teilt nämlich noch eine Voraussetzung Kants: die Annahme nämlich, daß sich das moralische Sollen auf einzelne Handlungen bzw. Handlungsarten bezieht und nicht auf den Handelnden selbst. Bei Kant, so Simmel, „wird nur der Mensch beurteilt, insofern er gerade diese Tat vollbracht hat, nicht die Tat, sofern sie gerade von diesem Menschen vollbracht ist."18 Denn für Kant „wäre es undenkbar, daß wir in bestimmter Art sein sollen, fühlen sollen usw., kurz, daß irgend etwas sein soll, das nicht zweckmäßig gewollt werden kann."19 Ebensowenig wie in seinen Arbeiten aus den neunziger Jahren stellt Simmel hier die Kantische Annahme eines kategorischen Sollens in Frage. Wie er Kant entgegenhält, ginge es bei unseren moralischen Urtei17 18 19 Nur wenn wir von der praktisch nicht realisierbaren Voraussetzung ausgehen, daß die sittliche Verpflichtung auf der Berücksichtigung aller Umstände eines Falles und ihrer ethischen Gewichtung beruht, so daß sie eventuell nur für einen einzigen Fall „unbedingte" Geltung hat, kann von einer unbedingten Verpflichtung gesprochen werden. Das „Unbedingte" dieses Sollens läge eben darin, daß alle Bedingungen schon in es aufgenommen sind, es daher keine „äußere" Bedingung mehr geben kann, auf die Rücksicht genommen werden müßte. In seinen früheren Studien aus den neunziger Jahren spielt Simmel tatsächlich immer wieder mit diesem Gedanken, den er mitunter sogar auf Kant zurückbezieht. In seinem Aufsatz „Was ist uns Kant" von 1996 vertrat er beispielsweise die Auffassung, in Kants Sittenlehre werde die einzelne Handlung ganz „individualisiert". Denn Kants Formel verleihe aufgrund ihrer reinen Formalität, indem sie „von dem höchsten Imperativ jede einzelne, inhaltliche Bestimmung ausschließt, [...] den einzelnen Bestimmungen des gegebenen Falles uneingeschränkten Raum". (Georg Simmel, „Was ist uns Kant", in ders. Aufsätze und Abhandlungen 1894 bis 1900, hg. v. Heinz-Jürgen Dahme und David P. Frisby, Frankfurt 1992, S. 169). In der Frage stünde nämlich die „Handlung als Ganzes, zu der also auch alle einzelnen Bestimmungen, die Situation und der Charakter des Handelnden, seine darauf bezügliche Lebensgeschichte und die Konstellation seiner Umgebung gehört. „Eben hierdurch, so Simmel noch 1896, wird im kantischen Rahmen „denkbar, daß die, äußerlich gesehen, unsittlichste That, deren Giltigkeit als allgemeines Gesetz ganz ausgeschlossen scheint — z. B. das Töten eines Menschen — dennoch, indem alle ihre besonderen Umstände in Betracht gezogen werden, durchaus als allgemeines Gesetz gelten könnte, aber freilich nur als diese spezifizierte, durch diese ganz besonderen Umstände bestimmte That." (Op. cit., S. 168). Eben des wird jedoch vom kantischen Ansatz ausgeschlossen. Ein kategorischer Imperativ, der nur auf einen Fall anwendbar wäre, hätte keinen Gesetzescharakter — ganz abgesehen davon, daß er gar nicht formulierbar wäre. Aufgrund besonderer Umstände eine „Ausnahme" zuzulassen, widerspräche andererseits seinem kategorischen Charakter. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 203. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 201. Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM 184 Maria-Sibylla Lotter len jedoch nicht um eine Bewertung des allgemeinen Handlungstyps als solchen, sondern der Person, die handelt: r Ich mag, was ich zu tun habe, noch so sehr aus den sachlichen Verhältnissen der Dinge und aus Gesetzen, die außerhalb meiner entsprungen sind, herleiten — zuletzt oder zuerst habe ich es zu tun, es gehört zu meinem Pflichtenkreis.20 Simmel weist hier auf ein grundlegendes Problem der Ethik hin, das oft hinter der Frage nach den Maßstäben der Beurteilung von Handlungen zurücktritt: Die Frage, wer handelt, und in welcher Weise wir uns auf die Identität des Handelnden beziehen, sowohl um festzustellen, ob überhaupt eine Handlung — und nicht etwa nur ein „Ereignis" vorliegt, als auch um den moralischen Wert der Handlung zu bestimmen. Denn daran, daß wir uns ausdrücklich oder unausdrücklich auf eine Person beziehen, die sich selbst mittels Ausdrücken wie „ich" und „mein" identifizieren kann und die zugleich für andere identifizierbar ist, kann kein Zweifel bestehen. In unseren moralischen Urteilen scheinen wir dreierlei vorauszusetzen: Erstens gehen wir davon aus, daß jemand handelt, und d. h. daß das Handeln nicht nur Element einer Abfolge von vielerlei Tätigkeiten ist, sondern jemandem zugeschrieben werden kann, der eine von der Einheit einer Handlung unterscheidbare Einheit aufweist. Zweitens nehmen wir an, daß diese Einheit durch die Veränderungen der Person und ihres Körpers im Verlauf der Zeit nicht relativiert -wird. Ob jemand derselbe ist, der im Jahre 1913 einen Aufsatz zum individuellen Gesetz veröffentlicht hat, kann nach unserem Verständnis nur mit „ja" oder „nein", nicht mehr mit „mehr oder weniger" beantwortet werden. Drittens gehen wir davon aus, daß die Eigenschaften und Handlungen, die wir dem Einzelnen in moralischer Absicht zurechnen, ihm nicht bloß „zugestoßen" sind wie wenn einer mit einem zufällig gefundenen Los einen Lottogewinn macht. Denn in einem solchen Fall wäre es witzlos, ihn für sein Verhalten zu tadeln oder zu loben. Wir nehmen vielmehr an, daß die betreffende Person, wie Thomas es definiert, „aus sich handelt."21 Es ist jedoch eine offene Frage, wie diese drei Voraussetzungen zusammenhängen. Ist das Subjekt des Handelns die Person im Sinne der unveränderlichen Einheit von Geburt bis zum Tod? Und bedeutet „aus sich handeln" im Sinne der Charaktereigenschaften dieser identischen Person zu handeln oder im Sinne einer allgemeinen Vernunft zu handeln? Mit seiner Umkehrung der ethischen Perspektive von der Handlung zum „Sein" des Individuums transformiert Simmel einen Gedanken Schopenhauers zum sogenannten intelligiblen Charakter, der auf Überlegungen Kants zur intelligiblen Tat aus dessen Religionsschrift zurückgeht. Ursprünglich hatte sich dieser Gedanke im Rahmen der kantischen Unterscheidung zwischen „Erscheinung" und „Ding an sich" aus der Verbindung der Annahme, daß jeder Vorgang in der Welt der Erscheinungen die Wirkung einer natürlichen Ursache sei, mit dem Glauben an 20 21 Georg Simmel, Das individuelle Gesetz^ S. 201. Thomas, Summa Theologiae, l a 29,1, Responsio. Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM Zu Simmels Kritik an der Lebensfremdheit der kantischen Moralphilosophie 185 die Berechtigung unseres Gefühls ergeben, daß wir in unserem Handeln dennoch frei wären und uns unsere Handlungen selbst zuzuschreiben hätten. Dieses moralische Verantwortungsgefühl, das noch Spinoza bekanntlich als Selbsttäuschung aufgrund einer mangelnden Kenntnis der natürlichen Ursachen unseres Handelns diagnostiziert hatte, hatte mit der Lehre von der intelligiblen Tat und vom intelligiblen Charakter eine metaphysische Rechtfertigung erhalten: der Lehre, daß der moralische Grund unserer Handlungen in der Zeit auf eine ursprüngliche vorzeitliche Entscheidung zum Guten oder Bösen bzw. auf einen zeitlosen Charakter zurückginge, durch die der moralische Wert jener ein für alle Mal festgelegt sei: Seine sämmtlichen Handlungen, ihrer äußern Beschaffenheit nach durch die Motive bestimmt, können nie anders als diesem unveränderlichen individuellen Charakter gemäß ausfallen: wie Einer ist, so muß er handeln. Daher ist dem gegebenen Individuo, in jedem gegebenen einzelnen Fall, schlechterdingsnur EINE Handlung möglich: operari sequitur esse.22 Die Lehre vom intelligiblen Charakter liefert also einen Begriff personaler Identität, der mit der unbedingten Autonomie des Individuums und der unbedingten Zurechenbarkeit seiner Handlungen verkoppelt ist. Hierdurch wandelt sich aber der Gesichtspunkt des ethischen Interesses selbst: Es geht nicht mehr um die Güte oder Schlechtigkeit der Handlung, sondern um den Charakter der handelnden Person, dem die Handlung entspringt. Schon bei Schopenhauer bringt diese Umkehrung der ethischen Perspektive eine Änderung der Kriterien zur moralischen Beurteilung von Handlungen mit sich: nur eine Handlung, die aus dem Charakter der Handelnden entspringt und ihn ausdrückt, kann von moralischen Wert sein: Was ein Mensch „gegen seine Natur [...] erlangt, [...] wird tod bleiben: ja sogar in ethischer Hinsicht, wird er eine an sich edle That, die er aber nicht aus reinen unmittelbar aus seinem Karakter hervorgehenden Antriebe geleistet hat, sondern bloß in Folge eines Begriffs, eines Dogma's, eines Beispiels, die also für einen Karakter zu edel war, die wird durch nachfolgende egoistische Reue alles Verdienst verlieren, selbst in seinen eigenen Augen, weil sie eigentlich doch nicht seine That ist."23 Hier haben sich die Kriterien des moralischen Urteils gegenüber der Moralphilosophie des „Erfinders" der intelligiblen Tat nahezu umgekehrt: Während Kant es gerade als ein beweiskräftiges Anzeichen eines freien und wirklich guten Willens verstanden hatte, wenn jemand — beispielsweise ein Misanthrop — seinem Charakter entgegen handelt, um der Pflicht genüge zu tun, seinen (ungeliebten) Mitmenschen zu helfen, erscheint dies im Rahmen der Ethik Schopenhauers und seiner Nachfolger im neunzehnten Jahrhundert bis hin zu Heideggers Eigentlichkeit als Ausdruck einer unfreien Nachahmung anderer, die ohne jeden sittlichen Wert bzw. aufgrund des Aspekts der Selbsttäuschung nur negativ zu beurteilen ist. 22 23 Arthur Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, in ders., Kleinere Schriften, Zürich 1988, S. 534. Arthur Schopenhauer, Vorlesungen von 1820, in ders., Metaphysik der Sitten (aus dem handschriftlichen Nachlass), hg. v. Volker Spierling, München/Zürich 1985, S. 104. Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM 186 Maria-Sibylla Lotter Auch Simmel setzt diese Tradition fort, indem er den individuellen „Charakter" zum letzten Maßstab der moralischen Bewertung von Handlungen macht. Ihre eigentliche Pointe erhalten seine Überlegungen freilich erst durch seine Umkehrung der Beziehung zwischen Handlungen und Charakter, durch welche die Erzeugung eines Charakers — und somit einer identischen Person, den Handlungen zugerechnet werden können — zum eigentlichen Telos der Handlungen werden. Simmel postuliert den Charakter nämlich im Unterschied zu Schopenhauer nicht als die dem Leben vorausliegende zeitlose metaphysische Realität, sondern versteht ihn als ein dem Leben selbst entspringendes Ideal: „über jeder menschlich-seelischen Existenz oder in ihr [steht ...] ein Ideal ihrer selbst, ein So-Sein-Sollen."24 Die Bedingungen personaler Idealisierung hatte Simmel in seinen früheren soziologischen Arbeiten diskutiert. Dort war er davon ausgegangen, daß wir den einzelnen Menschen durchaus nicht immer und keineswegs unabhängig vom Kontext als den Handelnden betrachten, dem soziale Phänomene zuzuschreiben sind. Vielmehr hat der einzelne Mensch für die wissenschaftliche Untersuchung sozialer Entwicklungen die Rolle des Wirkungsträgers fast ganz eingebüßt. An seine Stelle sind Verhaltenstypen, soziale und ökonomische Klassen, politische Einheiten etc. getreten. Dies zeigt deutlich, daß es von der Erkenntnisperspektive abhängt, welche Phänomene welchen Einheiten zugerechnet werden: l , Nur die besonderen Zwecke des Erkennens entscheiden, ob die unmittelbar erscheinende oder erlebte Realität auf ein personales oder auf ein kollektives Subjekt hin befragt werden soll — beides sind gleichmäßig „Standpunkte", die sich nicht wie Wirklichkeit und Abstraktion zueinander verhalten, sondern die, als solche, beide von der „Wirklichkeit** absehen — von der Wirklichkeit, die als solche überhaupt nicht Wissenschaft sein kann, sondern erst vermittels solcher Kategorien die Form der Erkenntnis annimmt.25 Dabei stellte Simmel fest, daß die Wirkungseinheiten, auf die Geschehnisse zurückgeführt werden, zwar im Rahmen einer distanzierten, rein theoretischen Erkenntniseinstellung unendlich variabel erscheinen,26 daß dies jedoch keineswegs auch für die wechselseitige Wahrnehmung im Zusammenhang sozialer Beziehungen gilt. Wie er in seiner Soziologie ausführte, beruht die „Praxis des Lebens" vielmehr darauf, daß wir unsere Wahrnehmungen anderer Menschen immer schon auf ganz bestimmte Weise ergänzen und verändern. Dies gilt vor allem für die Wahrnehmung von anderen als Rollenträgern, aber auch für ihre Wahrnehmung als jeweiligen Individuen. Auch Individualität im Sinne der Einheit einer Persönlichkeit ist nicht unmittelbar im Erleben meiner selbst und des anderen gegeben, sondern gründet vielmehr auf einer Idealisierung des Erlebten: „Gerade aus der völligen Einzigkeit einer 24 25 26 Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 201. Georg Simmel, „Das Gebiet der Soziologie", in ders., Grundfragen der Soziologie (1917), Berlin 1970, S. 11. Vgl. Georg Simmel, GSG 2, S. 131: Menschen und Gruppen „sind nicht etwa an sich wirkliche Einheiten", aber „so zu behandeln, weil jedes im Verhältnis zum anderen einheitlich wirkt-, darum brauchen es auch nicht nur menschliche Personen zu sein, deren Wechselwirkung die Gesellschaft konstituiert, sondern es können auch ganze Gruppen sein ..." Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM Zu Simmels Kritik an der Lebensfrcmdheit der kantischen Moralphilosophie 187 Persönlichkeit formen wir ein Bild ihrer, das mit ihrer Wirklichkeit nicht identisch ist, aber dennoch nicht ein allgemeiner Typus ist, vielmehr das Bild, das er zeigen würde, wenn er sozusagen ganz er selbst wäre, wenn er nach der guten oder schlechten Seite hin die ideelle Möglichkeit, die in jedem Menschen ist, realisierte."27 Simmel leitet dieses Ideal also aus dem Blick von außen auf eine Person, nicht aus ihrer praktischen Reflexion auf das eigene Leben und die eigenen Wertmaßstäbe ab. Die Person selbst hat nicht nur keinen priviligierten Zugang zu ihrer idealen Seinsmöglichkeit, sondern erlebt ihre Wirklichkeit selbst sehr viel fragmentarischer, als sie selbst von außen wahrgenommen wird. Die ideale Einheit der Person kann daher nach Simmel „mit ihrer Wirklichkeit nicht identisch" sein, denn „wir alle sind Fragmente, nicht nur des allgemeinen Menschen, sondern auch unserer selbst. ... Dieses Fragmentarische aber ergänzt der Blick des ändern zu dem, was wir niemals rein und ganz sind. Er kann gar nicht die Fragmente nur nebeneinander sehen, die wirklich gegeben sind, sondern wie wir den blinden Fleck in unserem Sehfelde ergänzen, daß man sich seiner gar nicht bewußt wird, so machen wir aus diesem Fragmentarischen die Vollständigkeit seiner Individualität."28 Simmel begreift das individuelle „Selbst" also weder als eine gegebene Realität, noch als Postulat oder Resultat praktischer Selbstreflexion, sondern als eine der allgemeinen Bedingungen sozialer „Wechselwirkung", die mit jedem persönlichen Kontakt gesetzt wird.29 Die soziale Herleitung des Ideals schließt natürlich Verinnerlichung nicht aus: Insoweit ich den Blick des anderen übernehme, nehme ich auch mein jeweiliges Leben nicht nur wahr, wie es ist, sondern beziehe es auf ein mehr oder weniger vages Ideal meiner möglichen Individualität.30 Dies bedeutet für Simmel freilich nicht, daß meine per27 28 29 30 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, München und Leibzig 1922, S. 24 f. Georg Simmel, Soziologie, S. 25. Zur konstitutiven Bedeutung sozialer Interaktion für personale Identität bei Simmel vgl. auch Ferdinand Fellmann, „Georg Simmels Persönlichkeitsbegriff", in: Neukantianismus. Perspektiven und Probleme, hg. v. Ernst Wolfgang Orth, Helmut Holzhey, Würzburg 1994, insbes. S. 322. Da Simmel in seinen lebensphilosophischen Schriften diesen sozialen Ursprung der Individualität nicht mehr ausdrücklich reflektiert, kommt eine vielleicht nicht ganz unabsichtliche Mehrdeutigkeit in Simmels Begriff des „individuellen Lebens", durch die verdeckt wird, daß Simmels Begriff des Individuums — wie er in anderen Texten selbst reflektiert — sich nicht auf eine Erfahrungstatsache, sondern — (nicht anders als die Handlungstypen, von denen Kant ausgeht) — auf eine Idealisierung des Erfahrenen bezieht. Denn wenn Simmel unter Berufung auf den „Einheitspunkt" des je individuellen Lebens die Lebensfremdheit der kantischen Moralphilosophie kritisiert, könnte man fast annehmen, er wolle dessen Ferne von den Tatsachen des wirklichen Lebens beklagen. (Dies tut tatsächlich Klaus-Christian Köhnke, demzufolge Simmel verdienstvollerweise den „Nachweis" führt, daß klassische ethische Begriffe das tatsächliche Leben nicht erfassen; vgl. Köhnke,„Vorbemerkungen zu Georg Simmels „Das individuelle Gesetz" ", in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, hg. v. Günther Figal und Enno Rudolph, Heft 2, 1993, S. 320.) Dieser Anschein entsteht zwangsläufig, weil Simmel dasselbe Wort — „Leben" — sowohl für den Bereich des Tatsächlichen wie den des Idealen verwendet. Er intendiert damit jedoch keine Gleichsetzung beider Bereiche, sondern will die wechselseitige Bezogenheit des Idealen und Gesollten zu dem Tatsächlichen hervorheben. Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM 188 Maria-Sibylla Lotter sönliche Identität eine Idee ist, die auf eine Realität projiziert wird, die nur aus Fragmenten besteht. Eine absolute Einheit bin ich zwar nur im Hinblick auf das jeweilige Ideal, nicht im Hinblick auf mein reales Leben. Individualität stellt für Simmel jedoch durchaus so etwas wie eine relative reale Möglichkeit dar: etwas, was mehr oder weniger an anderen entdeckt31 und im eigenen Leben erzeugt werden kann. Wenn Simmel die Handlung an das Sein der Person bindet, geht es ihm durchaus um die Erzeugung realer Identität. Er versteht das moralische Subjekt weder als einen von der Lebensgeschichte unabhängigen „Träger" der Erfahrungen, noch als einen unveränderlichen Charakter. Inwieweit jemand die Identität einer Person aufweist und selbst handelt, hängt vielmehr von seinem Eigenleben ab: seinem Leben, insoweit es nicht nur darin besteht, daß verschiedene Einflüsse aufeinander folgen oder nebeneinander herlaufen, sondern diese als Erfahrungen angeeignet werden. Dies geschieht durch Interpretationen und Wertungen, denen das Subjekt aufgrund seiner vorausgegangenen Erfahrungen und seines eigenen Persönlichkeitsideals zuneigt. So entwickelt sich aus der zusammenhanglosen Vielheit der Erlebnisse eine zusammenhängende Lebensgeschichte: eine Kette aus Erfahrungen, Einstellungen und Erwartungen, aus der sich je eine besondere Weltsicht ergibt, die wiederum bestimmend dafür ist, wie man handelt und welchen Erfahrungen man sich aussetzt. Beim realen Individuum handelt es sich also nicht um einen unbestimmten Träger von bestimmten Handlungen, wie Simmel gegen Kant einwendet, sondern umgekehrt stellen die Handlungen Bestandteile und Ausdrück einer bestimmten Persönlichkeit dar.32 Als eine moderne Theorie personaler Identität erscheint Simmels Konzeption besonders wegen ihres zentralen Gedankens reizvoll, daß es bei einer Person, die nicht nur reagiert oder auf quasi mechanische Weise Handlungsregeln befolgt, sondern die in ihrem Handeln selbst präsent ist, gerade nicht auf diejenigen Aspekte der Persönlichkeit ankommt, die sich über die Zeit hinweg unverändert erhalten, sondern vielmehr auf die Veränderung ihrer selbst: Sie kann sich nicht in ihrer jeweiligen Gestalt erhalten, sondern muß sich ständig erneuern, indem das gegenwärtig Erlebte mit Vergangenem und mit Zukunftserwartungen kontrastiert und integriert wird. In dem Maße, in dem die Person sich der Veränderung verweigerte, sich der Wechselwirkung mit neuen Erfahrungen verschlösse, würde sie auch ihre Identität verlieren. Wir wären nur dann „formal vollkommene Persönlichkeiten",33 wie Simmel in seiner späten Schrift zur „Persönlichkeit Gottes" reflektiert, 31 32 33 Dieser zweifache Aspekt der Individualität bei Simmel wird besonders hervorgehoben bei Matthew Lipman, „Some aspects of Simmel's conception of the individual", in: Georg Simmel, 1858-1918, hg. v. Kurt H. Wolff, Ohio 1959, S. 123. So interpretiert Simmel auch Goethes Auffassung von Individualität im Kontrast zu der Kants in: Über Goethes und Kants moralische Weltanschauung. Ein Vorlesungszyklus, GSG 8, hg. v. Alessandro Cavalli und Volkhard Krech, Frankfurt 1993, S. 422 f. Georg Simmel, „Die Persönlichkeit Gottes", in ders., Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, Leibzig 1911, S. 213. Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM Zu Simmels Kritik an der Lebensfremdheit der kantischen Moralphilosophie 189 wenn die Wechselwirkung zwischen unseren divergenten und fragmentarisierten Erlebnissen „eine vollkommen geschlossene wäre" und unser Denken und Fühlen ausschließlich durch unsere persönliche Lebensgeschichte bestimmt würde: „Allein das ist nicht der Fall. Wir sind auch mit unserer Psyche, wie mit unserem Körper, in die äußere Welt verwebt, es finden Wirkungen in ihr statt, die nicht aus ihr allein zu erklären sind und es scheint auch, als ob gewisse ihrer innerlichen Vorgänge nach außen verliefen und sich nicht mit ihrer ganzen Wirkungsmöglichkeit in den psychischen Verlauf weitererstreckten."34 Eine Persönlichkeit, die nicht von Identitätsverlust bedroht wäre, kann daher nur Gott sein, weil es für ihn kein „außerhalb"35 gibt: Macht man mit dem Begriff der Persönlichkeit Ernst, ... so kann er sich nur an einem absoluten Wesen realisieren, an einem, das entweder mit der Totalität der Welt eins ist, substantia sive deus, oder an einem das sozusagen das Totalitätsmoment der Welt bedeutet ...36 Für ein endliches Wesen hingegen gilt das Paradox, daß es umso mehr Persönlichkeit ist, je mehr es zu seiner Umwelt in Wechselwirkubng tritt und sich hierdurch selbst verändert (statt Einflüssen zu unterliegen, die ihm äußerlich bleiben).37 Das Ideal der Identität als totaler Wechselwirkung ist daher im Simmelschen Rahmen die schlechthinnige Bedingung dafür, daß wir Handlungen überhaupt einer Person zurechnen können. Ohne die Ausbildung einer persönlichen Identität im Erfahrungsprozeß (die wir als Ideal immer unterstellen, auch wenn sie realiter oft kaum besteht) hätte auch die Verantwortung „kein einheitliches Fundament", sondern würde sich der Vielzahl von kausalen Faktoren entsprechend aufteilen, die unser Verhalten beeinflussen. Denn es wäre witzlos, eine Person für das moralisch verantwortlich zu machen, was sie tut, wenn wir davon ausgingen, daß ihr Tun ausschließlich durch anderes als sie selbst bewirkt wird: wenn wir ihre Reaktionen auf gegenwärtige Vorgänge beispielsweise als ein reflexhaftes Reagieren auf momentane Reize aus der Umwelt oder Erwartungen anderer deuten würden oder auch als ein Befolgen im Sinne eines Abgerichtetseins. In einem solchen Fall würden wir ihr Verhalten zwar in bezug auf den Handlungstypus, aber nicht in bezug auf sie selbst als gut 34 35 36 37 Georg Simmel, „Die Persönlichkeit Gottes", S. 213. Zum Begriff der Persönlichkeit vgl. auch Georg Simmel, Die Philosophie des Geldes (1900/ 1907), GSG 7, hg. v. David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke, Frankfurt 1989, S. 402: „Jene Einheit psychischer Momente, jenes Zusammengeführtsein ihrer wie in einem Punkt, jene feste Umschriebenheit und Unverwechselbarkeit des Wesens, die wir eben Persönlichkeit nennen — bedeutet doch die Unabhängigkeit und den Abschluß allem Äußern gegenüber, die Entwicklung ausschließlich nach den Gesetzen des eigenen Wesens, die wir Freiheit nennend „Die Persönlichkeit Gottes", S. 115 f. Von diesem Gedanken ist auch Simmels Theorie der Erziehung bestimmt: Je verfeinerter und individueller die Erziehung ist, desto mehr wird auch der Erziehende selbst wieder erzogen. Je schematischer sie ist, desto weniger ist sie Wechselwirkung. Vgl. hierzu die „Beiträge zur Philosophie der Geschichte" (1909), in: Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 39. Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM 190 Maria-Sibylla Lotter oder schlecht beurteilen.38 Bei der Identität der Persönlichkeit handelt es sich somit um eine Bedingung der Möglichkeit, den Handelnden und seine Handlungen überhaupt moralisch zu bewerten. Darüber hinaus betrachtet Simmd persönliche Identität offenkundig nicht nur als eine notwendige, sondern auch als eine hinreichende Bedingung für Freiheit im moralischen Sinne: Die Freiheit des Einzelnen, die ihn wirklich für sein Tun verantwortlich macht, bedeutet, daß er mit allem seinem Handeln jenes in sich zusammenhängendeorganische Ganze sei, das sich dem Anspruch eines höheren Ganzen, ihn als Glied einzuschließen und abhängig zu machen, prinzipiell widersetzt.39 Eben hierdurch — und hier hat Simmel der Lehre vom intelligiblem Charakter eine ganz neue ethische Bedeutung verliehen — bekommt die einzelne Handlung ein moralisches Gewicht, das sie weder im Rahmen der kantischen, noch in von Schellings und Schopenhauers Morallehre haben konnte. Der Charakter, dem die Handlungen moralisch zugerechnet werden sollen, wird nicht als den Handlungen vorausliegend gedacht, sondern umgekehrt als eine Folge der Handlungen. Nicht allein die intelligible Tat „vor" dem Leben, sondern jede gewöhnliche Lebenshandlung wird hierdurch bei Simmel zu einem Schöpfungsakt: einem Schöpfungsakt, der in einem den wirklichen Charakter wie die ihm entsprechende Möglichkeit idealen Seins erneuert, die wir in der Zurechnung von Handlungen zu einer identischen Person voraussetzen. Für Simmel gilt daher nicht nur wie für Schopenhauer operari sequitur esse, sondern genauso esse sequitur operari: Darum ist das ganze Leben für jede Tat und jede Tat für das ganze Leben verantwortlich [...] Neben den operari sequitur esse gilt auch: esse sequitur operari. Jede Handlung wirkt auf den — nicht mehr definierbaren — Grund zurück, aus dem unser Handeln überhaupt aufsteigt. Darum liegt schon in dem Gesolltwerden jedes einzelnen Tuns die Verantwortung für unsere ganze Geschichte.40 Aus diesem Freiheitsbegriff ergibt sich eine unbedingte Verantwortung des Einzelnen nicht nur für sein Handeln, sondern schon für seine Persönlichkeit als selbstgeschaffene: Wir sind „nicht nur dafür verantwortlich, daß wir einem bestehenden Gesetz gehorchen oder nicht, sondern schon dafür, daß dieses Gesetz für uns gilt; denn es gilt für uns nur, weil wir diese bestimmten sind, deren Sein sich durch jede gegebene Tat irgendwie modifiziert ..."41 ///. Der „objektive" Charakter des individuellen Gesetzes Es wäre nun zu fragen, was im Rahmen der Simmelschen Konzeption aus unseren gewöhnlichen moralischen Urteilen wird, die nicht auf den Lebenszusammenhang 38 39 40 41 Zur Bedeutung der Identität für die moralische Zurechnung vgl. auch Oswald Schwemmer, „Moralität und Identität, in: Entwicklungen der methodischen Philosophie, hg. v. Peter Janich, Frankfurt 1992, S. 184. Georg Simmel, „Religion und Gesellschaft", S. 51. Georg Simmel, Lebensanschauungen, S. 243. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 227. Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM Zu Simmcls Kritik an der Lcbcnsfrcmdhcit der kantischcn Moralphilosophic 191 des Handelnden, sondern auf die jeweiligen Zwecke von Berufsarten und auf allgemeine soziale Werte Bezug nehmen. So benötigt man durchaus keine Informationen über die einzigartige Bestimmung einer Person, um das Urteil zu fällen, daß Frau X eine gute Ärztin ist oder daß Herr Z sich beim Überfall auf die Sparkasse mutig verhalten hat. In solchen Fällen orientieren wir uns vielmehr an den Zwecken allgemeiner Handlungstypen oder an sozialen Idealtypen tugendhaften Verhaltens, die vorschreiben, was als ein guter Arzt oder wfas für ein Verhalten in einem bestimmten Typus von Situation als mutig, welches hingegen als verantwortungslose Tollkühnheit gilt. Solche Urteile würden auch keineswegs präzisiert, sondern verlören umgekehrt an Prägnanz, wenn sie um zusätzliche Angaben über die Persönlichkeit von Frau X und Herrn Z erweitert würden. Es ist daher nicht ohne weiteres zu verstehen, wie ihre Normativität auf die „Einheitlichkeit" des individuellen Lebens zurückgehen soll. Insofern in diesen Urteilen das Verhalten des Einzelnen an einem externen und vorgegebenen Maßstab gemessen wird, scheint ihnen vielmehr Durkheims Auffassung von der Moralität als einer Normativität, die dem Individuum notwendigerweise „von außen" — d. h. von der Gesellschaft — auferlegt ist, sehr viel eher zu entsprechen. Eben dies bestreitet Simmel: Freilich, von den äußeren, uns umgebenden Alächten her gesehen, ist auch dies kein autonomes, sondern ein ideologisches Ereignis: die Gesellschaft, die Kirche, der Berufs- oder Familienkreis erlegt uns jene Pflichten der hingebenden, selbstlosen Aktionen als Mittel für die Zwecke dieser Gebilde auf. Aber darum, weil es von uns gefordert wird, ist es noch lange nicht sittlich gesollt, denn als Forderung ist ja die sittlich anzuerkennende nicht von der ungerechtfertigten unterschieden.42 Eine Forderung, die auf gesellschaftlichen Traditionen und Institutionen beruht, ist also noch keine moralische Forderung. Vom Wortlaut her scheint Simmel hier Positionen der Aufklärungsphilosophie aufzugreifen, daß eine Forderung, damit sie für das Individuum moralisch verpflichtend sein kann, von diesem selbst anerkannt werden, und d. h. ihm einsehbar und vernünftig erscheinen muß. Wodurch wird sie dann eine solche? Hier würde man von einem Autor, der einen „quantitativen" Individualismus im Sinne des achtzehnten Jahrhunderts vertritt, die Antwort erwarten: weil der Einzelne aufgrund seiner Vernunft etwas als seine Pflicht erkennt. Ein Vertreter des „qualitativen" Individualismus im Sinne des neunzehnten Jahrhunderts wie Schleiermacher würde die Verpflichtung darauf zurückführen, daß die Forderung nicht nur von außen an mich herantritt, sondern eine optimale Möglichkeit darstellt, meine Eigentümlichkeit auf eine Weise zu realisieren, die fähig ist, gesellschaftliche Übereinstimmung zu schaffen.43 In der Literatur zu Simmel ist es verbreitet, beide Typen von Antworten mit seinem „individuellen Gesetz" zu verbinden. Hier handelt es sich jedoch um ein grundlegendes Mißverständnis von Simmels 42 43 Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 213. Vgl. hierzu Friedrich Daniel Schleiermacher, „Versuch über die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffs" (1824), in ders., Werke, Bd. l, hg. v. Otto Braun/Johannes Bauer, Leibzig 1910, S. 392. Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM 192 Maria-Sibylla Lotter Ansatz, der sich ja gerade dadurch auszeichnet, die Perspektive der ersten Person aufgrund einer scheinbar perspektivenneutralen Rede vom „Leben" fallenzulassen, so daß die Reflexion des Einzelnen auf die Maßstäbe seines Handelns nicht mehr als eine konstitutive Bedingung seiner Verpflichtung erscheinen kann. Schon in seinem Artikel „Was ist uns Kant?" von 189644 hatte er den Anspruch des Individuums, selbst über seine Pflichten entscheiden zu können, als bloße Selbsttäuschung abgetan, als „selbstschmeichlerische Einbildung [...] als sei man zu einem ganz besonderen Handeln und Genießen berechtigt, weil man „anders als die anderen" sei.45 An dieser Einschätzung hat sich auch in den lebensphilosophischen Arbeiten nichts geändert. Hier beansprucht Simmel, die Pflicht weder aus dem rationalen Bewußtsein, noch aus der Selbsteinschätzung des Individuums, sondern aus dem „ganzen Menschen" herzuleiten:46 „[S]ittlich geforderte ist sie nur um ihrer Zugehörigkeit zu einem ganzen, ideell vorgezeichneten Leben willen."47 Wie kann jedoch der „ganze Mensch" einen Maßstab des ethischen Sollens abgeben? Mit Blick auf die im letzten Abschnitt dargestellte Bedeutung der ganzheitlichen Individualität für die Verantwortung wäre folgende Antwort möglich: Wenn ein Individuum seine Handlungen ausschließlich anhand allgemeiner Werte von Handlungstypen und nicht aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen und Ziele bewerten würde, könnte es gar nicht das zusammenhängende Ganze werden, das wir als Ideal annehmen, wenn wir ihm unterstellen, daß es' „selbst" handelt. Simmels Kritik des kategorischen Imperativs Kants geht jedoch weit über diesen Gesichtspunkt hinaus. Simmel bezeichnet den kategorischen Imperativ nämlich als unvereinbar mit der Freiheit des Individuums, da er die Einheit des individuellen Lebens in Handlungsatome auflöse: „Der kategorische Imperativ hebt [...] die Freiheit auf, weil er die einheitliche Totalität des Lebens aufhebt, zugunsten der atomisierten Taten, die und deren Wertung nach einem begrifflichen System das Leben unter sich beugen, ihm seine, d. h. ihre Bedeutung bestimmen."48 Hier wird deutlich, daß Simmel den universalistischen Maßstab der kantischen Moralphilophie nicht nur um die Gesichtspunkte persönlicher Identitätsbildung zu ergänzen sucht. Die individualistische Perspektive soll den kategorischen Imperativ vielmehr ganz und gar ablösen. Einen Anspruch hierauf kann Simmel freilich nur erheben, wenn er das persönliche Ideal nicht nur aus der Außenperspektive des „Blicks des Anderen" herleitet, sondern zeigt, wie es einen Maßstab praktischer Selbstreflexion abgeben 44 45 46 47 48 Gegenüber diesen Alternativen bedeutet Kants kategorischer Imperativ für Simmel 1896 noch „vielleicht das höchste Prinzip" (Georg Simmel, „Was ist uns Kant", S. 169): Erst in der kantischen „Forderung, das eigene Handeln widerspruchsfrei als ein Gesetz für alle denken zu können", so Simmel, findet die „Persönlichkeit mit ihren Launen und Velleitäten, ihren Ansprüchen und Reizbarkeiten ein strenges Maß ihrer Freiheit." Georg Simmel, „Was ist uns Kant", S. 167. Georg Simmel, „Was ist uns Kant", S. 167. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 212. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 212. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 192. Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM Zu Simmels Kritik an der Lebensfremdheit der kantischen Moralphilosophie 193 kann. Nur aus der prinzipiellen Möglichkeit, in einem Akt der Selbstreflexion das unbedingte Sollen zu erkennen, kann die unbedingte Verantwortung für das eigene Leben, die Simmel dem Individuum zuschreibt, begründet werden. Simmel nimmt offenbar an, daß die Frage, zu was für einer Person mich eine intendierte Handlung machen würde, die Funktion eines kategorischen Imperativs übernehmen kann: „Kannst Du wollen, daß dieses Dein Tun Dein ganzes Leben bestimmt?"49 Vom Wortlaut her scheint dieser Imperativ eine Art individualistischen Konsequentialismus zu fordern: Während der kategorische Imperativ Kants die Bereitschaft voraussetzt, von der Besonderheit der eigenen Lebenssituation und den Konsequenzen des Handelns für die eigene Person zu abstrahieren, das Handeln als Handlungstypus aus der allgemeinen Perspektive praktischer Vernunft zu bewerten, verlangt der Imperativ Simmels, sich in Anbetracht der Folgen einer Handlung für mein zukünftiges Leben zu entscheiden. Inwieweit kann eine solche Formel beanspruchen, den universalistischen Imperativ zu ersetzen? Wie auch im Falle der oben diskutierten Berücksichtigung des individuellen Lebenskontextes findet Simmels Formel zweifellos eine gewisse Entsprechung in Bereichen des alltäglichen Moralisierens, die von der