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Unzuverlässiges Erzählen als narratives Verfahren in der Kinder- und Jugendliteratur seit der Jahrtausendwende Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades vorgelegt von Nana Wallraff aus Solingen und angenommen von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln im Fach Deutsche Philologie Für Prof. Dr. Otto Brunken 2 Inhalt 0. Einleitung ........................................................................................................6 1. Unzuverlässiges Erzählen ............................................................................ 11 1.1 Wahrheit und Lüge im dichterischen Kontext .............................................. 11 1.2 Zwei Positionen im wissenschaftlichen Diskurs: rhetorische versus konstruktivistische Sichtweisen ....................................................................13 1.2.1 Unzuverlässiges Erzählen als rhetorisches Konzept ...........................13 1.2.2 Konstruktivistisch geprägte Ansätze .....................................................17 1.2.3 Kritik, Synthetisierungsversuche ..........................................................25 1.3 Merkmale erzählerischer Unzuverlässigkeit ................................................27 1.3.1 Das Kriterium der Intentionalität ...........................................................27 1.3.2 Faktische und normative Unzuverlässigkeit, Diskordanz ....................28 1.3.3 Das Verständnis erzählerischer Unzuverlässigkeit als Skala ..............30 1.4 Systematisierungsversuche .........................................................................33 1.4.1 James Phelan: Drei Achsen erzählerischer Unzuverlässigkeit ............33 1.4.2 Matías Martínez und Michael Scheffel: Theoretische und mimetische Unzuverlässigkeit ..................................................................................35 1.4.3 Per Krogh Hansen: Vier Arten erzählerischer Unzuverlässigkeit.........36 1.4.4 Tilmann Köppe und Tom Kindt: täuschende, offene und axiologische Unzuverlässigkeit ..................................................................................37 1.5 Erzählertypen ...............................................................................................40 1.6 Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit ..............................................47 1.6.1 Interne und externe literarische Funktionen .........................................51 1.6.2. Pragmatische Funktionen ....................................................................54 2. Unzuverlässiges Erzählen in der Kinder- und Jugendliteratur ....................56 2.1 Forschungsüberblick ....................................................................................57 2.1.1 Die Unzuverlässigkeit der Jugendphase ..............................................57 2.1.2 Kognitive Überforderung oder lustvolles Fabulieren? ..........................58 2.1.3 Neuere Ansätze ....................................................................................60 2.2 Vorüberlegungen ..........................................................................................64 2.2.1 Unzuverlässiges Erzählen und Ironie im kinder- und jugendliterarischen Kontext ...................................................................65 2.2.2 Mehrfachadressierung, Doppelsinnigkeit .............................................69 2.2.3 Illustrationen ..........................................................................................70 2.2.4 Intermedialität/Intertextualität ...............................................................74 2.3 Untersuchungsparameter ............................................................................78 3 2.3.1 Argumentation für ein weites Begriffsverständnis ................................78 2.3.2 Vorgehen in den Analysen ....................................................................79 2.4 Textauswahl .................................................................................................84 2.4.1 Ausgewählte kinderliterarische Werke .................................................86 2.4.2 Ausgewählte jugendliterarische Werke ................................................87 3. Analysen .......................................................................................................88 3.1 Kinderliteratur ...............................................................................................88 3.1.1 Jutta Richter: Helden ............................................................................88 3.1.2 Milena Baisch: Anton taucht ab ............................................................97 3.1.3 Susann Opel-Götz: Außerirdisch ist woanders .................................. 110 3.1.4 Felicitas Hoppe: Iwein Löwenritter......................................................124 3.1.5 Victor Caspak und Yves Lanois [d.i. Zoran Drvenkar]: Die Kurzhosengang ...................................................................................144 3.2 Jugendliteratur ...........................................................................................169 3.2.1 Tom Avery: Der Schatten meines Bruders .........................................169 3.2.2 Do van Ranst: Mütter mit Messern sind gefährlich ............................182 3.2.3 Christian Frascella: Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe ............199 3.2.4 Nils Mohl: Es war einmal Indianerland ...............................................212 3.2.5 Tamara Bach: Marienbilder .................................................................239 3.2.6 Markus Berges: Ein langer Brief an September Nowak ....................260 4. Ergebnisse ..................................................................................................284 4.1 Die Gestaltung der erzählerischen Unzuverlässigkeit in den untersuchten kinderliterarischen Werken .........................................................................284 4.1.1 ‚Unzuverlässige‘ Themen und Motive ................................................284 4.1.2 Erzählsituationen ................................................................................286 4.1.3 Die Modellierungen der Erzählerfiguren .............................................288 4.1.4 Die Markierung der Unzuverlässigkeit ................................................290 4.1.5 Die weitere Beschaffenheit der Unzuverlässigkeit .............................294 4.1.6 Intermedialität/Intertextualität .............................................................295 4.1.7 Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit .....................................297 4.2 Die Gestaltung der erzählerischen Unzuverlässigkeit in den untersuchten jugendliterarischen Werken ........................................................................300 4.2.1 ‚Unzuverlässige‘ Themen und Motive ................................................300 4.2.2 Erzählsituationen ................................................................................306 4.2.3 Die Modellierungen der Erzählerfiguren .............................................308 4.2.4 Die Markierung der Unzuverlässigkeit ................................................313 4.2.5 Die weitere Beschaffenheit der erzählerischen Unzuverlässigkeit ....315 4.2.6 Intermedialität/Intertextualität .............................................................316 4.2.7 Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit .....................................319 4 5. Fazit ............................................................................................................322 6. Literatur .......................................................................................................325 6.1 Primärliteratur.............................................................................................325 6.2 Sekundärliteratur ........................................................................................331 Tabellen ............................................................................................................344 Abbildungen .....................................................................................................345 Danksagungen .................................................................................................346 5 0. Einleitung Lili ist 12 Jahre alt, als sie auf dem Weg in die Ferien von ihren Eltern an einer Autobahnraststätte vergessen wird. Die Ich-Erzählerin in Valérie Dayres Kinderroman Lilis Leben eben arrangiert sich mit ihrem Schicksal, richtet sich in der für sie tristen Parallelwelt der Raststätte ein und wartet auf die Rückkehr der ungeliebten Eltern. Auf über 80 Seiten schildert Lili in einem Tagebuch ihre Erlebnisse in den 24 Tagen, die sie in der Raststätte verbringen muss Dann, plötzlich, endet das Tagebuch abrupt und eine heterodiegetische Erzählstimme übernimmt: Lilis Aufzeichnungen entpuppen sich als Fantasieprodukt, das vermeintlich verlassene Kind befindet sich in Wirklichkeit mit den Eltern im Sommerurlaub. In einem der letzten Einträge gesteht Lili: „Ich hab gelogen“ (Dayre 2005, 77). Lügende Figuren sind in der Kinder- und Jugendliteratur ebenso zahlreich wie prominent, als eine der bekanntesten Vertreterinnen sei hier Pippi Langstrumpf angeführt, die behauptet: Ich hab mal in Shanghai einen Chinesen gesehen. Seine Ohren waren so groß, daß er sie als Umhang benutzen konnte. Wenn es regnete, kroch er unter die Ohren, und darunter war es so warm und schön, wie man sich nur denken kann (Lindgren 1999, 80). Pippis fantasievolle Lügen richten sich an die anderen Figuren des Romans, und sie sind sofort als solche erkennbar. Bei Lili gestaltet sich die Situation anders: Angelogen werden von ihr nicht (nur) die anderen Figuren – die Erzählung ist vielmehr so angelegt, dass auch die Leser die Behauptungen des Mädchens zunächst glauben sollen. Der Unterschied ist offensichtlich: Im Gegensatz zu Pippi handelt es sich bei Lili um eine Erzählinstanz – und anders als die Behauptungen von Figuren sind Erzähleraussagen 1 „im Rahmen der erzählten Welt […] nicht nur wahr, sondern notwendig wahr“ (Martínez/Scheffel 2016, 102). Dadurch, dass Lili die Unwahrheit sagt, verliert sie das logische Privileg, in dessen Besitz sie als Erzählerin eigentlich ist. Wie stark dieses Privileg wirken kann, wird in Lilis Leben eben vor allem dann deutlich, wenn sich auch die zweite Erzählinstanz als Erfindung Lilis herausstellt – und die Leser ein zweites Mal von ihr getäuscht worden sind. Andere Erzähler verschweigen vielleicht nur Sachverhalte, verstehen sie falsch oder nehmen sie aus den unterschiedlichsten Gründen selbst nicht wahr. Ihnen gemein ist ein Verlust des logischen Privilegs, sie alle sind „Erzähler, deren Behauptungen, zumindest teilweise, als falsch gelten müssen mit Bezug auf das, was 1 Zugunsten der Lesbarkeit verwende ich bei Begriffen allgemein die männliche Form; selbstverständlich ist die weibliche Form eingeschlossen. 6 in der erzählten Welt der Fall ist“ (Martínez/Scheffel 2016, 105); sie werden in der Narratologie unter der Bezeichnung ‚unzuverlässig‘ zusammengefasst. Diese Definition ist nur eine von vielen, sie ist einzuordnen in einen Diskurs zum unzuverlässigen Erzählen, der mit einer ersten Definition durch Wayne C. Booth im Jahre 1961 seinen Anfang genommen hat und bis in die Gegenwart andauert. Dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Phänomen keineswegs homogen ist verwundert nicht, handelt es sich beim unzuverlässigen Erzählen auch um einen ebenso uneindeutigen wie komplexen Sachverhalt (vgl. Nünning 2005, 90). Obwohl man sich hinsichtlich der Existenz unzuverlässigen Erzählens durchaus einig ist, gibt es sehr unterschiedliche wissenschaftliche Positionen im Hinblick auf seine Definition. Dies liegt vor allem daran, dass das Begriffsverständnis in hohem Maße abhängig ist von jeweils aktuellen wissenschaftlichen Strömungen; das Phänomen hat sich als kontrovers und nur schwer greifbar erwiesen. Das Feld der Kinder- und Jugendliteratur wurde in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung über unzuverlässiges Erzählen, wenn überhaupt, bislang nur am Rande berücksichtigt. Dies liegt auch daran, dass unzuverlässige Erzähler innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur lange Zeit eher eine Ausnahme bildeten und ein Untersuchungsgegenstand daher auch kaum gegeben war. Hinzu kommt, dass die Kinder- und Jugendliteratur bis in die 1990er Jahre nicht im Fokus der allgemeinen Literaturwissenschaft stand; die Forschung, die es gab, war vorwiegend didaktisch ausgerichtet und an uneindeutigen Erzählverfahren nicht interessiert. Es ist daher durchaus schlüssig, dass Riggan 1981 in seinen Ausführungen zu verschiedenen unzuverlässigen Figurentypen einen naïf identifiziert und dabei auch über kindliche bzw. jugendliche Erzähler reflektiert, er diesen Typus aber eben nicht in einen kinder- und jugendliterarischen Kontext stellt – und das, obwohl er sich mit Adventures of Huckleberry Finn (1884/1885) und The Catcher in the Rye (1951) sogar auf zwei Werke stützt, die mittlerweile als Klassiker der Kinderund Jugendliteratur gelten (vgl. Kümmerling-Meibauer 2004). Unter anderem kommt Riggan zu dem Schluss, dass es sich bei naiven Erzählern um als ‚durch und durch positiv‘ charakterisierbare Figuren handele (vgl. Riggan 1981, 155). Dass diese These heute nicht mehr haltbar ist, dafür lassen sich zahlreiche Gegenbeispiele finden – darunter auch die Protagonistin aus Lilis Leben eben. In den 1990er Jahren kommt es zu einer stärkeren Orientierung der Kinder- und Jugendliteratur an den Erzählverfahren der so genannten Allgemein- oder Erwachsenenliteratur und damit auch an postmodernen Erzählverfahren; mit dieser Ent- 7 wicklung geht ein Anstieg unzuverlässiger Erzählweisen in der Kinder- und Jugendliteratur einher. Etwa ab der Jahrtausendwende halten diese dann in deutlichem Maße Einzug. Messbar ist dieses Phänomen u.a. an den Preisträgern des Deutschen Jugendliteraturpreises: In den 1990er Jahren tauchen unter ihnen vermehrt unzuverlässig erzählte Werke auf, darunter z.B. Peter Pohls Jan, mein Freund (Preisträger Jugendbuch 1990) oder Mats Wahls Winterbucht (Preisträger Jugendbuch 1996). Im neuen Jahrtausend steigt die Zahl unzuverlässig erzählter Werke unter den Preisträgern nochmals deutlich: Allein in der Sparte ‚Kinderbuch‘ sind dies beispielsweise 2005 Zoran Drvenkars Die Kurzhosengang (2004, erschienen unter den Pseudonymen Victor Caspak und Yves Lanois), 2006 Valérie Dayres Lilis Leben eben (2005), 2009 Andreas Steinhöfels Rico, Oscar und die Tieferschatten (2008), 2010 Jean Regnauds und Émile Bravos Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getroffen (2009) sowie 2011 Milena Baischs Anton taucht ab (2010) prämiert. In der Sparte ‚Jugendbuch‘ werden unter anderem Dolf Verroens Wie schön weiß ich bin (2005, Preisträger 2006), Do van Ransts Wir retten leben, sagt mein Vater (2006, Preisträger 2007) und Nils Mohls Es war einmal Indianerland (2011, Preisträger 2012) ausgezeichnet. Allen diesen Werken sind unzuverlässige Erzählverfahren gemein. Man könnte nun vermuten, dass es sich hierbei um ein Phänomen einer ‚Höhenkammliteratur‘ handele. Gleichzeitig sind einige Texte zu hoher Popularität gelangt: So ist z.B. Steinhöfels Werk inzwischen zu einer Tetralogie angewachsen und die Serienfassung von Jay Ashers unzuverlässig erzähltem Jugendroman 13 Reasons why (2007, dt. 2009 u.d.T. Tote Mädchen lügen nicht) wurde von Netflix als Serie produziert, eine zweite Staffel, die inhaltlich über den Roman hinausgeht, ist derzeit in Produktion. Unzuverlässiges Erzählen, so kann man ableiten, ist damit als avanciertes narratologisches Verfahren in der Vermittlerliteratur angekommen, und kann durchaus als Mainstream-Phänomen auch in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur begriffen werden. Trotz der Tatsache, dass unzuverlässige Erzähler als inzwischen in der Kinderund Jugendliteratur etabliert erachtet werden können, lassen sich wissenschaftliche Beiträge zu diesem Phänomen immer noch an einer Hand abzählen: ein Beitrag von Yvonne Wolf in einem Sammelband, ein Aufsatz von Gabriele von Glasenapp in einer Fachzeitschrift, ein Kapitel in einer Dissertation von Regina Hofmann (die sich schwerpunktmäßig einem ganz anderen Thema widmet) sowie eine erst im November 2017 erschienene Ausgabe der Zeitschrift kids & media (Universität Zürich). Daher lassen sich auch nur wenige Ergebnisse aus diesem erst in Ansätzen existierenden Diskurs extrahieren. Es herrscht Konsens darüber, dass 8 dieses Feld wissenschaftlich deutlich besser erschlossen werden sollte. Yvonne Wolf äußert 2005: „Erzählerische Unzuverlässigkeit im Kinder- und Jugendbuch wurde meines Wissens bislang in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteraturforschung überhaupt noch nicht untersucht“ (Wolf 2005, 261). Ende 2017 hört es sich im Editorial der Zeitschrift kids & media kaum anders an: „Unzuverlässiges Erzählen als narratives Instrument hat sich heute in vielen Genres etabliert. […] Weitgehend unbeachtet geblieben ist dabei die Frage nach Grenzen und Möglichkeiten unzuverlässigen Erzählens in Kinder- und Jugendmedien“ (Tomkowiak/Fehlmann 2017). An dieser Stelle setzt die vorliegende Arbeit an. Mit dem Anliegen einer umfassenden Untersuchung unzuverlässiger Erzählverfahren in der Kinder- und Jugendliteratur seit 2000 gilt es im Folgenden zunächst, den unscharfen und bislang auch durchaus kontrovers behandelten Begriff der Unzuverlässigkeit zu erfassen. Ausgehend von der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit unzuverlässigem Erzählen wird dazu in Kapitel 1 zunächst der theoretische Hintergrund erschlossen. Dies ist auch deswegen notwendig, da dieser Diskurs bislang nur selten überblicksartig und dann oft nur verkürzt dargestellt worden ist2. Besondere Berücksichtigung sollen in diesem Kapitel auch die Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit erfahren, für die eine eigene Systematik entwickelt wird. In Kapitel 2 wird der Blick auf das Feld der Kinder- und Jugendliteratur verengt, dieses Kapitel dient der weiteren Vorbereitung für die anstehenden Analysen. Zunächst wird ein Überblick über die oben genannte Forschung zum Thema geliefert, Überlegungen zum kindlichen Ironieverständnis, zum Text-Bild-Verhältnis bei illustrierten Werken, zur Adressierung aber auch zu Intermedialität bzw. Intertextualität schließen daran an. Auf der Basis der Ausführungen des 1. und 2. Kapitels werden danach die Untersuchungsparameter entworfen: Anliegen ist eine Betrachtung unzuverlässig erzählter kinder- und jugendliterarische Werke aus verschiedenen Blickwinkeln. Grundlegende Annahme ist dabei, dass es sich bei unzuverlässigem Erzählen um ein multifaktorielles und höchst flexibles Phänomen handelt. Kapitel 3 stellt den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit dar. In ihm werden die Analysen vorgenommen, wobei eine Trennung nach kinder- und jugendliterarischen Werken vorgenommen wird. Insgesamt werden elf Werke untersucht (fünf kinderliterarische und sechs jugendliterarische), die mitunter sehr unterschiedliche Erzählerfiguren und Unzuverlässigkeitskonstruktionen versammeln. 2 Vgl. hierzu z.B. Bode 2011, Shen 2013 oder Volpp 2016. 9 In der Zusammenschau der Ergebnisse in Kapitel 4 kann dann ein umfassendes Bild erarbeitet werden, das auch die Bandbreite der Unzuverlässigkeitskonstruktionen abbildet. Die Ergebnisse der Analysen werden entsprechend der Untersuchungsparameter aus verschiedenen Blickrichtungen im kinderliterarischen bzw. im jugendliterarischen Kontext diskutiert: Es wird zunächst geprüft, ob sich wiederkehrende Themen und Motive (auch in den kinderliterarischen Texten) identifizieren lassen und ob Zusammenhänge von Thematik/Motivik und Unzuverlässigkeit erkennbar sind. Die verschiedenen Erzählsituationen werden verglichen und ihre Bedeutung im Kontext der Unzuverlässigkeit wird evaluiert, ebenso wird für die Modellierungen der Erzählerfiguren verfahren. Markierungen der erzählerischen Unzuverlässigkeit werden herausgearbeitet und der Grad der Komplexität wird beurteilt; intermediale bzw. intertextuelle Zusammenhänge werden in den Blick genommen und ihr Bezug zur erzählerischen Unzuverlässigkeit diskutiert. Abschließend werden jeweils die verschiedenen literarischen Funktionen herausgestellt und verglichen. Anders, als es noch in den 1990er Jahren der Fall war, ist die Kinder- und Jugendliteratur heute inhaltlich, thematisch, aber auch narratologisch mitunter kaum noch von der Erwachsenenliteratur zu unterscheiden – oft wird sie daher auch von Erwachsenen konsumiert. Gattungsgrenzen sind durchlässiger geworden, postmoderne Verfahren sind etabliert. Unzuverlässige Erzählverfahren gehören heute zum kinder- und jugendliterarischen Inventar: Sie werden Kindern und Jugendlichen nicht nur zugemutet, sie werden ihnen auch zugetraut. 10 1. Unzuverlässiges Erzählen Nach einem Einstieg über eine kurze Reflexion über Wahrheit und Lüge im dichterischen Kontext (Kap. 1.1) werden im Anschluss die rhetorischen und konstruktivistischen (diskursleitenden) wissenschaftlichen Positionen bzw. Synthetisierungsversuche derselben vorgestellt (Kap. 1.2). In Kapitel 1.3 werden diejenigen Aspekte unzuverlässigen Erzählens betrachtet, die in der Vergangenheit wiederholt im diesem Kontext herangezogen worden sind; ausgewählte Systematisierungen erzählerischer Unzuverlässigkeit werden in Kapitel 1.4 kurz dargestellt. Kapitel 1.5 widmet sich der auf Riggan (1981) zurückgehenden Unterscheidung verschiedener unzuverlässiger Erzählertypen, in Kapitel 1.6 werden die verschiedenen Funktionen unzuverlässiger Erzählweisen diskutiert und eine eigene Systematik bzgl. der Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit wird entwickelt. 1.1 Wahrheit und Lüge im dichterischen Kontext In seiner Politeia (Der Staat, um 370. v. Chr.) befasst sich bereits Platon mit ontologischen Aspekten der Dichtkunst, und er bringt darin auch seine bekannte Dichterkritik hervor: Dichtung und Malerei seien abzulehnen, da sie als „Nachahmungen von Nachgeahmten“ 3 (Rudloff 1991, 22) so weit von der Wahrheit entfernt seien, dass sie der Lüge gleichzusetzen seien (vgl. hierzu auch von Glasenapp 2011, 17). Für Platon ist die Dichtkunst damit „unmoralisch und steigere darüber hinaus Begierden und Leidenschaften“ (Rudloff 1991, 22). Er lehnt sie folglich auch aus pädagogischen Gründen ab: Vor allem „jugendliche Rezipienten [seien] nicht in der Lage […], zwischen Dichtung und Wirklichkeit zu unterscheiden“ (von Glasenapp 2011, 17). Platons Schüler Aristoteles hingegen betrachtet die Dichtung als „nützlich und notwendig“ (Martínez/Scheffel 2016, 14). Seine Poetik (um 335 v. Chr.) liefert ein neues Verständnis der Dichtkunst: Anders als Platon betrachtet Aristoteles sie nicht als verzerrte Abbildung göttlicher Ideen, sondern er hebt hervor, dass die Dichtkunst „auf die Wirklichkeit, die praxis handelnder Menschen“ (Rudloff 1991, 36) verweise und verzichtet auf eine Bindung an das Göttliche, wie Platon sie annimmt. Damit unterscheidet Aristoteles in seinem Werk erstmals fiktionales von faktualem Erzählen: 3 Platon unterscheidet drei Ebenen: Wesensbilder, Werkbilder und Nachbilder, wobei Wesensbilder die ursprünglichen ‚göttlichen‘ Ideen darstellen. Dichtkunst liefere hingegen lediglich sogenannte Nachbilder, die bereits „dreifach von der Wahrheit abgerückt“ (Rudloff 1991, 22) seien. 11 Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt […]; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte (zit. nach Martínez/Scheffel 2016, 13). Die Dichtkunst stelle so zwar „nicht die Wirklichkeit dar, sei aber dennoch […] keinesfalls als Lüge zu bezeichnen“ (von Glasenapp 2011, 17). Diese Unterscheidung ist insofern von grundlegender Bedeutung, als dass ihre Konsequenzen bis heute reichen und sie als „Basis des modernen Fiktionsbegriffs“ (von Glasenapp 2011, 17) aufgefasst werden kann. Etwa 150 Jahre später befasst sich Lukian von Samosata (etwa 200-180 v. Chr.etwa 120 v. Chr.) erneut mit dem Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit. In seinem parodistischen Weltraum-Reisebericht Wahre Geschichten (lat.: Verae historiae) findet sich eine satirische Vorrede, in der der Autor sein eigenes Werk der Lüge beschuldigt: Da ich nun der Eitelkeit nicht widerstehen kann, der Nachwelt auch ein Werkchen von meiner Fasson zu hinterlassen, und wiewohl ich nichts wahres zu erzählen habe, (denn mir ist im Leben nichts denkwürdiges begegnet) nicht sehe warum ich nicht eben so viel Recht zum Fabeln haben sollte als ein andrer: so habe ich mich wenigstens zu einer ehrenfestern Art zu lügen entschlossen als die meiner Herrn Mitbrüder ist; denn ich sage doch wenigstens Eine Wahrheit, indem ich sage daß ich lüge; und hoffe also um so getroster, wegen alles übrigen unangefochten zu bleiben, da mein eignes freywilliges Geständniß ein hinlänglicher Beweis ist, daß ich niemanden zu hintergehen verlange. Ich urkunde also hiermit, daß ich mich hinsetze um Dinge zu erzählen, die mir nicht begegnet sind; Dinge, die ich weder selbst gesehen noch von andern gehört habe, ja, was noch mehr ist, die nicht nur nicht sind, sondern auch nie seyn werden, weil sie – mit Einem Worte – gar nicht möglich sind, und denen also meine Leser (wenn ich anders welche bekommen sollte) nicht den geringsten Glauben beyzumessen haben (zit. n. Martínez/Scheffel 2016, 14f.; Hervorhebg. im Orig.). Lukians Begründung erinnert beinahe an den alten Witz, dass eine kaputte Uhr immerhin zweimal am Tag die richtige Uhrzeit anzeige und damit einer Uhr vorzuziehen sei, die immer fünf Minuten nachgehe. Seiner Argumentation folgend ist seine Dichtung wahrhaftiger als die seiner Kollegen, da er von vorneherein gar nicht erst versuche, die Wahrheit abzubilden. Martínez und Scheffel bewerten Lukians Aussage als Radikalisierung von Aristoteles‘ Ausführungen: Abgesehen von ihm selbst, der seine Lüge ja offen markiert, „lügen alle Dichter, denn sie erzählen von etwas, das nicht ist und nie sein wird“ (zit. n. ebd., 15). Etwa 1700 Jahre dauert es, bis sich der englische Dichter Sir Philip Sydney erneut mit dem Gegenstand Dichtung und Wahrheit auseinandersetzt. In seinem Werk The Defence of Poesy (1595) argumentiert er gegen eine Verwendung des Begriffs der Lüge im Kontext von Dichtung. Dichtung begreift er als Erfindung, nicht als Lüge: 12 I think truly, that of all writers under the sun the Poet is the least liar […]. But the Poet (as I said before) never affirmeth, the Poet never maketh any circles about your imagination, to conjure you to believe for true what he writes […]. And therefore, though he recount things not true, yet because he telleth them not for true, he lieth not […] (Sydney 1595, 52f. zit. n. Martínez/Scheffel 2016, 15). Martínez und Scheffel fassen Sydneys Aussagen wie folgt zusammen: Die Werke der Dichter sind fiktional in dem Sinne, dass sie grundsätzlich keinen Anspruch auf unmittelbare Referezialisierbarkeit […] erheben; wovon sie handeln, das ist – mehr oder minder – fiktiv, aber nicht fingiert (Martínez/Scheffel 2016, 16). Erst mit Sydneys Auseinandersetzung scheint die Dichtung vom Vorwurf der Lüge befreit, und die Frage nach einer Wahrheit innerhalb der Diegese kann so in einen bereits sehr lange andauernden philosophischen Diskurs eingeordnet werden. Im Falle erzählerische Unzuverlässigkeit ist es nun die fiktionale Erzählinstanz, die der Wiedergabe von Unwahrheit(en) beschuldigt wird. Valérie Dayres Erzählerin Lili macht sich, so kann man hier feststellen, der Lüge schuldig – und die Leser sind Adressaten dieser Lüge. Wie solche Unwahrheiten im Falle erzählerischer Unzuverlässigkeit ausgestattet sind und welche Bezugsgrößen sich zur Diagnose erzählerischer Unzuverlässigkeit festlegen lassen, ist Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und wird im Folgenden weiter beleuchtet. 1.2 Zwei Positionen im wissenschaftlichen Diskurs: rhetorische versus konstruktivistische Sichtweisen Verschiedene Erklärungs- und Differenzierungsansätze zum unzuverlässigen Erzählen wurden bislang vorgebracht. Diese Überlegungen resultieren – auch wissenschaftshistorisch bedingt – aus zwei unterschiedlichen wissenschaftlichen Positionen: rhetorischen Ansätzen einerseits und Ansätzen kognitiv/konstruktivistischer Ausrichtung andererseits. Obwohl diese Dichotomie generell mit erzählerischer Unzuverlässigkeit in Verbindung gebracht wird, ist eine klare Unterscheidung nicht immer möglich; in einigen Beiträgen wird auch eine Synthetisierung der verschiedenen Positionen angestrebt. 1.2.1 Unzuverlässiges Erzählen als rhetorisches Konzept Der amerikanische Literaturwissenschaftler Wayne Clayton Booth ist der erste, der 1961 den Begriff des unzuverlässigen Erzählers prägt. In seinem Werk The Rhetoric of Fiction beschreibt er: For a lack of better terms, I have called a narrator reliable when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to say, the implied author's norms), unreliable when he does not (Booth 1961, 158f.; Hervorhebg. im Orig.). 13 Booth gibt dem Phänomen in dieser vielzitierten Definition seinen Namen. Das Konzept der Unzuverlässigkeit bestimmt er dabei sehr vorsichtig und als rhetorisches Phänomen; obligater Bestandteil zur Entschlüsselung der Unzuverlässigkeit ist der – ebenfalls auf Booth zurückgehende – so genannte ‚implizite Autor‘ (implied author)4. Zwischen dem (textexternen) realen Autor und dem (textinternen) fiktiven Erzähler angesiedelt, ist der implizite Autor so als ein Vertreter des Autors auf der textinternen Ebene zu verstehen, der als Vermittler der Einstellungen und Werte des realen Autors dient. Erzählerische Unzuverlässigkeit und der implizite Autor Im Gegensatz zu der damals im Kontext des New Criticism populären Ansicht, literarische Texte als „autonome Einheit[en]“ (Schweikler 1990, 326) zu verstehen und eine textimmanente Bedeutung oder ‚Moral‘ abzulehnen, geht Booth von realen Wirkungsabsichten der Autoren literarischer Texte aus. Ein realer Autor erschaffe auch stets eine implizite Version ‚seiner selbst‘ (vgl. Booth 1961, 70f.); diese sei jedoch niemals neutral in Bezug auf alle Werte (ebd., 71). Booth versteht so die „epische Vermittlung fiktionaler Welten […] als eine Kommunikation von Wertordnungen“ (Kindt 2004, 31). Der implizite Autor ist dabei gleichzeitig als ein vom Autor tatsächlich implementiertes Bild seiner selbst und als ein „vom Rezipienten konstruiertes Bild des Verfassers“ (Hoffmann/Langer 2007, 134) zu verstehen und erhält so die Funktion einer Vermittlerinstanz. Vor diesem Hintergrund ist Booths Definition einzuordnen, unzuverlässiges Erzählen finde genau dann statt, wenn der Erzähler nicht konform den Normen des impliziten Autors handle oder sich äußert. Der amerikanische Literaturwissenschaftler und -kritiker Seymour Chatman modifiziert Booths Definition 1978 insofern, als er den Fokus vom impliziten Autor in Richtung des impliziten Lesers verschiebt; im Falle erzählerischer Unzuverlässigkeit kollidiere die Erzählung nicht mit den Normen eines impliziten Autors, sondern 4 Vgl. zum Begriff des implied author weiterhin Jannidis [u.a.] (2005), Phelan (2005), Kindt (2006) sowie Schmid (2009). Kindt (2006) befasst sich in einer Studie intensiv mit der Rezeptionsgeschichte des Begriffs und unterscheidet mit interpretativen und deskriptiven Kontexten zunächst zwei grundlegend verschiedene Felder, in denen der Begriff verwendet wurde – mit jeweils unterschiedlicher Resonanz: Der Diskurs um den impliziten Autor entwickelte sich zunächst als Reaktion auf Booths Rhetoric of Fiction und beschränkte sich erst auf den Bereich der Interpretationstheorie – die Reaktionen auf das Konzept waren mit nur wenigen Ausnahmen positiver Natur. Mit zunehmend interpretationspraktischen und deskriptiv-narratologischen Betrachtungsweisen änderte sich der Diskurs um das Konzept dann in den 1970er Jahren, als auch kritische Stimmen laut wurden: Vor allem innerhalb der deskriptiven Narratologie stieß der Begriff auf eine ablehnende Haltung (vgl. Kindt 2006, 104ff). 14 mit den Vermutungen des impliziten Lesers bezüglich der ‚wahren‘ Intentionen der story: In ‚unreliable narration’ the narrator's account is at odds with the implied reader's surmises about the story's real intentions. The story undermines the discourse. We conclude, by ‚reading out’, between the lines, that the events and existents could not have been ‚like that’, and so we hold the narrator suspect (Chatman 1978, 233). Erzählerische Unzuverlässigkeit werde, so Chatman, mittels eines ‚Zwischen-denZeilen-Lesens‘ durch den Leser aufgedeckt. James Phelan, ebenfalls amerikanischer Literaturwissenschaftler, folgt in seinem Werk Living to Tell about It. A Rhetoric and Ethics of Character Narration (2005) Booths rhetorisch geprägter Denkweise, modifiziert aber ebenfalls dessen Definition des impliziten Autors: [T]he implied author is a streamlined version of the real author, an actual or purported subset of the real author’s capacities, traits, attitudes, beliefs, values, and other properties that play an active role in the construction of the particular text (Phelan 2005, 45; Hervorhebg. im Orig.). Bemerkenswert ist, dass Phelan im Unterschied zu Booth den impliziten Autor analog zum realen Autor damit als extratextuelles Phänomen definiert. Phelan betont: „In my account, the implied author is not a product of the text but rather the agent responsible for bringing the text into existence” (Phelan 2005, 45; s. Kap. 1.3.2 sowie 1.4.1). Die Markierung erzählerischer Unzuverlässigkeit Ob man den impliziten Autor als textimmanentes oder textexternes Phänomenon begreift: Booths Definition liefert zwar eine Möglichkeit, bestimmten Texten erzählerische Unzuverlässigkeit zuzuschreiben, auf welche Weise diese Zuschreibung geschieht, wird jedoch wenig berücksichtigt. Oftmals wird in diesem Kontext von einem nicht weiter spezifizierten und intuitiven ‚Zwischen-den-Zeilen-Lesen‘ ausgegangen (z.B., wie gezeigt, bei Chatman 1978; vgl. hierzu auch Wall 1994, 18). Dieser Ansatz ist jedoch in der Forschung wiederholt kritisiert worden; so betont beispielsweise Nünning, dass […] es sich bei der einzigen Bezugsgröße zur Definition des unreliable narrator – dem implied author – selbst um eine notorisch vage und unklare Kategorie handelt (Nünning 1998, 10; Hervorhebg. im Orig.). Ebenso hebt Gaby Allrath die Unschärfe von Booths Definition in Bezug auf die Normen und Werte des impliziten Autors hervor: 15 Dabei bleibt jedoch unklar, wie der Rezipient eines fiktionalen Textes die Normen und Werte des implied author festmachen kann […] (Alllrath 1998, 59; Hervorhebg. im Orig.). Der Anglist und Amerikanist Christoph Bode schließt sich dem an, indem er darauf hinweist, dass Booths Definition, abgesehen von der Norm- und Werteabweichung, keine weiteren Parameter liefere: Unzuverlässig ist, wer meine Wertvorstellungen und Normensysteme nicht teilt. Das reicht. Keine Rede von Widersprüchen, die nachgewiesen werden müssen, von Indizien, die zusammengetragen werden müssten. Es reicht der Nachweis einer abweichenden Einstellung, einer dissidenten Haltung – schon ist der Erzähler als ‚unzuverlässig‘ gebrandmarkt (Bode 2011, 265; Hervorhebg. im Orig.). Vereinzelt finden sich durchaus auch Bemühungen, die Markierung erzählerischer Unzuverlässigkeit innerhalb des rhetorischen Verständnisses greifbar zu machen. Shlomith Rimmon-Kenan formuliert 1983 drei Ursachen, in denen erzählerische Unzuverlässigkeit begründet sein könne: „the narrator’s limited knowledge, his personal involvement, and his problematic value-scheme“ (Rimmon-Kenan 1983, 100). Auch Rimmon-Kenan hebt dabei das Problem hervor, die Normen und Werte des impliziten Autors festzumachen. „[B]ut how does one establish the ‚real facts‘ behind the narrator’s back?“ (Rimmon-Kenan 1983, 101) Sie listet im Folgenden drei Arten der Manifestation textueller Diskrepanzen auf, die ihr zufolge auf jene Diskrepanzen zwischen Erzähler und implizitem Autor hinweisen könnten: when the outcome of the action proves the narrator wrong […]; when the views of other characters consistently clash with the narrator’s […]; and when the narrator’s language contains internal contradictions, double-edged images, and the like (Rimmon-Kenan 1983, 101). Rimmon-Kenan führt weiterhin am Beispiel von Ambrose Bierces Kurzgeschichte Oil of Dog (1890) einige textuelle Diskrepanzen auf, die auf Normen und Werte des impliziten Autors schließen lassen. Ihre Ausführungen bleiben jedoch, abgesehen von einem Hinweis auf understatements als Form der Diskrepanz, insgesamt eher kurz und weiterhin vage. Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit den Markierungen unzuverlässigen Erzählens liefert Kathleen Wall in ihrem Aufsatz „‚The Remains of the Day‘ and Its Challenges to Theories of Unreliable Narration“ (1994). Wall identifiziert darin bestimmte Erzähleräußerungen, die sie als verbal tics bezeichnet, als Markierungen erzählerischer Unzuverlässigkeit auf textueller Ebene: „[…] the verbal indicators of mental habits that lead to unreliability are located within the discourse itself” (Wall 1994, 20). Solche verbal tics können nach Wall bestimmte Wörter oder auch Phrasen sein, deren Einsatz im Kontext betrachtet Aufschluss über die Inkongruenzen zwischen implizitem Autor und Erzähler geben könnte. So zeigt Wall für The 16 Remains of the Day beispielsweise, dass der auffällige Wechsel in der Selbstreferenz des Erzählers vom persönlichen ‚ich‘ zum unpersönlicheren ‚man‘ auch dessen potentielle Unzuverlässigkeit markiert, indem ihm auf diese Weise eine Doppelidentität (dual identity) zugeschrieben wird. Wall versteht erzählerische Unzuverlässigkeit vor allem als eine Möglichkeit der Figurenkonzeption: „the purpose, it seems to me, of unreliable narration is to foreground certain elements of the narrator’s psychology“ (Wall 1994, 21). Ihrer genannten Analyse von Kazuo Ishiguros Roman legt Wall diese Funktion der Unzuverlässigkeit zugrunde. Der Literaturwissenschaftlerin Dan Shen reicht dieser Ansatz jedoch nicht aus; sie weist darauf hin, dass Walls Ausführungen zwar für einige, aber eben nicht für alle Texte anwendbar seien (vgl. Shen 2013). 