kantischen Formel nicht berührt werden. So gibt es eine Reihe von Handlungen wie beispielsweise die Entscheidung für einen bestimmten Beruf, für die Heirat einer Person von bestimmten Neigungen und Erwartungen u. a., die für uns als allgemeine Handlungstypen unter Absehung vom Handlungsträger keine moralische Bedeutung haben, obgleich wir sie in ihrer Relation zur Persönlichkeit des Handelnden durchaus bewerten. Wir sind vertraut mit Bemerkungen von der Art, Müller habe den falschen Beruf ergriffen. Meier eine Person geheiratet, die gar nicht zu ihr passe, und dies könne „nicht gutgehen". Hier scheinen wir in der Tat Simmels Forderung anzuwenden, daß ich alle meine Erfahrungen und Handlungen als Elemente und Ausdrücke meines Lebens zu prüfen und zu bewerten habe. Es ist jedoch charakteristisch für diese Form moralischer Bewertung, daß sie eher zur Bewertung des Verhaltens anderer Personen, als zur Beurteilung eigener Vorhaben angewendet wird. Denn es ist auch nicht zu erkennen, wie dieser „Imperativ" für das Individuum ein Prinzip der moralischen Entscheidung abgeben könnte; in Anbetracht der Komplexität sozialer Zusammenhänge und ihrer Rückwirkungen auf das Individuum könnte eine solche Forderung nur demjenigen, der wie der leibnizsche Gott alle mögliche Welten, die sich aus einer Handlungsentscheidung ergeben, zugleich zu überschauen vermöchte, eine eindeutige Orientierung für konkrete Lebensentscheidungen bieten. Wenn der „Imperativ" Simmels keinen allgemeinen Maßstab der bewußten Entscheidung des Einzelnen abgeben kann, ist es jedoch witzlos, ihn in der ersten Person Präsens zu formulieren. Möglicherweise war sich Simmel dieses Problems nicht ganz unbewußt, denn eine Formulierung des Lebensideals in der ersten Person geschieht nur in den Lebensanschauungen, und auch dort nur an der oben zitierten Stelle, während er gewöhnlich die Perspektive der dritten Person annimmt. 49 Georg Simmel, Lebensanscbauungen, München 1922, S. 235. Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM 194 Maria-Sibylla Lotter Kehren wir zu der Frage zurück, worauf sich die rätselhafte Formel vom „ideell vorgezeichneten Leben" bezieht, das Simmel nicht mit dem realen Leben verwechselt wissen will. Dies kann sich nur mit Blick auf die von Simmel ausdrücklich abgelehnten moralphilosophischen Alternativen zeigen. Zum einen darf das moralische Sollen nicht aus „einer über-individuellen, aus ihrem sachlich-begrifflichen Gefüge Gültigkeit ziehenden Satzung"50 sozialer oder universaler Art hergeleitet werden, weil hierdurch, wie Simmel nie müde wird anzuklagen, „das momentane Problem, die eigenartige Ausgestaltung des persönlichen Schicksals [...] eine äußerliche und rohe Beugung unter ein Gesetz erfährt, bei dessen Schöpfung auf sie keine Rücksicht genommen ist."51 Denn sowohl die soziale, wie die universalistische Begründung der Pflicht sind ja nach Simmel unzulässig, weil sie die Pflicht nicht aus dem Individuum als solchem herleiten können. Zum anderen darf der moralische Maßstab aber auch nicht mit dem Selbstbewußtsein des Individuums verwechselt werden, dessen Anspruch, die eigene Pflicht selbst beurteilen zu können, Simmel schon als „selbstschmeichlerische Einbildung" abgetan hatte. Wie kann jedoch dann eine Pflicht als Pflicht des Individuums begründet werden? Simmels Lösung dieses Problems baut auf einer semantischen Verschiebung der Bedeutungen von „Individuum" und „individuell" auf, die es ihm letztlich möglich erscheinen läßt, das individuelle Gesetz rein aus der Außenperspektive der dritten Person zu bestimmen und dabei sowohl die moralische Kompetenz des Einzelnen, wie seine Suche nach Glück als unhintergehbare Bestimmungen einer.am Individuum orientierten Ethik fallenzulassen. Er selbst bezeichnet dies als eine „Objektivierung" des Individuellen. Sie besteht darin, die individuelle Pflicht ganz vom Bewußtsein des Einzelnen und der Zuständigkeit seines Gewissens abzukoppeln: Der entscheidende Begriff ist vielmehr: die Objektivität des Individuellen. Besteht einmal ein bestimmt individualisiertes Leben, so ist auch sein ideales Sollen als ein objektiv gültiges da, derart, daß wahre und irrige Vorrstellungen darüber sowohl von seinem Subjekte wie von anderen Subjekten gefaßt werden können.52 Daß die Abkoppelung des individuellen Gesetzes von der Reflexion des Einzelnen nicht bedeutet, daß es im Sinne von Egoismus oder Glücksstreben zu verstehen ist, macht Simmel im Zusammenhang seiner Diskussion der Traditionen des ethischen Individualismus deutlich. Dort bezeichnet er das individuelle Gesetz als ein „objektives Ideal", „bei dem durchaus nicht nach seinem Erfolg für das Glück und die im engeren Sinne persönlichen Interessen des Subjekts gefragt wird",53 das sich vielmehr als Vollkommenheitsideal auch „gegen den Glücks- oder Unglückszustand dieses Individuums stellen kann."54 Mit seiner beschwörenden Rede von der „Objektivität" eines „überpersönlichen" Sollens, das sich gleichwohl nur an der „Per50 51 52 53 54 Georg Georg Georg Georg Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 217. Simmel, „Was ist uns Kant", S. 168 f. Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 217. Simmel, Grundfragen der Soziologie, S. 70. Simmel, Grundfragen der Soziologie, S. 70. Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM Zu Simmels Kritik an der Lebensfremdheit der kantischen Moralphilosophie 195 sönlichkeit" verwirklichen kann,55 knüpft er bewußt an die Tradition des ethischen Individualismus im neunzehnten Jahrhundert an: sowohl an Nietzsches Konzeption von den „großen Einzelnen", deren Selbstüberwindung weder der persönlichen Lust, noch der Realisierung irgendeiner Eigentümlichkeit, sondern dem Fortschritt der Menschheit diene, als auch an den Gedanken Schleiermachers und der deutschen Romantik, daß das Absolute sich in jedem Individuum auf je verschiedene Weise realisiere. Diese Formeln können jedoch im Kontext Simmels nicht mehr die Bedeutungen haben, die im neunzehnten Jahrhundert mit ihnen verbunden gewesen waren, weil Simmel sie vollständig von der „subjektiven" Sichtweise abgelöst hat: Das individuelle Sollen Simmels ergibt sich weder aus der von den Romantikern betonten selbstbewußten und — gewollten Eigenart des Einzelnen in ihrer Differenz zur allgemeinen gesellschaftlichen Konvention, noch aus der die Verknüpfung des Strebens nach individueller Selbstfindung mit der Orientierung an einer idealen Handlungsgemeinschaft wie beim späten Schleiermacher. Es folgt vielmehr, wie Simmel erläutert, aus den Inhalten des „individuellen Lebens". Was sind das für Inhalte? Nichts anderes, so stellt sich nun heraus, als die Inhalte der Kultur und der politischen Organisation, in der das Individuum aufwächst. Die Individualität,die sich als Sollen darstellt, ist doch keine unhistorische, materialfreie, nur etwa aus dem sogenannten „Charakter" bestehende. Sie ist vielmehr dadurch mitbestimmt oder schließt es als gar nicht zu eliminierendes Moment ein, daß dieser Mensch etwa Bürger eines bestimmten Staates ist.56 Wenn wir Simmels Behauptung, daß die kulturelle Herkunft einer Person ein „gar nicht zu eliminierendes Element" ihrer persönlichen Identität und damit auch ihrer Verantwortungsfähigkeit sei, im Sinne einer Begrenzung des Verantwortungsbereichs von Personen zu verstehen hätten, könne sie sich durchaus auf gute Gründe stützen; freilich auf andere Gründe als die von Simmel angegebenen. Denn um als Individuum für seine Handlungen verantwortlich sein zu können, muß man prinzipiell wissen können, was man tut. Um sich selbst klarzumachen, was man im Begriff ist zu tun, muß man jedoch auf allgemeine Beschreibungen von Handlungstypen zurückgreifen, und diese Beschreibungen und die in ihnen implizierten Bewertungen sind nun freilich nicht unabhängig von der Kultur, in der man aufwächst; man denke nur an Begriffe wie „Duell" und die damit zusammenhängenden Ehrbegriffe. Es hat deshalb keinen Sinn, ein Individuum für Handlungen verantwortlich zu machen, die es aufgrund seiner Unbekanntheit mit der Kultur, durch die solche Handlungen symbolisch konstituiert werden, gar nicht kennen kann — beispielsweise den Angehörigen einer Kultur, in der anhaltender Blickkontakt als wohlwollendes Interesse gilt, für das ehrenrührige „Fixieren" des Angehörigen einer deutschen Verbindung zu Simmels Zeiten. Eine solche Berücksichtigung kultureller Identität bei der Frage personaler Verantwortung würde aber nicht notwendigerweise zur Folge haben, daß man den Verantwortungsbereich eines Individuums mit dem symboli55 56 Georg Simmel, Grundfragen der Soziologie, S. 70, Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 218. Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM 196 Maria-Sibylla Lotter sehen System seiner Kultur gleichsetzt. Denn erstens kann ein Individuum — je nachdem, wo es sich bewegt — wesentlich mehr Handlungstypen kennenlernen, als die in seiner Kultur vorherrschenden, und zweitens kann man tfur in den weltweit extrem seltenen Fällen abgeschlossener Dorfgemeinschaften ohne Außenkontakte von fixen Grenzen zwischen Kulturen sprechen. Denn bei fast allen existierenden Kulturen handelt es sich um komplexe Verbindungen von verschiedenerlei Traditionen, die sich zudem im Austausch mit anderen Kulturen befinden. Die Kulturzugehörigkeit kann daher zwar als negatives Kriterium dienen, einem Individuum keine Handlungen anzulasten, die es aufgrund kulturell bedingter Unkenntnis nicht verantworten kann. Sie taugt aber nicht als positives Kriterium, Verantwortung zu bestimmen. Simmel selbst will seine Aussage jedoch in einem positiven Sinne verstanden wissen, wie er anhand eines Beispiels demonstriert. Aufgrund der „Historizität" und „Materialität" des Individuums erscheint es ihm nämlich möglich, die objektive Pflicht eines anderen Individuums allein aufgrund der Staatsangehörigkeit aus der Außenperspektive zu bestimmen. So meint Simmel daraus, „daß dieser Mensch etwa Bürger eines bestimmten Staates ist", schon das objektive Sollen des Individuums herleiten zu können. Aus dem schlechthin individuellen Lebens dieses Menschen heraus (denn ein anderes als ein individuelles ist eben nicht denkbar), zu dem sein Staatsbürgertum gehört, erhebt sich deshalb seine Pflicht des Waffendienstes ...57 Diese Folgerung ist unvereinbar nicht nur mit dem „quantitativen Individualismus" des Vernunftmenschen, sondern auch mit dem „qualitativen Individualismus" im Sinne Schleiermachers und Nietzsches. Denn wie Schleiermacher58 und Nietzsche59 ausdrücklich erwägen, habe ich es in moralischen Entscheidungssituationen nie mit einem „schlechthin individuellen Leben* zu tun, aus dem sich von selbst eine bestimmte Pflicht „erhebt", sondern mit einer Vielzahl von eigenen „Neigungen" und „Tugenden", die in Konflikt treten und sowohl in ihrer relativen Gewichtung wie in Bezug auf die spezifischen Fähigkeiten des Einzelnen beurteilt werden müssen. Darüber hinaus erscheint Simmels Formulierung jedoch auch unvereinbar mit dem von ihm selbst vertretenen holistischen Individualismus, nämlich der Herleitung der Pflicht aus dem gesummten Leben der individuellen Persönlichkeit, ihrer Wechselwirkung mit den Anforderungen und Einflüssen der sozialen Umgebung. Auch wenn die Bezugnahme auf den potentiell „ganzen Menschen" kein positiv anwendbares Kriterium der moralischen Entscheidung abgeben kann, läßt sich aus ihr doch ein negatives Kriterium ableiten, nämlich eine Pflicht nicht allein aus dem herzuleiten, was einen Menschen nur als kausaler Einfluß „mitbestimmt", wie Simmel es 57 58 59 Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 219. Vgl. Friedrich Daniel Schleiermacher, „Versuch über die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffs", S. 386. Zu Friedrich Nietzsche vgl. beispielsweise den Abschnitt „Von den Tugenden und Leidenschaften" im Zarathustra. Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM Zu Simmels Kritik an der Lebensfremdheit der kantischen Moralphilosophie 197 von dem Staatsbürgertum annimmt. Um allein aus der Zugehörigkeit zu einem Rechtssystem eine Pflicht ableiten zu können, müßte Simmel vielmehr die Staatsbürgerschaft nicht nur als ein „gar nicht zu eliminierendes Moment", sondern als eine Art Wesenseigenschaft des Individuums betrachten; oder er müßte die Perspektive eines Historikers im Sinne der Rickertschen Wertbeziehungslehre und ihrer nationalistischen Anwendung einnehmen und das Individuum mit Blick auf die „unersetzlichen oder wesentlichen Bestandteile" seiner Identität60 bestimmen, die wir auf einen vorrangigen kulturellen Wert — die Staatsbürgerschaft — beziehen können. Ein Beispiel aus Melvilles Billy Budd (das schon von Peter Winch zur Begründung seines ethischen Individualismus verwendet wurde), soll hier dazu dienen, die Differenz zwischen den ethischen Konsequenzen von Simmels Forderung, meine Pflicht nicht mit der Pflicht anderer gleichzusetzen, und seinem Begriff des objektiven Ideals und dessen Anwendung deutlich zu machen. Der Matrose Billy Budd wird von einem böswilligen Offizier vor dem Kapitän fälschlicherweise der Meuterei angeklagt, kann sich aufgrund einer chronischen Sprachhemmung in Streßsituationen nicht verbal verteidigen und schlägt aus Hilfslosigkeit zu, was aufgrund einer Verkettung unglücklicher Umstände den Tod des Offiziers zur Folge hat. Der Kapitän verurteilt Budd auf der Basis der Kriegsgesetzgebung zu Tode, hält dabei jedoch eine Rede, in der er nicht die Paragraphen des Kriegsrechts, sondern die moralischen Aspekte des Falles diskutiert. Dabei bekundet er seine Gewissensüberzeugung, daß Budd ungeachtet seiner unzweifelhaften Schuld nach den Paragraphen des Kriegsrechts „vor Gott" unschuldig ist. Interessant für unser Problem ist hier vor allem der Umstand, daß es dem Kapitän nicht um ein rein privates Gefühl geht, das ihm die Entscheidung schwer machen, aber sie nicht moralisch mitbestimmen könnte.61 Wie Winch hervorhebt, ergeben sich vielmehr sowohl aus der Stimme des Gewissens wie aus der Forderung des Kriegsrechts für den Kapitän moralische Verpflichtungen, die zu vereinen bzw. gegeneinander zu gewichten sind. Diese Vereinigung und Gewichtung der Pflichten kann nur von ihm selbst vorgenommen werden, da er persönlich die Entscheidung zu verantworten hat; jedoch nicht als ein (stillschweigender) privater, sondern als ein öffentlicher Reflexionsprozeß ganz im Sinne Schleiermachers, mit dem ein Individuum einer Gemeinschaft gegenüber über seine moralische Lage Rechenschaft gibt und nach Übereinstimmung strebt: der Mannschaft, die im Zustande der latenten Meuterei-Drohung nicht mehr bereit ist, der Autorität blind zu folgen. Eben deshalb erfährt man seine Entscheidung nicht nur als unpersönliche Vollstreckung einer gegebenen Rechtsforderung, aber auch nicht als unpersönliche Reflexion auf die Beziehung zwischen Pflichten gegenüber dem Staat und 60 61 Vgl. hierzu Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften (1902), Tübingen 1921, S. 242. Dies geht aus Melvilles Geschichte freilich nicht ganz eindeutig hervor, aber es ist eine mögliche Interpretation, von der Winch ausgeht. Vgl. Peter Winch, „The Universalizability of Moral Judgements", in ders., Ethics and Action, London 1972, S. 158 ff. Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM 198 Maria-Sibylla Lotter König auf der einen, Gewissenspflichten auf der anderen Seite. Sie erscheint als Ausdruck einer durch diese verschiedenen Verpflichtungen geprägten Persönlichkeit, die ihre Verantwortungsfähigkeit in dem Bemühen manifestiert/ nicht eine der Forderungen mit der Pflicht selbst gleichzusetzen und sich dadurch die eigene, gegenüber einer konkreten Gemeinschaft zu verantwortende Entscheidung zu ersparen. Das Verhalten der Mannschaft im Prozeß von Billy Budd demonstriert zugleich, daß die kulturell und sozial vorgegebenen Maßstäbe der moralischen Orientierung in einer Gesellschaft wie der von Billy Budd nicht die Kohärenz aufweisen, die erforderlich wäre, damit moralische Fragen allein durch Subsumtion unter ein kulturell vorgegebenes Sollensideal ohne eine zusätzliche Gewichtung der Pflichten durch das Individuum, das hierbei die Übereinstimmung einer Gemeinschaft anstrebt, beantwortet werden könnten. Daß es sich bei gesellschaftlichen Normen und Wertmaßstäben um historische Phänomene handelt, die verschiedenen kulturellen Traditionen und Rechtsordnungen entstammen und nicht von selbst übereinstimmen, gilt nun freilich nicht weniger für die gesellschaftliche Situation, von der Simmel ausgeht und wo ein moralischer Konflikt zwischen der Pflicht zur Landesverteidigung und dem religiösen Verbot zu töten ansteht. Wie Winch und der Kapitän bei Melville ist sich Simmel durchaus bewußt, daß Staatsbürgertum und Pflichtbewußtsein des Einzelnen differieren und kollidieren können. Er selbst stellt fest, daß sich der Kriegsdienstverweigerer „der vaterländischen Waffenpflicht entzieht, nicht nur mit ruhigem Gewissen, sondern mit der heiligen Überzeugung, damit das sittlich Rechte, unbedingt geforderte zu tun."62 Für die Bestimmung seiner Pflicht sei es jedoch „völlig gleichgültig", ob „er nun diese Pflicht weiß, ob er sie anerkennt oder verkennt."63 Allein weil es sich bei seinem Staatsbürgertum um ein „gar nicht zu eliminierendes" Moment seines Sollens handle, meint Simmel feststellen zu können, „daß er wirklich zum Waffendienst verpflichtet ist, obgleich sein subjektiv sittliches Bewußtsein ihn verwirft."64 Es zeigt sich, daß Simmel ungeachtet seiner Kritik an der Unterwerfung des Individuums unter ihm äußere Gesichtspunkte selbst meint, der Inhalt der Pflicht nicht durch Reflexion auf die Lebenssituation eines Individuums, sondern durch Subsumtion unter einen sachlichen Gesichtspunkt bestimmen zu können, wie er in einer Anmerkung selbst erläutert: Das so bestimmte Leben wird deshalb unzählige Male in seine aus ihm selbst erwachsenden idealen Forderungen alle diejenigen aufnehmen, die jene Inhalte aus ihrer rationalen und gesellschaftlichen, religiösen und staatlichen, karitativen und metaphysischen Verbegrifflichung heraus an uns stellen: die Logik des Lebens wird, inhaltlich und dem Resultate nach, mit der Logik all dieser Gebiete zusammenfallen. Die ethischen Prinzipien scheiden sich nur an der Frage, ob das Sollen als ethisches aus dem Leben heraus- oder an das Leben herankommt 65 62 63 64 65 Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 218. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 219. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 218. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 219 f; Herv. M-S. L. Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM Zu Simmels Kritik an der Lebensfremdheit der kantischen Moralphilosophie 199 Nur weil Simmel die moralische Pflicht allein aus der Perspektive bestimmt, aus der andere die Pflicht eines Handelnden beurteilen, und nicht aus der Perspektive der ersten Person, kann ihm jedoch die „Logik des Lebens" inhaltlich mit der „Logik" der verschiedenen sozialen Instanzen zusammenfallen. Dies ist jedoch mit dem Primat der individuellen Einheit unvereinbar. In Simmels „Objektivierung" des Individuellen wird tatsächlich eine Gleichsetzung der lebendigen Wirklichkeit mit der „Logik" begrifflich vereinzelter Handlungstypen vollzogen, die Simmel vormals im Namen seines Ideals des Sollens als Funktion der totalen Persönlichkeit als Aufhebung der Freiheit beklagt hatte, weil hierdurch einzelne Aspekte des Ich selbständig würden.66 Als bloße Summe sozialer Verpflichtungen kann der Einzelne jedoch, wie hier mit Simmel gegen Simmel einzuwenden wäre, gar keinen hinreichenden Bestimmungsgrund des Sollens abgeben. Dies wäre nur dann möglich, wenn der Bereich des Sozialen selbst ein kohärentes Ganzes wäre, und wenn man „subjektive" und „objektive" ethische Forderungen deutlich unterscheiden könnte, wie Simmel mit seinem Beispiel unterstellt. Hiergegen wäre jedoch einzuwenden, daß der vermeintlich „subjektive" Gedanke des Pazifismus ebenso wie der vermeintlich „objektive" Gedanke der vaterländischen Wehrpflicht einer Strömung der europäischen Kultur entstammt und nicht etwa einer rein psychologischen oder biologischen Veranlagung. Indem Simmel den einen zum bloß „subjektiven", den anderen zum „objektiven" Ideal erklärt, verschleiert er den unausweichlichen ethischen Konflikt, dem das Individuum ausgesetzt ist, weil die kulturellen Normen und Werte, die Teil seiner Persönlichkeit geworden sind, nicht von selbst eine eindeutige und kohärente Wertordnung bilden. Die moderne Moralphilosophie hatte aus dieser Situation in zwei Richtungen einen Ausweg gesucht: zum einen in dem Versuch des „quantitativen Individualismus", die Bestimmungsgründe des moralischen Urteils vollständig zu universalisieren, zum anderen in dem „qualitativen Individualismus", wonach die moralische Entscheidung die spezifischen Fähigkeiten des Individuums zu berücksichtigen hat. Simmels „Mittelweg", so hat sich gezeigt, vermittelt keineswegs zwischen beiden Richtungen, sondern stellt eher einen Versuch dar, die Last des reflexiven Verfahrens der Ermittlung der Pflicht loszuwerden. Sein individuelles Gesetz wird nicht durch einen Reflexionsprozeß über die Gewichtung gesellschaftlicher Normen konstituiert, der durch die Lebenserfahrung und die damit zusammenhängende moralische Urteilskraft des Einzelnen entscheidend mitbestimmt wird, sondern als eine gar nicht mehr reflexionsbedürftige kulturelle Gegebenheit angenommen, der schlicht Folge geleistet werden kann.67 66 67 Vgl. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz·, S. 192. Dieses Bedürfnis nach Reflexionsentlastung und konfliktfreien Regelfolgen tritt auch in Simmels Verklärung des „objektiven Ideals" als eines „überpersönlichen Werts" hervor, der es rechtfertigt, „andere daher ebenso zu opfern wie sich selbst ... Das handelnde Subjekt weiß sich selbst nur als der zufällige Gegenstand oder Vollbringer dieses Auftrags von der Sache her ..." Georg Simmel, Grundfragen der Soziologie, S. 70f. Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM 200 Maria-Sibylla Lotter V. Die prästabilierte Harmonie von Individuum und Gesellschaft Wie erklärt sich dieses Ergebnis bei einem Autor von so radikal individualistischer Rhetorik wie Simmel, der sogar die Methodik der Sozialwissenschaften als „theoretische Fortsetzung und Abspiegelung der praktischen Macht" verdammte, „die im neunzehnten Jahrhundert die Massen gegenüber den Interessen des Individuums erlangt haben"?68 Mischen sich hier die persönlichen Neigungen eines Autors hinein, der am Vorgaben des ersten Weltkrieges die Gelegenheit nutzen will, seinen Patriotismus zu demonstrieren? Dies ist durchaus möglich. Neben den patriotischen Leidenschaften des Individuums Simmel sind bei ihm freilich auch theoretische Interessen und Vorgaben erkennbar, die eine ethische Gleichsetzung von individuellen Sollensidealen und staatsbürgerlichen Pflichten nahelegen. Denn während die Reduktion des individuellen Sollens auf die verinnerlichte Staatsbürgerpflicht sich einerseits als ungeeignet zeigt, Simmels Auffassung von Individualität als ^kreativer Vereinigung wechselwirkender Elemente ethisch einzulösen, bietet sie zugleich eine radikale Lösung des Problems an, wie das Verhältnis von individueller und gesellschaftlicher Moral zu bestimmen sei. Sie transformiert dabei einen Gedanken, der in Simmels Soziologie von 1908 noch durchaus kritisch gemeint gewesen war, nämlich den Gedanken einer prästabilierten Harmonie zwischen dem individuellen Streben nach Verwirklichung und den durch die Gesellschaft hierfür vorgesehenen Möglichkeiten: Daß jedes Individuum durch seine Qualität von sich aus auf eine bestimmte Stelle innerhalb seines sozialen Milieus hingewiesen ist, daß diese ihm ideell zugehörige Stelle auch wirklich in dem sozialen Ganzen vorhanden ist — das ist die Voraussetzung, von der aus der Einzelne sein gesellschaftliches Leben lebt ..., [die] Voraussetzung einer prästabilierten Harmonie zwischen unsern geistigen, wenn auch noch so individuellen Energien und dem äußern, objektiven Dasein [...]69 Simmel hatte diese Harmonie allerdings von vornherein als ein kontrafaktisches Ideal betrachtet, an dem wir uns in unserem Streben nach Selbstverwirklichung in der Gesellschaft und in der Wahrnehmung unserer sozialen Enttäuschungen orientieren. Es dient zugleich als Matrix der Kritik von Gesellschaften, anhand der Leitfrage, inwieweit die in ihnen vorgesehenen Rollen und Funktionen individuelle Selbstverwirklichung erlauben. Bei der Idee der prästabilierten Harmonie handelt es sich im Rahmen der Soziologie also keineswegs um eine präskriptive Kategorie zur Beschreibung der sozialen Realität, welche nach Simmels Diagnose durchaus nicht für die Individuen gemacht ist, sondern eigenen unpersönlichen Gesetzen folgt.70 Gerade mit Blick auf die Angewiesenheit des Einzelnen auf eine „Stelle im sozialen Ganzen" beschreibt Simmel es vielmehr als „eine der fürchterlichsten 68 69 70 Georg Simmel, Soziologie, S. 13. Georgi*^ Simmel,^ Soziologie, «j ^ S. 29 f. Vgl. hierzu auch Georg Simmel, „Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: Logos //, 1911/12, S. 18 ff. Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM Zu Simmcls Kritik an der Lcbcnsfremdhcit der kantischcn Moralphilosophie 201 Mcnschheitstragödien", dal? sich die menschlichen Kräfte in den realen sozialen Verhältnissen nur ungenügend entfalten können. 