1.2.2 Konstruktivistisch geprägte Ansätze Mit dem erstarkenden Einfluss konstruktivistischer Ideen setzen im Laufe der Zeit einige Beiträge der rhetorischen Sichtweise eine unterschiedliche Haltung gegenüber erzählerischer Unzuverlässigkeit entgegen: Seit den 1970er bzw. 1980er Jahren wird erzählerische Unzuverlässigkeit zunehmend auch im Kontext von Rezeptionsakten untersucht. Diese Herangehensweise resultiert in einem abweichenden Begriffsverständnis, das Bode wie folgt charakterisiert: ‚Unzuverlässigkeit‘ wäre also keine Objekteigenschaft wie 1,76 m groß zu sein oder 78 kg zu wiegen, es wäre eine relationale Eigenschaft, die für die Qualität einer Beziehung zwischen mindestens zwei Größen steht: der Erzählung und des Lesers (Bode 2011, 266; Hervorhebg. im Orig.). Unzuverlässigkeit wird in diesem Sinne nicht als textuelle Eigenschaft verstanden, vielmehr ist ihre Diagnose das Resultat einer (möglichen) Interpretationsstrategie des Lesers (vgl. Allrath 1998, 69); die Besonderheit der konstruktivistischen Ansätze liegt im Verständnis unzuverlässigen Erzählens als so genannter Naturalisierungsprozess: Ergeben sich für den Leser bei der Lektüre Inkongruenzen, liefert die Zuschreibung erzählerischer Unzuverlässigkeit eine Möglichkeit, mit diesen Diskrepanzen umzugehen. Das Konzept des implied author spielt in dieser Herangehensweise keine Rolle mehr. Der Begriff der Naturalisierung 1975 setzt sich der amerikanische Literaturwissenschaftler Jonathan Culler in seinem Werk Structuralist Poetics. Structuralism, Linguistics and the Study of Literature unter anderem mit dem Verhältnis gesprochener und geschriebener Sprache auseinander; er greift den Naturalisierungsgedanken im Kontext literarischer Re17 zeption auf: „The strange, the formal, the fictional, must be recuperated or naturalized, brought within our ken, if we do not want to remain gaping before monumental inscriptions“ (Culler 1975, 134). Für das Literaturverständnis sei neben Sprache und Stil eines Autors auch dessen Schreibweise („écriture“; Culler 1975, 134) zu berücksichtigen5. Culler argumentiert weiter: „To understand the language of a text is to recognize the world to which it refers” (Culler 1975, 135). Er versteht Naturalisierung entsprechend als Prozess der Sinnkonstruktion durch das Zurückgreifen auf bekannte und verfügbare Muster: „To naturalize a text is to bring it into relation with a type of discourse or model which is already, in some sense, natural and legible” (Culler 1975, 138). Die israelische Literaturwissenschaftlerin Tamar Yacobi betrachtet 1981 die Entschlüsselung erzählerischer Unzuverlässigkeit im Kontext ihrer kommunikativen Situation und untersucht speziell die Interpretationsmechanismen. Von grundlegender Bedeutung sind für Yacobi textuelle Diskrepanzen: „The most relevant framework seems to be that of the resolution of textual tensions, above all on the level of fictive reality” (Yacobi 1981, 113). Es geht damit um Spannungen, die sich bei der Lektüre ergeben und darum, wie mit den Inkongruenzen der Diegese umgegangen wird. Hierzu differenziert Yacobi fünf verschiedene Naturalisierungsstrategien, die dem Leser für die Auflösung von Unstimmigkeiten zur Verfügung stünden: Zunächst sei es möglich, die Ursachen für Ungereimtheiten eines Textes in dessen Enstehungsprozess zu suchen. Yacobi nennt diese Strategie das genetic principle (vgl. Yacobi 1981, 114) – dem Verfasser des Textes wird hier unterstellt, fehlerhaft gearbeitet zu haben, selbst unter einem verzerrten Weltbild zu leiden, oder in anderer Weise eigene Defizite in den Text projiziert zu haben. Eine andere Strategie beinhaltet die Erklärung entstandener Spannungen durch die Verortung des Gelesenen innerhalb einer Gattung (generic principle, vgl. Yacobi 1981, 115). Handele es sich beispielsweise um eine Komödie, könnte aufgrund der Gattungszuordnung ein von der Realität abweichendes Wirklichkeitsmodell erklärt und entsprechend naturalisiert werden. So werde eine abschließende Wendung zu einem (mitunter sehr unwahrscheinlichen) happy end entsprechend literarischer Konventionen durchaus akzeptiert. Die von Yacobi existential principle benannte Strategie (vgl. Yacobi 1981, 116) dient der Auflösung von Unstimmigkeiten insofern, als dass 5 Culler greift damit auf die Ausführungen des französischen Strukturalisten Roland Barthes zurück, der den Begriff der écriture geprägt hat. 18 diese als „den Normen der repräsentierten Welt“ (Yacobi 2000, 714) zugehörig anerkannt würden6. Könnten die Diskrepanzen als gattungsspezifische Eigenheiten eingeordnet werden, entstünde eine Überschneidung zum generic principle, doch auch rein werkspezifische Eigenheiten könnten so akzeptiert werden. Als Beispiel nennt Yacobi hier Franz Kafkas Verwandlung, in der die Metamorphose des Protagonisten zu einem Insekt im Rahmen der erzählten Welt als durchaus möglich anerkannt werde. Die vierte Naturalisierungsstrategie (functional principle, vgl. Yacobi 1981, 117) betrifft funktionale Aspekte: Es werde geprüft, ob textuelle Diskrepanzen einem bestimmten Zweck dienen. So könnten beispielsweise ästhetische (thematische, dramaturgische) Gründe eventuelle Unstimmigkeiten rechtfertigen. Die fünfte Strategie schließlich bringt den Begriff der Unzuverlässigkeit ins Spiel. Alle bisher genannten Strategien bieten Rechtfertigungen für textuelle Spannungen, ohne dem jeweiligen Erzähler eine Unzuverlässigkeit zu diagnostizieren; das perspectival principle (vgl. Yacobi 1981, 118), von Yacobi auch als die Unzuverlässigkeitshypothese (unreliability hypothesis) bezeichnet (vgl. Yacobi 2000, 711), berücksichtigt nun die subjektive Perspektive des Erzählers: Finally, the perspectival mechanism of integration, or the unreliability hypothesis, brings discordant as well as otherwise unrelated elements into pattern by attributing them to the peculiarities and circumstances of the observer through whom the world is refracted (Yacobi 2000, 714). Inkongruenzen werden den ‚Absonderlichkeiten und den Lebensumständen des Betrachters‘ zugeschrieben. Eine Diagnose erzählerischer Unzuverlässigkeit ist somit nach Yacobi eine von mehreren Möglichkeiten des Lesers, mit textuellen Diskrepanzen umzugehen. Textuelle Signale, kontextuell eingeordnet 1998 veröffentlicht der Gießener Literaturwissenschaftler Ansgar Nünning seinen als richtungsweisend einzuschätzenden Sammelband: Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur (Nünning 1998). In seinem einführenden Beitrag „Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens“ lehnt auch Nünning das Vorgehen, Unzuverlässigkeit allein an der Beschaffenheit eines abstrakten impliziten Autors festzumachen, vehement ab. Nünning vertritt damit ebenfalls eine von den rhetorisch geprägten Ansätzen deutlich abweichende Herangehensweise: Wie auch Booth geht 6 Kindt spricht in diesem Zusammenhang von „ontologische[n] Eigenheiten der erzählten Welt“ (Kindt 2008, 38), die von den Rezipienten bei der Lektüre akzeptiert werden. 19 er zwar von der Ähnlichkeit zwischen unzuverlässigen Botschaften in Erzähltexten und dramatischer Ironie aus (s. Kap. 2.2.1), er identifiziert unzuverlässiges Erzählen aber als ein „pragmatisches Phänomen, das nicht allein textintern zu erklären ist“ (Nünning 1998, 17). Diskrepanzen lokalisiert er entsprechend zwischen den Wertvorstellungen und Absichten des Erzählers und den Normen und dem Wissensstand des realen (und nicht eines impliziten) Lesers. Hat der Leser die mangelnde Zuverlässigkeit des Erzählers anhand bestimmter textueller Signale einmal durchschaut, dann erhalten aufgrund dieses Informationsvorsprungs die Aussagen des Erzählers eine diesem nicht bewußte und von ihm nicht beabsichtigte Zusatzbedeutung (Nünning 1998, 17). Auch Nünning versteht die Identifizierung der erzählerischen Unzuverlässigkeit bestimmter Texte als Naturalisierungsprozess. Die Diagnose unzuverlässigen Erzählens beruhe dabei keineswegs auf intuitiven Parametern – vielmehr seien es textuelle Markierungen, die in Abstimmung mit verschiedenen kontextuellen Rahmen die Glaubwürdigkeit eines Erzählers durchaus bestimmbar machten (vgl. Nünning 1998, 33). Entscheidend sei, so Nünning, eine für den unzuverlässig erzählten Text charakteristische, implizit enthaltene Zusatzbedeutung, die entsprechend entschlüsselt werden müsse. Nünning lokalisiert hier vor allem das Verhältnis von (expliziter) Fremd- und (impliziter) Selbstcharakterisierung als entscheidende Stelle. Das Vorhandensein entsprechender textueller Signale veranlasse Leser, einen bestimmten Erzähler zunächst als potentiell unzuverlässig einzuschätzen. Nünning fasst diese in einer Auflistung zusammen: 20 Tabelle 1: Textuelle Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit (Nünning 1998, 27f.) explizite Widersprüche des Erzählers und andere interne Unstimmigkeiten innerhalb des narrativen Diskurses; Diskrepanzen zwischen den Aussagen und den Handlungen eines Erzählers; Divergenzen zwischen der Selbstcharakterisierung des Erzählers und der Fremdcharakterisierung durch andere Figuren; Unstimmigkeiten zwischen den expliziten Fremdkommentaren des Erzählers über andere und seiner impliziten Selbstcharakterisierung bzw. unfreiwilligen Selbstentlarvung; Diskrepanzen zwischen der Wiedergabe der Ereignisse durch den Erzähler und seinen Erklärungen und Interpretationen des Geschehens sowie weitere Unstimmigkeiten zwischen story und discourse; verbale Äußerungen und Körpersprache anderer Figuren als Korrektiv; multiperspektivische Auffächerung des Geschehens und Kontrastierung unterschiedlicher Versionen desselben Geschehens; Häufung von sprecherzentrierten Äußerungen sowie linguistische Signale für Expressivität und Subjektivität; Häufung von Leseranreden und bewußten Versuchen der Rezeptionslenkung durch den Erzähler; syntaktische Anzeichen für einen hohen Grad an emotionaler Involviertheit (z.B. Ausrufe, Ellipsen, Wiederholungen); explizite, autoreferentielle, metanarrative Thematisierung der eigenen Glaubwürdigkeit (z.B. emphatische Bekräftigung); eingestandene Unglaubwürdigkeiten, Erinnerungslücken und Hinweise auf kognitive Einschränkungen; eingestandene oder situativ bedingte Parteilichkeit; paratextuelle Signale (z.B. Titel, Untertitel, Vorwort). Es fallen hier durchaus Überschneidungen zu den zuvor bereits aufgeführten Markierungen erzählerischer Unzuverlässigkeit auf, wie sie im rhetorischen Kontext von Rimmon-Kenan (1983) bzw. Wall (1994) formuliert worden sind. Nünnings Zusammenstellung ist allerdings deutlich ausführlicher und inhaltlich angeordnet. Drei grundsätzliche Gruppen von Signalen lassen sich erkennen: solche, die auf Diskrepanzen jedwelcher Art zurückzuführen sind, solche, die auf eine hohe Subjektivität/Involviertheit des Erzählers hinweisen und schließlich solche, die sich aus dem Paratext ergeben. Für Nünning ergibt sich in der Konsequenz die Frage nach den Parametern, an denen der Wahrheitsgehalt des Erzählten gemessen wird. Im deutlichen Gegensatz zu rhetorischen Ansätzen, die bei der Diagnose erzählerischer Unzuverlässigkeit die textinterne Ebene in den Blick nehmen, geht Nünning davon aus, dass bei Unzuverlässigkeitsurteilen außertextuelle Faktoren – etwa allgemeines Weltwissen, moralisch-ethische Kategorien oder psychologische Konzepte – eine zentrale Rolle spielen (Nünning 1998, 22). 21 Erst durch eine außertextuelle, kontextuelle Einordnung könne der Verdacht möglicher erzählerischer Unzuverlässigkeit bestätigt oder verworfen werden. Hierzu bedient sich Nünning der frame theory, und er formuliert zwei Gruppen von Bezugsrahmen (so genannter frames of reference7) für die Naturalisierung erzählerischer Unzuverlässigkeit: Die erste Gruppe von Bezugsrahmen, so Nünning, betreffe „die Erfahrungswirklichkeit beziehungsweise […] das in einer Gesellschaft vorherrschende Wirklichkeitsmodell“ (Nünning 1998, 29). Sei die Beschaffenheit der erzählten Welt konform zu der der realen Welt, bliebe die Glaubwürdigkeit des Erzählers erhalten – gebe es jedoch Abweichungen, würden diese als Unstimmigkeiten wahrgenommen. Wie auch die textuellen Signale fasst Nünning diese frames in einer Tabelle zusammen: Tabelle 2 „textexterne frames of reference, an denen die Textwelt und die Glaubwürdigkeit von Erzählinstanzen gemessen wird“ (Nünning 1998 29f.) allgemeines Weltwissen; das jeweilige historische Wirklichkeitsmodell, „a general cultural text: shared knowledge recognized by participants as part of culture” (Culler 1975, 140)8 bzw. die „lebensweltlich vorgegebene Wirklichkeitsauffassung“ (Rüsen 1986, 110)9; explizite oder implizite Persönlichkeitstheorien sowie gesellschaftlich anerkannte Vorstellungen von psychologischer Normalität oder Kohärenz; moralische und ethische Maßstäbe, die in ihrer Gesamtheit das in einer Gesellschaft vorherrschende Werte- und Normensystem konstituieren; das individuelle Werte- und Normensystem, die Perspektive bzw. das Voraussetzungssystem des Rezipienten. Die zweite Gruppe von Bezugsrahmen sei literarisch zu begründen: Leser eines potentiell unzuverlässigen Texts setzten das Gelesene in den Kontext ihnen bekannter literarischer Konventionen. Handelte es sich bei dem Erzählten z.B. erkennbar um eine Fabel, könnte ein sprechendes Tier durchaus als glaubwürdig angenommen werden – was ohne Kenntnisse der literarischen Konventionen nicht Die so genannte Relational frame theory, dt. Bezugsrahmentheorie, wurde von Steven Hayes und Dermot Barnes Holmes Mitte der der 1980er Jahre entwickelt (vgl. hierzu auch Roche et al 2013). 8 Im Original heißt es: „[…] a general cultural text: shared knowledge which would be recognized by participants a part of culture […]“ (Culler 1975, 140). 9 Im Original heißt es: „[…] seiner ihm lebensweltlich vorgegebenen Wirklichkeitsauffassung […]“ (Rüsen 1986,110). 7 22 geschehen würde10. Die folgende Tabelle listet die literarischen frames of reference nach Nünning auf: Tabelle 3: literarische frames of reference (Nünning 1998, 31) allgemeine literarische Konventionen; Konventionen einzelner Gattungen oder Genres; intertextuelle Bezugsrahmen, d.h. Referenzen auf spezifische Prätexte; stereotype Modelle literarischer Figuren (vgl. Riggan 1981); das vom Leser konstruierte Werte- und Normensystem des jeweiligen Textes. Zwei Beiträge in Nünnings Werk befassen sich dezidiert mit der Beschaffenheit textueller Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit: „Unreliable Narration aus narratologischer Sicht: Bausteine für ein erzähltheoretisches Analyseraster“ von Dagmar Busch sowie „‚But why will you say that I am mad?‘ Textuelle Signale für die Ermittlung von unreliable narration“ von Gaby Allrath. Beide Beiträge bemühen sich um narratologische Systematisierungen des Phänomens im Hinblick auf die Analyse unzuverlässig erzählter Texte anhand narratologischer Kriterien. Busch erarbeitet ein Modell mit den grundlegenden narratologischen Parametern „erzählerische Vermittlung […], Bewußtseinsdarstellung, Perspektive sowie Perspektivenstruktur, Normen- und Wertestruktur des Textes und Iteration“ (Busch 1998, 41). Sie betont, dass insbesondere die Erzählerperspektive im Hinblick auf erzählerische Unzuverlässigkeit wesentlich sei und daher in einer Analyse diese zunächst anhand der Erzähleräußerungen erarbeitet werden müsse. Danach gelte es dann, die außertextuellen frames of reference zu berücksichtigen. Busch schlägt vor, dazu auf Nünnings Unterscheidung in die (textinternen) Ebenen der Figurenkommunikation, der erzählerischen Vermittlung und eines abstraktes Kommunikationsniveaus sowie in die textexterne Ebene der realen Produktion und Rezeption (vgl. hierzu Nünning 1998, 25ff.) 11 zurückzugreifen; sie geht davon aus, dass dem Leser für jede Ebene spezielle Bezugsrahmen zur Verfügung stünden. Das von Busch im Anschluss vorgebrachte Analyseraster versucht, die narratologischen Parameter, die Erzählerfunktionen, die entsprechenden Bezugsrahmen sowie deren Wechselbeziehungen in einem Diagramm darzustellen – das Ergeb- An dieser Stelle sei auf Yacobis generic principle verwiesen: Wie auch Yacobi schließt Nünning jene textuellen Diskrepanzen als nicht unzuverlässig aus, die sich durch Gattungsbesonderheiten erklären lassen. 11 Nünning unterteilt die textexterne Ebene weiter, Busch schließt jedoch die von ihm vorgeschlagene fünfte Ebene („Autor bzw. Leser als Mitglieder […] der Gesellschaft mit einem komplexen Rollenhaushalt“, Nünning 1989, 26) dezidiert aus (vgl. Busch 1998, 43). 10 23 nis ist kompliziert und kaum praktikabel. Buschs Ansatz, die verschiedenen ausgewählten narratologischen Kategorien zu untersuchen, besonders aber ihr Fokus auf die kommunikativen Ebenen, die (narratologische) Gestaltung der Erzählerfigur sowie deren Perspektive ist jedoch fruchtbar. Auch Allraths Systematik basiert auf drei werkinternen Kommunikationsebenen. Sie geht dabei von dem unzuverlässigen Figurentypen des mad monologist 12 aus und arbeitet die Diskrepanzen heraus, die sich aus dieser speziellen Perspektivenkonzeption ergeben. Allrath beschreibt verschiedene Möglichkeiten thematischer bzw. sprachlich angelegter Markierungen erzählerischer Unzuverlässigkeit, die in großen Teilen mit den von Nünning beschriebenen übereinstimmen. Allrath fügt zudem einige Markierungsmöglichkeiten erzählerischer Unzuverlässigkeit hinzu, die bei Nünning noch unberücksichtigt bleiben, so zum Beispiel eine mögliche „Semantisierung des Raums“ (Allrath 1998, 64) in Form von „mit Bedeutung aufgeladenen Schilderungen des Handlungsraums[, die] die Wahrnehmungen und Empfindungen der Fokalisierungsinstanz widerspiegeln“ (Allrath 1998, 64). Weiterhin benennt Allrath die Unfähigkeit der Erzähler, Traum und Wirklichkeit zu trennen sowie Halluzinationen oder paranoide Zustände als potentielle Indikatoren unzuverlässigen Erzählens; sie weist in diesem Kontext auf häufig zu beobachtende Synästhesien unzuverlässiger Erzählerfiguren hin. Deutlicher als Nünning hebt Allrath die Bedeutung der Ebene der histoire hervor: „Aber auch dem Inhalt dessen, was ein Erzähler darstellt, kommen wichtige Funktionen für die Signalisierung zu“ (Allrath 1998, 66). Sie spezifiziert: „Durch die Auswahl der vom Erzähler angesprochenen Themen erhält der Rezipient implizit Aufschluß über die Perspektive der Erzählinstanz“ (Allrath 1998, 67). Die Relevanz des kulturhistorischen Kontexts Vera Nünning (1998) spricht sich in ihrem Beitrag „Unreliable narration und die historische Variabilität von Werten und Normen: The Vicar of Wakefield als Testfall für eine kulturgeschichtliche Erzählforschung“ für eine kulturhistorische Betrachtung erzählerischer Unzuverlässigkeit aus. Sie argumentiert, dass entsprechend der Naturalisierungsprozesse eine Unzuverlässigkeitsdiagnose in erheblichem Maße auch von dem „Wirklichkeitsmodell und den ethischen Überzeugungen des Lesers“ (V. Nünning 1998, 258) abhänge. Gerade diese unterlägen aber dem kulturellen und historischen Wandel: 12 Allrath 1.5. bezieht sich dabei auf die Einteilung der Erzählertypen von Riggan (1981); s. Kap. 24 Diese Bedeutung von Fragen der Ethik führt jedoch ein Problem um die Beurteilung von unreliable narration ein, was bislang kaum berücksichtigt wurde: die historische Variabilität von Werten und Normen und die daraus resultierende Wandelbarkeit der Urteile (V. Nünning 1998, 260; Hervorhebg. im Orig.). Diesen historisch-kulturellen Aspekt hebt auch der Gießener Forscher Bruno Zerweck hervor. In seinem 2001 erschienen Beitrag „Historizing Unreliable Narration“ argumentiert er: Ultimately, unreliability is not a purely text-internal or synchronic phenomenon. It represents an [sic] historically variable literary discourse on the borderline between ethics and aesthetics and equally depends on textual conditions and on contextual factors and cognitive strategies (Zerweck 2001, 168). Erzählerische Unzuverlässigkeit, so Zerweck, sei ein sowohl kulturell als auch historisch bedingtes Phänomen. Wie Vera Nünning konkludiert er, dass eine literaturhistorische Betrachtung erzählerischer Unzuverlässigkeit daher nur unter dieser Prämisse möglich sei (vgl. Zerweck 2001, 168). 1.2.3 Kritik, Synthetisierungsversuche Wie bereits angeführt, ist die konstruktivistische Position den rhetorischen Ansätzen entgegengestellt worden. Doch auch Nünnings Ansatz erfuhr deutliche Kritik: Bode gibt hier besonders die Praxis der „Schleppnetzfahndung“ (Bode 2011, 268) nach textuellen Unzuverlässigkeitssignalen zu bedenken: Kein einziges dieser Signale muss Unzuverlässigkeit indizieren (auch nicht in der Häufung), keines – ob einzeln oder gehäuft vorkommend – würde quasi zur Anklageerhebung ausreichen; aber jedes einzelne kann beim Leser in einem konkreten Fall die Zuschreibung ‚unzuverlässig‘ auslösen (Bode 2011, 268f.; Hervorhebg. im Orig.). Lisa Volpp (2016) weist auf die nach wie vor hohe Abhängigkeit des Ansatzes von subjektiven Beurteilungsmaßstäben hin: Und auch wenn Nünnings Auflistung textueller Signale und außertextueller Faktoren überzeugender gerät als etwa Chatmans vage Beschreibung der Bestimmung von Unzuverlässigkeit als ein ‚Zwischen-den-Zeilen-Lesen‘, legt seine Konzeption nicht offen, wie subjektiv auch hier die Beurteilung der Zuverlässigkeit eines Erzählers ist (Volpp 2016, 61f.). Aus diesen doch relativ deutlich formulierten Einschätzungen mag sich der Eindruck ergeben, die Forschungsbeiträge ließen sich in ein dichotomes System, in entweder rein rhetorisch oder konstruktivistisch orientierte Ansätze, einteilen. Dass dies jedoch nicht der Fall ist, lässt sich anhand einiger Überschneidungen der verschiedenen Positionen zeigen: 25 Greta Olson greift in ihrem Beitrag „Reconsidering Unreliability: Fallilble and Untrustworthy Narrators”, der 2003 in der von James Phelan herausgegebenen Zeitschrift Narrative (Ohio State University) erschienen ist, auf Booths Ausführungen von 1961 zurück. Olson richtet besonderes Augenmerk auf Booths Begrifflichkeit, setzt sich aber auch mit der rezeptionsorientierten Position Ansgar Nünnings auseinander, und sie argumentiert, dass Booths und Nünnings Ansätze gar nicht so weit auseinander lägen: Lediglich die Bezugsgrößen der erzählerischen Unzuverlässigkeit mit dem impliziten Autor einerseits und der fiktionalen Welt mit der Gesamtheit der textuellen Signale andererseits seien unterschiedlich; davon abgesehen seien aber die Prozesse der Unzuverlässigkeitszuschreibung sehr ähnlich (vgl. Olson 2003, 98ff.). Phelan und Martin sind Befürworter des Konzepts des impliziten Autors, doch findet sich in ihrem Beitrag von 1999 eine Textpassage, in der die Relevanz der Rezeption im Kontext unzuverlässigen Erzählens deutlich hervorgehoben wird: [W]hile a text invites particular ethical responses through the signals it sends to its authorial audience, our individual ethical responses will depend on the interaction of those invitations with our own particular values and beliefs (Phelan und Martin 1999, 88f; Hervorhebg. im Orig.). Auch Kathleen Wall (1994), so wurde angeführt, verfolgt in ihrem bereits zitierten Beitrag einen rhetorischen Ansatz, dennoch verweist sie auf Naturalisierungsprozesse, und sie hebt sie als mitverantwortlich für den Verdacht einer möglichen erzählerischen Unzuverlässigkeit hervor: Part of the way in which we arrive at suspicions that the narrator is unreliable, then, is through the process of naturalizing the text, using what we know about human psychology and history to evaluate the probable accuracy of, or motives for, a narrator’s assertions (Wall 1994, 30). 2005 erscheint der Sammelband A Companion to Narrative Theory von James Phelan und Peter Rabinowitz. In ihm weist Phelan darauf hin, dass sich die verschiedenen Sichtweisen keinesfalls gegenseitig ausschließen: „My main contention, however, is that Nünning’s case for constructivism does not invalidate my case for rhetorical reading” (Phelan 2005, 48). Phelan kritisiert jedoch deutlich, dass die Rolle des Autors bei Nünning kaum Beachtung finde, und er argumentiert weiter, dass Bezugsschemata zur Naturalisierung erzählerischer Unzuverlässigkeit nicht nur bei der Rezeption, sondern auch beim Verfassen der Texte zum Einsatz kämen (vgl. Phelan 2005, 49). 26 Im selben Sammelband folgt im unmittelbaren Anschluss an Phelans Ausführungen ein Beitrag von Ansgar Nünning mit dem bezeichnenden Titel „Reconceptualizing Unreliable Narration: Synthesizing Cognitive and Rhetorical Approaches”. In ihm bemüht sich Nünning selbst um eine Synthetisierung der rhetorischen mit der konstruktivistischen Sichtweise: In the end it is both the structure and norms established by the respective work itself and designed by an authorial agency, and the reader’s knowledge, psychological disposition, and system of norms and values that provide the ultimate guidelines for deciding whether a narrator is judged to be reliable or not (Nünning 2005, 105). Wie Olson argumentiert Nünning dabei, dass sämtliche Zuschreibungen erzählerischer Unzuverlässigkeit immer auf die dreigliedrige Struktur: Autorinstanz, textuelle Phänomene sowie Leserresonanz zurückführbar seien (vgl. Nünning 2005, 100). 1.3 Merkmale erzählerischer Unzuverlässigkeit In den letzten mehr als 50 Jahren seit Booths Definition wurden in zahlreichen Beiträgen (weitere) Systematisierungsversuche erzählerischer Unzuverlässigkeit unternommen. Wiederholt wurden dabei verschiedenen Arten, Dimensionen bzw. Formen erzählerischer Unzuverlässigkeit unterschieden. Zu einem Konsens diesbezüglich ist es bis dato allerdings nicht gekommen. Köppe und Kindt weisen beispielsweise gleich zu Beginn ihrer Ausführungen darauf hin, dass ihre Systematik „keineswegs allgemein anerkannt“ (Köppe/Kindt 2014, 237) sei. Wichtiger sei ohnehin „eine klare Auffassung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten“ (Köppe/Kindt 2014, 237). Dieser Argumentation soll sich hier angeschlossen werden, und im Folgenden der Blick konsequenterweise auf einige Faktoren gerichtet werden, die zur Unterscheidung erzählerischer Unzuverlässigkeit wiederholt herangezogen worden sind: auf das Kriterium der Intentionalität, auf eine Unterscheidung faktischer bzw. normativer Unzuverlässigkeit sowie auf das Verständnis erzählerischer Unzuverlässigkeit als Skala 1.3.1 Das Kriterium der Intentionalität Ein Merkmal erzählerischer Unzuverlässigkeit, das immer wieder verhandelt wird, ist die Frage nach deren Intentionalität, also ob, und wenn ja, inwiefern, eine Erzählinstanz ‚absichtlich‘ unzuverlässig erzählt. Untersucht wird, ob sie sich ihrer 27 Unzuverlässigkeit überhaupt bewusst ist13, sie absichtsvoll lügt oder es möglicherweise ‚nicht besser weiß‘14. Wieder manifestiert sich die Schwierigkeit, eine ‚Wahrheit‘ als Bezugsgröße im Kontext erzählerischer Unzuverlässigkeit festzulegen. Ein endgültiges Urteil über die Intentionalität der Unzuverlässigkeit des Erzählers ist nicht immer möglich, und in der Regel stellt ein solches Urteil nur eine unter mehreren möglichen Lesarten dar. In vielen Fällen, so wird auch in den Einzelanalysen dieser Arbeit zu zeigen sein, ist keine klar abgegrenzte Aussage bezüglich der Intentionalität der spezifischen Unzuverlässigkeit gegeben, selbst wenn es möglicherweise eine zu präferierende Lesart geben mag. An dieser Stelle soll zudem auf jene unzuverlässig erzählten Texte hingewiesen werden, deren besonderer Reiz auch in einem nicht lösbaren Moment des Zweifels liegt. Ob ein Erzähler „ohne Absicht nicht die ‚ungeschminkte Wahrheit‘, sondern die ‚geschminkte‘ Version erzählt, an die er inzwischen selber glaubt“ (Lahn/Meister 2008, 185) mag erkennbar sein, genaue Grenzen von ‚ungeschminkt‘ und ‚geschminkt‘, von unabsichtlicher Selbstoffenbarung und intentionalen Hinweisen festzulegen, gestaltet sich hingegen deutlich schwieriger. Die Betrachtung der Intentionalität mündet weiterhin in die Problematik der Auflösung erzählerischer Unzuverlässigkeit. Kathleen Wall (1994) fragt in diesem Zusammenhang: „Are narrators who admit their unreliability still unreliable?” (Wall 1994, 21) und weiter: „Can we make an absolute distinction between unconscious ‚slips’ or giveaways and conscious declarations?” (Wall 1994, 21) 1.3.2 Faktische und normative Unzuverlässigkeit, Diskordanz Im Kontext des impliziten Autors spricht Booth von einer „axis of value“ (Booth 1961, 158); auf dieser sei im Falle erzählerischer Unzuverlässigkeit eine besonders große Diskrepanz zwischen implizitem Autor und Erzähler feststellbar. Generell variierten Autoren die Distanz zwischen impliziten Autor und Erzählinstanz „Others [d.i. andere Autoren, N.W.] present a wider range from far to near, on a variety of axes” (Booth 1961, 158). Booth geht damit von mehreren Achsen aus, auf denen Nähe bzw. Distanz zwischen implizitem Autor und Erzähler generiert werden könnte. Generell kämen „moral or intellectual qualities of the narrator“ In der später noch genauer vorgestellten Systematik von Phelan (s. Kap. 1.3.2 sowie 1.4.1) wird beispielsweise eine solche Unterscheidung zwischen bewusster und unbewusster Unzuverlässigkeit vorgenommen. 14 Dies ist z.B. bei der ebenfalls später noch genauer vorgestellten Unterscheidung von Köppe/Kindt (s. Kap. 1.4.4) der Fall; ähnlich u.a. Olson 2003, Lahn/Meister 2008 oder Bode 2011. 13 28 (Booth 1961, 158) besonderer Stellenwert im Kontext unzuverlässigen Erzählens zu (vgl. Booth 1961, 158). Unterscheidungen verschiedener ‚Achsen‘ oder ‚Seiten‘ erzählerischer Unzuverlässigkeit finden sich in zahlreichen Ansätzen (vgl. z.B. Lanser 1981, 170f.; Martínez-Bonati 1981, 34ff. sowie103ff.; Rimmon-Kenan 1983, 100; Ricoeur 1988, 163; Nünning 1998, 13; Martínez/Scheffel 2016, 100ff.). Als faktisch unzuverlässig können dabei generell all jene Erzähleraussagen zusammengefasst werden, die diskrepante Informationen bezüglich der dargestellten Tatsachen oder Ereignisse transportieren; als normativ unzuverlässig gelten all jene Aussagen, in denen die von der Erzählerfigur vertretenen Werte bzw. Normen inkongruent zu ihren jeweiligen Bezugsinstanzen der erzählerischen Unzuverlässigkeit sind. Phelan führt 1999 ein dreiachsiges Modell ein, das neben der faktischen und normativen Achse eine dritte berücksichtigt: die axis of knowledge and perception. Am Beispiel von Kazuo Ishiguros Roman The Remains of the Day (1989) argumentiert Phelan, dass Fälle aufträten, in denen erzählerische Unzuverlässigkeit bestehe, diese jedoch weder die Variable der Tatsachen noch die der Werte betreffe: Es gebe Erzähler, die bestimmte Tatsachen oder Zusammenhänge schlichtweg nicht (bewusst) wahrnähmen und sie deshalb auch nicht erzählten (s. Kap. 1.4.1). Die Überschneidung zum Merkmal der Intentionalität wird hier deutlich: Geht man davon aus, dass die Unzuverlässigkeit eines Erzählers aus solchen Wahrnehmungsdefiziten resultiert, liegt die Vermutung nahe, dass es sich analog auch um nichtintentionale Unzuverlässigkeit handeln wird. 2000 erscheint in der Fachzeitschrift Style ein Beitrag von Dorrit Cohn („Discordant Narration“), in dem sie zunächst zwischen faktualer und ideologischer Unzuverlässigkeit15 unterscheidet, wobei sie die zweitgenannte Discordant Narration, also diskordantes Erzählen benennt: „Discordant Narration“: this term, in addition to distinctively marking the divergence of this type from (factual) unreliability, intends to signify the possibility for the reader to experience a teller as normatively inappropriate for the story he or she tells. It suggests the reader’s sense that the author intends his or her work to be understood differently from the way the narrator understands it: in a way that can only be discovered by reading the work against the grain of the narrator’s discourse, providing with a meaning that, though not explicitly spelled out, is silently signaled to the reader behind the narrator’s back (Cohn 2000, 307). 15 Cohn gibt an, Nünning (1998) sowie Martínez und Scheffel (1999) zu folgen. 29 Cohn folgt damit zwar einem rezeptionsorientierten Ansatz, sie ersetzt den Begriff des impliziten Autors durch den (nicht weniger problematischen Begriff) der Autorenintention, und sie führt am Beispiel von Joseph Conrads Roman Heart of Darkness (1899, dt. Herz der Finsternis) Möglichkeiten an, wie Diskordanzen auf textueller Ebene implementiert werden könnten16. Es lässt sich festhalten, dass Untersuchungen der Beschaffenheit erzählerischer Unzuverlässigkeit mehrfach verschiedene ‚Seiten‘, ‚Dimensionen‘ bzw. ‚Achsen‘ der Unzuverlässigkeit benennen: insbesondere sind dies faktische und normative bzw. ideologische Unzuverlässigkeit (auch Diskordanz genannt) sowie die Unzuverlässigkeit der Wahrnehmung. 1.3.3 Das Verständnis erzählerischer Unzuverlässigkeit als Skala Ein Aspekt erzählerischer Unzuverlässigkeit, über den hingegen weitgehend Konsens herrscht, ist das Verständnis erzählerischer Unzuverlässigkeit als Skala: Erzählerische Unzuverlässigkeit wird gemeinhin nicht als Dichotomie absolut unzuverlässigen und absolut zuverlässigen Erzählens verstanden, vielmehr geht man von einem weiten Spielraum aus, innerhalb dessen sich erzählerische Unzuverlässigkeit entfalten kann. Gelegentlich wird infrage gestellt, ob nicht sogar alle IchErzähler aufgrund ihrer eingeschränkten Möglichkeiten per se als unzuverlässig eingestuft werden müssten. William Riggan formuliert beispielsweise: First person narration is, then, always at least potentially unreliable, in that the narrator, with these human limitations of perception and memory and assessment, may easily have missed, forgotten, or misconstrued certain incidents, words, or motives (Riggan 1981, 19). Dieser Argumentation wird allerdings von Köppe und Kindt (2014) widersprochen: Zunächst könnten Erzähler entsprechende, fragwürdige Ansichten in gnomischem Präsens formulieren, dem ein ontologischer Wahrheitsanspruch inne ist, und damit einen Unterschied zu der übrigen Rede herstellen. In Herz der Finsternis wechsele der Erzähler Marlow in ein solches gnomisches Präsens, wenn er seine kruden und biederen Einstellungen zum Kolonialismus kundtut: Die kolonialistische Idee vergebe („redeems“, Conrad zit. nach Cohn 2000, 208) das grausame Vorgehen; Marlows Rede richtet sich in der zitierten Textstelle an einen Elfenbeinhändler, den Cohn als „prototypical colonist“ und „chillingly degenerate“ (Cohn 2000, 308) beschreibt. Gerade diese Kombination aus gnomischer Rede und situationalem Kontext machten, so Cohn, die Diskordanz in Herz aus Finsternis aus. Die zweite Möglichkeit der Erzeugung diskordanter Momente auf textueller Ebene nach Cohn gestalte sich ‚adjektivisch‘: „by judgmental phrases that infiltrate descriptive and narrative language and that often apply to the other characters of the fictional world“ (Cohn 2000, 308). Vor allem die Figurenbeschreibungen der Erzählinstanz seien hier aufschlussreich. Wie auch im Falle der gnomischen Rede betont Cohn die Relevanz, einen situativen Bezug herzustellen. 16 30 […] ein genereller Unzuverlässigkeitsverdacht [würde] die Kategorie des unzuverlässigen Erzählens nutzlos machen. Wenn wir jeden Ich-Erzähler für unzuverlässig hielten, dann würde der Begriff ‚unzuverlässiges Erzählen‘ seine Distinktionskraft einbüßen (Köppe/Kindt 2014, 248f.). Hinweise auf verschiedene mögliche Grade erzählerischer Unzuverlässigkeit finden sich wiederholt, so zum Beispiel in einer Definition erzählerischer Unzuverlässigkeit von Shlomith Rimmon-Kenan: A reliable narrator is one whose rendering of the story and commentary on it the reader is supposed to take as an authoritative account of the fictional truth. An unreliable narrator, on the other hand, is one whose rendering of the story and/ or commentary on it the reader has reasons to suspect. There can, of course, be different degrees of unreliability (Rimmon-Kenan 1983, 100). Ähnlich hebt auch Nünning die Möglichkeit einer „graduellen Abstufung des Kriteriums der Glaubwürdigkeit“ (Nünning 1998, 13) hervor 17. Phelan versteht erzählerische Unzuverlässigkeit ebenfalls als ein flexibles Phänomen (vgl. Phelan 2005, 53); er betont die Vielschichtigkeit, in der erzählerische Unzuverlässigkeit daherkommen kann: [A] given narrator can be unreliable in different ways at different points in his or her narration. As we have also seen, a narrator can be unreliable in more than one way at any one point in his narration […] (Phelan 20015, 52f.). Phelan benennt hier einen weiteren Aspekt erzählerischer Unzuverlässigkeit, auf den nur selten hingewiesen wird: Nicht nur die qualitative Beschaffenheit der Unzuverlässigkeit ist flexibel, Variation ist auch bezüglich ihrer Quantität möglich, und es gibt unterschiedliche Spielräume, innerhalb derer sich erzählerische Unzuverlässigkeit bewegen kann 18. Manfred Jahn (1998) formuliert in diesem Kontext die Fragen: In welchem Ausmaß liegt Unverläßlichkeit vor? Und übergreifend: Wer charakterisiert wen in welcher Weise, auf welcher Grundlage, in welcher Hinsicht und in welchem Maße als unverläßlich? (Jahn 1998, 83). Eine Dichtomie zuverlässig/unzuverlässig sei, so Jahn, insbesondere dann hinfällig, wenn mit Graden von Unverläßlichkeit operiert wird, […] wenn ein Sprecher zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlich verläßlich ist (etwa indem er sich von einem unverläßlichen zu einem verläßlichen Sprecher entwickelt; vgl. Lanser 1981: 172) oder […] wenn ein Sprecher sich in Bezug auf einen Aspekt als verläßlich und in Bezug auf einen anderen als unverläßlich erweist (Jahn 1998, 85). Nünning verweist dazu auf Lanser (1981,171), Rimmon-Kenan (1983, 100) und Yacobi (1981, 126). 18 vgl. hierzu z.B. auch Chatman (1978, 234): „Unreliability is generally constant throughout a narrative, but sometimes it may fluctuate.” 17 31 Regina Hofmann (2010) entwirft eine Skala zur Beschreibung erzählerischer Unzuverlässigkeit, die sich von absoluter Unzuverlässigkeit, von ihr auch „unentscheidbares Erzählen“ (Hofmann 2010, 178) genannt, bis zu absoluter Zuverlässigkeit erstreckt: Abbildung 1: „Graduelle Abstufungen von (Un-)Zuverlässigkeit“ (Regina Hofmann 2010, 178) Diese Skala scheint auf den ersten Blick hilfreich, vermischt allerdings die beiden genannten qualitativen und quantitativen Komponenten: Man kann sich durchaus einen durchgehend unzuverlässigen Erzähler vorstellen, dessen Erzählung dennoch entscheidbar bleibt, ebenso ist eine nur punktuelle Unentscheidbarkeit denkbar. Dringend müsste zudem differenziert werden, was genau mit der Beschreibung ‚gelegentlich‘ gemeint ist: ob hier auf erzählerische Unzuverlässigkeit generell verwiesen wird – oder auf das Vorkommen der textuellen Signale. Diese Faktoren sind keinesfalls gleichzusetzen, so kann eine Erzählung, die nur punktuell textuelle Signale aufweist, durchaus durchgängig unzuverlässig sein. Als Beispiel ließe sich hier der Kriminalroman The Murder of Roger Ackroyd (1926, dt. Alibi) von Agatha Christie anführen: Nur an sehr wenigen Stellen der Erzählung ist es möglich, dem Erzähler Dr. Sheppard ‚auf die Schliche‘ zu kommen, bevor er am Ende gesteht, selbst der gesuchte Mörder zu sein und damit die Unzuverlässigkeit auflöst. Dennoch stellt sich retrospektiv heraus, dass er durchweg unzuverlässig erzählt hat. Ebenso ist aber der gegenteilige Fall denkbar, in dem punktuell gesetzte textuelle Markierungen eine auch nur temporäre Unzuverlässigkeit bedeuten. Dies ist zum Beispiel der Fall in Morris Gleitzmans Kinderroman: Once (2005, dt. Einmal). Gleitzmans Erzähler Felix ist zu Beginn der Geschichte noch naiv; Unzuverlässigkeit resultiert aus einer sehr engen Wahrnehmungsbindung an ihn einerseits und aus seinem anfänglichen Unvermögen, die ihn umgebenden Geschehnisse ‚richtig‘ zu verstehen andererseits. Im Laufe der Geschichte reift der Junge und kann sich zunehmend einen Reim auf die ihn umgebende harte Realität machen (die 32 Geschichte spielt im nationalsozialistisch besetzten Polen; Felix ist ein jüdischer Junge auf der Flucht). Ist seine Erzählung zu Beginn unzuverlässig, ändert sich dies mit seiner laufenden Entwicklung. Geht man also davon aus, dass der Grad der Unzuverlässigkeit im Verlauf der Erzählung variabel ist, die Erzählinstanz also wie Felix im Laufe der Erzählung zuverlässiger (oder eben auch unzuverlässiger) werden kann, scheint es sinnvoll, eine solche Tendenz auch beschreibbar zu machen. Statt einer eindimensionalen Skala wie von Hofmann vorgeschlagen, wäre in Anlehnung an eine Spannungskurve eine zweidimensionale ‚Unzuverlässigkeitskurve‘ denkbar, die Veränderungen der Unzuverlässigkeit im Erzählverlauf sichtbar machen könnte. 1.4 Systematisierungsversuche Im Folgenden werden nun vier Systematisierungsansätze kurz vorgestellt: die bereits kurz genannten Arten erzählerischer Unzuverlässigkeit nach James Phelan sowie die Unterscheidung mimetischer und theoretischer Unzuverlässigkeit nach Martínez und Scheffel, sie stellen die wohl bekanntesten der vorliegenden Systematisierungen dar. Per Krogh Hansens Systematik (2007) ist weniger bekannt, wurde aber ausgewählt, da sie verschiedene Blickwinkel auf die Untersuchung erzählerischer Unzuverlässigkeit erfasst. Die abschließend vorgestellte Unterscheidung von Köppe und Kindt (täuschende, offene bzw. axiologische Unzuverlässigkeit) ist der zuletzt vorgebrachte Systematisierungsansatz erzählerischer Unzuverlässigkeit. 1.4.1 James Phelan: Drei Achsen erzählerischer Unzuverlässigkeit James Phelans vielbeachtete Unterscheidung fokussiert insbesondere die Erzählerrollen (Erzähler können berichten, interpretieren und bewerten) und ordnet diese Rollen seinem oben bereits beschriebenen Achsenmodell (s. Kap. 1.3.2) zu: Eine erzählerische Unzuverlässigkeit auf der ‚Fakten-Achse‘ (axis of events) zeige sich im fehlerhaften Erzählerbericht, Unzuverlässigkeit auf der ‚Werte-Achse‘ (axis of ethics) hingegen in der falschen Bewertung bestimmter Sachverhalte durch den Erzähler. Betrifft die Unzuverlässigkeit die ‚Wahrnehmungs-Achse‘ (axis of knowledge and perception) manifestiere sich dies in der fehlerhaften Interpretation und des Missverständnisses bestimmter Sachverhalte durch den Erzähler (vgl. Phelan 2005, 50). Phelan betont weiterhin, dass Rezipienten zwei verschiedene Möglichkeiten bei der Entschlüsselung erzählerischer Unzuverlässigkeit hätten: Einerseits könnten Erzähleraussagen schlichtweg als ‚falsch‘ bewertet werden und eine grundsätzlich 33 verschiedene Beurteilung könne vorgenommen werden – andererseits ist es möglich, dem Erzähler eine eingeschränkte Sicht zu diagnostizieren, die zwar akzeptiert werde, deren enthaltene Leerstellen jedoch entsprechend ergänzt würden (vgl. Phelan 2005, 51). Phelan kombiniert die Erzählerrollen mit diesen Deutungsmöglichkeiten und formuliert entsprechend sechs verschiedene Arten von Unzuverlässigkeit: Combining the activities of narrators and audiences, then, I identify six kinds of unreliability: misreporting, misreading, misevaluating – or what I will call misregarding – and underreporting, underreading, and underregarding (Phelan 2005, 51). Die Unterscheidung zwischen den Kategorien mis- und under- bezieht sich somit auf die Wahrnehmungsdeutung: Das Erzählte kann als völlig unzutreffend (misreporting, misreading, misregarding) oder als ‚nur‘ unzureichend dargestellt (underreporting, underreading, underregarding) eingeschätzt werden. Phelan geht weiterhin davon aus, dass Unstimmigkeiten durchaus gleichzeitig auf verschiedenen Achsen vorkommen – es sogar wahrscheinlich ist, dass erzählerische Unzuverlässigkeit sich so vielfältig manifestiert. Die folgende Tabelle stellt die verschiedenen Arten der Unzuverlässigkeit nach Phelan dar: Tabelle 4: Arten der Unzuverlässigkeit nach Phelan Rezeptionsstrategie Unstimmigkeiten in der ‚axis of characters, facts and events‘ Unstimmigkeiten in der ‚axis of ethics‘ Unstimmigkeiten in der ‚axis of knowledge and perception’ Misreporting Neubewertung, da Deutung als grundlegend falsch + (+) (+) Misregarding Neubewertung, da Deutung als grundlegend falsch (+) + (+) Misreading Neubewertung, da Deutung als grundlegend falsch (+) (+) + Underreporting Ergänzung, da Bewertung als lückenhaft + (+) (+) Underregarding Ergänzung, da Bewertung als lückenhaft (+) + (+) Underreading Ergänzung, da Bewertung als lückenhaft (+) (+) + (Misevaluating) (Paralipsis nach Génette) 34 Phelan resümiert, dass es sich bei seiner Systematik um ein „heuristisches Hilfsmittel“ (Phelan 2005, 53) handele, dessen Zweck es sei, den Blick auf die verschiedenen Darstellungsformen unzuverlässigen Erzählens zu schärfen. Monika Fludernik weist in ihrem bereits genannten Aufsatz „Unreliability vs. Discordance“ (2005) jedoch auf eine Problematik der Kategorie Underregarding hin: Sie merkt an, dass es „eine unzureichende ideologische Deutung“ (Fludernik 2005, 44) gar nicht geben könne und argumentiert, dass dies in der Natur der Sache liegt, da man bei Tatsachen und Wissensständen weniger sagen kann, als man weiß, aber bei ideologischer Verfremdung keine adäquate Skala existiert – es gibt entweder eine konträre Sichtweise oder nicht (Fludernik 2005, 44). Phelans Modell stellt (neben der im Anschluss vorgestellten Systematisierung von Matías Martínez und Michael Scheffel) die wohl bekannteste Systematisierung erzählerischer Unzuverlässigkeit dar. 1.4.2 Matías Martínez und Michael Scheffel: Theoretische und mimetische Unzuverlässigkeit Ein weiteres gängiges Unterscheidungsmodell liefern Matías Martínez und Michael Scheffel. In ihrer zum Standardwerk etablierten Einführung in die Erzähltheorie (inzwischen in der 10. Auflage) unterscheiden sie dazu zunächst mimetische und theoretische Sätze: Mimetische Erzähleraussagen beziehen sich auf die erzählte Welt, theoretische Aussagen sind allgemeingültiger Art – und damit nicht allein der erzählten Welt vorbehalten. In einer theoretisch unzuverlässigen Erzählung, so Martínez und Scheffel, sei entsprechend kein Verlass auf die Gültigkeit solcher Erzähleraussagen, die sich auf universelle Sachverhalte beziehen. Die Wissenschaftler führen als Beispiel Thomas Manns Erzähler Dr. phil. Serenus Zeitblom an, dessen Schilderungen der erzählten Welt in Dr. Faustus als durchaus zuverlässig eingestuft werden können. Seine theoretischen Aussagen jedoch, die „Kommentare und Sentenzen, die der biedere Zeitblom über seine Geschichte abgibt“ (Martínez/Scheffel 2016, 107), müssen als unzuverlässig eingeordnet werden: Die Erzählerfigur sei sich über die „politischen, philosophischen und moralischen Dimensionen ihrer eigenen Erzählung“ (Martínez/Scheffel 2016, 107) nicht im Klaren. Liegt mimetische Unzuverlässigkeit vor, gebe es hingegen Grund zum Zweifel an der Gültigkeit der Erzählung in Bezug auf jene Sachverhalte, die die Beschaffenheit der erzählten Welt betreffen. Bei der mimetischen Unzuverlässigkeit differen35 zieren Martínez und Scheffel weiter und unterscheiden mimetisch teilweise unzuverlässiges von mimetisch unentscheidbarem Erzählen: Seien in erstem Fall die unzuverlässigen Aussagen über die erzählte Welt noch in einer „stabile[n] und eindeutig bestimmbare[n] erzählte[n] Welt“ (Martínez/Scheffel 2016, 109) verortbar, kann bei mimetisch unentscheidbarem Erzählen keine klare Entscheidung mehr darüber getroffen werden, was in der erzählen Welt ‚richtig‘ sei (vgl. Martínez/Scheffel 2016, 109). 1.4.3 Per Krogh Hansen: Vier Arten erzählerischer Unzuverlässigkeit Weniger Beachtung fand eine von Hansen (2007) entwickelte Unterscheidung, die an dieser Stelle kurz vorgestellt werden soll. In seinem Beitrag „First Person, Present Tense. Authorial Presence and Unreliable Narration in Simultaneous Narration“ kritisiert Hansen zunächst sowohl die von Booth vorgebrachte Definition erzählerischer Unzuverlässigkeit als auch die von Phelan und Chatman an ihr vorgenommenen Modifikationen: „[T]he various attempts to reformulate the implied author do not solve any problems regarding the unreliable narrator“ (Hansen 2007, 232). Nünnings rezeptionsorientierten Ansatz hält Hansen jedoch für ebenfalls nur unzureichend; zwar hebt er dessen innovativen Charakter hervor und betont, dass Nünnings Beitrag neue und wichtige Perspektiven ermöglicht habe, gibt aber zu bedenken: On the other hand, the rather exclusive orientation towards the reader’s responsibility does seem to overlook the fact that the phenomenon of unreliable narration is much more diverse than the clear-cut concept allows us to see (Hansen 2007, 228). Hansen betrachtet das Phänomen erzählerischer Unzuverlässigkeit auf dieser Grundlage aus unterschiedlichen Blickwinkeln, und er unterscheidet vier verschiedene Arten erzählerischer Unzuverlässigkeit, die er als intranarrational, internarrational, intertextual sowie extratextual unreliability bezeichnet. Unter intranarrational unreliability versteht Hansen die ‚klassische‘ Unzuverlässigkeit, die anhand eines großen Repertoires diskursiver Markierungen in der Erzählerrede etabliert werde (vgl. Hansen 2007, 241). Im Falle der internarrational unreliability kommt es, so Hansen, zu Divergenzen zwischen unterschiedlichen Versionen des Geschehens. Diese Unzuverlässigkeit resultiere beispielsweise aus einer multiperspektivischen Erzählanlage, oder auch aus einer großen memorialen Distanz von erlebendem und (gereiftem) erzählendem Ich. Intertextual unreliability umfasse jene extratextuellen und kontextuellen Informationen, die Aufschluss über eine zu erwartende Unzuverlässigkeit geben. Insbesondere subsummiert Hansen 36 intertextuelle System- oder Einzelreferenzen in diese Kategorie, die auch im Paratext vorkommen können. Auch die von Riggan benannten Erzählertypen (Pícaros, Madmen, Naïfs, and Clowns; s. Kap. 1.5) deutet Hansen als intertextual unreliability. Schließlich führt er extratextual unreliability ein – eine Kategorie, die er selbst als „ambiguous“ (ebd., 243) bezeichnet, und die die Werte und das Weltwissen des realen Rezipienten einbezieht. Hansen betont abschließend die Tatsache, dass die von ihm vorgebrachten Arten der Unzuverlässigkeit nicht unabhängig voneinander seien: The four basic forms of narrational unreliability I have sketched here will, of course, often function together in a text so that the unreliability both is marked in the narrator’s discourse, by other narrators relating by virtue of the type of narrator as character is modeled over, and in relation to the knowledge the reader brings into the text (Hansen 2007, 243f.; Hervorhebg. im Orig.). Dieser Ansatz erweitert das oben genannte Verständnis erzählerischer Unzuverlässigkeit als Skala insofern, als dass auch die Mehrdimensionalität des Phänomens zur Geltung kommt. Verschiedene intra-, aber auch extratextuelle Faktoren sind nach Hansen von Bedeutung für die erzählerische Unzuverlässigkeit. 1.4.4 Tilmann Köppe und Tom Kindt: täuschende, offene und axiologische Unzuverlässigkeit Tilmann Köppe und Tom Kindt schlagen 2014 in ihrer Einführung Erzähltheorie eine Unterteilung unzuverlässigen Erzählens in drei Formen vor: „(1) das täuschende unzuverlässige Erzählen, (2) das offen unzuverlässige Erzählen und (3) das axiologisch unzuverlässige Erzählen“ (Köppe/Kindt 2014, 236; Hervorhebg. im Orig.). Anders als dies in den übrigen Systematisierungen der Fall ist, berücksichtigen sie in ihrer Unterteilung auch, wie sich die erzählerische Unzuverlässigkeit im Laufe der Erzählung entwickelt. Der erste von Kindt und Köppe differenzierte Fall ist das von ihnen so genannte täuschende unzuverlässige Erzählen (auch: täuschendes Erzählen). Die erzählerische Unzuverlässigkeit offenbare sich dem Leser in diesem Fall erst am Erzählende, was dazu führe, dass die gesamte Erzählung neu bewertet werden müsse: Ein Erzähltext ist genau dann täuschend (unzuverlässig) erzählt, wenn der Text seinen Lesern (vorübergehend) gute Gründe für falsche Annahmen über fiktive Tatsachen gibt (ebd.; Hervorhebg. im Orig.). Mit „gute[n] Gründe[n]“ (Köppe/Kindt 2014, 239) ist hier gemeint, dass „der Text [zuvor][…] über die Konturen der fiktiven Welt getäuscht […]“ habe 19. Eine solche 19 Köppe und Kindt lassen, so wird hier deutlich, die Autorinstanz außen vor. 37 Täuschung könne einerseits durch ein Vorenthalten relevanter Informationen geschehen, anderseits durch „fiktional falsche Sätze“ (ebd., 240). Für den ersten Fall führen Köppe und Kindt das oben bereits erwähnte Beispiel Alibi (Agatha Christie 1926; s. Kap. 1.3.3) an, in dem der Erzähler zunächst relevante Informationen auslässt; erst am Erzählende gibt er jene Informationen preis und offenbart damit, dass er selbst der in der Erzählung gesuchte Mörder ist. Sämtliche Erzähleraussagen (und damit die gesamte Geschichte) müssen in Alibi retrospektiv reevaluiert werden. Die zweite Möglichkeit täuschende Unzuverlässigkeit zu generieren, sehen Köppe und Kindt in dem, was sie „fiktional falsche Sätze“ (Köppe/Kindt 2014, 240) nennen: Gemeint sind Erzähleraussagen, die den Leser „in die Irre führen“ (ebd.) sollen. Köppe und Kindt führen zwei Beispiele an (vgl. ebd.), die beide aus einer engen Wahrnehmungsbindung an einen Erzähler resultieren: Im ersten Fall (Ambrose Bierce: Ein Ereignis an der Owl-Creek-Brücke, 1891) wird eine Imagination so erzählt, als geschähen die Ereignisse tatsächlich. In der von Köppe und Kindt gewählten Situation geht es um die Hinrichtung eines Mannes, Peyton Farquhar; im Zitat wird seine Wahrnehmung der Situation geschildert. Die Erzähleraussage: „er wußte, daß das Seil gerissen […] war“ (Bierce 1890, 23f.; zit. nach Köppe/Kindt 2014, 237) bewerten Köppe und Kindt als fiktional falsch, da dieses Ereignis nur in der Imagination des Protagonisten stattfindet. Das Seil reißt in Wirklichkeit nicht, und „Farquhar weiß nicht, dass das Seil bricht, er imaginiert es nur“ (ebd., 240; Hervorhebg. im Orig.) Das zweite Beispiel (Ford Madox Ford: Die allertraurigste Geschichte, 1915) gestaltet sich ähnlich – in diesem Beispiel gesteht der Erzähler retrospektiv ein, dass frühere Aussagen seinerseits doch nicht der Wahrheit entsprächen: Aber wenn ich überblicke, was ich geschrieben habe, dann sehe ich, daß ich Sie unwillkürlich irregeführt habe, als ich sagte, ich hätte Florence nie aus den Augen gelassen. Doch hatte ich selbst diesen Eindruck bis eben jetzt. Wenn ich es mir aber überlege, war sie die längste Zeit für mich unsichtbar (Ford 1978, 92 zit. n Köppe/Kindt 2014, 240f.). Köppe und Kindt betonen, dass es Fälle gebe, in denen eine Entscheidung bezüglich des ontologischen Gehalts solcher Erzähleraussagen nicht eindeutig möglich sei. In solchen Fällen handele es sich um unentscheidbares (unzuverlässiges) Erzählen, das somit einen Teilbereich des täuschenden (unzuverlässigen) Erzählens darstellte. Eine zweite Form erzählerischer Unzuverlässigkeit bezeichnen Köppe und Kindt als offen unzuverlässig. Sie legen fest: 38 Ein Erzähltext ist genau dann offen unzuverlässig erzählt, wenn der Text in offensichtlicher Weise falsche Angaben über fiktive Tatsachen enthält (Köppe/Kindt 2014, 246; Hervorhebg. im Orig.). Beim offen unzuverlässigen Erzählen sei, so Köppe und Kindt, die Unzuverlässigkeit von Beginn an erkennbar; ein so erzählter Text beinhalte keine Täuschung des Lesers wie sie beim täuschenden Erzählen geschehe. Es gebe zwar ebenfalls Grund, am Wahrheitsgehalt des Erzählten zu zweifeln, dass dies der Fall sei, sei bei der offenen Unzuverlässigkeit aber durchweg klar. Als Beispiel für offenes unzuverlässiges Erzählen führen Köppe und Kindt unter anderem Günther Grass‘ Die Blechtrommel (1959) an, dessen Erzählerfigur Oskar Matzerath sich von Beginn an „offensichtlich in einem fragwürdigen geistigen Zustand [befindet], so dass wir von vorneherein damit rechnen müssen, dass ihrem Bericht nicht – oder jedenfalls nicht in vollem Umfang – zu trauen ist“ (Köppe/Kindt 2014, 246). Für eine dritte Form erzählerischer Unzuverlässigkeit, das axiologisch unzuverlässige Erzählen, knüpfen Köppe und Kindt an Booths ursprüngliche Definition sowie Ausführungen von Kindt (2008) an. Sie definieren: Der fiktive Erzähler eines fiktionalen Erzähltextes ist genau dann axiologisch unzuverlässig, wenn seine Wertauffassungen den durch den Text im ganzen [sic] ausgedrückten Wertauffassungen nicht entsprechen (Köppe/Kindt 2014, 252f.; Hervorhebg. im Orig.). Im Unterschied zum offenen bzw. täuschenden Erzählen sei bei der axiologischen Unzuverlässigkeit eine andere Bezugsgröße gegeben: Diskrepanzen fänden sich nicht zwischen der Beschreibung der fiktiven Welt und ihrer ‚tatsächlichen‘ Beschaffenheit, sondern zwischen Erzählerbericht und den „Normen des Werkes“ (Köppe/Kindt 2014, 251). Die bereits genannte Problematik, die Normen und Werte eines Werkes festzulegen, ist Köppe und Kindt dabei bewußt, sie umschiffen allerdings die Klippe des impliziten Autors geschickt, indem sie auf eine Begriffsbestimmung von Vermazen (1986) rekurrieren: Einem Vorschlag von Bruce Vermazen folgend, drückt ein Kunstwerk genau dann bestimmte Wertauffassungen aus, wenn sich einem vorgestellten Urheber die entsprechenden Auffassungen zuschreiben lassen. „Ausdruck“ wird hier verstanden als „Hinweis auf“: Das Kunstwerk lässt sich interpretieren als Hinweis auf bestimmte Wertauffassungen eines Urhebers. Da es sich nicht um die tatsächlichen Auffassungen des tatsächlichen Urhebers handeln muss […], kann man von einem „imaginierten“ oder „hypothetischen“ Urheber sprechen (Köppe/Kindt 2014, 252). Köppe und Kindt betonen, dass diese drei Formen unzuverlässigen Erzählens nicht das Spektrum ausfüllten, sie stellten vielmehr „drei prominente Möglichkeiten dar, denen andere zur Seite gestellt werden könn[t]en“ (Köppe/Kindt 2014, 253). 39 1.5 Erzählertypen Neben der Auseinandersetzung mit der Beschaffenheit der erzählerischen Unzuverlässigkeit wurde und wird sich immer wieder mit den unzuverlässigen Erzählerfiguren befasst, und wiederholt finden sich Ansätze, bestimmte unzuverlässige Erzählertypen festzulegen. In seinem Werk Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film deutet Seymour Chatman 1978 erstmals eine Unterscheidung verschiedener unzuverlässiger Erzählertypen an: The narrator's unreliability may stem from cupidity (Jason Compson), cretinism (Benjy), gullibility (Dowell-, the narrator of The Good Soldier), psychological and moral obtuseness (Marcher in "The Beast in the Jungle”), perplexity and lack of information (Marlow in Lord Jim), innocence (Huck Finn), or a whole host of other causes, including some “baffling mixture.” (Chatman 1978, 233) Der US-Amerikaner William Riggan unterscheidet 1981 vier verschiedene potentiell unzuverlässige Erzählertypen und ordnet bestimmten Figurencharakteristika jeweils bekannte literarische Vertreter zu. Seine Unterteilung in pícaro, madman, clown und naïf liefert stereotype Erzählertypen, die seither oftmals zitiert worden sind und trotz wiederaufkommender Kritik bis heute stets im Kontext erzählerischer Unzuverlässigkeit genannt werden. Mit dem Pikaro greift Riggan auf einen bekannten Figurentypus zurück, dessen unzuverlässiges Potential er anhand der Gattungsmerkmale des Pikaroromans20 erarbeitet. Riggan charakterisiert den pícaro als einen Antihelden von oft niederer Abstammung, dem ein soziales Stigma anhafte. Sein rebellisches Verhalten richte sich gegen die vorherrschende Dekadenz, seine Weltsicht sei resigniert und pessimistisch, im Laufe der Erzählung mache er zahlreiche Erfahrungen, treffe eine Vielzahl verschiedener Figuren, lerne, sich in der Welt zurechtzufinden und beherrsche meisterhaft, sich zu verstellen und zu verkleiden. Schlussendlich helfen ihm diese Talente aber nicht – am Ende werden seine (überhohen) Erwartungen enttäuscht, und aus dieser Position erzähle er rückblickend seine Geschichte (vgl. Riggan 1981, 41). Die Unzuverlässigkeit des pícaro begründet Riggan in eben dieser Erzählanlage: Einerseits werden die Geschichten aus erfolgreichen Tagen, in denen er andere Riggan verortet den pícaro in der literarischen Tradition der griechischen Abenteuererzählung, der römischen Komödie und Satire, der Totentanz-Motive, Schwänken, Erzählungen mit ‚animalischen Schurken‘, Erzählungen bekannter Schelme wie Till Eulenspiegel (vgl. Riggan 1981, 38). 20 40 an der Nase herumführte, beinahe genussvoll-schwärmerisch vorgetragen, andererseits sei der Erzähler von tiefer Bitterkeit oder gar Wut (vgl. Riggan 1981, 43) erfüllt, die den Rest der Erzählung überschatten und die rüpelhaft-fröhliche Maske des pícaro infrage stelle (vgl. Riggan 1981, 43). Diese unvereinbaren inneren Kräfte (vgl. Riggan 1981, 44) gelte es für den pícaro in Einklang zu bringen. Riggan führt in Einzelanalysen mehrere Beispiele unzuverlässiger Erzähler an, die in dieser Tradition zu verorten sind 21. Auf dieser Grundlage formuliert er verschiedene Merkmale, die die potentielle erzählerische Unzuverlässigkeit pikaresker Erzählerfiguren bewirkten: Erstens, so Riggan, sei der pícaro so überheblich, davon auszugehen, dass seine von Eigenlob strotzende Ich-Erzählung den Adressaten gefallen werde. Zweitens trage seine Anlage als nahezu charakterloser Meister der Inszenierung (vgl. Riggan 1981, 76f.) dazu bei, dass er selber Schwierigkeiten habe, die Wahrheit vom Schein zu unterscheiden (vgl. Riggan 1981, 77). Drittens komme es aufgrund psychischer Dispositionen wie Scham, Schuld, Minderwertigkeit, Rachsucht oder unbegründetem Optimismus (vgl. Riggan 1981, 77) zu einer Verzerrung der Sicht des Erzählers auf seine Darstellung. Viertens lasse sich in allen Texten ein impliziter Autor erkennen 22, und fünftens unterstütze die retrospektive Darstellung den dissonanten Charakter des lustvoll Erzählten und des unguten Ergebnisses, zu dem das Erzählte den Erzähler geführt habe23. Der clown ist weitestgehend als Variante des literarischen Motivs des weisen Narren zu verstehen, einem Figurentypus, der, wie es Elisabeth Frenzel zusammen- Apuleius‘ Lucius: Metamorphoseon libri XI (dt. Elf Bücher Metamorphosen); Anonymus: Lazarillo de Tormes (um 1552); Mateo Alemán: Guzmán de Alfarache(1599, 1604); Francisco de Quevedo: Historia de la vida del Buscón (1626, dt. Leben des Don Pablos, Landstörzers, Erzschelmen und Hauptvagabunden); Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch (1668); Daniel Defoe: (The Fortunes and Misfortunes of the Famous) Moll Flanders (1722); Saul Bellow: The Adventures of Augie March (1953), Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil (1922, 1923); [Reihenfolge der Werke wie bei Riggan]. 22 Riggan verfolgt einen rhetorischen Ansatz. 23 Auch Matthias Bauer (1994) weist in seiner Einführung Der Schelmenroman wiederholt auf das der Gattung immanente unzuverlässige Potential hin: 21 Wer einen Roman liest, läßt sich auf eine bestimmte Art und Weise der narrativen Welterzeugung ein; die Perspektive des Erzählers bestimmt die Sicht des Interpreten. Nun ist jedoch nicht jeder Erzähler gleichermaßen vertrauenswürdig. Gerade der Schelmen- oder Pikaroroman zeichnet sich dadurch aus, daß die verkehrte Welt der Gauner und Vertrauensschwindler, die in ihm zur Darstellung gelangt, von einer Figur beschrieben wird, die selbst im Verdacht steht, ein Gauner und Vertrauensschwindler zu sein (Bauer 1994, 1). Bauer betont die aus der spezifischen Erzählanlage resultierende typische „asymmetrische Brechung“ (Bauer 1994, 2) der erzählten Welt, in der es dem Rezipienten abverlangt werde, „dem Schelm auf die Schliche zu kommen“ (Bauer 1994, 2). Zur erzählerischen Unzuverlässigkeit im Pikaroroman vgl. weiterhin Jäger (2005). 41 fasst, „aus einer höheren Weisheit lebt und in seiner Einfalt erkennt, was kein Verstand der Verständigen sieht“ (Frenzel 1980, 550). Riggan verortet den clown (wie den pícaro) im antiken Griechenland: Die ersten Narren der griechischen Höfe verdienten ihren Unterhalt bereits allein durch ‚groteskes‘ Aussehen und absonderliches Verhalten. Im Laufe der Geschichte entwickelte sich die Figur des Narren hin zu einem Erzähler und Schauspieler, der in seinen komischen Botschaften durchaus Weisheiten transportiere. Wie auch bei den anderen Erzählertypen verfolgt Riggan die Entwicklung des clowns anhand bekannter Beispiele 24. Als charakteristische Merkmale des clowns nennt Riggan groteske und burleske Elemente, ein fantasievolles Chaos, die satirische Verdichtung der Welt zu exemplarischen Situationen und ein generelles und rücksichtsloses Auf-den-Arm-Nehmen von nahezu allem und jedem (vgl. Riggan 1981, 175ff.). Gerade diese Merkmale seien es auch, die die potentielle Unzuverlässigkeit dieser Erzählertypen unterstützten. Riggan selbst gesteht zu, dass der Figurentyp madman zwar ein weites Spektrum abdecke (vgl. Riggan 1981, 141), dabei aber weniger klar sei als pícaro oder clown (vgl. Riggan 1981, 177). Vor allem handele es sich bei madmen um solche Erzähler, die nicht Herren ihrer Sinne seien und die über eine gestörte Weltsicht verfügten (vgl. Riggan 1981, 178f.). Die Erzählung des madman spiegelte seine eigene ‚verdrehten‘ Wahrnehmungen wider („the feverish imaginings and distortions of his own psyche“; Riggan 1981, 142) und sie zeichnete sich in der Regel durch wirre Gedankengänge, Zwangshandlungen und/oder einen mitunter obsessiven Fokus auf (unwichtige) Details aus (vgl. Riggan 1981, 178). Weiterhin neigten madmen zur Isolation: Alienation, withdrawal, nonconformity, inability to cope with human contact or to handle human relationships, and absorption with personal whims and fancies are mirrored by a physical retreat into a small garret, an isolated house, a shabby cell, or a “mousehole” (Riggan 1981, 142). Desiderius Erasmus von Rotterdam: The Praise of Folly (1511), Laurence Sterne: The Life and Opinions of Tristam Shandy, Gentleman (1759-1767), Vladimir Nabokov: Lolita (1955), Günther Grass: Die Blechtrommel (1959). [Reihenfolge der Werke wie bei Riggan]. 24 42 Ihre Erzählung sei oft in Form von Monologen, Tagebucheinträgen, Textfragmenten oder vagen Erinnerungen gestaltet (vgl. Riggan 1981, 178)25. Den Erzählertypus des naïf macht Riggan hauptsächlich an zwei literarischen Vertretern fest: Huckleberry Finn (Mark Twain: Adventures of Huckleberry Finn, 1884/1885) einerseits und Holden Caulfield (J.D. Salinger: The Catcher in the Rye, 1951) andererseits. Zwar verweist Riggan auf weitere naiv erzählte Werke, schließt diese jedoch entweder aufgrund einer fehlenden Ich-Perspektivierung 26 oder einer (zu) großen zeitlichen Distanz von Erlebendem und Erzählendem Ich aus27. Gerade diese Besonderheit in der zeitlichen Konstruktion hebt Riggan hervor: Bei Adventures of Huckleberry Finn, so Riggan, liege der Erzählzeitpunkt nur kurz nach den Geschehnissen, weswegen kaum ein Unterschied zwischen erlebendem und erzählendem Ich erkennbar sei. Die naive Unzuverlässigkeit ist damit in Riggans Sinne als eine unmittelbare zu verstehen, als eine, die im Unterschied zur pikaresken Erzählung keine weite Rückschau zulässt. Anders als es beim Figurentyp des pícaro der Fall sei, entspringe Huckleberry Finns Unzuverlässigkeit nicht einer Praxis des Lügens – Twains Erzähler fiele sogar als ein sehr schlechter Lügner auf. Vielmehr resultiere seine Unzuverlässigkeit aus einer naiven Einschränkung, einer Unfähigkeit, die ihn umgebende Welt und die darin stattfindenden Geschehnisse zu verstehen und einzuordnen: Not only does Huck, in his naïveté, fail to perceive the humor, the social satire, the many literary allusions, the interconnections, and the serious moral dilemmas contained in his narrative […]; he also fails to view his own crisis of conscience correctly (Riggan 1981, 156). Riggan erarbeitet diese Typenmerkmale anhand folgender Werke: John Fowles: The Collector (1963), Nikolaj Vasil'evič Gogol': Zapiski sumašedšego (1835; dt. Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen), Fëdor Michailovič Dostoevskij: Zapiski iz podpol'ja (1864; dt. Aufzeichnungen aus dem Kellerloch), Ken Kesey: One Flew Over the Cuckoo’s Nest (1962), James Baldwin: Go Tell It on the Mountain (1953), Ralph Ellison: Invisible Man (1952), Philip Roth: Portnoy’s Complaint (1969), William Faulkner: The Sound and the Fury (1929), Edgar Allan Poe: The Tell-Tale Heart (1843), Edgar Allan Poe: The Black Cat (1843); Henry James: The Turn of the Screw (1898), Abelardo Arias: El gran Cobarde (1975), Philippe d’André: La Momie (1974), José Donoso: El obsceno pájaro de la noche (1970), Thomas Tryon: The Other (1971), Marlene Stenten: Baby (1974), Jean-Paul Sartre: La Nausée (1938), Albert Camus: L'Étranger (1942), Fëdor Michailovič Dostoevskij: Besy (1873; dt. Die Dämonen), Albert Camus: La Chute (1956), Sadegh Hedayat: Būf-e Kūr (1936, dt. Die blinde Eule) [Reihenfolge der Werke wie bei Riggan]. 26 Voltaire: Candide ou l’optimisme (1759), Lewis Carroll: Alice’s Adventures in Wonderland (1865), Antoine de Saint-Exupéry: Le Petit Prince (1943), Robert Louis Stevenson: Treasure Island (1881-1882). [Reihenfolge der Werke wie bei Riggan]. 27 Lev Nikolaevič Tolstoj: Detstvo (1852, dt: Kindheit), Otročestvo (1854; dt: Knabenalter) Junost' (1857; dt: Jünglingsjahre), Maksim Gor'kij: Detstvo (1913-1914; dt. Meine Kindheit), Fëdor Michailovič Dostoevskij: Netočka Nezvanova (1849), Jerzy Kosiński: The Painted Bird (1965), Harper Lee: To Kill a Mockingbird (1960). [Reihenfolge der Werke wie bei Riggan]. 25 43 Huckleberry Finn, so argumentiert Riggan, zeichne sich als grundsätzlich positiv konzipierte Figur aus: „By near-universal critical assessment, Huck is a positive figure, through and through“ (Riggan 1981, 155). Huckleberry fühlt sich schuldig, das Falsche getan zu haben, als er dem Sklaven Jim bei dessen Flucht geholfen hat. Huckleberrys Unzuverlässigkeit ist damit ein kritisches Moment enthalten; Riggan formuliert diesbezüglich: „what Huck labels the ‚wrong‘ path is actually and unequivocally the more praiseworthy moral and human alternative involved in this dilemma” (Riggan 1981, 145). Huckleberrys Schuldgefühl resultiert aus den ihn umgebenden vorherrschenden kulturellen Gegebenheiten, insbesondere in den ‚Lehren‘ der für seine Erziehung verantwortlichen Witwe, die in klarem Kontrast zu Huckleberrys Handlungen stehen. Konterkariert wird dieses gesellschaftliche Bild insbesondere durch eine durchweg positive Figurenzeichnung Jims. Zwischen den Zeilen wird so in Adventures of Huckleberry Finn mittels der Unzuverlässigkeit des Erzählers eine Kritik an jenen zeitgenössischen Ungerechtigkeiten transportiert, für die die Witwe Repräsentantin ist; Huckleberry befindet sich in einem Dilemma zwischen seiner Freundschaft zu Jim und dem allgegenwärtigen Rassismus, und er kommt in seiner Erzählung oftmals zu ‚falschen‘ Schlüssen. Der zweite von Riggan gewählte Vertreter naiver Erzählweisen ist Holden Caulfield, Protagonist in J.D. Salingers: The Catcher in the Rye (1951). Riggan nennt zwar klare Unterschiede zwischen Huckleberry und Holden (z.B. die im Unterschied zum gutmütigen Huckleberry sehr zynische Art Holdens oder auch dessen deutlich höhere Subjektivtät), bezüglich ihrer erzählerischen Unzuverlässigkeit kommt Riggan aber zu ähnlichen Ergebnissen: His story [d.i. Holden Caulfields, N.W.], like Hucks’s, harbors distinct and often damning criticism of the society through which he moves; but he himself emerges as a sort of moral yardstick against which that society is measured and found considerably wanting (Riggan 1981, 168). Riggan leitet aus diesen beiden Erzählern den Figurentypus des naïf ab: einen unerfahrenen und naiven Erzähler, der das Ausmaß seiner eigenen Erzählung nicht verstehe (vgl. Riggan 1981, 179). Der naïf verfüge über ein ‚reines Herz‘ (vgl. Riggan 1981, 169), aufgrund seiner mangelnden Erfahrung sei er für eine Auseinandersetzung mit den sich ihm stellenden moralischen, ethischen, emotionalen und intellektuellen Herausforderungen nicht gewappnet (vgl. Riggan 1981, 169). Anders als es bei pícaro oder madman der Fall sei, sei der naïf zudem nicht Produkt oder Teil der ihn umgebenden Welt, woraus sich wiederum ein gesellschaftskritisches Potential dieses Figurentypus ergebe: 44 The naïf, on the other hand, does not carry the stigma of the society which his account calls into question, for he views and encounters that society essentially unmarked by its taints, bringing with him only the „wonder“ of adolescence or the incomprehension of simple naïveté (Riggan 1981, 170). Stilistisch einfach, dafür sprachlich einfallsreich sei dessen Erzählweise linear; Kommentare wirkten spontan und assoziativ (vgl. Riggan 1981, 179). Trotz der unbestreitbaren Relevanz der beiden von Riggan zugrunde gelegten Werke, muss angemerkt werden, dass gerade in den letzten beiden Jahrzehnten viele unzuverlässig erzählte Werke in der Kinder- und Jugendliteratur erschienen sind. Aus heutiger Sicht ergibt sich damit ein Desiderat, Riggans Ausführungen bezüglich dieser Texte zu überprüfen. Im Hinblick auf die hohe Bedeutung gerade dieses Erzählertypus für die vorliegende Arbeit soll hier auf das zweite Kapitel verwiesen werden, in dem sich mit naivem Erzählen im Kontext unzuverlässigen Erzählens in der Kinder- und Jugendliteratur auseinandergesetzt wird. Weiterer Kritikpunkte bezüglich der Erzählertypen nach Riggan müssen genannt werden, diese sind vor allem die zahlreichen Überschneidungen der verschiedenen Kategorien sowie das Außenvorlassen romantischer unzuverlässiger Erzähler. An vielen Stellen finden sich Grauzonen und Schnittmengen der verschiedenen Erzählertypen. Gerade die Grenzen zwischen pícaro und clown, oder auch zwischen madman und naïf sind nicht immer deutlich, prinzipiell können aber Überschneidungen aller Typen ausgemacht werden. Dies liegt auch an der Entwicklung der unterschiedlichen Gattungen, auf die Riggan rekurriert, als Beispiel kann die Nähe von Narrenliteratur und Schelmenroman herangezogen werden. Der Kritikpunkt, dass mit dem romantischen unzuverlässigen Erzähler bei Riggan ein wichtiger unzuverlässiger Erzählertyp unberücksichtigt bliebe, kann wissenschaftshistorisch gerechfertigt werden: Riggan stellt klar identifizierbare Ich-Erzählinstanzen deutlich in den Fokus; dies entspricht der Tatsache, dass lange kontrovers diskutiert worden ist, ob heterodiegetische Erzähler überhaupt unzuverlässig erzählen könnten. In der Regel betrifft unzuverlässiges Erzählen homodiegetische oder autodiegetische Erzählinstanzen, die ihre Version der Geschichte schildern. Ob, und falls ja inwiefern unzuverlässiges Erzählen auch bei (heterodiegetischen) Reflektorfiguren vorkommen kann, wurde in der Vergangenheit unterschiedlich bewertet. So setzt Booth (1961) in seinen Ausführungen über „inside views“ (Booth 1961, 163f.) Erzähler- und Reflektorfiguren bezüglich potentieller Unzuverlässigkeit weitestgehend gleich (vgl. Booth 1961, 164), und Reflektorfiguren könnten in diesem Verständnis gleichermaßen unzuverlässig auftreten. Franz Stanzel (1982) widerspricht diesem Befund; Jahn paraphrasiert: „Nur Erzähler, so hebt Stanzel 45 hervor, können erzählerisch unverläßlich sein“ (Jahn 1998, 93). 