71 Dies gilt nicht nur für vergangene Epochen, sondern gerade auch für das „individualistische" Leben in der Großstadt, wie er in seiner Philosophie des Geldes ausführt: Der Zuwachs an Freiheit, der darin besteht, daß die Eigendynamik der kulturellen Entwicklung ständig eine von Einzelnen gar nicht realisierbare Vielzahl an Lebens- und Interpretationsmöglichkeiten anbietet, bringt keineswegs die Selbstverwirklichung des Einzelnen, sondern vielmehr eine zunehmende Fragmentarisierung des Einzellebens mit sich.72 Den kulturphilosophischen Hintergrund von Simmels Überlegungen zum moralischen Sollen bildete also keineswegs eine harmonische Auffassung von der Stellung des Einzelnen „im Staat", sondern die reale Disharmonie zwischen Individuum und Gesellschaft im Kontrast zu einer idealen Harmonie. Nun könnte man gerade eine solche Disharmonie als Ausgangspunkt der moralischen Reflexion betrachten und die Übereinstimmung des Einzelnen mit der Gesellschaft im Sinne Schleiermachers nicht als Vorgegebenheit, sondern als moralisches Ziel jedes einzelnen Handlungsaktes verstehen. Simmels Zeitgenosse Durkheim begriff sie als eine positive Bedingung der Entwicklung individuellen Selbstbewußtseins und Autonomie. Im Simmelschen Rahmen bedeutet die Harmonie zwischen Individuum und Gesellschaft jedoch ein kontrafaktisches Ideal, das ausdrückt, was sein sollte, aber nicht ist und unter gegebenen Bedingungen auch nicht sein kann. Unter diesen Voraussetzungen bekommt seine Ethik offenbar kompensatorische Funktion: Sie soll auf theoretischem Wege ein Problem lösen, das in der Wirklichkeit — in der gesellschaftlichen Gegenwart Simmels — für ihn einen unlösbaren Konflikt darstellt: das Problem, „wie sich die Selbständigkeit eines Individuums als eines Ganzen mit seiner Stellung als bloßen Gliedes in einem gesellschaftlichen Leben zusammenbringen lasse."73 Wie aus seiner oben diskutierten Kant-Kritik hervorgeht, versteht Simmel diese Aufgabe zunächst als eine kritische, nämlich als einen Versuch, die Perspektive des individuellen Lebens in ihrer Bedeutung für die Ethik gegenüber einer vorherrschenden Ethik zu vertreten, die eine rein gesellschaftliche Perspektive einnimmt. Im Fortgang seiner Ausführungen zum „individuellen Gesetz" verwandelt sich diese kritische Perspektive indes zur Forderung einer Versöhnung: Es ist ein Paradoxon der Ethik, daß das Subjekt einheitlich sei, ohne den Zusammenhang aufzugeben, daß es sich dem hingebe, was mehr als es selbst ist, und zugleich es selbst bleibe; und insofern ist ihre Bestrebung, die Tragödie des Organismus zu versöhnen.74 Die Versöhnung wird dadurch erlangt, daß die Förderungen des Staates, der Nationalismus, zu der Instanz ernannt werden, die den Gegensatz von „äußeren" Forderungen der Gesellschaft und „inneren" Forderungen des Individuums aufhebt. Denn 71 72 73 74 Georg Simmel, „Kant und Goethe" (1899), in ders., Aufsätze und Abhandlungen 18941900, GSG 5, hg. v. Heinz-Jürgen Dahme und David P. Frisby, Frankfurt 1992, S. 473. Vgl. hierzu Georg Simmel, Die Philosophie des Geldes, S. 621 ff. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 206. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 206. Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM 202 Maria-Sibylla Lotter der Waffendienst, so Simmel, ist ja noch nicht deshalb dem Individuum sittlich geboten, „weil der Staat ihn verlangt", sondern weil er „das in seinem Sein gelegene Sollen" darstellt.75 Simmel kann somit für sein „Prinzip der Et'hik" mit dem Argument werben, daß es sich einerseits dem Inhalt nach nicht von dem unterscheide, was der Staat verlangt, es andererseits dem Individuum unmöglich mache, sich moralisch von diesem Verlangen zu distanzieren: Darum ist dieses Prinzip sowohl bei einer solchen Gleichheit der Wesen, wie sie das allgemeine Gesetz bedingt, als auch bei einer solchen Ungleichheit ihrer, die diese ganz unanwendbar machte, von gleichmäßiger Gültigkeit. Es schließt deshalb ganz das Motiv aus, durch das sich das Individuum so oft [...] dem allgemeinen Gesetz zu entziehen liebt: man sei doch eben anders als die ändern [...]. Dies kann nun nicht mehr gelten; wenn du anders bist als alle ändern, so besteht doch darum für dich nicht weniger als für alle ändern ein ideell vorgezeichnetes Sollen, denn es kommt aus deinem eigenen Leben, nicht aus einem Inhalt, der durch Verallgemeinerungsmöglichkeiten bedingt ist und deshalb vielleicht deinen Fall allerdings nicht einschließt.76 t V. Abschließende Bemerkungen Es hat sich gezeigt, daß Simmels lebensphilosophische Kritik an der kantischen „Unterwerfung" des Einzelnen unter ein ihm äußerliches Sittengesetz weder der kritischen Tradition des autonomen, die Gründe des eigenen Denkens hinterfragenden Individuums, noch — wie es zunächst den Anschein hatte — einem ethischen Individualismus verpflichtet ist. Damit soll nicht gesagt sein, daß Simmels Ansatz keinerlei Anregungen für „individualistische" Ethiken bieten könne. So erscheint es durchaus möglich, Simmels Kritik an Kants Gleichsetzung von Handlungen mit allgemeinen Handlungstypen im Sinne eines kontextorientierten ethischen Individualismus auszuarbeiten, der nur hypothetische Imperative zuläßt (Abschnitt 1); aber diesen Schritt geht Simmel selbst nicht. Darüber hinaus kommt Simmel zweifellos das Verdienst zu, das Problem der persönlichen Identität als Bedingung der Möglichkeit moralischer Zurechnungsfähigkeit erkannt und mit seiner Theorie der Wechselwirkung zugleich eine interessante Beschreibung der selbstbestimmten Persönlichkeit gegeben zu haben. Aber anstatt diesen Ansatz zu einer ethischen Entscheidungslehre auszuarbeiten, legt er seinen Begriff der „Objektivität des Individuellen" im Sinne einer unreflektierten Identität von Allgemeinheit (Staat) und Individuum aus; und dies führt dazu, daß er dem Individuum das Recht abspricht, sich von einer Forderung von Seiten des Staates durch eine moralische Reflexion auf den sittlichen Wert dieser Forderungen zu distanzieren. Hier handelt es sich keineswegs um eine individualistische Variante der Einheit der bewußten Differenz von gesellschaftlicher Sitte und individueller Moral im Sinne Hegels, der die Distanzierungsleistung des Gewissens — bei aller Kritik an der 75 76 Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 219. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, S. 224 f. Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM Zu Simmels Kritik an der Lebensfremdheit der kantischen Moralphilosophie 203 Beliebigkeit subjektiv verstandener Moralität — immer als unantastbar bezeichnet hatte.77 Bei Simmel geht vielmehr die Spannung zwischen den beiden Momenten von Gesetzlichkeit und Distanz verloren,78 die eine Ethik des Sollens ausmachen: der Bezug des Einzelnen auf ein Gesetz, das auf ihn anwendbar ist, ohne jedoch für ihn eine unhintergehbare Lebensbedingung darzustellen, und der hieraus entstehenden Möglichkeit, sich sowohl von seiner kontingenten Besonderheit zu distanzieren wie auch von dem Anspruch des Gesetzes. Hier zeigt sich eine totalitäre Entwicklung des lebensphilosophischen „Individualismus"79 die in dieser Form bei Nietzsche noch nicht hervorgetreten war — dem Autor, an dem sich Simmel im Gedanken eines individuellen Sollens, dessen Wert vom Glücksstreben und Egoismus des Einzelnen unabhängig ist, orientiert hatte. Zwar hatte auch Nietzsche den ethischen Wert der Handlungen auf die Eigenschaften und Einstellungen des Charakters zurückgeführt und diesen historisiert, indem er die Stärke und Originalität des einzelnen Individuums im Verhältnis zum jeweiligen Durchschnitt der „Masse" zum Selbstzweck erhob. Objektiver Maßstab dieses Wertes war bei Nietzsche jedoch die Bedeutung der „großen Einzelnen" für die Menschheitsentwicklung, die somit als transzendenter Bezugspunkt der Selbstüberwindung bei Nietzsche an die Stelle Gottes trat. Einen solchen Bezugspunkt, der die jeweilige Gesellschaft transzendierte, gibt es bei Simmel nicht mehr. Die Stelle der Allsicht Gottes, der Entwicklung der Vernunft oder einer Fortschrittsgeschichte der Menschheit bleibt bei ihm leer. Hierdurch wird das objektive Sollen in seinem Rahmen beliebig bestimmbar, und das individuelle Sollen kann ähnlich bruchlos durch das nationale Wollen ersetzt werden, so wie der stark von der Lebensphilosophie geprägte Heidegger das individuelle Dasein von „Sein und Zeit" einige Jahre später durch das völkische „Dasein" der Rektoratsrede ersetzte. An die Leerstelle des Maßstabs der objektiven Pflicht kann jede beliebige historische und soziale Instanz treten, sofern sie beanspruchen kann, dem Individuum nicht — wie im Falle einer militärischen Eroberung durch „fremde Mächte" — rein äußerlich zu sein, sondern Anteil an seiner Identität zu haben. Dem Individuum wird dabei zugleich die volle Verantwortung für die Ausführung einer Verpflichtung zugeschrieben, an der es keinen erkennbaren Anteil hat. Hierdurch erscheint das Individuum zugleich unendlich geachtet und der Staat von ihm unbedroht. Tatsächlich sind jedoch Individuum wie Staat der Kritik entzogen worden. 77 78 79 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt 1991, § 137, S. 255. Zum Verhältnis von Gesetzlichkeit und Distanz, vgl. Michael Hampe, Gesetz und Distanz. Studien über die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit in der theoretischen und praktischen Philosophie, Heidelberg 1996, insbes. S. 144 f. Zu ähnlichen Tendenzen im ethischen Individualismus Jean-Marie Guyaus vgl. Maria-Sibylla Lotter, „Kult des Individuums. Zum Verhältnis von Anomie und Autonomie bei Durkheim und Guyau", Zeitschrift für Philosophische Forschung, 53, Nr. 2, 1999. Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 5/27/15 2:04 AM