1990 unternimmt Seymour Chatman eine getrennte Betrachtung von Erzähler- und Reflektorfiguren bezüglich ihrer potentiellen Unzuverlässigkeit (letztere nennt Chatman filter characters; vgl. Chatman 1990, 143ff.). Die Verantwortung für die Erzählung, so Chatman, obliege auch im Falle der filter characters weiterhin der Erzählinstanz. Chatman beschränkt daher den Terminus unreliable narration auf unzuverlässige Erzählinstanzen; für ‚unzuverlässige‘ Reflektorfiguren schlägt Chatman den Begriff fallible filtration vor (vgl. Chatman 1990, 149). Diese Terminologie setzte sich allerdings nicht durch, und inzwischen geht man indes davon aus, dass heterodiegetische Erzählinstanzen durchaus unzuverlässig auftreten können, dies aber lediglich in Ausnahmefällen der Fall sei (vgl. Martínez-Bonati 1981, Jahn 1998 sowie Fludernik 2005). Zu diskutieren bleibt der generelle Nutzen solcher Einteilungen in Erzählertypen. Bruno Zerweck (2001) stellt diesen deutlich infrage. Er kritisiert: Riggan does not systematically approach the difficult interplay between textual features and readerly expectations and therefore adds little to a fully-fledged theory of unreliable narration (Zerweck 2001, 152). Auch Ansgar Nünning hält Erzählertypen nicht für ein geeignetes Analyseinstrument. Er schränkt jedoch ein: „These typological distinctions can best be understood as a way of relating texts to accepted cultural models or to literary conventions” (Nünning 2005, 95). In dieser Aussage lässt sich allerdings doch ein solchen Nutzen jener Einteilungen ausmachen – ausgehend von Nünnings Annahme, dass bei der Naturalisierung erzählerischer Unzuverlässigkeit textuelle Signale kontextuell eingeordnet werden, können Hinweise auf bestimmte Erzählertypen entsprechend gelesen werden. Sie können als solche literarischen Konventionen gewertet werden; bei der Diagnose erzählerischer Unzuverlässigkeit spielen sie damit doch eine Rolle. Inszeniert sich ein Erzähler beispielsweise erkennbar in pikaresker Manier oder stellt sich in eine anderweitig potentiell ‚unzuverlässige‘ Tradition, kann ein erfahrener Leser kontextuell eine zu erwartende erzählerische Unzuverlässigkeit davon ableiten. Als Beispiel sei hier Forrest Gump angeführt. Der Ich-Erzähler Forrest charakterisiert sich zu Erzählbeginn selbst als Narr: „I been a idiot since I was born“ (Groom 1995, 9). Etwas später führt Forrest fort: Now I know something bout idiots. Probly the only thing I do know bout, but I done read up on em – all the way from that Doy-chee-eveskie guy’s idiot, to King Lear’s fool, an Faulkner’s idiot, Benjie, an even ole Boo Radley in To Kill a Mockingbird – now he was a serious idiot. The one I like best is ole Lennie in Of Mice an Men. Mos of them writer fellers got it straight – cause their idiots always seem smarter than people give em credit for. Hell I’d agree with that. Any idiot would. Hee hee (Groom 1995, 10, Hervorhebg. im Orig.). 46 Diese Galerie literarischer ‚Leidensgenossen‘ kann bei Kenntnis der zitierten Texte als zwar versteckter, aber dennoch deutlicher Hinweis auf eine zu erwartende erzählerische Unzuverlässigkeit in Forrest Gump gelesen werden. Gaby Allrath hebt eine solche Möglichkeit der „Signalisierung von unreliable narration durch intertextuelle Einzeltext- und Systemreferenzen“ (Allrath 1998, 77; Hervorhebg. im Orig.) hervor. Sie verweist besonders auf solche Gattungen, in denen „die Unzuverlässigkeit der Erzählung ein häufiges Merkmal ist“ (Allrath 1998, 77). 1.6 Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit Nur wenige Quellen befassen sich ausschließlich oder schwerpunktmäßig mit den Funktionen unzuverlässiger Erzählweisen. Booth (1961) geht nur kurz auf das Funktionspotential unzuverlässigen Erzählens ein; er schlägt unzuverlässiges Erzählen als ein narratives Mittel zur Erzeugung von Verwirrung vor: If an author wants intense sympathy for characters who do not have strong virtues to recommend them, then the psychic vividness of prolonged and deep inside views will help him. If an author wants to earn the reader’s confusion, then unreliable narration may help him (Booth 1961, 377f.; Hervorhebg. im Orig.). Kathleen Wall (1994) hingegen sieht den Zweck unzuverlässiger Erzählweisen in einer Charakterisierung der Erzählerpsyche: […] if his or her psychology is to be of any interest to us - and the purpose, it seems to me, of unreliable narration is to foreground certain elements of the narrator’s psychology – he or she cannot merely be the writer’s pawn but must reflect some reasonable model of human fallibility (Wall 1994, 21; vgl. ähnlich auch Allrath 1998, 62). Knapp weisen Silke Lahn und Christoph Meister (2008) auf zwei grundlegende Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit hin: Einerseits könne erzählerische Unzuverlässigkeit durch eine grundsätzlich aufklärerische Absicht begründet sein, deren Intention es sei, den Leser zu einer kritischen Lektüre anzuregen. Andererseits könne die Motivation darin liegen, eine grundlegende (gesellschaftliche) Unsicherheit darzustellen. Dies sei, so Lahn und Meister (vgl. Lahn und Meister 2008, 186), besonders in Texten der Moderne der Fall. Eine derartige Dichotomie in Leseraktivierung einerseits und Darstellung gesellschaftlicher Unsicherheit andererseits wird dem Spektrum allerdings nicht gerecht (s. Kap.1.6.1). In ihrer Einleitung zu ihrer Schrift Narrative Unreliability in the Twentieth-Century First-Person Novel (D’Hoker und Martins 2008) nennen die beiden Herausgeber vier Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit28: Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass eine Systematik der Funktionen nicht die Intention der Verfasser ist. 28 47 The individual contributions to this book explore the historicity of unreliability as a narrative technique by focussing on the changes in reader reception of certain texts, on the shifting evaluation of specific conventions as either reliable or unreliable, and on the different functions of unreliability: as a vehicle for satire, psychological analysis, ethical questioning, or a sceptical world view (D’Hoker und Martins 2008, 01). Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Funktionen unzuverlässigen Erzählens liefert erstmals der Gießener Literaturwissenschaftler Ronny Bläß mit seinem Beitrag „Satire, Sympathie und Skeptizismus. Funktionen unzuverlässigen Erzählens“ (2005). Bläß geht von einer „großen Bandbreite des Funktionspotentials“ (Bläß 2005, 189) unzuverlässiger Erzählweisen aus und bemüht sich um eine ausführliche Systematik. Zunächst geht Bläß auf drei potentielle Funktionen unzuverlässigen Erzählens ein: Satire, Sympathielenkung und epistemologischen Skeptizismus. Nicht immer ist dabei jedoch klar, was Bläß unter dem Begriff der Satire versteht: Manchmal benutzt er den Begriff zur Benennung einer bestimmten Schreibweise, dann wieder für die Kennzeichnung der entsprechenden Gattung. Die durchaus nicht gleichbedeutenden Begriffe Skeptizismus und Skepsis verwendet Bläß hingegen synonym. Einen interessanten Ansatz findet man aber in einer Systematik, die Bläß im Anschluss liefert. In einer Tabelle unterscheidet er drei „Funktionen von literarischer Unzuverlässigkeit [sic]“ (Bläß 2005, 198): autoreferenzielle, heteroreferenzielle und affektive Funktionen. Abbildung 2: Funktionen literarischer Unzuverlässigkeit nach Bläß (Bläß 2005, 198) Zunächst führt Bläß jene Funktionen weiter aus, die er als autoreferenziell bezeichnet, d.h. solche, die im Bezug zum Text stehen. Durch die bereits erwähnte Aktivierung kritischer Rezeptionsprozesse rücke in unzuverlässig erzählten Texten in unterschiedlicher Weise die Erzählinstanz bzw. das Erzählte in den Vordergrund. Bläß hebt hervor: 48 Charakteristisch sind etwa Erzähler, deren Unzuverlässigkeit dazu dient, ihren Wahnsinn zu entlarven, oder auch Erzähler, deren naive, weil beispielsweise kindliche, Perspektive durch ihre unzuverlässige Erzählweise unterstrichen wird (Bläß 2005, 199). Neben der „Betonung der Erzählerfigur“ (Bläß 2005, 198), der „Betonung der Diskursebene und des Erzählten“ (ebd.), der Charakterisierung der Erzählerfigur“ (ebd.) ordnet Bläß noch die „[ä]sthetischen Funktionen durch Komplexität und Variation der ironischen Distanz“ (ebd.) den autoreferentiellen Funktionen unzuverlässigen Erzählens zu. Heteroreferenzielle Funktionen hingegen, so Bläß, finden ihren Bezug im Kontext. Die zuvor ausführlich von ihm besprochene „Verarbeitung von Erkenntnisskepsis“ (Bläß 2005, 200) verortet Bläß an dieser Stelle. Leider fallen Bläß‘ Ausführungen an dieser Stelle sehr kurz aus; in einem Schaubild (s. Abb. 2) führt er weiterhin „literarische Inszenierung von außerliterarischen Diskursen“ (Bläß 2005, 198) sowie „Thematisierung von Subjektivität“ (ebd.) als heteroreferenzielle Funktionen auf. Warum letzteres den hetero- und nicht den autoreferenziellen Funktionen zugehören sollte, erklärt Bläß nicht. Als dritte Gruppe nennt Bläß noch affektive Funktionen unzuverlässigen Erzählens (vgl. Bläß 2005, 200), d.h. solche, die „emotionale Reaktionen beim Rezipienten hervorrufen können“ (ebd.). Bläß identifiziert hier eine komische Funktion unzuverlässigen Erzählens, nennt aber auch „Überraschung“ (Bläß 2005, 198) und „Schock“ (ebd.). Das von Martínez so benannte Phänomen der „rückwirkenden Überraschung“ (Bläß 2005, 201) hebt er besonders hervor: Durch Auflösung der erzählerischen Unzuverlässigkeit am Ende der Geschichte werde eine völlig neue Interpretation des zuvor Gelesenen provoziert (vgl. ebd.). Bläß‘ Einteilung reicht zwar deutlich weiter als die zuvor genannten Systematisierungsversuche, bleibt jedoch stellenweise unklar. Dies drückt sich einerseits in einer begrifflichen Unschärfe aus, auf die bereits hingewiesen worden ist, andererseits darin, dass nicht immer nachzuvollziehen ist, warum bestimmte Funktionen entsprechend eingeordnet worden sind. Ebenfalls erklärt Bläß nicht, warum er die Funktion „Darstellung von Satire“ (Bläß 2005, 198) sowohl den heteroreferenziellen als auch den affektiven Funktionen zuordnet. Andere Funktionen, darunter die von ihm selbst aufgeführte komische Funktion, finden sich nicht in der Tabelle wieder. Tilmann Köppe und Tom Kindt weisen in ihrem Werk Erzähltheorie. Eine Einführung (2014) ebenfalls kurz auf verschiedene potentielle Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit hin und nennen das Irreführen der Leser, das reflexive Hervorheben des Leseaktes als „Bewusstmachung der Fiktionalität eines Textes“ 49 (Köppe/Kindt 2014, 254). Sie betonen dabei aber, dass sich die spezifischen Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit „wie dies bei allen narrativen Darstellungsstrategien der Fall ist, erst im Kontext eines konkreten Erzähltextes“ (Köppe/Kindt 2014, 254) ergeben. Für die vorliegende Arbeit von Interesse sind weiterhin die Ausführungen von Sonja Klimek (2017) aus ihrem Beitrag in der kids & media. Zeitschrift für Kinderund Jugendmedienforschung (2/17), die sich mit unzuverlässigen Erzählverfahren in der Kinder- und Jugendliteratur befasst (s. Kap. 2.1.3). Klimek verweist in ihren Ausführungen auf drei potentielle Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit in der Kinder- und Jugendliteratur: Zunächst hebt sie die Charakterisierung der Erzählerfigur via unzuverlässiger Erzählverfahren hervor: Unzuverlässiges Erzählen, so Klimek, könne in kinderliterarischen Werken in besonderem Maße dazu dienen, auf einen normabweichenden kognitiven Zustand der Erzählinstanz hinweisen. Klimek rekurriert bei ihren Ausführungen vor allem auf Andreas Steinhöfels bekannten Kinderroman Rico, Oscar und die Tieferschatten (2008) um den ‚tiefbegabten‘ Ich-Erzähler Rico, aber auch auf den Jugendroman The Curious Incident of the Dog in the Night-Time (2003) von Mark Haddon, und sie leitet ein externes Wirkungspotential erzählerischer Unzuverlässigkeit ab: Mimetisch unzuverlässiges Erzählen kann in Texten für Kinder der deutsche Mittel- bzw. schweizerischen Oberstufe (ca. 5. bis 9. Klasse) […] auch die Funktion haben, die Innensicht eines besonderen, geistig eingeschränkten oder inselbegabten Kindes zu vermitteln und insofern Verständnis und gelingende Inklusion zu befördern (Klimek 2017, 36). Anhand von John Boynes Jugendroman The Boy in The Striped Pyjamas (2006), verweist Klimek zudem auf eine „externe, ethische Funktion“ (Klimek 2017, 39) unzuverlässigen Erzählens. Klimek argumentiert, dass in Boynes Werk durch die Diskrepanz zwischen der (übertriebenen) Naivität des Protagonisten Bruno 29 und der ihn umgebenden grausamen Realität der erzählten Welt „gerade die Aufmerksamkeit auf die Schrecken des Massenmordes an Juden im Dritten Reich“ (Klimek 2017, 16f.) gelenkt würde (vgl. auch Klimek 2017, 39). Schließlich formuliert Klimek die These, dass die Naturalisierung textueller Diskrepanzen als Hinweise auf vorliegende erzählerische Unzuverlässigkeit abhängig sei von der Reife der Rezipienten. Leser eines selben Texts könnten daher mit unter- 29 Bruno ist zugleich auch die Reflektorfigur. 50 schiedlichem Alter und Entwicklungsstand zu durchaus unterschiedlichen Deutungsweisen kommen: Dabei haben gerade doppelt adressierte Kinderbücher oft auch das Wirkunspotential, von verschiedenen RezipientInnengruppen als unzuverlässig oder zuverlässig erzählt interpretiert zu werden. In realistischer KJL können mit unzuverlässigem Erzählen schwierige Themen und solche, die den Erfahrungshorizont der RezipientInnen (wie wohl auch der AutorInnen) sprengen und deren Erleben sich insofern nur schwierig vermitteln lässt, dargestellt oder zumindest imaginiert werden, wie z.B. die Erfahrung der Shoah oder das Leben mit einer geistigen Einschränkung. Auch zum Vermitteln der Erkenntnis der grundsätzlichen Begrenztheit der eigenen Perspektive in der Adoleszenzliteratur kann unzuverlässiges Erzählen eingesetzt werden (Klimek 2017, 41). Auf diese Überlegungen sowie ihre Bedeutung für die vorliegende Untersuchung wird an späterer Stelle erneut eingegangen (s. Kap. 2.2.2). 1.6.1 Interne und externe literarische Funktionen Mit dem Anliegen, eine eigene Systematik zu entwickeln, ist es in einem ersten Schritt sinnvoll, die verschiedenen potentiellen Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit zu inventarisieren. Zum einen sind hier die bereits genannten Ausführungen von Booth, Lahn/Meister, D’Hoker und Martins sowie Bläß ergiebig, zum anderen sind aber auch zahlreiche weitere Einzelanalysen relevant, die sich dem Thema unter verschiedenen Gesichtspunkten nähern. Oftmals lassen sich Aspekte zu potentiellen Funktionen aus Texten extrahieren, deren originäre Intention eigentlich eine andere ist, und die sich daher nur am Rande mit den Funktionen auseinandersetzen. Besonders zwei Werke müssen hier genannt werden: Ansgar Nünnings bereits mehrfach erwähnten Sammelband Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur (20132) sowie Fabienne Liptay und Yvonne Wolfs Werk Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film (2005). Beide Werke liefern eine ganze Reihe von Beiträgen, die in unterschiedlicher Schwerpunktsetzung immer wieder auch Aspekte der Funktionen unzuverlässiger Erzählweisen benennen. Insgesamt werden in den genannten Quellen zahlreiche potentielle Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit angeführt, darunter die Gestaltung der erzählten Welt (vgl. z.B. Sims 2013, 127), die Charakterisierung der Erzählerfigur (vgl. z.B. Gymnich 2013, 155), der Spannungsaufbau (vgl. Pobloth 2013, 143), die Illusionsbildung bzw. -brechung (vgl. Kiefer 2005, 76), eine komische Funktion (vgl. Bläß 2005, 201), eine didaktische Funktion (vgl. Sommer 2013, 224), eine ästhetische Funktion (vgl. Kiefer 2005, 75), die Abbildung gesellschaftlicher Phänomene (z.B. epistemologischer Verunsicherung; vgl. z.B. Gymnich 2013, 51 155), die Kritik gesellschaftlicher Phänomene (auch als Parodie; vgl. z.B. Blumenthal 2013, 203 oder Sommer 2013, 216), die Sympathielenkung (vgl. Bläß 2005, 194f.), die kognitive Aktivierung des Lesers (vgl. z.B. Pobloth 2013, 145) oder das Generieren von Zweifeln beim Leser (vgl. z.B. Pobloth 2013, 145). Bei dieser Auflistung fällt auf, dass für einige der dort genannten Funktionen in mehr oder minderem Maße auch der Einbezug der Rezipientenseite erforderlich ist. Kann man zum Beispiel das Generieren fiktionaler Realitäten oder den Spannungsaufbau durchaus ohne Berücksichtigung potentieller Leserreaktionen untersuchen, ist dies bei anderen der genannten Funktionen nicht gegeben: Wiederholt wird beispielsweise in den unterschiedlichen erwähnten Analysen auf ein leseraktivierendes Potential unzuverlässigen Erzählens hingewiesen, auch das Generieren von Zweifeln beim Leser, die kognitive Aktivierung sowie die von Bläß formulierte Sympathielenkung hat direkt mit den realen Wirkungen bei realen Rezipienten zu tun. Konsequenterweise erforderte die Untersuchung solcher Funktionen empirische Methoden, müssten hier doch reale Leseraffekte gemessen werden. Aus dieser Tatsache resultiert die Relevanz der kommunikativen Abgrenzung der Funktionen in dieser Arbeit, die eine rein literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit erzählerischer Unzuverlässigkeit sucht. Entsprechend werden bei der anstehenden Untersuchung diejenigen Funktionen nicht berücksichtigt, die einer empirischen Auseinandersetzung bedürften. Im Folgenden schlage ich daher eine grundlegende Unterscheidung in literarische Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit einerseits und pragmatische Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit andererseits vor. Innerhalb der literarischen Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit erweist sich eine naheliegende, da einfache Unterscheidung interner und externer literarischer Funktionen, wie sie Fricke (1997) vornimmt, praktikabel: Einem Textelement komme eine interne Funktion zu, wenn durch seine Verwendung „innerhalb des betreffenden Textes eine signifikante Beziehung […] hergestellt wird“ (Fricke 1997, 643), eine externe Funktion, wenn „nur durch dessen Besonderheit eine signifikante Beziehung zu einem außerhalb dieses Textes liegenden Sachverhalt hergestellt wird“ (Fricke 1997, 643)30. Fricke bezieht sich in dieser Unterscheidung auf Bei der Beschreibung unzuverlässiger Erzählweisen werden die Begriffe Intention (bzw. Absicht)‚ Motivation sowie Wirkung (bzw. Effekt) gelegentlich nahezu synonym verwendet (vgl. z.B. Lahn/Meister 2008, 186). Anders als dem Funktionsbegriff ist diesen Begriffen jedoch ein konkretes reales Moment inne; so ist die Intention als eine konkrete Absicht eines realen Autors zu verstehen; seine Motivation als seine Gründe, die ihn zur 30 52 Textelemente – im Folgenden soll diese Unterscheidung auch um Erzählweisen erweitert werden und damit auch für das Phänomen des unzuverlässigen Erzählens Geltung haben. Die von Bläß vorgeschlagenen Kategorien autoreferenzieller und heteroreferenzieller Funktionen lassen sich eins zu eins als implizite bzw. explizite Funktionen im Sinne Frickes verstehen. Dabei können nun auch alle oben identifizierten Funktionen eingeordnet werden, und so lassen sich als interne literarische Funktionen unzuverlässigen Erzählens benennen: die Gestaltung der erzählten Welt, die Charakterisierung der Erzählerfigur, Spanungsaufbau, eine intern-metafiktionale Funktion (Illusionsbildung bzw. -brechung sowie die Hervorhebung des ‚Gemachten‘), eine komische Funktion, eine ästhetische Funktion sowie die Variation des Modus. Demgegenüber stehen die externen literarischen Funktionen: Abbildung gesellschaftlicher Phänomene (z.B. epistemologische Verunsicherung), Kritik gesellschaftlicher Phänomene (auch als Parodie) sowie eine extern-metafiktionale Funktion (Inszenierung literarischer Diskurse). Die metafiktionale Funktion unzuverlässigen Erzählens kann damit sowohl auf interner als auch auf externer Ebene wirksam werden: Wird durch die Verwendung der unzuverlässigen Erzählweise beispielsweise das Gemachte der Geschichte hervorgehoben, kommt der Erzählweise eine intern-metafiktionale Funktion zu. Werden hingegen außerliterarische Diskurse inszeniert (vgl. Bläß 2005, 198), manifestiert sich eine extern-metafiktionale Funktion. Die literarischen Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit lassen sich wie folgt darstellen: Auswahl dieses Textelements bewogen haben. Die Begriffe Wirkung und Effekt wiederum bezeichnen konkrete reaktive (psychische) Prozesse realer Leser. Sie sollen in dieser Arbeit nicht berücksichtigt werden. 53 Tabelle 5: Literarische Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit Literarische Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit Wirkungsort: Text (histoire und discours) Interne Funktionen Externe Funktionen (Durch die Verwendung unzuverlässiger Erzählweisen werden signifikante Beziehungen innerhalb des Textes hergestellt.) (Durch die Verwendung unzuverlässiger Erzählweisen werden signifikante Beziehungen zu außerhalb des Textes liegenden Sachverhalten hergestellt.) • Gestaltung der erzählten Welt • Abbildung gesellschaftlicher Phänomene (z.B. epistemologischer Verunsicherung) • Charakterisierung der Erzählerfigur • Kritik gesellschaftlicher Phänomene (auch als Parodie) • Spannungsaufbau • • • • Illusionsbildung bzw. –brechung, Hervorhebung des ‚Gemachten‘ (interne metafiktionale Funktion) Komische Funktion Inszenierung literarischer Diskurse (externe metafiktionale Funktion) Darstellen ‚schwieriger‘ Themen in der kinder- und jugendliterarischen Werken (vgl. Klimek 2017, 41) … • Variation des Modus • Ästhetische Funktion • … • 1.6.2. Pragmatische Funktionen Da die pragmatischen Funktionen aus den genannten Gründen in den anstehenden Analysen keine Rolle spielen werden, sollen sie im Folgenden nur kurz genannt werden. Anders als es bei den literarischen Funktionen der Fall ist, kann bei den pragmatischen Fällen nicht nach intern oder extern unterschieden werden; vielmehr bietet sich eine Unterscheidung in affektive sowie appellative Funktionen an. Der Einteilung in affektive Funktionen liegt die Annahme zugrunde, dass unzuverlässigen Erzählverfahren das Potential enthalten ist, eine Bandbreite emotionaler Reaktionen beim Leser im Hinblick auf den Erzähler und/oder auf das Erzählte hervorzurufen. Eine appellative Funktion kommt unzuverlässigen Erzählweisen in solchen Fällen zu, in denen die Lektüre des unzuverlässig erzählten Texts eine Einstellungs- oder Verhaltensänderung des Rezipienten bewirken soll (vgl. z.B. Sommer 2013, 224). Pragmatische Funktionen lassen sich wie folgt darstellen: 54 Tabelle 6: Mögliche pragmatische Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit Pragmatische Funktionen Wirkungsort: Rezipient Annahme: Leseraktivierendes Potenzial unzuverlässigen Erzählens Affektive Funktionen Annahme: Unzuverlässige Erzählweisen können eine ganze Palette subjektiver emotionaler Reaktionen beim Rezipienten evozieren. • • • • Generieren von Affekten in Bezug auf den Erzähler: Sympathie, Antipathie, Misstrauen, Mitleid, … Generieren von Affekten in Bezug auf die Erzählung: Spannung, Neugierde, Verwirrung, Schock, Überraschung, Lesefreude, Ablehnung, Langeweile, … Bei kinderliterarischen Erzählern: Unterhaltung des vorlesenden Erwachsenen Appellative/didaktische Funktionen Annahme: Unzuverlässige Erzählweisen haben das Potential, Einsichten bzw. Verhaltensänderungen beim Rezipienten zu bewirken. • … … Zwischen literarischen und pragmatischen Funktionen lassen sich jedoch Zusammenhänge benennen; stellvertretend sei auf die Beziehung zwischen der literarischen Funktion der Charakterisierung der Erzählerfigur und der pragmatischen Funktion der Sympathielenkung verwiesen. Analog ist vielen literarischen Funktionen ein affektives Potential enthalten, sie sind sozusagen das Vehikel, auf dem das pragmatische Funktionspotential transportiert wird. In welcher Form sich Affekte beim realen Leser manifestieren, ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung; folgende Auflistung liefert lediglich einen Ansatz, solche möglichen Interdependenzen herzustellen: Tabelle 7: Mögliche Interdependenzen literarischer und pragmatischer Funktionen unzuverlässigen Erzählens (Auswahl) Literarische Funktion Generieren (pluraler) Realitäten‚ ontologische Verunsicherung der erzählten Welt Charakterisierung der Figuren – Rekurrenz auf ‚unzuverlässige‘ Erzählertypen Illusionsaufbau, Illusionsbrechung Spannungsaufbau, falsche Fährten Affektive Potentiale (Beispiele) Verwirrung Sympathie, Antipathie, Misstrauen Spannung, Überraschung, Schock, Verwirrung, Enttäuschung, Belustigung Überraschung, Aha-Effekt, Neugierde, Verwirrung Hervorheben von Subjektivität Misstrauen Variation des Modus, Spiel mit Nähe und Distanz Sympathie, Antipathie Komische Funktion, Intern parodistische Funktion Sympathie, Überraschung Ästhetische, unterhaltende Funktion, (L’Art pour l’Art) Lesegenuss oder auch -verdruss 55 2. Unzuverlässiges Erzählen in der Kinder- und Jugendliteratur Nur wenige an Kinder bzw. Jugendliche adressierte Werke, die vor dem Jahr 2000 erschienen sind, enthalten unzuverlässige Erzählinstanzen31, darunter die Werke 52 Sonntage – Tagebuch dreier Kinder von Anna Stein (1846; vgl. Hofmann 2010, 180), Adventures of Huckleberry Finn von Mark Twain (1884/1885; vgl. auch Riggan 1981 sowie Klimek 2017), Edith Nesbits The Story of the Treasure Seekers (1899) sowie Paula Dehmels Singinens Geschichten (1904; zu Nesbit und Dehmel vgl. Hofmann 2010, 180), Erich Kästners Emil und die Detektive. Ein Roman für Kinder (1929; vgl. Klimek 2017, 33f.), The Catcher in the Rye von J.D. Salinger (1951; vgl. Riggan 1981 bzw. Classen 2017) sowie Astrid Lindgrens Romane Mio, mein Mio (1955, EA 1954) und Die Brüder Löwenherz (1973, EA 1973; für beide Lingren-Werke vgl. Reinbold 2007). So populär einige dieser Beispiele sein mögen: Insgesamt bleiben unzuverlässige Erzählweisen lange Ausnahmen in der Kinder- und Jugendliteratur, erst etwa seit kurz vor der Jahrtausendwende halten sie dort in signifikantem Maße Einzug. Dieses Phänomen bildet sich auch in der Forschungliteratur ab: Zwar befasst sich Riggan bereits 1981 mit naiven unzuverlässigen Erzählertypen (s. Kap. 1.5), ein wissenschaftlicher Diskurs um unzuverlässiges Erzählen in der Kinder- und Jugendliteratur setzt jedoch erst mit Verzögerung im Jahr 2005 ein. In Kapitel 2.1 wird ein Blick auf die Forschung, die es zur erzählerischen Unzuverlässigkeit in der Kinder- und Jugendliteratur gibt, geworfen. Im Anschluss werden in Kapitel 2.2 einige Überlegungen angestellt, die der Vorbereitung der Analyse dienen: Nach Ausführungen zur kindlichen Verständnisfähigkeit unzuverlässiger Erzählweisen werden dazu einige kinder-und jugendliterarische Gattungsspezifika beleuchtet, die für die erzählerische Unzuverlässigkeit von Bedeutung sind. Darauf 31 Es gibt auch naive kindliche bzw. jugendliche unzuverlässige Ich-Erzählinstanzen, die nicht der (intentionalen) Kinder- und Jugendliteratur zuzuordnen sind. So erzählt in Irmgard Keuns Werk Kind aller Länder (1938) die zehnjährige Kully. Ihre Unzuverlässigkeit resultiert daraus, dass sie oftmals die sie umgebende Welt der Erwachsenen, aber auch des nationalsozialistischen Exils, in dem sie sich bewegt, nicht versteht. In Imre Kertész‘ Werk Sortstalanság [dt.: Roman eines Schicksallosen, 1975] kommt mit dem fünfzehnjährigen György ein unzuverlässig erzählender Jugendlicher zu Wort – er schildert seine drastischen Erlebnisse aus verschiedenen Konzentrationslagern in naiver Weise mit oftmals verstörendem ‚Verständnis‘ für seine Peiniger. Beide genannten Werke richten sich an nicht-kindliche Adressatengruppen; solche Werke der sog. Erwachsenenliteratur, in denen (naive) kindliche bzw. jugendliche Erzählinstanzen vorkommen, sollen in der folgenden Untersuchung, die sich dezidiert mit Kinder- und Jugendliteratur befasst, nicht berücksichtigt werden. 56 aufbauend, sowie unter Berücksichtigung der bereits im ersten Kapitel dargestellten Forschungsergebnisse, liefert Kapitel 2.3 das Analyseraster für die anstehenden Analysen. In Kapitel 2.4 wird die Auswahl der untersuchten Werke begründet. 2.1 Forschungsüberblick Sehr knapp, aber doch von grundlegender Bedeutung, sind die bereits erwähnten Ausführungen William Riggans: Der von ihm naïf benannte Erzählertyp betrifft auch kindliche bzw. jugendliche unzuverlässige Erzähler, ist aber nicht per se auf die Kinder- und Jugendliteratur beschränkt. Riggan versteht unter Erzählinstanzen dieses Typus unerfahrene, d.h. moralisch, ethisch, emotional und/oder intellektuell defizitäre oder ‚unfertige‘ Erzählerfiguren, deren erzählerische Unzuverlässigkeit daraus resultiert, dass sie die Bedeutung der eigenen Erzählung nicht verstehen (vgl. Riggan 1981, 179). Gleichwohl zeichne sich ein naïf durch ein reines Herz aus (vgl. ebd., 169). Die Erzählweise der naiven Erzählinstanzen sei sprachlich einfallsreich und dabei doch linear, spontan und assoziativ (vgl. ebd., 179). Kritikpunkte bzgl. dieser Typologie wurden ebenfalls in Kapitel 1.5 herausgearbeitet. Im Kontext einer Auseinandersetzung im kinder- und jugendliterarischen Handlungsraum ist insbesondere von Bedeutung, dass Riggan sich auf nur zwei Referenztexte stützt, von denen der jüngere im Jahr 1951, also vor inzwischen 67 Jahren, erschienen ist. Seither sind zahlreiche weitere kinder- und jugendliterarische Werke erschienen, deren Erzähler den genannten Merkmalen keineswegs entsprechen. 2.1.1 Die Unzuverlässigkeit der Jugendphase Mehr als 20 Jahre nach dem Erscheinen von Riggans Typologie legt ein Beitrag von Yvonne Wolf mit dem Titel „Unzuverlässiges Erzählen im Kinder- und Jugendbuch“ aus dem Jahre 2005 den Schwerpunkt deutlich auf adoleszente Inhalte. Entsprechend thematisiert die Verfasserin beinahe ausschließlich Jugendliteratur. Lediglich eine Einzelanalyse (Jutta Richter: Der Tag, als ich lernte die Spinnen zu zähmen, 2000) behandelt ein kinderliterarisches Werk (vgl. Wolf 2005, 267f.). Schlussendlich kommt Wolf in ihrer Analyse von Richters Werk aber zu dem Ergebnis, dass „für die Gesamterzählung die Frage nach der narrativen unreliability wohl zu verneinen“ (ebd., 269) sei. Dieses Urteil trifft Wolf auch, da nach ihrer Herangehensweise unzuverlässiges Erzählen „notwendig daran gebunden [ist], dass sich die Erzählinstanz dieses Defizits nicht bewusst ist, sie darf sich selbst nicht trauen können“ (ebd.), was in Richters Text nicht gegeben sei. Diesem Ausschluss intentionaler Unzuverlässigkeit ist allerdings zu widersprechen. Eine im 57 Weiteren von Wolf angestrebte Abgrenzung erzählerischer Unzuverlässigkeit scheitert ebenfalls daran, dass sie erzählerische Unzuverlässigkeit auf jene Fälle begrenzt, in denen sich Erzähler selbst belügen (vgl. ebd.). Mit Kurzanalysen von Kirsten Boies Ich ganz cool (1992), Benjamin Leberts Crazy (1999) und Alexa Henning von Langes Relax (1997) betrachtet Wolf drei jugendliterarische Texte genauer. Vorab identifiziert Wolf die „Pubertät als Phase extremer Veränderungen und Spannungen“ (Wolf 2005, 264), die „prädestiniert für diese Erzählstrategie“ (ebd.) sei32. In Bezug auf Relax interpretiert Wolf erzählerische Unzuverlässigkeit „als authentifizierendes Element, als Bestandteil jugendlichen Erlebens in einer postmodernen Welt“ (ebd., 273). Weiterhin interessant sind Wolfs kritische Ausführungen zum impliziten Autor in der Jugendliteratur: Gerade im Kontext einer Tendenz hin zu mehrfachadressierten jugendliterarischen Werken entstehe eine „besondere Rezeptionssituation“ (ebd., 271): Jugendliche und Erwachsene rezipieren ein- und denselben Text in der Regel unterschiedlich. Suchen Jugendliche in realistischen Texten nach Identifikationsmöglichkeiten und Authentizität, so lesen Erwachsene spezifische Kinder- und Jugendbücher meist mir primärem Blick auf den erzieherischen ‚Wert‘ bzw. ‚Unwert‘ (ebd.)33. Entsprechend seien die Bewertungen der erzählerischen Unzuverlässigkeit als stark rezipientenabhängig einzuordnen und ein impliziter Autor, „der einen aufklärerisch-humanistischen Wertehorizont zum Ausdruck brächte“ (ebd., 272), kaum auszumachen. Im Gegenteil: Der implizite Autor stünde „der Akzeptanz eines Textes bei Jugendlichen zudem im Wege“ (ebd.). Wolf wählt daher einen an Nünning orientierten Blickwinkel auf Unzuverlässigkeit in der Kinder- und Jugendliteratur. Insgesamt stellt Wolf erstmals fest, dass „komplexe Formen uneindeutigen Erzählens wie z.B. Ironie, Mehrdeutigkeit, Multiperspektivität und Unzuverlässigkeit […] zunehmend Einzug in die Kinder- und Jugendliteratur halten“ (ebd., 276). 2.1.2 Kognitive Überforderung oder lustvolles Fabulieren? Regina Hofmann befasst sich in ihrer 2010 erschienenen Dissertation mit dem Titel „Der kindliche Ich-Erzähler in der modernen Kinderliteratur: eine erzähltheoretische Analyse mit Blick auf aktuelle Kinderromane“ ausschließlich mit kinderlitera- Diese These wurde seither wiederholt aufgegriffen, vgl. z.B. Hofmann (2010) sowie Klimek (2017). 33 Der sich an dieser Stelle ergebenden Widerspruch (Mehrfachadressierung vs. spezifische Kinder- und Jugendliteratur) wird in Kap. 2.2.2 behandelt. 32 58 rischen Werken. Die Gießener Wissenschaftlerin betrachtet unter anderem kindliche unzuverlässige Erzählinstanzen, und auch sie hebt hervor, dass unzuverlässiges Erzählen erst in der aktuellen Kinderliteratur häufiger anzutreffen sei: [M]it einer zunehmenden Subjektivierung, Psychologisierung und im Bemühen um eine möglichst authentische Figurengestaltung [halten] auch unzuverlässige kindliche Ich-Erzähler Einzug in die Kinderliteratur […]. Damit reagiert die Kinderliteratur zum einen auf ein sich wandelndes Kindheitsbild in einer Gesellschaft […], zum anderen auf Entwicklungen in der modernen Erwachsenenliteratur (Hofmann 2010, 188). Hofmann orientiert sich an einem rezeptionsorientierten Ansatz und verzichtet auf das Konzept des impliziten Autors. Sie betont, dass die erzählerische Zuverlässigkeit/Unzuverlässigkeit keine „binäre Opposition“ (ebd., 178) darstelle, sondern erarbeitet die bereits in Kapitel 1.3.3 angeführte (und dort auch kritisierte) Skala der (Un-)Zuverlässigkeit (s. Abb. 1), in der sie unentscheidbares Erzählen, unzuverlässiges Erzählen, gelegentlich unzuverlässiges Erzählen und zuverlässiges Erzählen (vgl. ebd.) differenziert. Wie Wolf betrachtet Hofmann Kinder- und Jugendliteratur als nahezu prädestiniert für unzuverlässige Erzählweisen: Kindliche Erzähler, „zumindest dann, wenn sie als authentische und individualisierte kindliche Figuren angelegt sind“, scheinen „potentielle Kandidaten für unzuverlässiges Erzählen zu sein – mehr noch, es ist kaum vorstellbar, dass sie in jeder Hinsicht und durchgängig zuverlässig erzählen“ (ebd., 179). Aktuellen unzuverlässigen kindlichen Erzählern schreibt Hofmann zweierlei Motivation für unzuverlässige Erzählweisen zu, die sie als negativ bzw. positiv (vgl. ebd., 181f.) bezeichnet. Eine negative Motivation könne aus einer kognitiven oder emotionalen Überforderung, aus „belastende[n] oder den kindlichen Erfahrungshorizont überfordernde[n] Situationen“ (ebd.) oder auch aus Langeweile resultieren (vgl. ebd., 181). Anhand fiktiver Beispiele begründet Hofmann, dass eine solche (kurzfristige oder auch länger andauernde) Belastungssituation die „Fähigkeit, das Geschehene ‚objektiv‘ zu rekapitulieren und/oder zu bewerten, einschränken kann“ (ebd.). Andererseits könnten unzuverlässige kindliche Erzählinstanzen aus „durchaus positiven Gründen [motiviert sein], durch ihre Freude am Fabulieren, am Ausmalen phantastischer Welten und Erfinden von Geschichten, an Übertreibungen und dem Spiel mit Lüge und Wahrheit“ (ebd., 182)34. Beide von Hofmann genannten Spielarten lassen sich bereits in Riggans Ausführungen erkennen, der Hofmann wirft auch die Frage auf, ob und inwiefern Kinder erzählerische Unzuverlässigkeit entschlüsseln können, und liefert einige Ansätze, welche Faktoren auf das Verständnis einwirken könnten. Mit Hinblick auf den bereits begründeten unterschiedlichen Ansatz dieser Arbeit soll hierauf an dieser Stelle allerdings nicht weiter eingegangen werden. 34 59 sowohl hervorhebt, dass der naïf die Bedeutung der eigenen Erzählung nicht verstünde (vgl. Riggan 1981, 179) als auch, dass er sprachlich einfallsreich erzählte (vgl. ebd). Anders als Riggan nimmt Hofmann aber erstmals eine klare Unterscheidung dieser beiden nur scheinbar gegensätzlichen Motivationen im kinderliterarischen Kontext vor. Die positive Motivation erzählerischer Unzuverlässigkeit in der Kinderliteratur stellt auch Gabriele von Glasenapp in ihrem Beitrag „Von Wahrheiten, Un-Wahrheiten, Lügen und Fiktionen. Formen und Funktionen der Lügendichtungen“ (2011) heraus. Von Glasenapp befasst sich mit kinderliterarischen Lügengeschichten 35 und identifiziert in diesem Kontext einige unzuverlässig erzählte kinder- bzw. jugendliterarische Texte, „die ebenfalls zu den Lügengeschichten gezählt werden müssen, in denen [eine] offene Markierung fehlt“ (von Glasenapp 2011, 20). Diese „implizite Lügendichtung“ (ebd., 22) versteht von Glasenapp als eine Teilmenge der unzuverlässig erzählten Kinder- und Jugendliteratur: Zu den Erscheinungsformen des unzuverlässigen Erzählens, die Einzug in die Kinder- und Jugendliteratur gehalten haben, gehört auch die implizite Lügengeschichte. […] Im Gegensatz zur allgemeinen Literatur werden die unaufgelösten Widersprüche der Erzählung weniger durch Ironie hervorgerufen, sondern durch hyperbolisches, d.h. übertreibendes, übersteigertes Sprechen (ebd.). Als Beispiele führt von Glasenapp Milena Baischs Anton taucht ab (2010), Zoran Drvenkars Die Kurzhosengang (2004) und Josh Liebs Ich bin ein Genie und unsagbar böse (2010) auf – wie bei Hofmann liegt der Fokus damit auf Werken der Kinderliteratur. Mit Bezug auf die Funktion der impliziten Lügengeschichten weist von Glasenapp auf deren Unterhaltungswert hin: [S]ie inszenieren mittels Ironie oder hyperbolische[n] Sprechen[s] auf lustvolle Weise einen Normverstoß, der gänzlich auf das Unterhaltungsbedürfnis des jeweiligen Lesers abzielt (von Glasenapp 2011, 23). 2.1.3 Neuere Ansätze Eine im November 2017 erschienene Ausgabe der Zeitschrift kids + media. Zeitschrift für Kinder- und Jugendmediaforschung der Universität Zürich liefert insgesamt fünf Beiträge, die sich in unterschiedlicher Form mit unzuverlässigen Erzählweisen in der Kinder- und Jugendliteratur befassen. Besonders die Beiträge von Lexe und Klimek sind für die vorliegende Arbeit von Interesse. Heidi Lexe untersucht in ihrem einleitenden Beitrag („Literarische Täuschungsma- Thematisch behandelt die Ausgabe der Zeitschrift, in welcher der Aufsatz veröffentlicht wurde (kjl&m), das Phänomen der Lüge. 35 60 növer. Aspekte Unzuverlässigen Erzählens in der Jugendliteratur“) drei verschiedene Situationen erzählerischer Unzuverlässigkeit in der aktuellen Jugendliteratur: „[d]efizitäre Ich-Erzähler_innen“ (ebd., 7), „[b]eschädigte Ich-Erzähler_innen“ (ebd., 11) sowie „[f]ragmentierte Wirklichkeit“ (ebd., 18)36. Die erstgenannte Gruppe der so genannten defizitären unzuverlässigen Erzähler erarbeitet Lexe anhand kindlicher Ich-Erzählinstanzen, für die sie annimmt: In der Allgemeingermanistik wird ein kindlicher Ich-Erzähler oder eine kindliche Ich-Erzählerin gerne per se als unzuverlässig markiert – fehlt dem Kind im Vergleich zum impliziten Autor bzw. der impliziten erwachsenen Autorin und der erwachsenen Leserschaft doch Erfahrung und Weltwissen. Mit einer bewusst naiven Erzählhaltung einer kindlichen Figur wird also ein entsprechendes Textsignal gegeben und mit der ‚Erfahrungswirklichkeit‘ der Leser_innen kontrastiert (Lexe 2017, 7; Hervorhebg. im Orig.). Jene diskrepante Erzählanlage erweitert Lexe im Anschluss auf kinderliterarische Texte. Sie geht davon aus, dass sich im Falle der Adressierung an eine kindliche Leserschaft die frames of reference änderten, „indem die Erfahrungswirklichkeit von Erzähler_innen und Figuren einander entsprechen“ (ebd.). Die erste Annahme, dass sich die Bezugsrahmen kindlicher und erwachsener Leserschaften unterscheiden, ist nachvollziehbar. Warum Lexe davon ausgeht, dass im Falle einer kindlichen Adressierung eine Kongruenz der Erfahrungswirklichkeit von Erzählinstanzen und Figuren entsteht, erschließt sich nicht 37. Wahrscheinlicher ist, dass Lexe die relative Deckungsgleichheit des Weltwissens und der Erfahrungen der kindlichen Erzählinstanzen mit denen der ebenfalls kindlichen Adressaten meint. Dies wäre auch stimmig mit der anschließend von Lexe entwickelten Annahme, dass mit der Aufnahme ‚defizitärer‘ Erzählinstanzen in die Kinderliteratur „diese Entsprechung durch spezifische Erzählstrategien bewusst ins Ungleichgewicht“ (ebd.) geführt werde. Als Prototyp eines defizitären kindlichen Ich-Erzählers führt Die drei von Lexe gewählten Aspekte decken allerdings nicht das gesamte Spektrum erzählerischer Unzuverlässigkeit in der Jugendliteratur ab; so findet beispielsweise das von Hofmann im Kontext der Kinderliteratur erwähnte lustvolle Fabulieren, das sich durchaus auch in jugendliterarischen Texten entdecken lässt, keine Berücksichtigung. Weiterhin weisen die genannten Fälle einige Überschneidungen auf. Dies trifft insbesondere für das gewählte Beispiel Es war einmal Indianerland zu: Dieses Jugendbuch liefert einen Erzähler, der nach Lexes Terminologie ebenfalls als beschädigter Ich-Erzähler einzuordnen wäre. Eine vollständige Systematik zu liefern, so muss hier angemerkt werden, ist allerdings auch nicht Lexes Anspruch. 37 Auch in den von Lexe angeführten Beispiele kommen erwachsenen Figuren Korrektivfunktionen bezüglich der erzählerischen Unzuverlässigkeit zu: vgl. z.B. Steinhöfel 2008. 36 61 Lexe Andreas Steinhöfels Rico38 an, der nicht nur durch seine ‚Tiefbegabung‘, sondern auch durch Orientierungslosigkeit auffiele. Abschließend setzt sich Lexe ausführlicher mit Sarah Michaelas Orlovskýs Tomaten mögen keinen Regen auseinander und liefert damit ein jugendliterarisches Beispiel für einen defizitären unzuverlässigen Ich-Erzähler39. Der zweite Fall erzählerischer Unzuverlässigkeit in der Jugendliteratur, den Lexe betrachtet, umfasst die von Lexe so benannten „[b]eschädigte[n] Erzähler_innen, deren Unzuverlässigkeit in jener psychischen Disposition zu suchen ist, aus der heraus sie erzählen“ (ebd., 23). Ausgehend von bekannten Beispielen des unzuverlässig erzählten US-Films einerseits sowie verschiedener Jugendromane andererseits40 charakterisiert Lexe diese Spielart erzählerischer Unzuverlässigkeit als eng gebunden an eine ‚beschädigte‘ Erzählerpsyche. Schließlich betrachtet Lexe noch „Ich-Erzähler_innen, deren überlagerte Wahrnehmungen gleichermaßen auf ihre Fragilität […] wie auf die Fragmentarität der sie umgebenden Wirklichkeit verweisen“ (Lexe 2017,23). Diese Variante unzuverlässigen Erzählens entwirft Lexe ausgehend von Nils Mohls Jugendroman Es war einmal Indianerland (2011, s. Kap. 3.2.4). Sie hebt hervor, dass in diesem Werk bereits durch das „Textarrangement des Erzählten auf dessen Fragmentarität“ (Lexe 2017, 19) verwiesen werde. Lexe weist damit auf verschiedene Aspekte erzählerischer Unzuverlässigkeit in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur, trennt allerdings kaum zwischen kinder- und jugendliterarischen Kontexten. Die von ihr unterschiedenen Kategorien ‚defizitär‘ und ‚beschädigt‘ sind zwar zunächst nachvollziehbar, aber sie sind auch unscharf: Insbesondere stellt sich die Frage nach dem durchaus problematischen Begriff des Defizits im kinderliterarischen Kontext. Ob eine kindliche Erzählinstanz als ‚normal‘ kindlich oder als ‚defizitär‘ zu verstehen ist, kann nicht immer entschieden werden41, und es ist auch fraglich, anhand welcher Kriterien eine solche Entscheidung Lexe bezieht sich auf Andreas Steinhöfels Werke Rico, Oscar und die Tieferschatten (2008), Rico, Oscar und das Herzgebreche (2009) sowie Rico, Oscar und der Diebstahlstein (2011). 38 Lexe charakterisiert den Erzähler Hovanes als „kindlich/jugendlichen Ich-Erzähler“ (Lexe 2017, 9). 40 Filme: The Sixth Sense (1999), Fight Club (1999), Black Swan (2010); Jugendromane: Bernard Beckett: Genesis (2009; dt.: Das neue Buch Genesis, 2011), E. Lockhart: We Were Liars (2014; dt.: Solange wir lügen, 2015), Lauren Oliver: Vanishing Girls (2015; dt.: Als ich dich suchte, 2017), Jay Asher: 13 Reasons Why (2007; dt. Tote Mädchen lügen nicht, 2009). 41 Auch das von Lexe herangezogene Beispiel Rico, so kann man argumentieren, ist keine ‚defizitäre‘ Figur. Zwar inszeniert sich Rico in seiner Selbstbeschreibung als ‚tiefbegabt‘ 39 62 getroffen werden soll. Auch Sonja Klimek setzt sich in ihrem Beitrag „Unzuverlässiges Erzählen in Kinder- und Jugendliteratur und -medien? Eine vergleichende Studie“ mit verschiedenen Aspekten erzählerischer Unzuverlässigkeit auseinander. Anders als Lexe, die sich nahezu ausschließlich mit Jugendliteratur befasst, nimmt Klimek dabei auch dezidiert Kinderliteratur in den Blick. Klimek folgt der Argumentationen von Martínez und Scheffel (s. Kap. 1.4.2) einerseits sowie der Systematik von Köppe und Kindt (s. Kap. 1.4.4) andererseits und generiert daraus vier Arten erzählerischer Unzuverlässigkeit: täuschendes Erzählen, offen unzuverlässiges Erzählen, mimetisch unentscheidbares Erzählen sowie theoretische bzw. axiologische Unzuverlässigkeit. Zunächst befasst sich Klimek mit mimetisch unzuverlässigem Erzählen in fantastischer Kinderliteratur und diskutiert, inwiefern sich unter Berücksichtigung der Adressatengruppe Grenzbereiche mit unzuverlässigen Erzählsituationen ergeben. Klimek betrachtet dazu Werke, die eine so genannte Zwei-Welten-Fantastik generieren, und argumentiert, dass zwei Lesarten möglich seien: Entweder, wir haben es […] mit einem Werk der Fantastik in dem Sinne zu tun, dass wunderbare Ereignisse […] möglich sind. Dann wäre das Werk zuverlässig erzählt. Oder wir haben es mit einem realistischen Werk zu tun, in dem unzuverlässig erzählt wird (Klimek 2017, 28). Am Beispiel von Maurice Sendaks Where the Wild Things Are und unter Einbezug der Adressatengruppen, also kindlicher Leser sowie erwachsener Vorleser des Werks, kommt Klimek zu dem Schluss, dass die Adressierung für eine mögliche Naturalisierung eines Werks als unzuverlässig bedeutsam sei: Kinder identifizieren sich bei der Lektüre mit dem Kind, das etwas Wunderbares erlebt, da sie ihre eigene Welt auf genau dieselbe Art als magiedurchwirkt wahrnehmen. Erwachsene dagegen erkennen potentiell das kindlich-animistische Denken in fiktiven Figuren und nehmen ihr gegenüber somit oft eine distanzierte Haltung ein (ebd., 29). Die Entscheidung, ob bestimmte Werke als zuverlässig-fantastisch oder unzuverlässig-realistisch eingestuft werden, hinge, so Klimek „ganz entschieden von der Reife der Rezipierenden und von ihrer Bereitschaft [ab], wunderbare Ereignisse in einer zunächst ganz realistisch geschilderten Welt zu akzeptieren“ (ebd., 33). In ihrer anschließenden Untersuchung realistischer Kinder- und Jugendliteratur zeigt Klimek offen unzuverlässige Erzählverfahren in Erich Kästners Emil und die (vgl. Steinhöfel 2008), seine Auffassungsgabe, die sich auch in seiner Erzählung wiederspiegelt, stimmt aber keineswegs immer mit dieser Charakterisierung überein. 63 Detektive. Ein Roman für Kinder (1929), Andreas Steinhöfels Rico, Oskar und … Trilogie (2008/2009/2011) sowie Mark Haddons Jugendroman The Curious Incident of the Dog in the Night-Time (2003). Axiologische Unzuverlässigkeit, vermutet Klimek, sei im kinderliterarischen Bereich weniger prominent: Es bestünde die Gefahr einer „Identifikation mit den als problematisch empfundenen Werten der fiktiven Figur“ (Klimek 2017, 37). Dennoch zeigt sie axiologische Unzuverlässigkeit im Bereich der Kinderliteratur für Mark Twains Adventures of Huckleberry Finn (1884/1885) sowie John Boynes The Boy in the Striped Pyjamas (2006). Für jugendliterarische Werke, insbesondere die Coming-of-Age-Literatur, geht Klimek davon aus, dass axiologische Unzuverlässigkeit häufiger vorkomme, und sie schließt sich Wolfs Argumentation an, dass die Pubertät nahezu prädestiniert für Unzuverlässigkeit sei (s. Kap. 2.1.1). Als Beispiel für einen axiologisch unzuverlässigen Jugendroman nennt Klimek Do van Ransts Adoleszenzroman Dünn (2014). Klimek resümiert, dass sich damit grundsätzlich alle von ihr herausgearbeiteten Formen erzählerischer Unzuverlässigkeit auch in der Kinder- und Jugendliteratur finden, hebt jedoch hervor, dass ihnen durchaus unterschiedliche Funktionen zugeordnet werden können: So könne unzuverlässiges Erzählen in kinderliterarischen Werken auf einen normabweichenden kognitiven Zustand der Erzählinstanz hinweisen, aber auch gesellschaftliche Misstände betonen. Klimek weist zudem auf die Tatsache hin, dass die Naturalisierung textueller Diskrepanzen als Hinweise auf vorliegende erzählerische Unzuverlässigkeit stark abhängig von der Reife der jeweiligen Rezipienten sei (vgl. hierzu Klimek 2017, 41). 2.2 Vorüberlegungen Einige weitere Aspekte haben sich im Kontext des Untersuchungsgegenstands als bedeutsam erwiesen, andere sind bislang nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt worden. Dies betrifft z.B. das bekannte ‚Problem‘ kindlicher Verstehensfähigkeit von Ironie. Im Rahmen dieser Überlegungen stellt sich erneut die bereits angeklungene Frage nach der Adressierung unzuverlässig erzählter Kinderliteratur. Weiterhin werden mit Illustrationen sowie Intermedialität/Intertextualität zwei Bereiche im kinder- und jugendliterarischen Kontext beleuchtet, die in Bezug auf die erzählerische Unzuverlässigkeit relevant sind, jedoch bislang kaum in diesem Kontext berücksichtigt worden sind. 64 2.2.1 Unzuverlässiges Erzählen und Ironie im kinder- und jugendliterarischen Kontext Wie gezeigt ist die Forschung zu erzählerischer Unzuverlässigkeit im Kinder- und Jugendroman noch überschaubar; sie orientiert sich weitestgehend an der Forschung zum unzuverlässigen Erzählen in der Allgemeinliteratur. Eine mögliche Erklärung hierfür könnte die Scheu vor einer (interdisziplinären) Auseinandersetzung mit dem Thema sein; insbesondere die Schnittstellen unzuverlässigen Erzählens mit ironischer Kommunikation sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Trotz ihres unterschiedlichen Kontextes (fiktionale vs. faktuale Rede), zeichnen sich beide Phänomene durch einen unsicheren ontologischen Status aus, der aber sowohl in der ironischen Kommunikation als auch beim unzuverlässigen Erzählen durchaus entlarvt werden soll. Per definitionem ist die Ironie eine „Form der uneigentlichen Rede“ (von Wilpert 2001, 381), für die die „Erschließbarkeit der ‚eigentlichen‘ Bedeutung des Gesagten“ (Deupmann 2007, 360) wesentlich ist42. In der realen ironischen Kommunikation werden von einer Senderinstanz widersprüchliche Nachrichten auf unterschiedlichen Kanälen gesendet, wozu ihr ein großes Repertoire sprachlicher, körpersprachlicher und prosodischer Mittel zur Verfügung steht. Ein verbal geäußertes ‚Ja‘ kann mit einer entsprechend ambivalent konstruierten, beispielsweise offensichtlich gelangweilten Sprechmelodie durchaus als ‚nein‘ verstanden werden. Auch im unzuverlässig erzählten Text werden widersprüchliche Nachrichtenteile übermittelt – allerdings nicht durch nur einen Sender. Die Ausführungen der Erzählinstanz sind vielmehr nur ein Teil dessen, was vom Leser entschlüsselt werden muss. Besonders auffällig ist die Ähnlichkeit von unzuverlässigen Erzählweisen und dramatischer Ironie in Bezug auf die kommunikative Situation: In der dramatischen Ironie erhalten die Zuschauer einen Wissensvorsprung gegenüber den einzelnen Figuren des Dramas; sie können so bestimmten Aussagen der handelnden Figuren zusätzliche Bedeutung entnehmen. Der Dramentheoretiker Manfred Pfister weist in diesem Kontext auf eine „Diskrepanz zwischen der von der Figur intendierten Bedeutung und der Deutung durch das Publikum“ (Pfister 2000, 89) hin. 42 Bereits Aristophanes (zwischen 450 v.Chr. und 444 v. Chr. - um 380 v. Chr.) spricht von eiron, dem Ironiker, er charakterisiert ihn abfällig als „elastisch wie Gummi oder schlüpfrig wie Öl“ (Ribbeck 1876; zit. n. Lapp 1992, 18). Mit Aristoteles (384 v. Chr. - 322 v. Chr.) verliert der Begriff seine ursprünglich ausschließlich negative Konnotation (zur Begriffsgeschichte vgl. weiter z.B. Lapp 1992). [Bei seiner Beschreibung unzuverlässigen Erzählens verwendet Ansgar Nünning ein ganz ähnliches Bild („a very slippery and complex topic”; Nünning 2005, 90.] 65 Dramatische Ironie manifestiere sich, „wenn die sprachliche Äußerung oder das außersprachliche Verhalten einer Figur für den Rezipienten aufgrund seiner überlegenen Informiertheit eine der Intention der Figur widersprechende Zusatzbedeutung erhält“ (ebd., 88). In unzuverlässig erzählten Texten kommt es zu ähnlichen Momenten: Entlarvt der Leser eine Erzählinstanz als unzuverlässig, erhält er ebenfalls einen Vorsprung und bewertet das Gelesene neu. Bei der Sichtung infrage kommender Werke für die vorliegende Arbeit fielen einige Texte auf, bei denen sich der Verfasserin die Frage stellte, ob Kinder der vom Verlag jeweils genannten Altersgruppe die in den Romanen enthaltene Unzuverlässigkeit überhaupt verstehen könnten43. Aus der Tatsache, dass Kinder die Fähigkeit zur Entschlüsselung von Ironie erst im Laufe ihrer Entwicklung erwerben, lässt sich für die Untersuchung erzählerischer Unzuverlässigkeit in der Kinder- und Jugendliteratur wiederum ein empirisches, interdisziplinäres Desiderat mit Überschneidungen zur Linguistik (bes. Pragmatik) ableiten. Insbesondere stellt sich die Frage, ob und inwieweit sich die Beschaffenheit erzählerischer Unzuverlässigkeit in der Kinder- und Jugendliteratur von der in der Erwachsenenliteratur unterscheidet. Man könnte beispielsweise spekulieren, ob Autoren erzählerische Unzuverlässigkeit in der Kinder- und Jugendliteratur deutlicher markierten oder ob sie Unzuverlässigkeit per se explizit auflösten. Dass sich die Situation nicht so einfach gestaltet, wird in Kapitel 3 zu zeigen sein. Eine umfangreiche empirische Untersuchung zum kindlichen Verständnis unzuverlässig erzählter Werke steht noch aus 44; auch diese Arbeit kann und will diese nicht Einige Stichproben im Rahmen eines Unterrichtsprojekts in einer Grundschule bestätigten diesen Eindruck: Längst nicht alle Kinder waren in der Lage, erzählerische Unzuverlässigkeit ohne Hilfestellung zu entschlüsseln. Im Rahmen des LesensWERT-Projekts der Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendmedienforschung der Universität zu Köln (ALEKI) betreute ich im Jahr 2016 mehrere Lesegruppen, von denen eine das Werk Anton taucht ab von Melina Baisch besprechen sollte. Keiner der sechs Viertklässler dieser Gruppe erkannte die erzählerische Unzuverlässigkeit ohne Hilfestellung, mit Hilfestellung gelang dies schließlich allen. Diese Stichprobe ist zwar weder repräsentativ noch lassen sich von ihr Aussagen ableiten – in diesem Kontext kann sie aber dennoch als weiterer Hinweis darauf gewertet werden, dass eine Untersuchung in diesem Zusammenhang sicherlich aufschlussreich wäre. 44 Kümmerling-Meibauer bemängelt bereits 1999 jenes Fehlen interdisziplinärer Betrachtungen im Zusammenhang mit einer Untersuchung von Ironie im Bilderbuch: Entweder fokussiere man auf metafiktionale Konzepte und verpasse dabei eine gründliche Auseinandersetzung mit ironischen Darstellungsweisen – oder man untersuche Ironie in Bilderbüchern, ohne weiter darauf einzugehen, ob diese von Kindern verstanden werden könne. Kümmerling-Meibauer kommentiert: „In my opinion, the key to answering these questions lies in the attempt to combine the results of cognitive studies on metalinguistic awareness on the one hand and children’s literature on the other” (Kümmerling-Meibauer 1999, 159f.). 43 66 liefern. Ihr Blick konzentriert sich auf die Werke und die in ihnen anzutreffende spezifische erzählerische Unzuverlässigkeit 45. Für eine Festlegung von Analyseparametern für erzählerische Unzuverlässigkeit in der Kinder- und Jugendliteratur ist ein kurzer interdisziplinärer Blick dennoch sinnvoll. Die genannten Parallelen unzuverlässiger Erzählweisen und ironischer Kommunikation manifestieren sich insbesondere in der Kommunikationsstruktur; sie lassen sich verkürzt folgendermaßen rekapitulieren: Sowohl ironische Sprechakte als auch unzuverlässige Erzählweisen zeichnen sich durch die Kombination einer eigentlichen Botschaft (dictum) und einer uneigentlichen, versteckten Botschaft (implicatum) aus, wobei diese ambivalenten und oftmals widersprüchlichen Botschaften auf unterschiedlichen Kanälen an den Rezipienten übermittelt werden. Sowohl die ironische Kommunikation als auch die literarische Erzählweise zielt dabei darauf ab, dass das implicatum von der adressierten Person entschlüsselt wird. Die linguistische Forschung hat sich in der Vergangenheit empirisch mit dem Ironieverstehen bei Kindern auseinandergesetzt 46. Zunächst ist festzuhalten, dass es eine Ironiekompetenz gibt, die im Laufe der kindlichen Entwicklung erworben wird. Hierfür werden in der Forschungsliteratur verschiedene Altersgrenzen angegeben, die sich in der Regel in der Grundschulzeit verorten lassen 47, wobei neuere Studien darauf hinweisen, dass auch jüngere Kinder schon in der Lage sind, Formen der Ironie zu erkennen (vgl. hierzu z.B. Dews, Winner et al. [1996]; Filippova [2014, 268]). Ob Ironie verstanden wird, hängt weiterhin mit der zur gleichen Zeit erworbenen Fähigkeit zur so genannten sekundären Denkensunterstellung (second-order belief, auch: second-order Theory of Mind) zusammen, also der Fähigkeit eines Sprechers, dem Hörer ein bestimmtes Denken bzw. bestimmte Absichten zuzuschreiben (vgl. hierzu auch Kothoff 2007, 2). Es handelt sich damit um einen individuellen kindlichen Erwerbsprozess. Diese Tatsache unterstützt den Verdacht, An dieser Stelle soll zudem hervorgehoben werden, dass die vorliegende Arbeit deskriptiver Natur ist – die ausgewählten Werke werden hinsichtlich der in ihnen verwendeten Erzählweisen untersucht. Eine Entscheidung, ob diese Erzählweisen auch verstanden werden oder gar ‚angemessen‘ sind, ist nicht Ziel dieser Arbeit. 46 Im Folgenden wird aufgrund des anders gesetzten Schwerpunkts dieser Arbeit nur ein kurzer Exkurs vorgenommen, und die Ergebnisse werden entsprechend in aller Kürze dargestellt. Für ausführliche Zusammenfassungen siehe z.B. Lapp (1992, S.119ff.) sowie Kothoff (2007). 47 So setzen Markman (1979) und Winner (1988) eine Altersgrenze von sechs Jahren für das „Verständnis einfacher Formen von Ironie“ (Kothoff 2007, 1) an. Robinson und Robinson (1983) gehen hingegen von einem Alter von zehn Jahren aus (vgl. KümmerlingMeibauer 1999; 158, Fußnote 7), Eaton (1988) identifiziert ein Durchschnittsalter von neun Jahren (vgl. Eaton 1988, 137 zit. nach Lapp 1992, 121), Kothoff (2007) sieht eine Altersgrenze „etwa mit sechs Jahren, in der Regel später“ (Kothoff 2007, 2). 45 67 dass auch erzählerische Unzuverlässigkeit in der Kinder- und Jugendliteratur möglicherweise nicht in jedem Fall von den Rezipienten entschlüsselt wird, es also eine Unzuverlässigkeitskompetenz gibt. Hieraus geht wiederum die Frage nach der Adressierung der erzählerischen Unzuverlässigkeit besonders in der Kinderliteratur hervor: Gerade in an jüngere Kinder gerichteten Werken müssen bei der Untersuchung von unzuverlässigen Erzählweisen auch Adressierung und potentielle Doppelsinnigkeit mit in den Blick genommen werden. Dieser Gedanke wird in Kapitel 2.2.2 weiter ausgeführt. Weiterhin ist hervorzuheben, dass kontextuelle Information und intonatorische Mittel als Interpretationshilfen in besonderem Maße für kindliches Ironieverständnis bedeutsam sind; auch, wie sie platziert sind, ist relevant. Brian P. Ackerman (1982 und 1983) untersucht den Einfluss kontextueller Information auf das Verständnis von Ironie. Er geht von der Annahme aus, dass die Interpretation ironischer Äußerungen zweistufig verläuft: In einer ersten Phase (detection) urteilten Adressaten „ob eine wörtliche oder nicht wörtliche Äußerung vorlieg[e]“ (Lapp 1992, 120), in einer zweiten Phase (inference) schließe der Adressat dann auf den ‚eigentlichen‘ Zweck des Sprechaktes (illukotionärer Akt). Nach Ackerman unterscheiden sich diese Phasen bei Kindern folgendermaßen: Bei Kindern sind sie in stärkerem Maße unabhängige und separate Prozesse als bei Erwachsenen: Kinder sind bei der Zurückweisung der wörtlichen Bedeutung (detection) erfolgreicher als bei der daraus resultierenden Einstellungszuschreibung (inference). Wahrscheinlich wissen Kinder aufgrund ihrer mangelnden Erfahrung mit konventionellen Inferenzmethoden bei ironischen oder anderen nichtwörtlichen Äußerungen einfach nicht, was sie erschließen sollen (Lapp 1992, 120f., Hervorhebg. im Orig.). Ackerman versteht weiterhin kontextuelle Diskrepanzen und intonatorische Mittel als Interpretationshilfen ironischer Kommunikation und kommt zu dem Schluss, dass Kinder ironische Kommunikation besser verstehen, wenn sie deutlich signalisiert wird (vgl. ebd., 121). Kontextuelle Hinweise, so sei aufgefallen, hätten in diesem Zusammenhang „stärkeres Gewicht als intonatorische“ (ebd.). Schließlich stellt sich in Ackermans Studie noch die Platzierung der kontextuellen Informationen als bedeutsam für die korrekte Interpretation ironischer Botschaften heraus. Gerade jüngeren Kindern 48 gelang in Ackermans Untersuchung eine Auflösung der Ironie besser, „wenn die kontextuelle Information kurz nach der Äußerung präsentiert wurde“ (ebd., 120). Bezugnehmend auf die Forschung zum unzuverlässigen Ackermann konnte einen relevanten Unterschied zwischen Sechs- und Achtjährigen nachweisen (vgl. Lapp 1992, 120). 48 68 Erzählen kann man Ähnlichkeiten zu Nünnings Ansatz ausmachen49. Konkret lässt sich an dieser Stelle Nünnings Tabelle textueller Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit (s. Kap. 1.2.2) zumindest in Teilen auf das beziehen, was Ackerman als ‚Interpretationshilfen ironischer Kommunikation‘ bezeichnet: Kontextuelle Hinweise, so könnte man argumentieren, finden sich in Nünnings Ansatz als ‚Signale, die auf Diskrepanzen hinweisen‘ wieder. Etwas anders gestaltet sich die Situation bei den intonatorischen Mitteln, denn der Text besitzt nicht wie die gesprochene Sprache die Möglichkeit, auf jene Mittel als Kommunikationskanäle zurückzugreifen. Allerdings kann man im Falle der Kinderbücher eine mögliche Vorlesesituation zu bedenken geben: In dieser speziellen Kommunikationssituation obliegt es dem vorlesenden Erwachsenen, eine Interpretationsleitung zu erbringen und intonatorische Mittel entsprechend einzusetzen. Auch diese Tatsache verweist auf die Notwendigkeit, die Adressierung der Werke zu berücksichtigen. Für die vorliegende Arbeit sind diese Ausführungen insofern von Bedeutung, als dass sie nahelegen, auch die Erkenntnisse der linguistischen Forschung zum kindlichen Verstehen von Ironie auf Nünnings Modell zu übertragen. In den folgenden Analysen zur erzählerischen Unzuverlässigkeit in der Kinder- und Jugendliteratur soll daher das Vorhandensein sowie die Beschaffenheit textueller Diskrepanzen erzählerischer Unzuverlässigkeit besonders hervorgehoben werden. 2.2.2 Mehrfachadressierung, Doppelsinnigkeit Der Frankfurter Literaturwissenschaftler Hans-Heino Ewers (2012) unterscheidet in seiner Einführung Literatur für Kinder und Jugendliche unter anderem auch die Begriffe ‚Mehrfachadressierung‘ und ‚Doppelsinnigkeit‘. Mehrfachadressiert ist nach Ewers ein Text dann, „wenn Erwachsene als zusätzliche eigentliche Adressaten ins Spiel kommen, wenn sie nicht bloß als Mitleser, sondern als Leser angesprochen werden“ (Ewers 2012, 58). Für kinderliterarischen Werke, in denen ambivalente Botschaften für kindliche und erwachsene Leser enthalten sind, verwendet Ewers weiterhin den Begriff der Doppelsinnigkeit (ebd., 64): Unter doppelsinniger Kinder- und Jugendliteratur sind Texte zu verstehen, die zwei unterschiedliche Lektüren anbieten, eine exoterische für kindliche und jugendliche, eine esoterische für erwachsene Leser […] (Ewers 2008, 125; Hervorhebg. im Orig.). Dies verwundert nicht, da sich Nünnings Ansatz ja gerade durch seine Anleihen aus der Pragmatik auszeichnet. 49 69 Ewers spezifiziert zudem: Bei den in doppelsinnigen kinderliterarischen Texten enthaltenen auf erwachsene Leser bezogenen Reizsignalen handelt es sich um eingestreute Anspielungen, Andeutungen, ironische Wendungen etc., die auf den erwachsenen Leser gemünzt sind und diesem das Vorhandensein einer auf ihn gemünzten esoterischen Botschaft anzeigen (Ewers 2012, 125; Hervorhebg. im Orig.)50. Die Ausführungen in Kapitel 2.2.1 legen nahe, dass wie die hier zitierten „ironischen Wendungen“ (ebd.) auch unzuverlässige Erzählweisen das Potential haben, erwachsene, aber nicht kindliche Leser zu erreichen; es ergibt sich die Notwendigkeit, die analysierten Werke auch auf solche für erwachsene Mitleser eigens zu erschließende Sinnschichten zu prüfen. Ewers erklärt jene Reizsignale nicht weiter. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass es sich um solche Signale handelt, die zwar von Erwachsenen, nicht aber von Kindern entschlüsselt werden können. Schlussendlich kommen alle Signale infrage, die ein ‚erwachsenes‘ Weltwissen erfordern – also die Fähigkeit zur Entschlüsselung beispielsweise politischer, historischer oder auch sexueller Anspielungen. Auch könnten hier spezifisch literarische Konventionen abgerufen werden, die Kindern nicht bekannt sein dürften. In den Analysen ist folglich zu prüfen, an wen sich die erzählerische Unzuverlässigkeit richtet bzw. ob möglicherweise Doppelsinnigkeit vorliegt; es soll zudem untersucht werden, ob „auf erwachsene Leser bezogene Reizsignale“ (ebd.) in den Texten enthalten sind. 2.2.3 Illustrationen Eine besondere Herausforderung bei der Analyse von kinder-, teilweise aber auch jugendliterarischen Werken sind mitunter darin enthaltene Illustrationen. Es ergibt Ewers argumentiert im selben Beitrag außerdem, dass Mehrfachadressierung nicht Merkmal von Doppelsinnigkeit sei; er versteht dort unter doppelsinnigen Werken sogar dezidiert allein an Kinder- und Jugendliche adressierte Texte, die eine solche, an Erwachsene gerichtete ‚versteckte Botschaft‘ enthalten. Dieser Auffassung soll hier jedoch widersprochen werden: Zugegebenermaßen gibt es mehrfachadressierte Texte ohne Doppelsinnigkeit wie beispielsweise die an ‚Jugend und Volk‘ adressierten Erzählungen und Romane des 19. Jhs. – wobei auf den Bildungs- bzw. erwarteten Verstehensgrad abgehoben wird. Vergleichbares gilt für Adressierungen im Mädchenbuch der frühen Zeit (‚Frauen und Jungfrauen‘ o.ä.), womit auf Themen verwiesen wird, die für die ‚Männerwelt’ von nur geringem Interesse sind. Es ergibt sich aber dennoch die Frage, welchen Zweck eine Mehrfachadressierung (v. a. eine implizite) verfolgen sollte, wenn der entsprechende Text nicht eine doppelsinnige Lektüre anböte. Ein allein an Kinder adressierter, aber dennoch doppelsinniger Text hingegen liefe ‚ins Leere‘ – Ewers‘ dezidierte Trennung von Mehrfachadressierung und Doppelsinnigkeit scheint konstruiert, da sie nicht die Wirklichkeit abbildet. 50 70 sich die Frage, inwieweit sie mit enthaltener erzählerischer Unzuverlässigkeit zusammenhängen. Bettina Kümmerling-Meibauer untersucht in ihrem 1999 erschienenen Aufsatz „Metalinguistic Awareness and the Child’s Developing Concept of Irony“ verschiedene Bilderbücher mit ironischer Erzählstruktur: solche, in denen der Text eine ironische Botschaft enthält; solche, deren Bilder eine ironische Botschaft enthalten, sowie solche Bilderbücher, in denen eine ironische Botschaft durch eine Ambivalenz von Text und Bild entsteht. Kümmerling-Meibauer konzentriert sich auf die letztgenannte Variante und vertritt die These, dass gerade das Text-Bild-Verhältnis jüngeren Kindern erleichtere, enthaltene Ironie zu entschlüsseln – selbst wenn die Kinder noch keine Fähigkeit zur sekundären Denkensunterstellung erworben hätten. Sie differenziert in der Folge vier verschiedene Typen ironischer Text-Bild-Arrangements: semantic gap, contrast in artistic style, change in point of view und sequential structure. In der ersten Variante (semantic gap) enthalten die Bilder (wichtige) Informationen, die nicht im Text enthalten sind. Zwar ergebe der Text auch ohne Bilder einen Sinn, doch erst die Kombination von Text und Bild lasse eine ‚Wahrheit’ erschließen: „the pictures force the viewer to be conscious of the inadequacies of the text, and in fact, to enjoy them” (Kümmerling-Meibauer 1999, 167f.). Diese Art der Ironie führe, so Kümmerling-Meibauer, weiterhin dazu, dass Rezipienten das alleinige Vertrauen in entweder die Text- oder die Bildebene verlören. Die zweite Variante (contrast in artistic style) fokussiert auf eine in den Bilderbüchern enthaltene ‚künstlerische Diskrepanz‘. Kümmerling-Meibauer führt hier als Beispiele einige Bilderbücher an, deren Texte sie als relativ ‚uninteressant‘ beschreibt, deren Illustrationen sie wiederum als ‚besonders‘ hervorhebt: Eben jener künstlerische Kontrast suggeriere, dass es eine weitere Ebene zu der ansonsten eindimensionalen Geschichte gebe. Für die dritte Variante ironischer Bilderbücher (change in point of view) konstatiert Kümmerling-Meibauer, dass in ihnen in Bild und Text unterschiedliche Fokalisierungsinstanzen angeboten würden. Die Geschichte werde in diesem Fall nicht von der Figur erzählt, deren Perspektive die Bilder einnehmen, und möglicherweise sehe diese ‚betrachtende‘ Figur mehr als der Erzähler erzähle. Kümmerling-Meibauer sieht die Funktion dieser Variante darin, dass Rezipienten aufgrund der Perspektivenvariation erkennen, dass es möglicherweise auch Alternativen zur erzählten Variante der Geschichte gebe. Am Beispiel von Pat Hutchins Bilderbuch Rosie’s Walk (1967) stellt sie dar: 71 The viewer thus recognizes that the contrast between two or more points of view is an important hint that he should be attentive to possible inconsistent representations, in this case the ironic comparison between appearance, which presents the main character’s […] point of view, and reality, which offers an alternative point of view […] (ebd., 174). Die vierte Variante (sequential structure) berücksichtigt neben dem Text-Bild-Verhältnis zudem die sequentielle Folge der enthaltenen Bilder: In diesen Bilderbüchern gehen die Bilder in ihrer narrativen Funktion weit über den Text hinaus und erzählen Geschichten, die nicht im Text enthalten sind. Gerade die angeordnete Reihe der Bilder, so Kümmerling-Meibauer, sei dabei für das Verständnis der enthaltenen Ironie relevant: The text denies the quality of continuity, and considerable emphasis is placed upon the reader’s active participation in shaping a meaning from the sequence. The repetition offers the viewer a kind of hint at the pleasure of irony (ebd., 175). Auch Maria Nikolajeva und Carole Scott liefern in ihrem 2001 erschienenen Werk How Picturebooks Work ein hilfreiches Analyseraster zum Text-Bild-Verhältnis in Bilderbüchern. Ausgehend von einer Skala, auf der auf der einen Seite nichtillustrierte Texte und auf der anderen Seite textlose Bilderbücher stehen, betrachten die Wissenschaftlerinnen all jene Texte, die durch ein Zusammenspiel von Text und Bild gekennzeichnet sind und unterscheiden dabei grundsätzlich fünf verschiedene Arten des Text-Bild-Verhältnisses: symmetrisch (symmetrical), komplementär (complementary), erweiternd (enhancing), kontrapunktisch (counterpointing) und sylleptisch (sylleptical). In symmetrisch konstruierten Bilderbüchern erzählen Text und Bild die exakt gleiche Geschichte einmal sprachlich und einmal visuell. Bei komplementär gestalteten Bilderbüchern entstehen auf der jeweiligen Darstellungsebene Leerstellen, die wechselseitig durch zusätzliche, auf der entsprechend anderen Ebene vermittelte Informationen gefüllt werden. Einen Schritt weiter geht das erweiternde Bilderbuch: Hier ist die textuelle Ebene ohne die Informationen der visuellen Ebene nicht mehr ‚richtig‘ zu entschlüsseln. Für die vorliegende Arbeit von hoher Bedeutung sind vor allem solche Text-BildBeziehungen, die sich durch bestimmte Widersprüche auszeichnen, Nikolajeva und Scott nennen sie counterpointing relations. Der Begriff des Kontrapunkts, auf den sie hier rekurrieren, entstammt der Musik und bezeichnet solche Stücke, bei denen Rhythmus und Takt identisch sind, die sich aber in der Melodie unterscheiden. Im Kontext des Bilderbuchs umfasst der Begriff solche Geschichten, in denen auf den beiden Darstellungsebenen Unterschiedliches erzählt wird, sich aber dennoch ein Bezug herstellen lässt, wodurch es zu einem Neuverständnis des Gesamten kommt. Nikolajeva und Scott differenzieren hier weiter und nennen eine 72 Reihe von Ansatzpunkten, an denen solche Widersprüche festgemacht werden können. Hier lässt sich eine Nähe zu Kümmerling-Meibauers dritter Variante erkennen (change of point of view); Nikolajeva und Scott gehen allerdings weiter und berücksichtigen neben der Perspektive noch weitere Elemente des discours, so zum Beispiel Adressatenbezug, Stil, Gattung, Modus, Charakterisierung, Metafiktion, Zeit und Ort. Einen Sonderfall des kontrapunktischen Bilderbuchs stellt bei Nikolajeva und Scott das sylleptische Bilderbuch dar, in dem auf der visuellen Ebene zwei oder mehr unabhängige, gegensätzliche Geschichten erzählt werden. Widersprüche finden sich allein in der visuellen Darstellung – eine textuelle Ebene ist hier nicht obligat 51. Im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand lässt sich zusammenfassend festhalten, dass besonders das Text-Bild-Verhältnis verschiedene Möglichkeiten bietet, Diskrepanzen im Werk zu manifestieren bzw. ambivalente Botschaften zu transportieren. Folglich ergibt sich für die folgenden Analysen die Notwendigkeit, eventuell enthaltene Bilder als gleichberechtigt mitzuverhandeln und neben der Bildebene insbesondere auch das Text-Bild-Verhältnis zu untersuchen. Es ist weiterhin zu prüfen, ob – und wenn ja, inwieweit – vorkommende Illustrationen unzuverlässige Erzählweisen unterstützen und ob sie als Signal erzählerischer Unzuverlässigkeit wirksam werden. Da diese Variante jedoch für die vorliegende Arbeit nicht relevant ist, wird sie hier genannt, aber nicht weiter ausgeführt. 51 73 2.2.4 Intermedialität/Intertextualität52 Schließlich fiel bei der Sichtung unzuverlässig erzählter kinder- und jugendliterarischer Werke eine hohe Dichte intertextueller Referenzen auf – sowohl im kinderliterarischen als auch im jugendliterarischen Bereich53. Dies verwundert nicht, ist doch diese Tendenz richtungsweisend für die aktuelle Kinder- und Jugendliteratur. Andreas Wicke (2014) beschreibt: In der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur steigt die Relevanz intertextueller Verweise und Anspielungen signifikant an. So wie Intertextualität für die Literatur der Postmoderne – beispielsweise die Romane Umberto Ecos oder Patrick Süskinds – konstitutiv ist, lässt sich eine entsprechende Entwicklung auch im Kinderbuch zeigen (Wicke 2014, 5). Carsten Gansel hebt bereits 2000 einen Zusammenhang von Postmoderne und Intertextualität im Adoleszenzroman hervor und charakterisiert beispielsweise Brock Coles Celine als „ein intertextuelles Spiel. Ein postmodernes Zitieren von Texten des Gattungsmusters Adoleszenzroman“ (Gansel 2000, 383). Es ergibt sich dennoch die Frage, inwieweit die Phänomene ‚Intertextualität/Intermedialität‘ und ‚Unzuverlässigkeit‘ miteinander verknüpft sind, insbesondere ob es sich um eine kausale oder um eine additive Verbindung handelt. Für eine Untersuchung von Intertextualität in der Kinder- und Jugendliteratur stellt sich zunächst die Frage nach ihrer Markierung. Ulrich Broich lokalisiert 1985 drei verschiedenen Stellen, an denen Markierungen von Intertextualität vorgenommen werden können: im Nebentext, in dem, was er als das ‚innere Kommunikationssystem‘ benennt sowie in dem, was er als ‚äußeres Der Begriff ‚Intermedialität‘ wird in dieser Arbeit in Anlehnung an den Begriff ‚Intertextualität‘ verwendet, und er versammelt alle in den untersuchten Werken vorkommenden Rekurrenzen auf mediale Phänomene, insbesondere Film und Musik. Von einer weiteren Diskussion des Begriffs soll an dieser Stelle abgesehen werden; sie wäre nicht zielführend für den hier zugrundeliegenden Untersuchungsgegenstand. Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit diesem Thema siehe z.B. Weinkauff et al. (2016). 53 Wie in sämtlicher in diesem Abschnitt zitierten Literatur wird auch in dieser Arbeit einem so genannten ‚engen Intertextualitätsbegriff‘ gefolgt; insbesondere die Definition von Mader (2017) soll hier genannt werden: 52 Intertextualität bedeutet den Verweis einer Fiktion entweder auf eine bzw. mehrere Fiktion/en oder auf eine bzw. mehrere Nicht-Fiktion/en, was sich einzig und allein am Text festmachen lässt. Dies kann tatsächliche Prätexte meinen – dann spricht man von Realintertextualität. Gibt es keinen tatsächlichen Prätext, inszeniert sich die Fiktion jedoch mit intertextuellen Verweisen, spricht man von Pseudointertextualität (Mader 2017, 178; Hervorhebg. im Orig.). Zum Phänomen Intertextualität vgl. weiter auch Kristeva (1972), Bloom (1973), Broich (1985), Genette (1993), Pfister (1994). 74 Kommunikationssystem‘ bezeichnet (vgl. Broich 1985, 31ff.) 54. Außerdem gebe es zudem die Möglichkeit, ganz auf Markierungen zu verzichten. Dies sei beispielsweise bei Bibelzitaten der Fall, bei denen man davon ausgehen könne, dass sie aufgrund der großen Bekanntheit des Prätexts leicht verstanden werden. Unter dem Nebentext versteht Broich weitestgehend den Paratext, und er führt mit Fußnote, Titel, Untertitel, Vorwort und Nachwort verschiedene Elemente von Peri- und Epitext als Beispiele für gängige Markierungen von Intertextualität an. Mit dem ‚inneren Kommunikationssystem‘ meint Broich die textinterne Kommunikationsebene; Markierungen auf dieser Ebene könnten beispielsweise sein, dass die Figuren einer Erzählung sich selbst mit einem Prätext auseinandersetzen oder dass dieser Prätext physisch in die Erzählung eingeführt werde – oder dass Figuren aus entsprechenden Prätexten in einer Erzählung „leibhaftig auftreten“ (ebd., 40). Für Markierungen im äußeren Kommunikationssystem hingegen hebt Broich hervor, dass sie in einer Weise geschehen, „von der nur die Leser, nicht aber die Charaktere des Texts Kenntnis haben“ (ebd., 41). Dies seien beispielsweise Figurennamen, verwendete Drucktypen, Schriftbilder, Kursivdruck oder ein Verzicht auf die Markierung von Zitaten55. Jene Markierungen können, so Broich, mitunter verwoben und durchaus dynamisch sein. Er unterstreicht: „[D]ie Bezüge auf ein und denselben Prätext können im Verlauf eines Textes von wachsender oder von abnehmender Deutlichkeit sein“ (ebd., 45). Auch Bettina Kümmerling-Meibauer untersucht in ihrem Beitrag „Im Dschungel des Texts. Kiplings Dschungelbücher und das Prinzip der asymmetrischen Intertextualität“ (2001) Markierungsmöglichkeiten intertextueller Referenzen, sie nimmt dabei dezidiert Kinderliteratur in den Blick. Kümmerling-Meibauer geht davon aus, dass Intertextualität – wie Ironie – ein „metaliterarisches Phänomen“ (Kümmerling-Meibauer 2001, 46) sei, dass also auch zum Verstehen von Intertextualität eine Fähigkeit des Rezipienten zum Second-order belief obligat ist. Sie führt weiter aus: Ähnlich wie z.B. Ironie durch Ironiesignale markiert wird, kann also auch Intertextualität durch Intertextualitätssignale gekennzeichnet werden. Ich bezeichne dabei diejenigen Textstellen als intertextuell markiert, bei denen die Referenz auf den Prätext sowie die damit verbundene Absicht des Autors vom Leser erkannt werden soll (ebd., 47)56. Broich ordnet die paratextuellen Markierungen zwar auch dem äußeren Kommunikationssystem zu, grenzt diese aber dennoch voneinander ab. 55 Broich weist dabei bereits auf mögliche Grenzfälle hin (vgl. Broich 1985, 43) 56 Den Gedanken von „Intertextualitätssignalen“ führt bereits Broich aus (vgl. Broich 1985, 31). 54 75 In der Folge unterscheidet Kümmerling-Meibauer vier verschiedene Markierungsmöglichkeiten von Intertextualität „hinsichtlich ihrer Explizitheit und Durchschaubarkeit für den (kindlichen) Leser“ (ebd., 57); sie führt dazu exemplarisch vier kinderliterarische Beispiele an, die intertextuelle Bezüge zum selben Prätext (Kiplings Jungle Books, 1894/95) aufweisen, sich aber in der Markierung derselben voneinander abgrenzen57. Im ersten Fall werden intertextuelle Referenzen nicht deutlich markiert: Ähnlichkeiten zu erkennen, so äußert Kümmerling-Meibauer, erfordert vom Leser ein hohes Maß von enzyklopädischem und intertextuellem Wissen im engeren Sinne, d.h. genaue Kenntnis des Prätextes und die Fähigkeit, die strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen Prätext und Zieltext zu erfassen (ebd., 50). Sie führt aus, dass kindliche Leser diese Art der Intertextualität kaum erkennten. Den zweiten Fall bezeichnet Kümmerling-Meibauer als „quasi-explizite“ (ebd., 50) Markierung: Anders als im ersten Fall finde hier zwar eine Markierung statt, jedoch bliebe diese weiterhin relativ ‚versteckt‘. Hierbei werden z.B. Zitate als Paraphrasen oder in abgekürzter Form wiedergegeben, indirekt auf Titel, Figuren oder Autoren des Prätexts verwiesen oder Leitmotive des Prätexts eingefügt (ebd.). Sie spricht in diesem Zusammenhang von „intertextuellen Identitäten“ (ebd., 54) und meint hier Begriffe, die sowohl im Prätext als auch im Zieltext enthalten sind. Im dritten Fall seien die Markierungen explizit, „dies können wortwörtliche Übernahmen aus dem Prätext, längere Paraphrasen des Inhalts oder Titelvarianten des Prätextes sein“ (ebd., 50). Diese Art der Markierung ermögliche Kindern unter Umständen ein Erkennen der Intertextualität, auch wenn sie den Prätext nicht kennten. Den vierten Fall der Markierung von Intertextualität charakterisiert KümmerlingMeibauer schließlich als ‚metatextuell‘: In diesen Fällen werde der Prätext im Zieltext metatextuell verhandelt. Ein hierfür typisches, in der Kinderliteratur immer wieder verwendetes Verfahren besteht darin, daß eine oder mehrere Figuren des Textes das entsprechende Werk, das als Prätext fungiert, selbst lesen und kommentieren […] (ebd., 51). Rudyard Kipling: Jungle Books (1894/95), Selma Lagerlöf: Nils Holgerssons unerbara resa genom Sverige (1906/1907, dt.: Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen), Joseph Kessel: Le lion (1958), Wilhelm Speyer: Die goldene Horde (1931), Edith Nesbit: The Wouldbegoods (1901) (vgl. Kümmerling-Meibauer 2001, 50f.) 57 76 Broich und Kümmerling-Meibauer, so lässt sich hervorheben, liefern zwei unterschiedliche Ansatzpunkte zur Untersuchung von Intertextualität: Während Broich den Wirkungsort der Intertextualität fokussiert, unterscheidet Kümmerling-Meibauer Intertextualitätsmarkierungen anhand ihrer Explizität – und stellt diese in den Kontext kindlichen Verständnisses von Intertextualität. Pfister (1985) geht über die Markierung der Intertextualität hinaus und liefert eine „Skalierung der Intertextualität“ (Pfister 1985, 25), die auf deren Intensität abzielt 58. Er formuliert dazu verschiedene qualitative Kriterien (Referentialität, Kommunikativität, Autoreflexivität, Strukturalität, Selektivität, Dialogizität), die er um quantitative Kriterien (Frequenz der Bezüge, Anzahl der verwendeten Prätexte) ergänzt. Pfister liefert damit ein Modell, das er als „räumliches Anschauungsbild“ (ebd.) beschreibt, als „System konzentrischer Kreise oder Schalen […], dessen Mittelpunkt die höchstmögliche Intensität und Verdichtung der Intertextualität markiert“ (ebd.). Andreas Wicke (2014) stellt fest: „Von der vagen Anspielung bis zur strukturellen Verflechtung lassen sich hier ganz unterschiedliche Grade ausmachen“ (Wicke 2014, 10). Ob Kinder Intertextualität erkennen, hängt schließlich auch maßgeblich damit zusammen, ob ihnen die jeweiligen Prätexte bekannt sind. Wicke (2014) weist darauf hin, dass Texte ganz unterschiedlicher Zeiten und Gattungen als Prätexte für Kinder- und Jugendliteratur gelten können. Er führt verschiedene Gruppen von Prätexten auf, die für die Kinder- und Jugendliteratur Relevanz haben: „[s]olche aus dem Bereich der Kinderliteratur, biblische und mythologische Texte, Werke der Erwachsenenliteratur, außerdem gibt es die Gruppe der erfundenen Prätexte“ (ebd., 14). Es ergibt sich hier eine Schnittstelle zu den Überlegungen zur Adressierung bzw. Doppelsinnigkeit unzuverlässig erzählter Kinder- und Jugendliteratur (s. Kap. 2.2.2) – dass intertextuellen Anspielungen ein doppelsinniges Potential enthalten ist bzw. dass sie als „auf erwachsene Leser bezogene Reizsignale“ (Ewers 2012, 125) wirken können, wurde bereits angeführt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass intermediale bzw. interetxtuelle Referenzen – ebenso wie unzuverlässige Erzählweisen – vermehrt und in vielen Fällen auch gleichzeitig in der Kinder- und Jugendliteratur anzutreffen sind und dass Pfister (1985, 30) betont, dass es dabei keineswegs um eine reine „‚Messung‘ intertextueller Intensität“ gehe. 58 77 sich sowohl Intertextualität als auch erzählerische Unzuverlässigkeit durch ein uneindeutiges, potentiell doppelsinniges Moment auszeichnen. Für die anstehenden Analysen ergibt sich die Notwendigkeit, zu prüfen, ob – und wenn ja, inwieweit – eventuelle intertextuelle/intermediale Referenzen mit der erzählerischen Unzuverlässigkeit verflochten sind. 2.3 Untersuchungsparameter In diesem Abschnitt wird zunächst der Begriff ‚unzuverlässiges Erzählen‘ im Kontext des Handlungsraums Kinder- und Jugendliteratur kurz rekapituliert. Weiterhin wird das Vorgehen in den Analysen dargestellt, und die Untersuchungsparameter werden erarbeitet. 2.3.1 Argumentation für ein weites Begriffsverständnis In Anlehnung an die Begrifflichkeit von Martínez und Scheffel werden im Folgenden all jene „Erzähler, deren Behauptungen, zumindest teilweise, als falsch gelten müssen mit Bezug auf das, was in der erzählten Welt der Fall ist“ (Martínez/Scheffel 2016, 105) als unzuverlässig verstanden. Dabei wird einem rezeptionstheoretischen Begriffsverständnis gefolgt: Die Entscheidung über die ‚Wahrheit‘ im diegetischen Rahmen wird den (jeweils adressierten) Rezipienten zugeschrieben; erzählerische Unzuverlässigkeit wird als ein im Rahmen von Naturalisierungsprozessen entstehendes Phänomen begriffen. Inkonsistenzen der Rede einer Erzählinstanz, die nicht durch kontextuelle Einordnung aufzulösen sind, werden als Indikatoren unzuverlässigen Erzählens angesehen. Die für diese Arbeit notwendige Begriffsanpassung an das Handlungssystem der Kinder- und Jugendliteratur legt eine weite Auslegung des Unzuverlässigkeitsbegriffs nahe: Neben einem potentiell eingeschränkten Weltwissen und einem geringeren literarischen Vorwissen junger Rezipienten, muss auch eine kindliche Neigung, Gesagtes wörtlich zu nehmen, berücksichtigt werden. In Kapitel 2.2.1 wurde darauf hingewiesen, dass auch die Entwicklung eines Ironieverstehens ein höchst subjektiver kindlicher Prozess ist. Diese Merkmale kindlicher Rezeption bringen mit sich, dass auch die Naturalisierung erzählerischer Unzuverlässigkeit durchaus variable und individuelle Prozesse beinhaltet – und dies in vermutlich noch höherem Maße als es bei erwachsenen Rezipienten der Fall ist: So könnten beispielsweise auch fantastische Zwei-Welten-Konstruktionen oder auch Spielarten metaphorischen Erzählens in diesem Verständnis mitunter als ‚unzuverlässig‘ eingeschätzt werden. In den Analysen müssen Entscheidungen hierzu im Einzelfall vorgenommen werden, klare Abgrenzungen sind nicht immer möglich. 78 2.3.2 Vorgehen in den Analysen Auf der Basis dieses weiten Begriffsverständnisses sucht diese Arbeit zunächst einen offenen Zugang zu ausgewählten unzuverlässig erzählten Werken der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur, angestrebt wird ein Herangehen, das einen unverstellten Blick auf den Gegenstand gewährleisten soll. In den Einzelanalysen soll daher an erster Stelle eine grundlegende und ausführliche Beschreibung der spezifischen erzählerischen Unzuverlässigkeit vorgenommen werden; der Blick kann hier bei Bedarf auch auf eventuelle weitere (narratologische) Besonderheiten gerichtet werden, die die jeweilige Unzuverlässigkeit unterstützen könnten. Um ein umfassendes Bild erzählerischer Unzuverlässigkeit in der aktuellen Kinderund Jugendliteratur zu liefern und um der Vielseitigkeit des Phänomens des unzuverlässigen Erzählens (insbesondere im kinder- und jugendliterarischen Kontext) gerecht zu werden, werden die Unzuverlässigkeitskonstruktionen der Werke in den Analysen jeweils abschließend aus verschiedenen, vorgegebenen Perspektiven beleuchtet (vgl. Hansen 2007). Diese sind: die kommunikative Situation des jeweiligen Werks sowie die Modellierung der Erzählinstanzen, die spezifische Beschaffenheit der erzählerischen Unzuverlässigkeit, die Bedeutung eventuell enthaltener Illustrationen für die erzählerische Unzuverlässigkeit, mögliche Zusammenhänge von erzählerischer Unzuverlässigkeit und Intermedialität/Intertextualität sowie die Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit. Weiterhin sollen die ausgewählten kinder- und jugendliterarische Werke getrennt voneinander betrachtet werden (s. Kap. 2.4). 1) Themen und Motive In Anlehnung an Allraths These bzgl. der Bedeutung der histoire für die erzählerische Unzuverlässigkeit, dass „dem Inhalt dessen, was ein Erzähler darstellt, […] wichtige Funktionen für die Signalisierung zu[kommt]“ (Allrath 1998, 66), soll zunächst eine kurze Reflexion der behandelten Themen und Motive im Kontext der erzählerischen Unzuverlässigkeit im Handlungsraum Kinderliteratur einerseits und Jugendliteratur andererseits erfolgen. Untersucht werden soll auch, ob, und wenn ja inwieweit typische kinder- bzw. jugendliterarische Themen mit erzählerischer Unzuverlässigkeit verknüpft werden. Wolfs Annahme, dass sich gerade jugendliterarische Werke besonders für unzuverlässiges Erzählen anböten, soll im Hinblick auf behandelte Themen/Motive überprüft werden. Folgende Fragen lassen sich ableiten: 79 Tabelle 8: Fragenkatalog zu Themen und Motiven der untersuchten Werke • • • • • • Welche Themen/Motive werden in den untersuchten Romanen behandelt? Geben die behandelten Themen „implizit Aufschluss über die Perspektive der Erzählinstanz“ (Allrath 1998, 67)? Findet eine Verknüpfung von Thema und erzählerischer Unzuverlässigkeit statt? Wenn ja: Handelt es sich um kinder- und/oder jugendliteraturtypische Themen? Welche Motive fallen auf? In welchem Zusammenhang stehen sie zur erzählerischen Unzuverlässigkeit? … 2) Die kommunikative Situation Buschs Vorschlag, die kommunikativen Ebenen, die (narratologische) Gestaltung der Erzählung sowie die Perspektive der Erzählinstanz in den analytischen Fokus zu rücken (1998, s. Kap. 1.2.2), soll in dieser Arbeit angenommen werden: Gerade im Handlungssystem Kinder- und Jugendliteratur ist eine genaue Betrachtung sowohl der Kommunikationsschemata als auch der Erzähler der verschiedenen Werke im Hinblick auf die jeweilig vorliegende Gestaltung der Unzuverlässigkeit naheliegend. Wie zu zeigen sein wird, sind unzuverlässige Erzählweisen in den betrachteten Werken auf durchaus unterschiedlichen Ebenen angesiedelt, erzählerische Unzuverlässigkeit kann sich beispielsweise darin manifestieren, dass die Identität der Erzählinstanz verschleiert wird und möglicherweise gar nicht klar ist, wer eigentlich erzählt. Folglich ist für die anstehende Untersuchung die Frage nach Sender und Adressat der Unzuverlässigkeit relevant. Entsprechend den Ausführungen in Kapitel 2.2.2 zur potentiellen Doppelsinnigkeit unzuverlässig erzählter Texte werden die Texte weiterhin auf das Vorhandensein von an Erwachsene gerichteten Reizsignalen bzw. Sinnschichten geprüft. Es ergeben sich folgende Fragen bezüglich der kommunikativen Lokalisierung der Unzuverlässigkeit: Tabelle 9: Fragenkatalog zum kommunikativen Ort der Unzuverlässigkeit in kinder- und jugendliterarischen Werken • • • • • • • • Wer ist Sender bzw. Senderin der Unzuverlässigkeit? An welchem (kommunikativen) Ort der Erzählung ist die Unzuverlässigkeit zu lokalisieren? Handelt es sich um einen homo- oder um eine/n heterodiegetischen Erzähler/Erzählerin? Wie wird fokalisiert? Wie ist die Perspektivierung gestaltet? Finden sich Leseranreden? Finden sich „an erwachsene Leser gerichtete Reizsignale“ (vgl. Ewers 2012) bzw. Sinnschichten? Lässt sich Doppelsinnigkeit feststellen? … 80 3) Die Modellierung der Erzählinstanzen Hofmanns Argumentation folgend, dass kindliche Unzuverlässigkeit einerseits aus einer kognitiven bzw. emotionalen Überforderung, anderseits aus einer kindlichen Fabulierlust resultieren könne (vgl. Hofmann 2010), soll weiterhin im Falle von kindlichen bzw. naiven Erzählern auf eine solche Konzeption der jeweiligen Figur geachtet werden. Tabelle 10: Fragenkatalog zur Modellierung der Erzählinstanz in kinder- und jugendliterarischen Werken • • • • • Ist die Erzählinstanz kindlich oder erwachsen? Bei kindlichen bzw. naiven Erzählinstanzen: Resultiert die Unzuverlässigkeit aus einer kognitiven bzw. emotionalen Überforderung? Handelt es sich um kindliche Fabulierlust? Kann die Figur als ‚defizitär‘ charakterisiert werden? Als ‚beschädigt‘? (vgl. Lexe 2017) Ist die Unzuverlässigkeit intentional? … 4) Die Markierung der Unzuverlässigkeit In Anlehnung an die Ausführungen in Kapitel 2.2.1 zum kindlichen (Un-)Verständnis von Ironie werden die verschiedenen Elemente der von Nünning definierten textuellen Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit (vgl. Nünning 1998, 28) in drei verschiedenen Kategorien betrachtet: Erstens sind dies Signale, die als textuelle Diskrepanzen erscheinen, zweitens Signale, die eine erhöhte Involviertheit oder Subjektivität des Erzählers suggerieren und drittens paratextuelle Hinweise. Auch für die Markierung der erzählerischen Unzuverlässigkeit lassen sich Analyseparameter in Form eines Fragenkatalogs darstellen: Tabelle 11: Fragenkatalog zur Untersuchung der Markierung erzählerischer Unzuverlässigkeit in kinder- und jugendliterarischen Werken • • • • • Gibt es textuelle Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit in Form von textuellen Diskrepanzen? (Wann) werden diese Diskrepanzen aufgelöst? Gibt es textuelle Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit in Form erhöhter Involviertheit bzw. Subjektivität? Finden sich im Paratext Hinweise auf die erzählerische Unzuverlässigkeit? Gibt es weitere narratologische Besonderheiten, die die Unzuverlässigkeit markieren? … Einige der ausgewählten kinderliterarischen Werke enthalten Illustrationen. In diesen Fällen soll gerade das Text-Bild-Verhältnis besonders betrachtet werden und 81 mögliche Zusammenhänge der visuellen Komponente mit der erzählerischen Unzuverlässigkeit betrachtet werden. In Kapitel 2.2.3 wurden verschiedene Analyseraster für das Text-Bild-Verhältnis aufgeführt. In Anlehnung an den dort vorgestellten Beitrag von Nikolajeva und Scott (2001) soll besonders auf kontrapunktische Text-Bild-Verhältnisse geachtet werden. Unter Bezugnahme auf die Ausführungen von Bettina Kümmerling-Meibauer sollen jene infrage kommenden Texte weiterhin auf das Vorkommen ironischer Text-Bild-Arrangements geprüft werden. Für die Analyse der Markierung in den kinderliterarischen Werken ergibt sich in Bezug auf enthaltene Illustrationen folgender zusätzlicher Fragenkatalog: Tabelle 12: (Zusätzlicher) Fragenkatalog zur Untersuchung der Markierung der Unzuverlässigkeit in kinderliterarischen Werken, die Illustrationen enthalten • • • • • In welchem Verhältnis stehen die Illustrationen zum Text? Lassen sich kontrapunktische Text-Bild-Beziehungen ausmachen? Wenn ja: Wie manifestieren sich diese? Verstärken/ unterstützen sie potenzielle unzuverlässige bzw. doppelsinnige Lesarten des Texts? Kommt den Illustrationen möglicherweise eine Korrektivfunktion zu? Lässt sich ein von Kümmerling-Meibauer beschriebenes ironisches Text-BildArrangement erkennen: semantic gap, contrast in artistic style, change in point of view oder sequential structure? Lassen sich kontrapunktische Text-Bild-Beziehung (nach Nikolajeva/Scott) feststellen? … 5) Die weitere Beschaffenheit der Unzuverlässigkeit Von Begriffen wie ‚Art‘ oder ‚Typ‘ von Unzuverlässigkeit wird bewusst abgesehen. Der hier präferierte Begriff der ‚Beschaffenheit‘ soll deutlich machen, dass es sich bei erzählerischer Unzuverlässigkeit um ein multifaktorielles Phänomen handelt, das sich in besonderem Maße durch Flexibilität auszeichnet. Starre Kategorien oder Typisierungen können diesen Charakter der Unzuverlässigkeit kaum erfassen – so werden die offen formulierten Unterscheidungen von Martínez/Scheffel bzw. Köppe/Kindt präferiert und es soll geprüft werden, ob sich eine Unterscheidung in mimetisch oder theoretisch, bzw. um offen oder täuschend konstruierte Unzuverlässigkeit vornehmen lässt. Unter dem Gesichtspunkt der Beschaffenheit sollen weiterhin diejenigen Aspekte untersucht werden, die auf Gestaltung bzw. Komplexität der erzählerischen Unzuverlässigkeit abzielen wie z.B. die Frage nach der Entscheidbarkeit. Insbesondere soll im kinder- und jugendliterarischen Kontext rekapituliert werden, ob, und wenn ja wie sich die Unzuverlässigkeit der Erzählung im Verlauf der Geschichte in relevanter Weise ändert. Folgende Fragen sollen berücksichtigt werden: 82 Tabelle 13: Fragenkatalog zur Untersuchung der weiteren Beschaffenheit der Unzuverlässigkeit in kinderliterarischen Werken Ist die Unzuverlässigkeit ontologisch determinierbar? Handelt es sich um mimetische oder theoretische Unzuverlässigkeit? (vgl. Martínez/Scheffel 2016) Ist sie täuschend/offen konstruiert? (vgl. Köppe/Kindt 2014) Wie ist die Komplexität der Unzuverlässigkeitskonstruktion einzuschätzen? (Wie) entwickelt sich die Unzuverlässigkeit im Verlauf der Erzählung? … • • • • • • 6) Intermedialität/Intertextualität Entsprechend den Vorüberlegungen in Kapitel 2.2.4 soll auf das Vorkommen intermedialer bzw. intertextueller Verweise geschaut werden. In diesem Zusammenhang ist insbesondere von Interesse, ob, und wenn ja, inwiefern solche Anleihen Bedeutung für die erzählerische Unzuverlässigkeit haben. Untersucht werden soll, wie die Intermedialität/Intertextualität markiert wird, insbesondere, auf welcher Ebene potenzielle Markierungen stattfinden (vgl. hierzu Broich 1985, 40f. sowie Kap. 2.2.4). Weiterhin soll geprüft werden, wie deutlich Markierungen gesetzt werden: In Bezug auf den kinder- und jugendliterarischen Kontext dieser Arbeit soll Kümmerling-Meibauers Auseinandersetzung gefolgt werden und insbesondere auch die ‚Durchschaubarkeit‘ der Intermedialität/Intertextualität für Kinder bzw. Jugendliche beurteilt werden. Folglich ist auch für die Intermedialität/Intertextualität die Adressierung der jeweiligen Werke mit zu berücksichtigen. Für die Analyse intermedialer bzw. intertextueller Anleihen lassen sich folgende Fragen zusammenfassen: Tabelle 14: Fragenkatalog zur Untersuchung der Intermedialität/Intertextualität in unzuverlässig erzählten kinder- und jugendliterarischen Werken • • • • • • • • Lassen sich intermediale bzw. intertextuelle Referenzen ausfindig machen? (An welchem Wirkungsort) finden sich die intermedialen/intertextuellen Markierungen? (vgl. Broich 1985: im äußeren oder im inneren Kommunikationssystem?) Auf welche Prätexte wird rekurriert? (Realintertextualität? Pseudointertextualität?) Entstammen die Prätexte der KJL oder der sog. Erwachsenenliteratur? Wie ist die Intermedialität/Intertextualität markiert? Ist sie nach KümmerlingMeibauer als nicht-deutlich, quasi-explizit, explizit oder metatextuell charakterisierbar? Handelt es sich um Einzel- und/oder Systemreferenzen? In welcher Weise wirken sich die intermedialen/intertextuellen Bezüge auf die erzählerische Unzuverlässigkeit aus? … 83 7) Die Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit In Kapitel 1.6 wurde auf eine Bandbreite möglicher Funktionen unzuverlässiger Erzählweisen hingewiesen. Abschließend sollen die verschiedenen Werke hinsichtlich ihres Wirkungspotentials untersucht werden. Hier soll vor allem gemäß der ebenfalls in Kapitel 1.6 erarbeiteten Systematik zwischen intern literarischen und extern literarischen Funktionen unterschieden werden. Weiterhin müssen affektive und appellative Wirkungspotentiale berücksichtigt werden – gerade im Hinblick auf die spezifische Kommunikationssituation kinderliterarischer Werke könnte ein Wirkungspotential der erzählerischen Unzuverlässigkeit bei einer doppelsinnigen Erzählanlage auch die Unterhaltung eines vorlesenden Erwachsenen sein. Hinsichtlich der Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit ergibt sich folgender Fragenkatalog: Tabelle 15: Fragenkatalog zur Untersuchung der Funktionen in unzuverlässig erzählten kinder- und jugendliterarischen Werken • • • • • • Werden durch die Verwendung unzuverlässiger Erzählweisen signifikante Beziehungen innerhalb des Textes hergestellt? (interne literarische Funktionen) Falls ja: Dienen diese der Gestaltung der erzählten Welt/der Charakterisierung der Erzählinstanz/dem Spannungsaufbau/der Illusionsbildung bzw. -brechung, der Hervorhebung des ‚Gemachten‘/der Variation des Modus? Kommt ihnen eine komische/ästhetische Funktion zu? Werden durch die Verwendung unzuverlässiger Erzählweisen signifikante Beziehungen zu außerhalb des Textes liegenden Sachverhalten hergestellt? (externe literarische Funktionen) Falls ja: Werden durch sie gesellschaftlicher Phänomene abgebildet/kritisiert/parodiert? Werden literarische Diskurse inszeniert? (externe metafiktionale Funktion) Dienen die unzuverlässigen Erzählweisen der Unterhaltung eines vorlesenden Erwachsenen? … Zusammengenommen sollen diese Listen von Fragen bei der Einordnung der jeweiligen Texte Anwendung finden. Einerseits können so Aussagen über die Komplexität der Unzuverlässigkeit in den jeweiligen Texten gemacht werden, andererseits wird durch den Vergleich der verschiedenen Texte hinsichtlich dieser Parameter ein umfassender Blick auf das Phänomen der erzählerischen Unzuverlässigkeit in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur ermöglicht. 2.4 Textauswahl Für die Untersuchung erzählerischer Unzuverlässigkeit in der aktuellen realistischen Kinder- und Jugendliteratur wurde eine Auswahl von insgesamt elf Werken 84 (fünf kinderliterarische und sechs jugendliterarische) getroffen. Obligates und damit wichtigstes Auswahlkriterium waren in den Texten enthaltene unzuverlässige Erzählweisen, wobei versucht wurde, eine Bandbreite von Werken unterschiedlicher Beschaffenheit zu versammeln59. Es wurde darauf geachtet, dass in den Werken ein insgesamt breites Altersspektrum der Adressatengruppen bedient wird, wobei Werke mit einer Altersempfehlung ab zwölf Jahren aufwärts als Jugendliteratur eingeordnet wurden. Für die untersuchten jugendliterarischen Werke wurde zudem eine nach oben offene Einschätzung gewählt, so dass sich in der Textauswahl auch ein Werk findet, das an ältere Jugendliche/junge Erwachsene gerichtet ist (Markus Berges: Ein langer Brief an September Nowak). Weiterhin war das Erscheinungsdatum der Werke für die Auswahl ausschlaggebend; da das Phänomen besonders in den letzten zehn Jahren verstärkt aufgetreten ist, wurde dieser Zeitraum bevorzugt, um Vergleichbarkeit zu ermöglichen. Die meisten der ausgewählten Werke sind im Zeitraum zwischen 2010 und 2014 erschienen, lediglich Zoran Drvenkars Die Kurzhosengang (2004, erschienen unter den Pseudonymen Victor Lanois und Yves Caspak) und Felicitas Hoppes Iwein Löwenritter (2008) sind früher veröffentlicht worden. Auf eine Trennung zwischen fantastischer und realistischer Literatur wurde verzichtet. Dies begründet sich vor allem in dem gewählten weiten Begriffsverständnis erzählerischer Unzuverlässigkeit: So genannte Zwei-Welten-Konstruktionen fantastischer Werke können in diesem Begriffsverständnis im kinderliterarischen Kontext durchaus als unzuverlässig gelten (vgl. hierzu auch Klimek 2017, 27). Eine strikte Unterscheidung realistischer und fantastischer Werke ist in diesem Sinne nicht vonnöten und für die Auswahl der Werke wurde entsprechend auf die unterschiedlichen Konstruktionen der Unzuverlässigkeit bzw. auf die Adressierung der Werke Wert gelegt60. Bei der Auswahl der Werke fällt auf, dass viele von ihnen Preise bzw. Nominierungen oder positive Besprechungen in einschlägigen Zeitungen erhalten haben, auf eventuelle Auszeichnungen der einzelnen Werke wird in den Analysen kurz hingewiesen. 59 Im für diese Untersuchung relevanten Zeitraum sind nur wenige fantastische Werke erschienen, die infrage gekommen wären. Ein zunächst ausgewählter Roman (Ich, Kasimir – an Bord des Piratenschiffs von Elke Schmitter; 2012) wurde nicht in diese Arbeit aufgenommen, da sich die enthaltene Unzuverlässigkeit trotz der fantastischen Konstruktion des Werks kaum von anderen unterschied und damit auch keine neuen Erkenntnisse brachte. 60 85 2.4.1 Ausgewählte kinderliterarische Werke Folgende Werke wurden für die Einzelanalysen im Bereich Kinderliteratur ausgewählt: Baisch, Milena: Anton taucht ab. Illustrationen von Elke Kusche. Weinheim und Basel: Beltz & Gelberg 2010. 112 Seiten. Verlagsempfehlung ab neun Jahren. Caspak, Victor/Lanois, Yves [d.i. Zoran Drvenkar und Andreas Steinhöfel]: Die Kurzhosengang. Illustrationen von Ole Könnecke. Hamburg: Carlsen 2004. 208 Seiten. Verlagsempfehlung ab zehn Jahren. Hoppe, Felicitas: Iwein Löwenritter. Illustrationen von Michael Sowa. Frankfurt a. M.: Fischer 2008. 256 Seiten. Verlagsempfehlung ab zehn Jahren. Opel-Götz, Susann: Außerirdisch ist woanders. Hamburg: Oetinger 2012. 316 Seiten. Verlagsempfehlung ab zehn Jahren. Richter, Jutta: Helden. München: Hanser 2013. 96 Seiten. Verlagsempfehlung für Kinder ab acht Jahren. 86 2.4.2 Ausgewählte jugendliterarische Werke Folgende Werke wurden für die Einzelanalysen im Bereich Jugendliteratur ausgewählt: Avery, Tom: Der Schatten meines Bruders. Roman. Aus dem Engl. von Wieland Freund und Andrea Wandel. Weinheim [u.a.]: Beltz & Gelberg 2014. 145 Seiten. Verlagsempfehlung ab zwölf Jahren. Bach, Tamara: Marienbilder. Hamburg: Carlsen 2014. 134 Seiten. Verlagsempfehlung ab vierzehn Jahren. Berges, Markus: Ein langer Brief an September Nowak. Roman. Berlin: Rowohlt Berlin 2010. 208 Seiten. Ohne Altersempfehlung. Frascella, Christian: Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe. Roman. Aus dem Ital. von Annette Kopetzki. Frankfurt am Main: Frankfurter Verl.-Anst. 2012. 316 Seiten. Verlagsempfehlung ab vierzehn Jahren. Mohl, Nils: Es war einmal Indianerland. Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verl. 2011. 347 Seiten. Verlagsempfehlung ab sechzehn Jahren. Van Ranst, Do: Mütter mit Messern sind gefährlich. Hamburg: Carlsen 2010. 158 Seiten. Verlagsempfehlung ab zwölf Jahren. 87 3. Analysen In diesem Kapitel, das den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit darstellt, werden zunächst die ausgewählten kinderliterarischen (Kap. 3.1), dann die jugendliterarischen Werke (Kap. 3.2) bezüglich der Modellierung ihrer jeweiligen spezifischen erzählerischen Unzuverlässigkeit anhand der in Kapitel 2.3 erarbeiteten Parameter untersucht. 3.1 Kinderliteratur Die Reihenfolge der folgenden Analysen orientiert sich weitestgehend an einer in den Werken beobachteten zunehmenden Komplexität erzählerischen Unzuverlässigkeit: von einer relativ überschaubar gestalteten Unzuverlässigkeit in Jutta Richters Helden (Kap. 3.1.1) bis hin zur nahezu unentscheidbaren Ausgestaltung der Unzuverlässigkeit in Zoran Drvenkars Die Kurzhosengang (Kap. 3.1.5). Wir haben das Unheimliche zwar entdeckt und enttarnt, aber besiegt haben wir es nicht. (Richter 2013, 66) 3.1.1 Jutta Richter: Helden Der Kinderroman Helden von Jutta Richter erschien 2013 im Hanser Verlag. Das Werk hat 96 Seiten und wird vom Verlag für Kinder ab acht Jahren empfohlen. Die erzählerische Unzuverlässigkeit der Ich-Erzählerin Mia begründet sich in ihrer noch kindlich-naiven Weltsicht. Dabei ist die Unzuverlässigkeit als wenig komplex einzustufen, sie manifestiert sich in einer gelegentlich unzuverlässigen Bewertung des Geschehens durch die Erzählerin. Inhalt, Themen, Komposition Die Ich-Erzählerin Mia Besler verbringt die freie Zeit der Sommerferien mit ihren Freunden Felix Vorhelm und Corinna Thiemann. Den Kindern ist langweilig, und Felix schlägt den Mädchen vor, zu ‚schröggeln‘. Doch schon das erste entzündete Streichholz entfacht die trockenen Grasbüschel, und schnell steht die Bahndammböschung in Flammen. Die Kinder versuchen zunächst, das Feuer auszutreten, ergreifen aber die Flucht, als sie das herannahende Martinshorn der Feuerwehr hören. Vor allem Felix hat Grund zur Sorge: „Wenn das rauskommt, stecken die 88 mich wieder ins Kinderheim“ (Richter 2013, 12). Doch auch Mia und Corinna fürchten die Konsequenzen ihres Handelns, und die Freunde schwören einander, nichts zu verraten. In dem von ihnen gegründeten „Club der Meisterdetektive“ (ebd., 23) untersuchen die drei Kinder das „Unheimliche“ (ebd.), das „viele Gesichter und viele Namen“ (ebd.) hat, also das, was den Kindern verborgen bleibt, was der Erwachsenenwelt zugehörig ist und was nicht laut ausgesprochen wird. Hinter vorgehaltener Hand – und für Mia in einer Art Halbschatten – wird jedoch massiv ‚getratscht‘. Die Wursttheke ist dabei ein immer wiederkehrender Handlungsort, an dem die Metzgerin, Frau Trietsch, ihre neuesten Gerüchte verbreitet. Auch Mias Mutter interessiert sich sehr für das, was in der Nachbarschaft passiert. Nach und nach decken sich für Mia im Laufe des Sommers einige Geheimnisse auf – so ist Felixens Mutter scheinbar zu krank, um sich um den Sohn zu kümmern, und Corinnas Vater ist eben nicht nur auf einer langen Geschäftsreise in Afrika unterwegs: „‚Mein Vater hat eine Neue‘, sagte Corinna“ (ebd., 69). Als Lukas Trietsch, der Sohn der Metzgerin, in den Detektivclub eintreten möchte, sehen sich die Kinder vor einem Problem: Sie mögen den aufdringlichen Jungen nicht und haben Sorge, dass er ihrem Geheimnis auf die Schliche kommen könnte. Nachdem es sogar zu einer Prügelei zwischen Felix und Lukas kommt, entscheiden die Mädchen, Lukas aufzunehmen, damit er aufhört, den Kindern nachzuspionieren. Felix besänftigen sie, indem sie ihm versichern, Lukas werde eben zur Ablenkung ständig im „Außendienst“ (ebd., 55) eingesetzt werden. Von einem dieser Einsätze meldet Lukas den Kindern, dass Herr Brüning, der straßenbekannte Alkoholiker, als Feuerteufel verhaftet worden sei. Diese Nachricht ist ein Schock für die drei Freunde, auf denen die Schuld schwer lastet, und schließlich ist es Felix, der für sie entscheidet: „Das mit dem Schwur könnt ihr vergessen“ (ebd., 82). Es stellt sich jedoch heraus, dass Brüning nicht von der Polizei, sondern von einem Notarzt abgeholt worden ist. Da nun aber Lukas einen Verdacht gegen die Kinder hegt („Wahrscheinlich wart ihr es selbst!“; ebd., 85), entschließen sich die drei, Herrn Brüning im Krankenhaus zu besuchen und ihm ihre Schuld zu gestehen. Brüning wiederum nimmt das Geständnis mit Humor auf und versichert ihnen: „Wir haben von jetzt an ein Geheimnis“ (ebd., 89). Zuletzt ist der Bahndamm wieder grün, und die Geschichte endet mit einem großen Straßenfest, zu dem überraschenderweise sogar Felixens Mutter und Corinnas Vater erscheinen. 89 Insgesamt werden in dem Roman verschiedene Aspekte der kindlichen Lebenswelt behandelt: Es geht um Freundschaft, um Familienleben und familiäre Probleme, um Schuld und schlechtes Gewissen. Vor allem geht es aber auch darum, dass sich die Kinder in einer Erwachsenenwelt zurechtfinden müssen, die geprägt ist von Gerüchten und Vorurteilen. Mia erzählt ihre Geschichte in zwei einander abwechselnden Erzählsträngen, die sich auf der Handlungs- aber auch auf der Darstellungsebene voneinander unterscheiden und bereits durch unterschiedliche Typografie eindeutig markiert sind. In einem Strang erzählt Mia in der Rückschau, diese Kapitel sind mit proleptischen Überschriften (z.B. „Mutprobe“; ebd., 31 / „Hausarrest“; ebd., 67) versehen. In diesem Strang erzählt Mia die Geschichte des Sommers, und es finden sich entsprechend viele narrative Elemente; sie tritt als Erzählerin in den Vordergrund. Im Unterschied hierzu finden sich im anderen Erzählstrang sehr kurze, nummerierte Kapitel, die präsentisch erzählt werden und die in höchst dramatischem Modus stehen – mitunter handelt es sich um beinahe reine Dialogsequenzen (vgl. z.B. ebd., 30). Dieser zweite Erzählstrang enthält kaum handlungsrelevante Informationen, sondern bietet vor allem elliptisch eingefügte ausschnitthafte Einblicke in Mias (Er-)Leben. Im vorletzten Kapitel, als die Kinder ins Krankenhaus fahren, um Brüning ihr Geständnis zu machen (ebd., 86ff), kommt es zu einer Überschneidung der beiden Handlungsstränge. Entsprechend dem vorangehenden Erzählmuster findet man an dieser Stelle ein mit der Ziffer 11 überschriebenes, in der Schriftart der präsentisch erzählten Textteile gesetztes Kapitel, das jedoch inhaltlich und in Bezug auf die Darstellungsweise eine Mischform der beiden Erzählstränge zu bilden scheint: Hier wird die Handlung vorangetrieben, es geht nicht alleine um Mias Empfinden. Gleichwohl wird präsentisch erzählt – die beiden Erzählstränge treffen sich nun auch in Bezug auf den Zeitpunkt des Erzählens. Das letzte Kapitel, in dem die Geschichte zum happy end geführt wird, wird dann jedoch wieder rückblickend erzählt. Erzählerische Unzuverlässigkeit Mia nennt das, was sie zwar wahrnimmt, aber doch nicht versteht, „das Unheimliche“ (vgl. ebd. 23). Wiederholt kann sie das Geschehen nur unzureichend deuten. Obwohl es kein Geheimnis ist, dass Felix zuvor im Kinderheim war, wird nicht offen darüber gesprochen. Mia erzählt, es sei „ein ungeschriebenes Gesetz [gewesen], dass wir ihn auch nicht danach fragten“ (ebd., 19). Entsprechend muss Mia ihre 90 eigenen Schlüsse aus den Informationen ziehen, die ihr zugänglich sind. Da sie ständig von Nachbarschaftstratsch umgeben ist, sind diese Informationen jedoch nicht unbedingt zuverlässig. An der Wursttheke unterhalten sich Mias Mutter und Frau Trietsch über ihren Kopf hinweg. Obwohl Felixens Name nicht genannt wird, ist doch klar, dass sich die Frauen über ihn unterhalten. Dabei hindert Mias Anwesenheit die Damen nicht an ihrem Gerede. Sie nehmen zwar wahr, dass das Kind anwesend ist, stören sich aber nicht an der Tatsache, dass Mia mit Felix befreundet ist: „Schwierig war er ja schon immer“, sagte Frau Trietsch wieder leiser. „Aber die Mutter hat ihm ja auch nie was entgegengesetzt. Dabei weiß man doch, dass Kinder Grenzen brauchen. Und ob die im Kinderheim so einem Jungen gerecht werden können, das sei mal dahingestellt. Man liest und hört ja so manches. Und dann nachts in diesen schrecklichen Schlafsälen… Also ich wünsche es keinem Kind, dort zu enden. Kinderheime sind die schrecklichsten Orte der Welt.“ Frau Trietsch reichte meiner Mutter das Fleischpäckchen. „Macht acht fünfundsiebzig, Frau Besler.“ Sie lächelte mich an. „Na, Liebes, du möchtest doch bestimmt ein Scheibchen Wurst.“ Sie rollte mir ihren dicken roten Fingern eine Wurstscheibe auf und hielt sie mir hin. „Und was sagt man?“, fragte Mama. „Danke, Frau Trietsch“, sagte ich, obwohl ich die Wurst gar nicht mochte (ebd., 18f.). Hier wird deutlich, wie bedrohlich die Erwachsenenwelt auf Mia wirkt und wie klein das Mädchen sich in seiner Rolle fühlt. Artig bedankt es sich bei der unangenehmen Frau mit den „dicken roten Fingern“ (ebd., 18). Mia glaubt, was sie hört: „[I]ch wusste auch, dass Kinderheime die schrecklichsten Orte der Welt waren“ (ebd., 17). Mit diesen Worten leitet sie das Kapitel ein. Zu einer kritischen Hinterfragung des Gehörten kommt sie nicht, und anscheinend kann ihr auch niemand helfen: „Was in den Schlafsälen passiert war, habe ich nicht herausgefunden“ (ebd., 19). Mia lässt nun ihrer Fantasie freien Lauf: Aber ich malte es mir aus. Nachts im Bett, wenn alles ganz dunkel war. Ich stellte mir vor, ich läge in einem Schlafsaal, in einem Schlafsaal so groß wie die Turnhalle in unserer Schule. Die Betten standen dort dicht nebeneinander, und in jedem Bett lag ein weinendes Kind mit Heimweh. Und das Schluchzen und Stöhnen war so laut, dass man nicht einschlafen konnte. Aber niemand tröstete die Kinder […]. Ich stellte mir vor, dass vor den großen Türen des Schlafsaals ein Wächter stand, mit finsterer Miene und ganz bösen Augen. Und wenn das Weinen zu laut wurde, riss der Wächter die Tür auf und brüllte einfach los (ebd., 19f.). Wer weiß, dass diese kindlichen Vorstellungen keineswegs der Realität in heutigen deutschen Kinderheimen entsprechen, kann die Aussagen von Frau Trietsch als von Vorurteilen geprägtes Gerede abtun. Dass Mia ihr glaubt, lässt das Kind naiv erscheinen. Allerdings markiert Mia mit den Worten „Aber ich malte es mir aus“ (ebd., 19) und „Ich stellte mir vor“ (ebd.), dass es sich hier um Fantasieprodukte 91 handelt. Als Mia später ein Telefonat der Mutter belauscht und dabei erfährt, dass Felixens Platz im Kinderheim bereits beantragt ist, resümiert sie: Aber das kann doch nicht sein, dass Felix zurück ins Heim muss […]. Wir haben das Unheimliche zwar entdeckt und enttarnt, aber besiegt haben wir es nicht. Im Gegenteil, das Unheimliche wird mit jedem Tag unheimlicher. Ich muss sofort etwas unternehmen. Wir müssen verhindern, dass sie Felix ins Kinderheim bringen (ebd., 66). Ähnlich stellt sich die Situation um Corinnas Vater dar, der seit Monaten in Afrika arbeitet. Wieder hört Mia ein Gespräch ihrer Mutter an der Wursttheke: „,Der kommt nicht zurück‘, sagt Frau Trietsch“ (ebd., 57). Abends liegt Mia in ihrem Bett und reflektiert das Gehörte. Bislang hatte sie Corinna insgeheim um ihren aufregenden „Wüstenvater“ (ebd., 60) beneidet und dabei wieder ihre Fantasie spielen lassen: Abends im Dunkeln hatte ich mir ausgemalt, wie es sein würde […]. Ich war sicher, Corinna würde in einem Haus wohnen, das wie ein Schloss aussah, mit einem Park und einer hohen Mauer drum herum. Neben dem Schloss wäre der Pferdestall. Corinna würde ein Zimmer bewohnen mit rosa Wänden und einem Kronleuchter […] (ebd., 61). Mia erzählt: „Jetzt war das Feuer gelöscht. Mit einem einzigen Satz von Frau Trietsch […]. Alle Träume waren zerplatzt mit einem einzigen ‚Der kommt nicht zurück‘“ (ebd.). Ihre Träume sind dabei regelrechte Kleinmädchenfantasien – wieder wird ihre Naivität deutlich, und sie wird so als eine grundsätzlich noch sehr kindliche Erzählerin dargestellt, auf deren Einschätzungen man sich eben nicht unbedingt verlassen kann. Man könnte hier argumentieren, dass Mia in beiden genannten Fällen in der Rückschau erzählt und zum Zeitpunkt des Erzählens doch gereift erscheint, doch gibt es weitere Textstellen, an denen Zweifel an der Zuverlässigkeit von Mias Erzählung aufkommen: Etwas später kommt Felix aufgebracht zu Mia; die Nachbarn Herr Pohling, Frau Fontana und Herr Brüning versuchen, die streunenden Katzen der Straße einzufangen. „Die wollen die Katzen plattmachen. Eine Säuberungsaktion, haben sie gesagt. Das wäre eine Säuberungsaktion“ (ebd., 25f.), sagt er zu Mia. Der (erfolgreiche) Versuch der beiden Kinder, die Katzen zu retten, trifft auf wenig Verständnis bei den Erwachsenen. Unklar ist dabei jedoch die Rolle Brünings. In Mias Schilderung ist er Teil der Gruppe, die die Katzen „plattmachen“ (ebd.) wollen: Drei Schritte hinter ihr [d.i. Fräulein Fontana, N.W.] torkelte Herr Brüning, mit einem Eichenknüppel bewaffnet. „Wenn ich euch Saubande kriege“, lallte er, „wenn ich euch Saubande kriege, werdet ihr ersäuft. Alle miteinander ersäuft.“ Sein Lachen klang wie das Meckern eines Ziegenbocks (ebd., 25). 92 In der folgenden Auseinandersetzung der Kinder und Erwachsenen spielt Brüning keine weitere aktive Rolle. Als Fräulein Fontana zu Mias Mutter geht, möchte Brüning mitgehen, wird aber von Herrn Pohling abgefertigt: „Du bleibst hier, Benno. Ulrike und ich erledigen das schon.“ „Ersäufen“, lallte Benno Brüning. „Man sollte sie alle ersäufen.“ (ebd., 28) Für Mia ist klar, dass sich Brünings Kommentar auf die Katzen bezieht. Sie kommentiert: „Jetzt hatte das Unheimliche sogar noch Vornamen bekommen“ (ebd.). Noch in dieser Situation versucht Herr Brüning, mit Mia zu sprechen, doch Mia läuft davon. Am Ende des Romans erfährt man dann, dass sich Mia in Brüning geirrt hat: Nicht nur hat er Verständnis für die Situation der Kinder, er ärgert sich auch über die „Trietschtratsche“ (ebd., 88) und Frau Fontana. Sein vorheriges Verhalten bei der ‚Katzenjagd‘ kann nun umgedeutet und so gelesen werden, dass seine abfälligen Kommentare über das „Ersäufen“ nicht auf die Katzen, sondern auf Frau Fontana und Herrn Pohling zu beziehen sind. Mia reflektiert dies jedoch nicht. In den präsentisch erzählten Kapiteln, die von Mia nahezu unkommentiert erzählt werden, erhält man Einblicke in das Familienleben. Durch die stark unmittelbare Darstellung von Mias Erleben kann man sich dabei sehr gut in das Mädchen hineinversetzen. Die kurzen, ausschnitthaften Sequenzen haben durch ihre abwechselnde Platzierung im Romanaufbau eine spannungsfördernde Funktion und stehen in Zusammenhang mit dem ‚Unheimlichen‘. Liest man die Kapitel „5“, „6“ und „7“ nacheinander, bietet sich folgendes Szenario: Nachdem die Kinder heimlich Fräulein Fontana durch deren Badezimmerfenster beim Duschen beobachtet haben, besucht diese Frau Besler. Mia wird von ihrer Mutter mit den Worten: „Wir sprechen uns später“ (ebd., 37) in ihr Zimmer geschickt (Kapitel „5“). Es ist nicht klar, ob Frau Fontanas Besuch mit der Aktion der Kinder zusammenhängt, und Mia bleibt nichts übrig, als auf ihrem Bett zu sitzen und zu warten. „,Wir sprechen uns später‘ ist die allerschlimmste Drohung“ (ebd., 37), formuliert Mia und gesteht: „Ich habe Angst“ (ebd.; Kapitel „6“). Erst im Kapitel „7“, als Mia abends aus ihrem Zimmer heraus einen Streit der Eltern belauscht, wird klar, worum es geht: Sie [d.i. Fräulein Fontana, N.W.] hat beobachtet, dass die Kinder sich in Thiemanns Garage treffen. Gisbert, denk doch mal nach! Zwei kleine Mädchen mit diesem Felix, der ein Jahr älter ist. Stundenlang in der Garage! Da kann man doch eins und eins zusammenzählen! (ebd., 51) Bereits zu Beginn der Sequenz ist klar, dass Mia in Schwierigkeiten steckt, warum allerdings, das erfährt Mia (und mit ihr die Leser) erst vier Kapitel später. So zieht sich ein ungutes Gefühl durch viele der präsentisch erzählten Kapitel – stets gibt 93 es etwas, das sich Mia nicht erschließt. Aus dieser Leerstelle, also dem ‚Unheimlichen‘, ergibt sich die Unzuverlässigkeit des Textes: Lesende, die über mehr Weltwissen als Mia verfügen, haben ihr gegenüber einen Vorteil und können das Geschilderte besser einordnen, als es Mia gelingt. Schließlich gehen Mias Eltern zu einem „Nachbarschaftstreffen“ (ebd., 81). Mia liegt in ihrem Bett und wartet darauf, dass die Eltern zurückkommen: „Erst wenn sie wieder da sind, werde ich so tun, als ob ich schlafe“ (ebd.). Für Mia stellt dieses Treffen eine erneute Bedrohung dar, auch wenn sie nicht weiß, was dort besprochen werden soll. Schlussendlich stellt sich dann sogar heraus, dass es bei dem Nachbarschaftstreffen eben nicht um etwas Unheimliches ging, – sondern dass das Straßenfest geplant wurde, mit dem der Roman zu einem happy end gebracht wird. Wieder täuscht sich die Ich-Erzählerin, und ihre Schilderung ist entsprechend unzuverlässig. Einordnung Entsprechend dem geplanten Vorgehen wird die erzählerische Unzuverlässigkeit im Folgenden anhand der zuvor erarbeiteten Untersuchungsparameter im theoretischen Kontext resümiert. Für Helden lassen sich folgende Ergebnisse festhalten: Themen und Motive Behandelt werden typische kinderliterarische Themen wie ‚Freundschaft‘, ‚Familienleben‘, ‚familiäre Probleme‘, aber auch ‚Schuld‘ und ‚schlechtes Gewissen‘. Die Erzählerin muss sich in einer Erwachsenenwelt zurechtfinden, die geprägt ist von Gerüchten und Vorurteilen. Die resultierende Unsicherheit wird von der Erzählerin wiederholt als „das Unheimliche“ (ebd., 23) benannt: Gerade dieses Motiv liefert den Nährboden für die erzählerische Unzuverlässigkeit. Thematische sowie motivische Verknüpfungen mit der erzählerischen Unzuverlässigkeit sind damit gegeben; allerdings handelt es sich bei dem Thema ‚Gerüchte und Vorurteile‘ nicht um ein spezifisch kinderliterarisches Thema. Erzählsituation Senderin der Unzuverlässigkeit in Helden ist die Ich-Erzählerin Mia, die Erzählanlage ist als extradiegetisch-autodiegetisch bestimmbar. Es liegt eine fixiert interne Fokalisierung vor, die an Mias Wahrnehmung gebunden ist. Obwohl damit zwar keine multiperspektivische Auffächerung der Erzählung vorliegt, ändert sich jedoch die Perspektivierung insofern, als dass sich zwei Handlungsstränge abwechseln, die sich sowohl auf der Handlungs- als auch auf der Darstellungseben unterscheiden. Spezifisch an erwachsene Leser gerichtete Reizsignale finden sich nicht. 94 Die Modellierung der Erzählerfigur Bei Mia handelt es sich um eine kindlich-naive Erzählerfigur. Sie erkennt, dass es Dinge gibt, die der Erwachsenenwelt vorbehalten sind und damit außerhalb ihrer Reichweite bleibe, und sie nimmt diese als unheimlich wahr, was zumindest ein Stück weit als Überforderung gedeutet werden kann. Stellenweise scheint sich Mia dabei durchaus über ihre Unzuverlässigkeit im Klaren zu sein – so beispielsweise, wenn sie wiederholt betont, dass sie sich Dinge ‚ausgemalt‘ habe. Gelegentlich scheint sich die Erzählerin ihrer Unzuverlässigkeit jedoch nicht bewusst zu sein, dies gilt zum Beispiel für ihre Einschätzungen der anderen Figuren (besonders der Figur Brüning). Markierung der erzählerischen Unzuverlässigkeit Durch die genannte Erzählsituation wird eine generelle Unsicherheit generiert, die wie ein Nährboden für die in Einzelsituationen auftretende erzählerische Unzuverlässigkeit funktioniert (vgl. Nünning 1998, 28: „Unstimmigkeiten zwischen story und discourse“; Hervorhebg. im Orig.). Inkongruenzen treten zudem insbesondere zwischen Mias „Wiedergabe der Ereignisse“ und ihren „Interpretationen des Geschehens“ (ebd.) auf. Weitere Beschaffenheit der erzählerischen Unzuverlässigkeit Der ontologische Status des Erzählten bleibt durchweg entscheidbar, es handelt sich um mimetische Unzuverlässigkeit im Sinne Martínez‘ und Scheffels sowie um offene Unzuverlässigkeit im Sinne Köppes und Kindts. Es gibt Dinge, die außerhalb Mias Wahrnehmungshorizont bleiben. Dies hat zur Folge, dass Mias Aussagen in manchen Situationen als lückenhaft, in anderen als falsch zu bewerten sind. Mias Unzuverlässigkeit manifestiert sich vor allem in ihrer Wahrnehmung der sie umgebenden Welt, was Mia zu einer diskrepanten Darstellung der Fakten zwingt, sie erzählt nicht absichtsvoll falsch. Insgesamt betrachtet ist die erzählerische Unzuverlässigkeit in Helden jedoch als relativ gering und wenig komplex einzuschätzen, und sie wird zum Ende hin zuverlässiger. Intermedialität/Intertextualität Intratextuelle Rekurrenzen zu Der Tag, als ich lernte die Spinnen zu zähmen (Richter 2000) kommen vor, bleiben aber ohne Bedeutung für die erzählerische Unzuverlässigkeit. 95 Funktionen Durch die Unzuverlässigkeit der Erzählerrede wird Mias kognitive Überforderung, und damit auch ihre noch kindliche Naivität, sichtbar gemacht (Charakterisierung der Erzählerfigur). Nicht immer findet sich die Erzählerin in der sie umgebenden Erwachsenenwelt zurecht, in der Vieles unter der Oberfläche bleibt; ständig wird hinter vorgehaltener Hand getuschelt. Mias Unzuverlässigkeit spiegelt auch diese gesellschaftliche Unsicherheit wider (gesellschaftskritische Funktion). 96 Jetzt erzähle ich die Geschichte. Eine Abenteuerheldengeschichte, in der es um mich geht, Anton unter Wasser. Es beginnt in der Zeit, als ich noch Starflashman hieß, und hier sind Chips. Ich habe auch extra Popcorn gemacht. Ihr sollt sitzen bleiben und zuhören, alles klar? (Baisch 2010, 5) 3.1.2 Milena Baisch: Anton taucht ab Anton taucht ab von Milena Baisch erschien 2010 im Verlag Beltz & Gelberg. Der Roman hat 112 Seiten und richtet sich an Kinder ab neun Jahren. Die Illustrationen lieferte Elke Kusche. Er wurde 2011 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte ‚Kinderbuch‘ ausgezeichnet. 2012 folgte mit Anton macht’s klar eine Fortsetzung des Werks. Ließ sich die erzählerische Unzuverlässigkeit in Jutta Richters Helden noch allein auf die kindlich-naive Weltsicht der Protagonistin Mia zurückführen, ist dies bei Anton taucht ab nicht mehr möglich. Zwar ist Anton ebenfalls als durchaus naiv einzuordnen, doch auch seine fantasievoll-überschwängliche Art trägt zur erzählerischen Unzuverlässigkeit bei, die im Vergleich zu Helden deutlich komplexer gestaltet ist. Anders als bei Helden haben in Anton taucht ab auch intertextuelle Anleihen einen Einfluss auf die Unzuverlässigkeit. Antons Erzählung wirkt stellenweise beinahe wie eine Genreparodie auf Superheldengeschichten oder den Abenteuerroman für Kinder- und Jugendliche – im Hinblick auf Antons Zuverlässigkeit ist dies von hoher Bedeutung. Die dem Roman enthaltenen Illustrationen greifen die Wahrnehmungslücken des Protagonisten auf und unterstützen so weiter die erzählerische Unzuverlässigkeit. Inhalt, Themen In Anton taucht ab erzählt der kindliche Protagonist Anton seinen Eltern die Erlebnisse aus einem Sommerurlaub, den er gemeinsam mit den Großeltern in deren Wohnwagen auf einem Campingplatz an einem See verbracht hat: Zunächst ist Anton überhaupt nicht glücklich: Anders als er erwartet hatte, gibt es auf dem Zeltplatz keinen Swimmingpool – und in der „Pissbrühe“ (Baisch 2010, 28) des Sees zu schwimmen, kommt für ihn nicht infrage. Der Junge verbringt den ersten Ferientag damit, „stundenlang mit versteinerter Miene und Sonnenbrille auf einem Baumstumpf zu sitzen“ (ebd., 18). Am nächsten Tag macht er sich nur widerwillig daran, dem Wunsch der Großeltern nachzukommen und Kinder kennenzulernen. Er trifft das Mädchen Marie, das mit einigen anderen Kindern immer wieder vom Steg in den See springt, und sie beginnen eine Unterhaltung. Als jedoch 97 ein Junge hinzukommt, den Anton als „Typ […] von der Sorte Angeber“ (ebd., 21) beschreibt, entwickelt sich ein Streit zwischen den beiden Jungen. Anton entzieht sich der Situation: „Also, ich drehte mich einfach um und ging weg“ (ebd., 25). Fortan fühlt sich Anton von dem Jungen, den er aufgrund seiner Frisur nur als den „Pudel“ (ebd., 23) bezeichnet, bedroht und so entschließt er sich, am nächsten Tag den Steg zu meiden. Stattdessen geht er mit seinem Opa angeln. Der Großvater fängt einen jungen Barsch, und Anton reagiert auf den Fisch zunächst mit einer „Panikattacke“ (ebd., 32). Im Laufe der Zeit interessiert er sich jedoch zunehmend für das Tier und behält es dann für den Rest des Urlaubs. Piranha, wie er den Fisch nennt, wird zu seiner wichtigsten ‚Bezugsperson‘. Anton kümmert sich um den Fisch, setzt sich für ihn ein, und schließlich prügelt er sich sogar mit Pudel, als dieser Piranhas Leben bedroht. Im Laufe der Freundschaft von Kind und Fisch überschreitet Anton immer wieder seine Grenzen und tut Dinge, die er sich vorher nicht getraut hätte. Am Tag der Abreise muss Anton Piranha dann wieder in die Freiheit entlassen – und fällt dabei selbst in den See. Er stellt fest, dass es dort „nett“ (ebd., 93) ist und kommentiert: „Ich bin Anton unter Wasser“ (ebd., 95). Mehrere Stunden lang taucht der Junge daraufhin im See, so lange bis Marie ihn findet. Anton ist vermisst worden und die Großeltern sind erleichtert, ihn wohlbehalten wieder zu haben. Bevor er mit den Großeltern heimfährt, bringt Anton sein gutes Gefühl noch durch einen Sprung vom Steg in den See zum Ausdruck. Insgesamt geht es in Anton taucht ab um den Umgang mit Ängsten, das Bestehen in Konfliktsituationen und die Unfähigkeit des Protagonisten, soziale Kontakte zu knüpfen. Erzählerische Unzuverlässigkeit Die erzählerische Unzuverlässigkeit in Anton taucht ab ist bedingt durch die Persönlichkeitsanlage der kindlichen Erzählerfigur. Anton präsentiert sich im narrativen Diskurs als cooler und abenteuerlustiger Draufgänger – mit durchaus gegenteiligem Effekt. Es wird zunehmend deutlich, dass Anton überhaupt nicht dem Ideal entspricht, als das er sich zu inszenieren versucht. Die mündlich angelegte Erzählsituation, die Antons hohe Involviertheit weiter verdeutlicht, ist dabei relevant: Viele ambivalent gesetzte Signale weisen auf Unstimmigkeiten in Antons Erzählung hin, und immer wieder muss die ‚Richtigkeit‘ der Erzählerausführungen infrage gestellt werden. 98 Erzählanlage/Subjektivität Der Text beginnt mit den Worten: Jetzt erzähle ich die Geschichte. Eine Abenteuerheldengeschichte, in der es um mich geht, Anton unter Wasser. Es beginnt in der Zeit, als ich noch Starflashman hieß, und hier sind Chips. Ich habe auch extra Popcorn gemacht. Ihr sollt sitzen bleiben und zuhören, alles klar? (ebd., 5) Durch den Hinweis auf Chips und Popcorn und auch durch den Ausblick auf eine zu erwartende „Abenteuerheldengeschichte“ (ebd.) wird ein Bezug zum Kino hergestellt und suggeriert, dass Antons Erzählung fiktionalen Charakter hat 61. Gleichzeitig betont der Erzähler, dass es seine eigene Geschichte sei und impliziert damit einen Anspruch auf Authentizität. Bereits an dieser Stelle lässt sich eine potenzielle Unzuverlässigkeit vermuten, ein Verdacht, der auch durch die zu erwartende hohe Subjektivität unterfüttert wird. Mit der Betonung des anstehenden Erzählaktes und auch mit der direkten Anrede „Ihr sollt sitzen bleiben und zuhören, alles klar?“ (ebd.) legt Anton gleich zu Beginn die spezifische Kommunikationssituation als mündliche Erzählung fest, an der er im Laufe seiner Erzählung festhält. Wiederholt finden sich direkte Anreden an seine Zuhörer, mit denen er in direkter Interaktion zu stehen scheint: Jetzt hört auf zu lachen! Ich stelle mich nicht an. Ihr habt den See nicht gesehen, oder? Seid froh! Wenn ihr nicht aufhört zu lachen, ist die Geschichte zu Ende. Basta. Gut. Aber schön zuhören, ja? (ebd., 16) Offenbar wurde er hier in seiner Erzählung unterbrochen und sogar von seinen Zuhörern ausgelacht; sein ‚Maulheldentum‘ scheint sehr wohl durchschaut worden zu sein. An späterer Stelle reagiert Anton auf ein vermeintliches (betretenes) Schweigen seiner Zuhörer, und es wird wieder eine tatsächliche Interaktion des Erzählers mit seinen Adressaten nahegelegt. Soll ich weitererzählen? Ihr seid so ruhig auf einmal. Ist es langweilig? Keine Angst, bald kommt wieder Action (ebd., 70). Am Romanende offenbart er dann: Was ist los mit euch? Ihr seid so ruhig und hört die ganze Zeit brav zu. Das kennt man ja gar nicht. Aber es ist eine echte Abenteuerheldengeschichte, oder? Ich wollte sie euch unbedingt erzählen. Ihr müsst doch wissen, wie aus eurem Sohn Anton unter Wasser geworden ist. Nein, hört auf! Hört auf, mich zu kitzeln. Das Ende fehlt noch! Das Ende ist das Beste. Der Bezug zum Kino findet sich ebenfalls in einer dem Buch enthaltenen ‚DaumenkinoIllustration‘ am unteren rechten Seitenrand wieder: In ihr sieht man einen Frosch eine Fliege fangen. 61 99 Alles klar? Hände hinter den Rücken! Sonst kann ich nicht nachdenken (ebd., 100f.). Erst an dieser Stelle erfährt man, dass es sich bei den fiktiven Adressaten um Antons Eltern handelt. Die vorher von Anton angesprochene Stille (vgl. ebd., 70) ist nun als Reaktion der Eltern auf die in Antons Worten enthaltene direkte Kritik am Vater (neu) zu verstehen. Gleichzeitig wird durch die liebevolle Interaktion von Anton und seinen Eltern hier eine durchaus funktionierende Eltern-Kind-Beziehung suggeriert, die dem Text an Schwere nimmt. Antons Schilderungen bleiben dabei höchst subjektiv, immer wieder finden sich Signale, die die Gefühlsbeteiligung des Jungen unterstreichen: Widerlich. Schon von weitem konnte ich sie sehen: die Schlingpflanzen und den ganzen Horror. Nein, zugegeben, ich konnte sie nicht wirklich sehen. Schließlich stand ich mindestens zehn Meter vom Ufer entfernt. Und von da kann man nicht in das Wasser hineingucken. Man kann aber die Wasseroberfläche sehen und das hatte mir gereicht. Die Wasseroberfläche war: schwarz. Uah! (ebd.,15; Hervorhebg. im Orig.) Auch in diesem Beispiel ist der mündlich angelehnte Sprachstil zu erkennen, und besonders durch den Ausruf am Ende gibt Anton bei seiner Erzählung seinem Ekel und seiner Angst Ausdruck. Solche (oft stark umgangssprachlich gefärbten) Kommentare und Ausrufe bleiben den gesamten Roman hindurch charakteristisch für Antons Erzählung: „Yeah“ (ebd., 6), „Bekloppt“ (ebd., 21), „Das war cool!“ (ebd., 36, 44), „Bah“ (ebd., 54), „Uah!“ (ebd., 62), „Yes“ (ebd., 81), „Aua“ (ebd., 84), „Uaah …“ (ebd., 89), … Textuelle Diskrepanzen Anfangs inszeniert sich Anton als selbstsicheres, cooles Kind: Er stellt sich selbst als „Starflashman“ (ebd., 5) vor und zeigt gegenüber seinen Großeltern eine betont lockere Art: „‚Gib Stoff, Kumpel!‘, sagte ich zu Opa“ (ebd.). Doch es dauert nicht lange, bis Zweifel an dieser Fassade aufkommen. Als der erwartete Swimmingpool fehlt, versucht die Großmutter, Anton zu trösten: Oma lachte. „Wir sind doch hier am See“, sagte sie und legte ihren Arm um mich. Ich hasse es, wenn sie das tut. Bin ich ein Baby, oder was? Ich schlug ihren Arm runter und stampfte drei Schritte von den beiden weg. Meine Schritte waren sehr fest, ich glaube sogar, der Boden bebte etwas (ebd., 7). Der Junge reagiert abweisend und versucht, sich als möglichst erwachsen darzustellen. Anton sagt, er sei kein Baby – benimmt sich aber doch wie ein trotziges Kleinkind. Offensichtlich ist Anton lange nicht so groß, wie er zu sein vorgibt. An keiner Stelle des Romans erfährt man Antons genaues Alter und durch solch wi- 100 dersprüchliche Signale bleibt eine genaue Einschätzung schlussendlich auch unmöglich. Man kann zwar davon ausgehen, dass Anton ein Grundschulkind (und somit zwischen sechs und zehn Jahren alt) ist, doch seine regressive Art verhindert eine genauere Altersbestimmung. Ebenfalls noch im ersten Kapitel führt Anton dann aus, was er alles getan hätte, wenn es einen Swimmingpool gegeben hätte – und es folgt eine Auflistung hypothetischer Heldentaten (vgl. ebd., 8). Stark hyperbolische Sequenzen 62 bleiben im gesamten Roman charakteristisch für Antons Sprechweise, und auffallend oft werden dabei gleichzeitig Antons Schwächen deutlich. Als Beispiel kann hier eine oben zitierte Stelle erneut herangezogen werden: Anton träumt gerade davon, „ein hübsches Mädchen aus den Klauen eines Löwen zu befreien“ (ebd., 10), als er davon wach wird, dass sein Großvater die Angelköder sucht: „Wo sind bloß meine Würmer?“ (ebd.) Anton ist daraufhin so verängstigt, dass er auf den Tisch springt und danach ganz ‚heldenhaft‘ die Flucht ergreift. Gelegentlich leugnet Anton seine Ängste auch allzu betont: Heimweh hatte ich natürlich nicht, aber ich musste an das Ameisenspiel denken. Wenn Mama mich auskitzelt, als ob ganz viele Ameisen auf mir krabbeln würden, und Papa mich danach in den Arm nimmt, um die Ameisen plattzudrücken, dann schlafe ich immer sofort ein. Das ging aber jetzt nicht. Ich war verdammt alleine (ebd., 9). Obwohl der Junge hier versucht, sich als tapfer zu präsentieren, bewirkt er das Gegenteil und verstrickt sich in Widersprüche: Es wird klar, dass er einsam ist und seine Eltern vermisst – also dass er sehr wohl Heimweh hat. Vor allem ist Anton ein ängstliches Kind, und immer wieder muss er sich in für ihn angstbesetzten Situationen zurechtfinden. Er hat Angst vor Schlingpflanzen, Fischen, Würmern, Muscheln, Schnecken und Seewasser. In seiner Interaktion mit Pudel konstruiert er sich dann seinen Gewaltgegner selbst; statt über seinen Schatten zu springen und Anschluss zu suchen, wirkt Anton beinahe erleichtert, einen Bösewicht identifiziert zu haben. Immer wieder ist es Anton, der Pudel zuerst provoziert. Zunächst findet man in Antons Rede wenig explizite Selbstcharakterisierung: Man erfährt weder das Alter des Jungen, noch Genaueres zu seiner physischen Erscheinung. Auch Fremdcharakterisierungen bleiben relativ sparsam und verschlüsselt. Beim ersten Zusammentreffen der Kinder am Steg fragt Pudel: „‚Warum Auf die Hyperbole als Charakteristikum von Anton taucht ab verweist auch von Glasenapp (2011) in ihrem oben zitierten Aufsatz (s. Kap. 2.1.2). 62 101 kann er sie [d.i. die Badehose, N.W.] nicht anziehen?‘ Er lachte. ‚Ist sie zu eng?‘“ (ebd., 24) Dem ist zu entnehmen, dass Anton möglicherweise nicht der Schlankeste ist. Anton wiederum entgegnet: „‚Keine Sorge‘, antwortete ich, ganz cool. ‚Mein Traumkörper passt gerade noch rein‘“ (ebd.). Wieder betont der Junge seine Coolness, doch hat die Aussage nun einen Beigeschmack, liegt es doch nahe, dass Anton hier eine physische Unterlegenheit zu überspielen versucht. Auf seine vermeintliche Körperfülle wird weiterhin nicht eingegangen, doch finden sich Textstellen, an denen auf Antons Essgewohnheiten angespielt wird: „‚Willst du schon wieder ein Eis kaufen, Anton?‘ fragte Opa“ (ebd., 52). Auf Antons Physis spielt auch der folgende Ausschnitt an: Der Pudel musterte mich von oben bis unten. Ich musterte den Pudel. Er war einen ganzen Kopf größer als ich, hatte breitere Schultern als ich und die Muskeln an seinen Beinen zuckten. Während er meine Beine anglotzte, an denen das weiche Fleisch ganz ruhig blieb, wuschelte er durch seine schreckliche Frisur (ebd., 23f.). Insgesamt finden sich so in Anton taucht ab eine Vielzahl an textuellen Markierungen, die an Antons Selbstdarstellung zweifeln lassen und die auf mögliche Schwächen des Jungen hinweisen. Obwohl Anton sich anders darzustellen versucht, erscheint er als ängstlicher, übergewichtiger Sonderling, dessen soziale Kontakte sich auf das Internet beschränken. Im Laufe der Geschichte kreiert Anton gegenüber seinen Großeltern ein Lügengebilde: Die beiden liebenswürdigen Senioren glauben Anton, dass er mit den anderen Kindern Freundschaft geschlossen habe und sind darüber höchst erfreut. Anton selbst bekommt allerdings ein schlechtes Gewissen und gesteht seine Lügen Piranha. In einer Schlüsselszene offenbart Anton dem Fisch, dass er auch in seinem ‚normalen‘ Leben schon „für einen Versager gehalten“ (ebd., 69) worden sei: Ich musste an Papa denken. „Es ist nicht gut, wenn man ein Wunderkind hat und es wie einen Versager behandelt“, erklärte ich Piranha. Zugegeben, das mit dem Wunderkind war etwas übertrieben. Ich bin nicht gerade ein Wunderkind, aber ich bin zumindest ein gutes Kind. Zwischen sehr gut und gut vielleicht (ebd. 68). Schließlich resümiert er: „Ich war ein Lügner und ein Versager“ (ebd., 68) und muss sogar weinen. In dieser kurzen Szene bestätigt Anton, was man vorher nur vermuten konnte, und er löst somit diese Unzuverlässigkeit auf. Gelegentlich müssen auch Handlungselemente infrage gestellt werden. Am deutlichsten wird dies am Ende der Geschichte, wenn Anton tatsächlich ‚abtaucht‘. Wurde oben auf die Hyperbole als Mittel der Selbstdarstellung und Überspielung von Schwächen hingewiesen, erscheint sie hier als Ausschmückung, die allein der Dramaturgie der Geschichte geschuldet scheint: 102 Da bewegte sich etwas. Ein kleiner Punkt kam auf mich zu, es war ein Fisch, es war Piranha! Er stupste an meine Taucherbrille und schwamm wieder weg. „Alles klar, Kumpel!“, rief ich ihm nach. „Lass dich nicht unterkriegen!“ (ebd., 92) Im Kontext allgemeinen Weltwissens kann man davon ausgehen, dass ein Barsch nach einigen Tagen der Gefangenschaft in einem Gurkenglas ein solches Verhalten keineswegs zeigen würde. Innerhalb der Erzählung Antons ist diese Abschiedsszene von Kind und Fisch aber von hoher Bedeutung. Intermedialität/Intertextualität Anton schildert seine Urlaubserlebnisse aus einer stark subjektiven Perspektive und stilisiert sich selbst als Helden. Schon in den bereits zitierten ersten Worten der Erzählung weist er seine Erzählung als „Abenteuerheldengeschichte“ (ebd., 5) aus, und obwohl es sich bei dem vorliegenden Text um die – eigentlich banalen – Urlaubserlebnisse eines Jungen aus einer Woche Campingurlaub mit den Großeltern handelt, finden sich in Anton taucht ab an vielen Stellen intertextuelle Referenzen: auf die Superheldengeschichte, auf das Computerspiel, auf den Actionfilm und auf den jugendlichen Abenteuerroman. Diese manifestieren sich vor allem in einer ‚abenteuerlichen‘ Darstellung des Erzählten. In Antons Erzählweise, seiner Tendenz zum Großsprechen und Fabulieren finden sich immer wieder Versatzstücke eben dieser Genres, die dem Jungen durchaus geläufig zu sein scheinen. Auf Antons Anleihen der Superheldengeschichte, des Computerspiels und des jugendlichen Abenteuerromans soll im Folgenden kurz eingegangen werden. Im Kontext der Superheldengeschichten fallen besonders Antons Selbstbeschreibungen auf: Gelegentlich stellt sich Anton die Heldentaten vor, die er unter anderen Bedingungen begehen würde: In einen Swimmingpool hätte ich einen Köpper gemacht. Ich hätte auch Arschbomben gemacht und zwei bis drei Minuten unter Wasser die Luft angehalten. Ich wäre getaucht und hätte den Mädchen die Füße weggezogen oder die Bikinihose, vielleicht. Jedenfalls hätte ich Kinder vorm Ertrinken gerettet, wenn ihre Schwimmflügel Löcher gekriegt hätten. Dann wäre ich reingesprungen, mit einem Köpper, durchs ganze Becken getaucht, um das kleine Kind vom Boden des Swimmingpools aufzuheben. Ich hätte es rasend schnell nach oben gebracht und den Eltern übergeben, die schon ganz verzweifelt gewesen wären, weil es ja wirklich um das Leben ihres kleinen Babys gegangen wäre (ebd., 8). Lässt sich hier bereits eine starke Übertreibung ins Heroische erkennen, ist an späterer Stelle die Nähe zum Comic deutlicher. Anton überlegt, was passieren würde, wenn er den Zeh in den See gehalten hätte: Vielleicht wäre ein zauberhafter Stromschlag ausgegangen, vom Wasser in den Zeh und dann durch meinen ganzen Körper. Ich wäre erfüllt gewesen von einer Hyperpower und hätte geleuchtet wie ein Laser. Dann wäre ich abgesprungen 103 vom Ufer und über den See geflogen […]. Und ich hätte den Kampf aufgenommen mit den Schlingpflanzen. Jede einzelne hätte ich mit meinem Laserarm fertiggemacht. Mit letzten Kräften hätte ich mich an den Strand geschleppt. Und die Leute hätten gejubelt (ebd., 28). Gleich zu Beginn stellt sich Anton als „Starflashman“ (ebd., 5) vor – er reiht sich damit in die Riege der Superhelden ein. Später offenbart er, dass dieser Name sein „Computerspiel-Name“ (ebd., 47) ist: „So nennen mich meine Chatfreunde“ (ebd.). Bezüge zum Computerspiel finden sich häufig, es wird klar, dass Anton üblicherweise relativ viel Zeit am Computer verbringt. In seiner Auseinandersetzung mit „Pudel“ sinniert er über seine virtuellen Erfahrungen: Ich überlegte, wie stark der Pudel wohl sein konnte. Wie ein Büffel? Wie ein Hund? Jedenfalls niemals so stark wie ein Bösbock. Ich habe ein Computerspiel, da muss man gegen Bösböcke kämpfen. Die haben acht Arme, können so schnell laufen wie ein Pferd und beißen wie ein Hund. Als Spieler hat man nur seinen Agentengürtel. Aber ich rette immer erst fünf Prinzessinnen, das gibt eine Kiste voll Energie und Geist. Dann erledige ich die Bösböcke: Ich finde mit Lasertests heraus, hinter welchem Roboter keine Maschine steckt, sondern einer von ihnen. Und ich reiße die illegalen Diamanten aus seinen dreckigen Pfoten. Ha! „Jetzt weißt du, warum ich bei Computerspielen Starflashman heiße“, erklärte ich Piranha (ebd., 59f.). Etwas anders gestalten sich die Anleihen des jugendlichen Abenteuerromans: Es gibt keine expliziten Hinweise auf diese Gattung. Obwohl es sich in Anton taucht ab keineswegs um einen jugendlichen Abenteuerroman handelt, stellt Anton seine Erlebnisse doch immer wieder in entsprechender Färbung dar. Der Junge verlässt das familiäre Umfeld, um mit den Großeltern den Schauplatz ‚Campingplatz‘ zu erforschen. Zunächst ist der Urlaubsort ihm fremd, ein „Ort ohne Swimmingpool, an dem es keine Ratte ausgehalten hätte“ (ebd., 9) – Anton stellt diese Situation als exotisch dar. Ein dem jugendlichen Abenteuerroman charakteristischer Ausbruch aus dem bürgerlichen Leben 63, lässt sich hier also durchaus wiederfinden, wenn auch ‚nur‘ in Antons Realitätsdeutung. Im Laufe des Urlaubs findet dann eine Entwicklung bei Anton statt. Ist er anfangs noch ein völlig gehemmter Junge, der große Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion hat, schafft er es am Ende des Aufenthalts doch zumindest, sich seiner Angst vor dem See zu stellen und schwimmen zu gehen. Auch führt er eine weitestgehend ‚normale‘ Unterhaltung mit Marie und verabredet sich sogar mit ihr für den nächsten Sommer. Hat sich sein Erleben vor dem Urlaub auf den virtuellen 63 Zu den Gattungsmerkmalen des jugendlichen Abenteuerromans vgl. Pellatz-Graf 2008. 104 Raum beschränkt64, scheint er am Ende des Urlaubs in der realen Welt angekommen zu sein. Die verschiedenen Momente seiner Entwicklung werden von Anton dabei beinahe als ein Prozess der Initiationen dargestellt. Seine Interaktion mit Piranha ist ein wichtiger Teil dieses vermeintlichen Initiationsprozesses. Immer wieder überwindet sich Anton: indem er den Großvater zum Angeln begleitet, indem er den Fisch ansieht, indem er Maden fängt, um Piranha zu füttern, indem er den Fisch anfasst, indem er ihn schließlich freilässt und mit ihm schwimmt. Dass es keine wirklichen Initiationen sein können, lässt sich schon aus einem Fehlen ironischer Kippfiguren ableiten – dennoch finden sich in Antons Schilderungen immer wieder solche, als Initiationen ‚verkleidete‘ Momente. Ähnlich finden sich in seinen Schilderungen weitere gattungstypische Färbungen des Abenteuerromans wieder, stets verkauft Anton dabei vermeintlich banale Geschehnisse in ‚abenteuerlicher‘ Weise. Obwohl er ein sogar außerordentlich ängstlicher Junge ist, inszeniert sich Anton als mutig. Dass er zum Beispiel aus Furcht vor den Angelködern des Großvaters die Flucht aus dem Wohnwagen ergreift, klingt in Antons Ausführungen wie eine nahezu heldenhafte, kraftvolle Handlung: Weil ich nicht durch den würmerverseuchten Wohnwagen laufen wollte, griff ich mit den Händen nach der Dachluke. Ich stieß mich mit den Füßen vom Tisch ab und holte Schwung. Zwei, drei Mal schwang ich vor und zurück, und als meine Beine wieder Richtung Ausgang flogen, ließ ich los. Der Kühlschrank schepperte, als ich dagegen donnerte (ebd., 11). Charakteristisch für den Helden der jugendlichen Abenteuerliteratur sind auch seine Gefährten und seine Integration in eine Reisegruppe. In Antons Erzählung kommt die Rolle des Gefährten Piranha zu. Ihm erzählt er, was ihn beschäftigt: [„]Piranha“, sagte ich. „Mein Freund.“ Das war ein guter Anfang für eine Unterhaltung zwischen Freunden. Ich hatte Piranha mit seinem Auto ein Stück weggefahren. Hinters Waschhaus, da konnten wir in Ruhe reden. „Glaube mir, ich bin kein Lügner.“ Piranha stand auf der Stelle und hörte zu (ebd., 67). Doch auch in der Gesellschaft seiner Großeltern findet sich Anton zunehmend zurecht. Zunächst distanziert er sich von den Großeltern und begleitet sie nur widerwillig zum See: Auf der ersten Seite schreibt Anton „Es beginnt in der Zeit, als ich noch Starflashman hieß“ (Baisch 2010, 5) – später offenbart er, dass es sich bei dem Namen „Starflashman“ um seinen Usernamen in einem Internetforum handelt und dass er in seinem „normalen Leben […] niemals losgezogen [wäre], um Kinder kennenzulernen. Die gab es doch haufenweise im Netz“ (ebd., 20) 64 105 Ich stiefelte quer über den Campingplatz hinter zwei alten Leuten her. Die eine trug ein Sonnenhütchen und ein Sonnenschirmchen. Der andere trug eine Angelausrüstung. […] Ich sagte auf dem ganzen Weg kein Wort, weil ich noch beleidigt war (ebd., 13). Nachdem er Piranha gefunden hat, ändert sich seine Situation, und Anton reiht sich nun in seiner Familie ein: So marschierten wir über den Campingplatz. Opa mit baumelnden Angeln, Oma mit Sonnenhütchen, Anton mit Fisch im Auto (ebd., 45). Am Ende steht dann – wie auch im jugendlichen Abenteuerroman – die Rückkehr des Helden: Anton befindet sich zum Zeitpunkt des Erzählens wieder zu Hause und erzählt den Eltern von seinem Abenteuer. Dass die vermeintlich heldenhaften Erlebnisse des Protagonisten oft eben gar nicht so heldenhaft sind und durchaus nicht immer der Wahrheit entsprechen, müssen die Rezipienten allerdings selbst entschlüsseln. Illustrationen Auf dem Buchcover sieht man aus der Vogelperspektive Anton in Badehose auf dem Steg liegen, neben ihm steht die Bedienkonsole eines Videospiels. Auf der Stirn trägt Anton seine Taucherbrille, aus den Augenwinkeln blickt er auf das Wasser des Sees. Dort sieht man nicht nur einige Schlingpflanzen und Fische, sondern auch ein Krokodil, das Antons Blick zu erwidern scheint. Die Illustration wird auf der Buchrückseite fortgesetzt: Hier sieht man Piranha in seinem mit Wasser gefüllten Gurkenglas auf einem Rettungsring auf dem See treibend. Hinter Piranha blicken vor einigen weiteren Schlingpflanzen zwei außerirdische Wesen aus dem Wasser. Alle Illustrationen sind durchweg in dem gleichen Blaugrün gehalten, in dem auch der Text gedruckt ist. Den einzelnen Kapiteln sind jeweils Vignetten vorangestellt, die meist in irgendeiner Form einen Bezug zu Antons Schilderungen des Sees aufweisen. Sind es zunächst ein Krebs (ebd., 5), eine Fischgräte (ebd., 10) oder Schlingpflanzen (ebd., 15), kommen später auch fantastische Elemente wie eine Meerjungfrau (ebd., 20) oder Außerirdische (ebd., 59) hinzu. Jeweils auf der unteren rechten Ecke jeder Doppelseite befindet sich eine kleine Vignette, die einen Frosch darstellt, der eine Fliege taxiert, bzw. fängt. Zusammengenommen ergeben diese Illustrationen ein kleines Daumenkino. Bei den Illustrationen fällt auf, dass es ein Nebeneinander unterschiedlicher ontologischer Zustände gibt: Einerseits werden Elemente dargestellt, die tatsächlich in der Geschichte enthalten sind (wie zum Beispiel Anton, Piranha im Gurkenglas, 106 der Steg oder die Taucherbrille). Andererseits finden sich Darstellungen von reinen Fantasieprodukten (Krokodil, Meerjungfrau, Haifischflosse, Pirat). Wieder ist der Bezug zur Abenteuergeschichte auffällig – auch auf der Bildebene wird Alltägliches durch fantasievolle Ergänzung als abenteuerlich dargestellt. In Vor- und Nachsatz findet sich jeweils die gleiche doppelseitige kartenähnliche Illustration: Ebenfalls aus der Vogelperspektive ist ein Teil des Campingplatzes zu sehen. Einige der dargestellten Elemente sind beschriftet – darunter auch einige Stationen, die im Laufe der Geschichte für Anton von Bedeutung sind: der Wohnwagen („Urlaubsshuttle“), der See („Horrorbrühe“), der Kasten mit den Ködern des Großvaters („Glibberwurmkiste“), der Steg („Arschbombenabsprungrampe ‚total bekloppt‘“). Im Vordergrund ragt hinter einem Toilettenhäuschen („Pinkelpause“) das Hinterteil eines Pudels hervor („Feind“) und an einem Wegrand auf der linken Bildhälfte findet sich eine Hinterlassenschaft des Hundes („Spur des Feindes“). Der Geschichte vorangestellt, erhält diese Illustration proleptischen Charakter und schürt die Erwartung, dass diese Elemente auch in der Geschichte enthalten sind. Anders als die übrigen Illustrationen scheint die Karte an den Erzähler gebunden zu sein, und sie unterstützt weiter den Eindruck vermeintlicher Nähe zum Abenteuerroman. Abbildung 3: Anton taucht ab, Vorsatz Dass ‚Pudel‘ in der Illustration als Tier präsentiert wird, korreliert ebenfalls mit Antons Schilderungen: Auch auf der textuellen Ebene wird Pudel immer wieder von 107 Anton mit einem Hund gleichgestellt: „An deiner Stelle würde ich lieber aufhören, so rumzukläffen“ (ebd., 77). Einordnung In Bezug auf die definierten Untersuchungsparameter lassen sich folgende Schlüsse ziehen: Themen und Motive Behandelte Themen in Anton taucht ab sind der Umgang mit Ängsten, das Bestehen in Konfliktsituationen sowie die Unfähigkeit des Protagonisten, soziale Kontakte zu knüpfen. Von hoher Bedeutung für die erzählerische Unzuverlässigkeit ist insbesondere die thematische aber auch motivische Auseinandersetzung mit dem Erzählen von Geschichten, hier findet eine Verknüpfung von histoire und discours statt. Besonders die gewählte Form der Abenteuererzählung rekurriert auf eine kinderliteraturtypische Gattung. Erzählsituation Wie auch bei Helden handelt es sich bei Anton taucht ab um einen autodiegetischen kindlichen Ich-Erzähler, dessen Erzählung fixiert intern fokalisiert ist. Hiervon abgesehen unterscheiden sich die Erzählweisen von Mia und Anton allerdings erheblich: Insbesondere die Konstruktion der Erzählung als mündliche Erzählsituation (mit zahlreichen Signalen erhöhter Subjektivität) unterstützt den Eindruck des Fabulierens – die Hyperbole ist hier zentral. Es finden sich keine ausschließlich an erwachsene Leser gerichtete Reizsignale. Die Modellierung der Erzählerfigur Anton ist ein sehr kindlicher Erzähler, der seine Unsicherheit zu überspielen versucht. Gerade durch seine als lustvoll und sehr fantasievoll charakterisierbare Art des Großsprechens und Hinzudichtens verweist Anton oftmals selbst auf seine Schwächen. Obwohl er Schwierigkeiten hat, sich seinen Ängsten zu stellen bzw. mit Gleichaltrigen in Kontakt zu treten, ist Anton zwar eine unsichere Figur, doch es gelingt ihm im Laufe der Erzählung, ‚über seinen Schatten zu springen‘. Markierung der erzählerischen Unzuverlässigkeit Beinahe alle von Nünning formulierten textuellen Merkmale erzählerischer Unzuverlässigkeit werden in Anton taucht ab bedient. An sehr vielen Stellen finden sich Unstimmigkeiten, die zu naturalisieren sind und die in der Regel den Erzähler als ‚Großmaul‘ entlarven. Die dem Roman enthaltenen Illustrationen unterstützen die erzählerische Unzuverlässigkeit auch auf einer visuellen Ebene, und sie visualisieren verschiedene 108 ontologische Zustände als ein Nebeneinander realistischer und fantastischer Elemente. Antons Art zur Hinzudichtung wird damit auch in den Illustrationen aufgegriffen, allerdings finden sich in ihnen Elemente, die nicht dem Text enthalten sind. Insbesondere das dem Roman enthaltene Daumenkino hat nichts mit dem Text zu tun, hier wird eine eigene und unabhängige Geschichte erzählen. Das Text-BildVerhältnis ist damit als größtenteils symmetrisch und in Ansätzen als sylleptisch zu bezeichnen. Weitere Beschaffenheit der erzählerischen Unzuverlässigkeit Der ontologische Status des Erzählten ist in der Regel, aber nicht immer, entscheidbar. Es handelt sich um mimetische und offene Unzuverlässigkeit. Gerade durch die vielen Übertreibungen ist vor allem Antons Erzählerbericht nicht zu trauen. Ob Anton seine Unzuverlässigkeit bewusst ist, ist nicht immer entscheidbar: Es kann angenommen werden, dass Anton Übertreibungen durchaus gezielt einsetzt, um seine Geschichte unterhaltsamer zu gestalten. In dieser Lesart kommt der Erzählung eine selbstironische Komponente hinzu. Anton erzählt durchgängig (bis zum Schluss) unzuverlässig Intermedialität/Intertextualität Zahlreiche Referenzen zum Abenteuerroman finden sich im inneren Kommunikationssystem auf der Ebene des discours – nicht aber auf der Ebene der histoire: Anton verpackt eigentlich banale Urlaubserlebnisse in ein ‚abenteuerliches‘ Gewand. Außerdem finden sich Systemreferenzen zu Superheldencomics und Computerspielen. Sämtliche Prätexte entstammen damit einem kinderliterarischen bzw. kindermedialen Korpus. Gerade die Referenzen auf Abenteuergeschichten sind dabei zwar durchgängig vorhanden, aber nicht deutlich markiert. Sie verstärken die erzählerische Unzuverlässigkeit insofern, als dass Antons fantasievolle, teils angeberische Art durch die Diskrepanz zwischen Inhalt und Form des Erzählten besonders hervorgehoben wird. Funktionen Die literarischen Funktionen der erzählerischen Unzuverlässigkeit sind bei Anton taucht ab vor allem interner Art: Unzuverlässigkeit dient hier in erster Linie der Charakterisierung des naiven Ich-Erzählers und der Betonung von Subjektivität. Des Weiteren dient Antons Unzuverlässigkeit der Hervorhebung der Geschichte als mündliche Erzählung (interne metafiktionale Funktion) sowie der Komik (komische Funktion). 109 Und dann möchte ich noch klarstellen, dass bei mir alles in Ordnung ist unterm Scheitel, falls das irgendwer bezweifeln sollte. (Opel-Götz 2012, 9) 3.1.3 Susann Opel-Götz: Außerirdisch ist woanders Der Kinderroman Außerirdisch ist woanders von Susann Opel-Götz erschien im März 2012 im Hamburger Verlag Friedrich Oetinger. Das von der Autorin auch illustrierte Werk hat 316 Seiten und wird vom Verlag für Kinder ab zehn Jahren empfohlen. Wie auch in Anton taucht ab findet sich in Außerirdisch ist woanders ein kindlicher Ich-Erzähler, dessen Erzählung sich durch einen hohen Grad an Unzuverlässigkeit auszeichnet. Auch in Außerirdisch ist woanders manifestiert sich diese in einer stark naiven Figurenanlage des Ich-Erzählers sowie in seiner stark übertreibenden Darstellung des Geschehens. Im Unterschied zu den bislang analysierten Werken kommt den Illustrationen in Außerirdisch ist woanders eine deutlich höhere Funktion in Bezug auf die Unzuverlässigkeit zu – auch die intertextuellen Anteile sind in diesem Kontext deutlich relevanter. Inhalt, Themen Jonathan Klinger, genannt Jona, ist zehn Jahre alt und lebt als „Sandwichkind“ (Opel-Götz 2012, 11) mit seiner Familie in einer nicht weiter benannten Kleinstadt. Aus der Ich-Perspektive erzählt Jona retrospektiv seine Erlebnisse eines Jahres: Jona glaubt fest an die Existenz von Außerirdischen. Sämtliche Bücher, die es zu diesem Thema in der Stadtbücherei gibt, hat er schon gelesen und vor allem ein Werk hat es ihm angetan: „Willi und ich“ von Erich Hämiken. Hämiken schreibt darin über angeblich reale Erlebnisse mit einem Außerirdischen und Jona kann es kaum abwarten, endlich selbst einen zu treffen. Zunächst scheint es nicht so, als ginge sein Wunsch in Erfüllung, und obwohl er versucht, Hämikens diverse Ratschläge zu befolgen („Außerirdische trifft man meistens an Tagen mit besonderem Datum. […] Der wahre Kenner spürt, wenn es soweit ist“; ebd., 23; Hervorhebg. im Orig.), scheitern seine Kontaktversuche zu vermeintlichen Außerirdischen (vgl. ebd., 30). Eines Morgens kommt ein neuer Schüler in Jonas Klasse und sein Traum scheint wahr zu werden – der verschlossene Neuzugang Henri antwortet auf Jonas Frage: „Ja. Ich bin A.L.F.“ (ebd., 37). Jona brennt darauf, mehr über den vermeintlichen Außerirdischen zu erfahren und lädt ihn bald zu Forschungszwecken zu sich nach Hause ein. Henri wiederum genießt die Aufmerksamkeit, die er 110 von Jona erfährt. Mehr und mehr nimmt er an Jonas Leben teil und zwischen den beiden Jungen entsteht eine Freundschaft. Auch Bullerdieck, Jonas Nachbar und neben der Familie wichtigste Bezugsperson des Jungen, nimmt sich Henris an, gibt ihm Nachhilfe und kocht ihm Mittagessen. Stets treffen sich die beiden Jungen bei Jona, niemals lädt Henri Jona zu sich nach Hause ein. Anders als Jona, der wohlbehütet und gut situiert aufwächst, hat es Henri nicht leicht: Er lebt mit seiner Mutter im Wasenfeld, einem heruntergekommenen Stadtteil. Jona war noch nie dort, seine Mutter hat es ihm verboten: „Die Menschen dort sind … wie soll ich sagen … wir leben einfach in zwei verschiedenen Welten“ (ebd., 92). Jona wundert sich nicht weiter darüber, schließlich ist Henri für ihn ein Außerirdischer. Er ist sich sicher, dass Henri einen Forschungsbericht für seinen „Meister“ (ebd., 56) schreiben muss. Dass Henri immer hungrig ist, interpretiert Jona entsprechend als dessen wissenschaftliches Interesse. Eines Tages erfährt Jona, dass Henris Mutter im Verdacht steht, bei ihrer Putzstelle Geld gestohlen zu haben. Zu allem Übel ist dies Victor, einem Mitschüler, zu Ohren gekommen – und Jona sieht sich gezwungen, seinen Freund zu warnen. Zusammen mit der gemeinsamen Freundin Larissa macht er sich auf den Weg ins Wasenfeld und wird dort zum ersten Mal mit der Lebenswirklichkeit des Freundes konfrontiert: Henris Mutter liegt betrunken im Bett, und Henri wirkt gar nicht glücklich über den Besuch. Kurz darauf ist Henri fort – er und seine Mutter sind nach München zu seiner Tante gezogen. Jona muss seine Weltsicht überdenken und seine Naivität überwinden, er muss akzeptieren, dass Henri wohl doch ein realer Mensch und kein Außerirdischer ist. Eine Woche nach Henris Abreise erhält Jona einen langen Brief von Henri, in dem sich der Freund erklärt. Das prominenteste Thema des Romans ist ‚Freundschaft‘. Die beiden Jungen könnten kaum verschiedener sein: Jona ist privilegiert, fantasievoll – und dabei sehr naiv. Henri hingegen ist nur allzu sehr mit der für ihn harten Realität vertraut. Die beiden Jungen finden zueinander und vor allem Jona muss über die Differenzen dieser beiden Welten klarwerden und sich den Tatsachen stellen. Die Abgrenzung von Realität und Vorstellung wird dabei immer wieder thematisiert. Wiederholt verliert sich Jona in Fantasien und in seinen Vorstellungen verschmelzen reale Geschehnisse mit Wünschen, seine Wahrnehmungsdeutungen sind oftmals regelrecht ‚verquer‘. Im Unterschied zu Jonas anfangs regressiven Art ist er durch die Reflektion der Erlebnisse am Ende erkennbar gereift. 111 Erzählerische Unzuverlässigkeit Die erzählerische Unzuverlässigkeit in Außerirdisch ist woanders ist an die autodiegetische, fixiert intern fokalisierte Erzählanlage gebunden. Die Figurenanlage des Ich-Erzählers Bereits im zweiten Satz des Romans bekräftigt Jona seine Glaubwürdigkeit: Und dann möchte ich noch klarstellen, dass bei mir alles in Ordnung ist unterm Scheitel, falls das irgendwer bezweifeln sollte (ebd., 9). Gerade durch den zweiten Satzteil wird hier hervorgehoben, dass es sehr wohl Gründe geben könnte, die geistige Verfassung des Jungen anzuzweifeln. Anspielungen auf Jonas‘ Geisteszustand kommen an mehreren Stellen vor. So erzählt Jona, seine Eltern hätten „echt Sorge, ich könnte einen an der Kirsche haben“ (ebd., 18), seine große Schwester Lollo bezieht sich auf seine „vielen Hirngespinste“ (146) und nennt ihn ihren „durchgeknallten Bruder“ (ebd., 146). Oft verliert Jona den Faden: „Wo war ich gerade? Ach, genau.“ (ebd., 16) / „Um was ging es noch mal? Ach ja.“ (ebd., 55) / „Warum hab ich von Larissa erzählt? Ach ja!“ (ebd., 73), was ebenfalls Zweifel an der Verlässlichkeit seiner Erzählung aufkommen lässt. Obwohl Jona schon neun Jahre alt ist, sind seine Ansichten oft sehr kindlich, beispielsweise stellt sich der Junge seine verstorbenen Großeltern als auf einer Wolke im Himmel sitzend vor, wo sie gemeinsam „Wer wird Millionär“ schauen (ebd., 13). An anderer Stelle versteht er nicht, dass sich nicht jeder den Eintritt ins Legoland leisten kann: „Mama und Papa übernehmen das, und für Eltern ist das überhaupt kein Problem“ (ebd., 71). Gleichwohl ist Jona nicht dumm – seine Naivität ist auf sein allzu behütetes Leben als ‚Wohlstandskind‘ zurückzuführen. Abgeschirmt von jeglichen potenziellen Gefährdungen wird der Junge von Tennisunterricht zu Klavierstunden chauffiert. Doch in diesem Schonraum ergeben sich viele Leerstellen für den Jungen: „Immer, wenn Mama und Papa Angst vor interessanten Geschichten haben, sagen sie: ‚Dieses Thema ist TABU!‘“ (ebd., 19; Großschreibg. im Orig.). So stellt Jona viele Fragen, auf die er keine ausreichenden Antworten erhält. Jonas Beobachtungsgabe, sein Weltwissen und auch seine sprachlichen Fähigkeiten sind denen eines durchschnittlichen Drittklässlers oft weit überlegen (vgl. z.B. ebd., 246), viele Redensarten, die er aus Bullerdiecks Kalender kennt, wendet er treffsicher an. Die Feder ist mächtiger als das Schwert, steht im Kalender vom Bullerdieck. Mit Feder ist die Schreibfeder gemeint, und der Spruch bedeutet, dass Wörter einen schwer verletzen können. 112 Bei Victor passte dieser Spruch wie die Faust aufs Auge. Er benutzte Wörter als Waffen, und die gemeinsten davon blieben für immer in den Köpfen seiner Opfer hängen (ebd., 83; Hervorhebg. im Orig.). Ähnlich feinsinnig sind viele seiner Beobachtungen. Dabei ist Jona ein außerordentlich fantasievolles Kind, und er gibt an, unter einer „Kurzfass-Schwäche“ (ebd., 25) zu leiden: „‚Fasse dich kürzer‘ schreibt nämlich meine Lehrerin, Frau Mäusler, immer unter meine Deutschaufsätze“ (ebd.). Fehlerhafte Wahrnehmungsdeutungen So genau viele von Jonas Beobachtungen sind, kommt er doch immer wieder zu Fehldeutungen des von ihm Beobachteten, so zum Beispiel, wenn er auf der Suche nach Aliens in seiner Umwelt ist: Nachdem er eines Morgens in den Schlagzeilen der Zeitungen von einem Stromausfall in Amerika liest, sieht er einen Mann in Lederbekleidung im Bushaltestellenhäuschen warten, den er vorher noch nie gesehen hat. Ich blieb stehen und hielt den Atem an. Welches Datum hatten wir heute? Den ersten Oktober. Erster Zehnter. Eins eins null. DER POLIZEINOTRUF! Dazu ein Stromausfall auf unserem Planeten, den sich niemand erklären konnte. Und ein lederner Fremder mit grünem Koffer in einer Kleinstadt. Das alles war ein Hinweis, so klar und deutlich, als hätte ihn Erich Hämiken persönlich in seinem Buch beschrieben. Außerirdische sind in der Nacht auf unserem Planeten gelandet! (ebd., 27f.; Großschreibg. im Orig.) Jonas Wahrnehmungen sind zwar durchaus zutreffend, seine Schlussfolgerungen sind es nicht. In dieser Situation wird das Muster von Wahrnehmung und Fehldeutung derart übertrieben, dass es zu einer humorvollen Auflösung der Situation kommt. Jonas korrekte Beobachtung „Der Fremde starrte zurück und hob langsam die linke Hand. Er spreizte den Daumen ab, drückte seinen linken Nasenflügel zu und schnäuzte sich blitzschnell den Rotz aus dem Nasenloch“ (ebd., 29), interpretiert der Junge als intergalaktisches Begrüßungsritual, zumal der „Rotzquabbel“ (ebd.) auf einem „A wie Außerirdischer, A wie Alien“ (ebd.) der Überschrift einer auf dem Boden liegenden Zeitung landet. Jona erwidert die vermeintliche „Begrüßungszeremonie“ (ebd.), wobei er den Griff des Aktenkoffers trifft. Der Fremde antwortet mit den Worten „Verpiss dich, du Rotzferkel“ (ebd.), und dem Jungen bleibt nur die Flucht. An dieser Stelle wird auch Jona klar, dass er sich hier wohl geirrt hat – jedoch hält ihn dies nicht davon ab, weiterhin nach Außerirdischen Ausschau zu halten und zu versuchen, mit vermeintlichen Aliens in Kontakt zu treten (vgl. ebd., 30). 113 Viele weitere Fehleinschätzungen Jonas verstärken den schon auf der ersten Romanseite implementierten Zweifel an seinen Erzähleraussagen. Insbesondere in der Interaktion von Jona und Bullerdieck sowie in Situationen, in denen Jona und Henri kommunizieren, lassen sich solche Diskrepanzen lokalisieren. Jonas Interesse an Henris Herkunft ist groß und entsprechend stellt er seinem Freund viele Fragen, doch es kommt aus unterschiedlichen Gründen nie zu einer Antwort Henris. Als Jona beispielsweise von Henri wissen möchte, warum dieser jeden Tag einen Apfel isst (ebd., 47), liefert Jona selbst eine Antwort, noch bevor Henri antworten kann: Henri hat noch gekaut, aber mir fiel die Antwort von selber ein, ehe er schlucken und sprechen konnte. „Enthalten Äpfel eine spezielle Substanz, die du brauchst, um in der Erdatmosphäre existieren zu können?“ Henri nickte. Na bitte, dachte ich (ebd., 48). An anderer Stelle fragt Jona Henri explizit nach seinem Auftrag auf der Erde (vgl. ebd., 53): Henri beugte sich nach vorn und begann, umständlich seinen linken Turnschuh neu zu binden. „Was glaubst du denn?“, fragte er zurück und pfriemelte an seinen Schnürsenkeln herum (ebd., 53f.). Auf diese Frage folgt eine dreiseitige Sequenz, in der Jona über Henris vermeintlichen Auftrag sinniert. Er schließt, dass Henri sicherlich einen Forschungsbericht abzugeben habe, wartet vor Aufregung keine Antwort Henris ab und plant schon, wie er dem Freund dabei helfen kann: „Wir könnten uns immer bei mir zu Hause treffen und alle wichtigen Kapitel besprechen. […]“ „Bei dir zu Hause?“ Henri richtete sich auf. Seine Augen leuchteten in dem dunkelroten Gesicht noch heller als sonst. „Okay“, sagte er (ebd., 57f.). Solche Situationen kommen immer wieder in Jonas und Henris Gesprächen vor, stets antwortet Henri nicht oder nur ausweichend, und Jona findet eine ‚intergalaktische‘ Begründung. Für Rezipienten entsteht eine Zusatzbedeutung, die sich Jona nicht erschließt, und die neben dem eigentlich Gesagten (Henri ist ein Außerirdischer) mittransportiert wird (Henri ist kein Außerirdischer). Andere Signale geben Aufschluss über Henris häuslichen Hintergrund, was dem Erzähler gleichfalls verborgen zu bleiben scheint. Ich sah Henri ins Gesicht und folgte wieder seinem Blick. Er starrte die Pizzastücke an, die wir übrig gelassen hatten. Ach so. Alles klar. 114 Er hatte Mitleid mit mir, aber so schlimm war das mit dem Vollkornteig nun auch wieder nicht. „Sie schmeckt besser, als sie aussieht“, versuchte ich ihn zu beruhigen. […] „Kann ich probieren?“, fragte Henri schnell (ebd., 77). Auch hier fällt Jona Henris Verhalten auf – und wieder missinterpretiert er dieses: Er kommt nicht auf den Gedanken, Henri könnte einfach hungrig sein. Im Rahmen ihrer Forschungen zur „Ernährung des Erdlings“ (vgl. ebd., 67f.) experimentieren Henri, Jona und Larissa dann mit Gerüchen und riechen auch an einem alkoholbasierten Produkt zur Hautreinigung. Henri reagiert unvermutet heftig: „Seine Augen waren geöffnet, aber sein Blick war nach hinten gekippt“ (ebd., 104); „Weinte er etwa?“ (ebd., 105) Jona versteht die Reaktion des Freundes nicht und vermutet: „Hatte er eine schmerzhafte Erfahrung mit einem außerirdischen Arzt hinter sich?“ (ebd.) Im Gegensatz zu Jona weiß Larissa, wie sie mit der Situation umgehen kann und bietet Henri eine Schulter zum Weinen. Über eine Sequenz, die fünf Buchseiten umfasst, versucht Jona daraufhin, das Verhalten des Freundes zu verstehen, kommt jedoch zu keinem klaren Schluss. Zwar erkennt er die Ähnlichkeit des Geruchs zu dem Geruch von alkoholhaltigen Pralinen, doch bleiben seine Gedanken vage, Zusammenhänge erkennt er nicht. Nicht nur die Tatsache, dass Henri in Wirklichkeit kein Außerirdischer ist – auch Henris prekäre häusliche Situation entgeht dem Ich-Erzähler. Erst als Jona Henri zu Hause besucht, versteht er langsam, was ihm entgangen ist. Bezeichnenderweise ist dieses Kapitel mit der Redensart „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“ (ebd.) überschrieben: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, steht im Kalender vom Bullerdieck, und ich war plötzlich nicht mehr so sicher, ob ich tatsächlich wissen wollte, was es da oben zu erfahren gab. Über ein Jahr lang hatte ich mir gewünscht, Henris Zuhause zu sehen, seine außerirdische Mutter, seine technischen Gerätschaften aus dem All, seine Spielsachen, sein Zimmer. Aber nun wollte ich nur noch weg von hier. Nach Hause. Zurück auf meinen eigenen Planeten (ebd., 260; Hervorhebg. im Orig.). Doch obwohl die Tatsachen nun offen liegen, kann Jona sie nicht akzeptieren und beharrt darauf, dass Henri ein Außerirdischer sei. Es ist die abgeklärte Larissa, die die Unzuverlässigkeit auflöst, indem sie explizit formuliert, was vorher nur indirekt kommuniziert wurde. Larissa sah mich scharf an. „Hat Henri dir das erzählt?“, fragte sie. Diese Frage hatte ich schon einmal gehört. Vom einzigen Menschen, dem ich außer Larissa von Henris Geheimnis erzählt hatte. Der Bullerdieck hatte sie mir gestellt, und ich wusste noch ganz genau, was ich darauf geantwortet hatte: „Ich kam von selber drauf.“ 115 Larissa fixierte mich immer noch. „Und?“, wiederholte sie. „Hat Henri dir das erzählt?“ „Nicht direkt“, sagte ich. „Hast du ihn gefragt?“ „Nicht direkt“, sagte ich noch einmal. „Dann frag ihn! Frag ihn, ob er ein Außerirdischer ist!“ „Das muss ich nicht. Außerdem mag er solche Fragen nicht hören, das ist das Problem, kapiert?“ „Nein, Jona. Du magst die Antwort nicht hören, das ist das Problem, kapiert?“ (ebd., 274f.; Hervorhebg. im Orig.) Am Ende der Geschichte gibt Henri selbst in seinem Brief Erklärungen für sein Verhalten und beantwortet auch dadurch Jonas Fragen. Illustrationen Die gesamte Romankomposition entspricht der Anlage von Jonas Forschungsbericht. Unmittelbar nach der Titelseite findet sich ein zweites Titelblatt in Form einer ganzseitigen Illustration. Sie ist der Vorderseite eines dunkelblauen Schulheftes nachempfunden und die Überschrift „Der Erdling – Ein Forschungsbericht von Jona Klinger“ (s. Abb. 4) ist handschriftlich in das Etikett integriert. Unter dem Textfeld befinden sich zwei, scheinbar mit Tesafilm schräg aufgeklebte, Fotos: Neil Armstrong auf seiner Mondmission und ein Bild einer Spiralgalaxie. Wiederum darunter sind kleine Buntstiftskizzen einer Rakete und eines um eine Sonne kreisenden Planeten zu sehen. Abbildung 4: Außerirdisch ist woanders, [5] Entsprechend Jonas Einteilung seiner ‚Forschung‘ ist der Roman in acht Teile gegliedert: „Einleitung: Die Begegnung“ (ebd., [7]), „Die Ernährung des Erdlings“ (ebd., 67), „Lebensraum und Familie des Erdlings“ (ebd., 111), „Die Sprache des 116 Erdlings“ (ebd., 169), „Sommerferien und Weihnachten“ (ebd., 187), „Die Feinde des Erdlings“ (ebd., 227), „Die Freunde des Erdlings“ (ebd., 279), „Schluss“ (ebd., 313). Jede dieser Überschriften ist wieder Teil einer ganzseitigen Illustration – diese sind beschrifteten und beklebten linierten Blättern nachempfunden. Unter der handschriftlichen Überschrift findet sich jeweils ein weiteres ‚aufgeklebtes‘ Bild. Auf dunkelblauem Grund ist stets eine Weltkugel abgebildet, die in unterschiedlicher Weise die jeweilige Überschrift illustriert: Mal ist die Erde von einer Zitrusschale umhüllt und auf ihren Umlaufbahnen kreisen Lebensmittel („Die Ernährung des Erdlings“; ebd., 67; s. Abb. 5), mal sieht sie aus wie eine Weihnachtsbaumkugel und scheint an einem dünnen Faden zu hängen („Sommerferien und Weihnachten“; ebd., 187). Lediglich in der letzten Illustration („Schluss“; ebd., 313) ist alleine die Weltkugel inmitten einiger kleiner Sterne zu sehen. Abbildung 5: Außerirdisch ist woanders, 67 Den acht Teilen des ‚Forschungsberichts‘ sind 16 kleinere Kapitel untergeordnet. Jedem dieser Kapitel ist – in Anlehnung an Bullerdiecks „Sprüchekalender“ – eine Redensart als Überschrift vorangestellt, die in eine halbseitige Illustration integriert ist und in Bezug zum Dargestellten steht. Auch auf diesen Illustrationen ist jeweils eine Weltkugel abgebildet. So ist beispielsweise in dem Kapitel „Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft“ eine Hand abgebildet, die eine mit einer Schleife verzierte Weltkugel zu reichen scheint (ebd., 203; s. Abb. 6). Der Hintergrund der kleineren Illustrationen ist jeweils liniert. Liniertes und kariertes Papier unterschiedlicher Färbung wird zur Gestaltung des Hintergrunds bzw. zur Füllung von Flächen eingesetzt: 117 Abbildung 6: Außerirdisch ist woanders, 203 Authentizität/Metafiktion Durch die Illustrationen entsteht ein Eindruck von Authentizität des ‚Forschungsberichts‘, der im Laufe der Geschichte auch auf textueller Ebene immer weiter verstärkt wird. Die Aufteilung des Romans in die verschiedenen Teile des Forschungsberichts wird auch im Text markiert. Es wird so suggeriert, man lese Jonas so entstandenen Text. Einleitung – Die Begegnung Schrieb ich auf die erste Seite meines Hefts, auf dessen Umschlag Der Erdling – Ein Forschungsbericht von Jona Klinger stand. Ich ließ ein paar Seiten frei und notierte die Überschrift für unser erstes Thema: Die Ernährung des Erdlings Als sich Henri um sechs Uhr verabschiedete, hatte ich bereits die ersten Zeilen in meinen Bericht geschrieben (ebd., 80.; Hervorhebg. im Orig.). Erwartet man jedoch von einem Forschungsbericht ein knappes, sachliches Herangehen und nüchterne Sprache, entsprechen Jonas Ausführungen dieser Textgattung keineswegs. Die vermeintlich intendierte Berichtform wird durch gegensätzliche Textmerkmale konterkariert: In keiner Weise entspricht der Text den Merkmalen eines Berichts. Es finden sich Leseranreden, assoziativ anmutende Gedankenketten, Eingeständnisse eigenen Unverständnisses, zwischenzeitlich verliert der Erzähler sogar völlig den Faden („Um was ging es nochmal? Ach ja. Um Henris Erdenmission.“; ebd. 55). Alle genannten Merkmale sind zwar Markierungen für unzuverlässiges Erzählen – dennoch ist es nicht verwunderlich, dass Jona es nicht schafft, sich bei einem vermeintlichen Bericht kurzzufassen, entspricht es doch seiner Selbstcharakterisierung. Nachdem Henri abgereist ist, setzt sich Jona mit seinen Erlebnissen auseinander und aus seinem Forschungsbericht wird eine Erlebniserzählung: Ich strich alle beschriebenen Seiten durch. Dann fing ich an, meinen Forschungsbericht neu zu schreiben, oder sagen wir lieber, meine Erlebniserzählung: 118 Eigentlich heiße ich Jonathan, aber das tut hier nichts zur Sache, weil mich die wichtigsten Leute sowieso nur Jona nennen. Und dann möchte ich noch klarstellen, dass bei mir alles in Ordnung ist unterm Scheitel, falls das irgendwer bezweifeln sollte (ebd., 300; Hervorhebg. im Orig.). Eben mit diesen kursiv gesetzten Worten beginnt auch der Roman und genau wie Jona müssen nun auch Leser ihre Vorstellung korrigieren. Zwar handelt es sich bei dem Gelesenen nach wie vor um eine Schilderung dessen, was Jona geschehen ist – doch entpuppt sich das erzählende Ich als deutlich gereifter als vermutet. Dass bei Jona „alles in Ordnung ist unterm Scheitel“ (ebd.; Hervorhebg. im Orig.) kann er nun tatsächlich behaupten. Führte diese Aussage eingangs noch zu Zweifeln bezüglich seines geistigen Zustands, erhält sie nun eine andere Bedeutung: Inzwischen ist bei ihm wirklich ‚alles in Ordnung‘. Zwar ist Jona zum Zeitpunkt des Erzählens bewusst, dass es sich bei Henri nicht um einen Außerirdischen handelt – in der Erzählung übernimmt er aber stets seinen Wahrnehmungshorizont vom Zeitpunkt des jeweiligen Erlebens. Ich hielt mich an unsere Gliederung, und ich füllte sie mit allem, was ich in meinem Jahr mit Henry erlebt, gedacht und gespürt hatte. […] Außerirdisch ist woanders wäre auch ein schöner Titel für mein Buch, aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass es irgendwann veröffentlicht wird, denn wer will sich denn schon meine Vorstellungen kaufen? (ebd. 300f.; Hervorhebg. im Orig.) Intermedialität/Intertextualität Intermediale bzw. intertextuelle Anleihen verstärken die unzuverlässige Disposition des Erzählers in Außerirdisch ist woanders. Sie manifestieren sich als wiederholte Hinweise auf ein ‚inneres Kino‘ des Erzählers, in Referenzen auf (abenteuer-)literarische Konventionen sowie auf (Pseudo-)Forschungsliteratur zum Thema ‚Außerirdische‘. Das ‚innere Kino‘ als Motiv Besonders in schwierigen Situationen geht Jonas Fantasie mit ihm durch, oft verliert er sich in Träumereien: Um ihn nicht mehr sehen zu müssen, kniff ich ganz fest die Augen zu, und natürlich schaltete sich sofort mein inneres Geheim-Kino ein. Ich habe nämlich ein Kino in meinem Kopf, das sich immer ein- und wieder ausschaltet. […] Ich habe ziemlich viele Action-Filme auf Lager, ein bisschen Horror ist auch dabei und natürlich Fantasy und Science-Fiction vom Feinsten. Manchmal spielt mein Kino auch traurige Filme (ebd., 12f.). Gerade zu Beginn des Romans finden sich vermehrt (jeweils kursiv gesetzte) Passagen, in denen Jona seine Wahrnehmungen in verschiedenen filmischen Fär- 119 bungen darstellt. So schildert er beispielsweise seinen Schulweg wie eine Filmszene eines Horrorfilms (vgl. ebd., 24f.) oder sinniert über seine eigene Beerdigung, als wäre es eine Szene aus einem Familiendrama: Mein Kamera-Auge holt Mama zum letzten Mal vor die Linse. Weinend verteilt sie Sandwiches an die Trauergemeinde, mit Salami, Salat und Mayonnaise (ebd., 37; Hervorhebg. im Orig.). Jona selbst kommentiert: „Mein inneres Kino übertreibt manchmal ein bisschen, da lässt sich nichts machen“ (ebd., 14). An anderen Stellen finden sich lediglich kürzere Hinweise auf entsprechende Film-Gattungen: insbesondere auf ScienceFiction (vgl. z.B. ebd., 38, 50, 199f.), aber auch auf Horror (vgl. z.B. ebd., 126), Actionfilm (vgl. z.B. ebd., 233) und Thriller (vgl. z.B. ebd., 50, 86). Jona scheint sich sehr gut in diesen Gattungen auszukennen, und seine Erzählung ist oft stark an jene Darstellungsweisen angelehnt – dabei handelt es sich jedoch jeweils um ein Abdriften, das in keinem Zusammenhang mit den erzählten Inhalten steht. Abenteuerliteratur An mehreren Stellen bezieht sich Jona auch auf bekannte Abenteuerliteratur – insbesondere Stevensons Die Schatzinsel kommt hier Bedeutung zu. Als Jona erfährt, dass Henri und Bullerdieck sich gegenseitig vorlesen, ist Jona darüber nur kurz verwundert: Anscheinend haben es die außerirdischen Meister versäumt, ihre Schüler mit Erdlingsliteratur zu versorgen, dachte ich. Aber es leuchtet ja ein, dass auch ein Alien wissen will, wer Long John Silver ist, oder Zwerg Nase oder Oliver Twist oder Kapitän Ahab (ebd., 191). Dass Jona sich in der Gattung des Abenteuerromans auskennt, wird bereits am Anfang des Romans deutlich, wenn er über die Herkunft der von ihm so benannten „TABU“-Wörter (ebd., 19; Großschreibg. im Orig.) sinniert: „Keine Ahnung, woher das Wort TABU kommt. Vielleicht hat es ein tätowierter Matrose vor 500 Jahren von einer geheimnisvollen Insel mitgenommen“ (ebd.; Hervorhebg. und Großschreibg. im Orig.). Am Ende führt er aus: „Auf dem Küchentisch lag das Buch Die Schatzinsel, das ich mir schon oft angeschaut hatte, weil so tolle Bilder darin sind“ (ebd., 286; Hervorhebg. im Orig.). Zwar kommt in Außerirdisch ist woanders dem Abenteuerroman nicht die Bedeutung zu, die der Film innehat – jedoch tragen auch jene Anspielungen dazu bei, die unzuverlässig angelegte Figur des zum Fabulieren neigenden Ich-Erzählers zu durchschauen. 120 Außerirdische: Erich von Däniken Dass es sich bei dem fiktiven Autor Erich Hämiken um einen Verweis auf den Schweizer Schriftsteller Erich von Däniken handelt, liegt nahe. Wie sein fiktiver Gegenpart Hämiken, glaubt auch Erich von Däniken, einmal einem Außerirdischen begegnet zu sein. Im Jahre 2006 veröffentlichte er den Roman Tomy und der Planet der Lüge, in dem er seine Erlebnisse mit dem Außerirdischen Tomy beschreibt, der ihm in den 1980er Jahren begegnet sein soll. Bezeichnenderweise steht auf der Buchrückseite: „Der Roman, der kein Sachbuch sein durfte“. In Analogie hierzu können Jonas Reflexionen zu Vorstellung und Realität als Spiel mit dem Gattungsbegriff verstanden werden. Seine Aussage: Romantiker sind Leute, die Romane mögen, glaube ich, und Willi und ich könnte vielleicht ein Roman sein. Einer mit einer wahren Geschichte und echten Personen natürlich (ebd., 149, Hervorhebg. im Orig.). ist entsprechend als deutlicher Verweis auf von Dänikens Text lesbar. Wie in Außerirdisch ist woanders wird auch bei von Däniken eine vermeintliche Authentizität (hier durch den Bezug auf einen angeblich wahren Gehalt des Erzählten) hergestellt. Schlussendlich wendet sich Jona von Hämiken ab und wendet sich einem neuen Buch zu: „Weltallforschung für helle Köpfe von Harald Lösch“ (ebd., 299; Hervorhebg. im Orig.). Nur minimal ist die Abweichung zu Kosmologie für helle Köpfe des bekannten Astrophysikers Harald Lesch. Einordnung Insgesamt ergibt sich für Außerirdisch ist woanders folgendes Bild: Themen und Motive Neben dem für Kinderliteratur typischen Hauptthema ‚Freundschaft‘ geht es in Außerirdisch ist woanders auch um die unterschiedliche Privilegierung von Kindern. Im Kontext der Unzuverlässigkeit ist das Thema ‚Erzählen‘ besonders hervorzuheben, insbesondere auch die Motivik der Abgrenzung von Realität und Fiktion: Eine Verknüpfung von Thema und erzählerischer Unzuverlässigkeit findet damit statt. Erzählsituation Sender der erzählerischen Unzuverlässigkeit ist der kindliche Ich-Erzähler Jona. Auch in Außerirdisch ist woanders liegt eine extradiegetische autodiegetische Erzählsituation mit fixierter interner Fokalisierung vor. Die (intertextuellen) Bezüge zu 121 Erich von Dänikens sowie seinem Werk könnten als an erwachsene Leser gerichtete Reizsignale gedeutet werden: Es ist unwahrscheinlich, dass diese Kindern bekannt sind. Gleichwohl lässt sich hieraus noch keine Doppelsinnigkeit ableiten. Die Modellierung der Erzählerfigur Jona ist insbesondere zu Beginn der Erzählung sehr naiv. Er hält einen neuen Mitschüler für einen Außerirdischen, obwohl es zahlreiche Indizien dafür gibt, dass dies nicht der Wahrheit entspricht. Jona wird von seinen Eltern stark behütet und vor bestimmten Lebenswirklichkeiten ‚bewahrt‘, woher auch seine Naivität rührt. Jona hat zudem eine ausgeprägte Fantasie, was sich auch darin manifestiert, dass er zu Hinzudichtungen und Übertreibungen neigt. Am Erzählende ist Jona deutlich gereift, und entsprechend auch weniger naiv. Markierung der erzählerischen Unzuverlässigkeit Textuelle Signale für die erzählerische Unzuverlässigkeit, so wurde gezeigt, sind insbesondere in den Handlungen und der Figurenrede der mit Jona interagierenden Figuren auszumachen. An vielen Stellen werden Jonas Einschätzungen insbesondere durch Henris Verhalten kontrastiert – Leser erhalten so einen klaren Wissensvorsprung gegenüber dem Erzähler. Jonas naive Weltsicht wird durch seine Bekräftigungen der eigenen Glaubwürdigkeit sowie seine eingestandenen Wissenslücken weiter hervorgehoben. Die dem Roman enthaltenen Illustrationen greifen das metatextuelle Thema des Romans auf, indem sie darauf hindeuten, dass es sich beim Text um den von Jona verfassten Forschungsbericht handele. Ihnen kommt damit eine authentifizierende Funktion zu. Das Text-Bild-Verhältnis lässt sich als symmetrisch beschreiben. Wie für Anton taucht ab, kommt auch dem Paratext für Außerirdisch ist woanders eine Bedeutung in Bezug auf die erzählerische Unzuverlässigkeit zu: Zahlreiche Illustrationen unterstützen den Eindruck vermeintlicher Authentizität und verstärken so das immer wiederkehrende ‚unzuverlässige‘ Motiv ‚Fiktion und Realität‘ sowie das metafiktionale Moment. Weitere Beschaffenheit der erzählerischen Unzuverlässigkeit Die Unzuverlässigkeit ist durchweg ontologisch entscheidbar, es handelt sich um mimetische und offene Unzuverlässigkeit. Jona ist sich seiner Unzuverlässigkeit zunächst nicht bewusst – nach der Auflösung durch Larissa schämt er sich für seine Naivität und fragt seinen Freund Bullerdieck: „Finden Sie, dass es eine schlimme Beleidigung ist, wenn man jemanden für ein Alien hält?“ (ebd., 294) 122 Wie Anton in Anton taucht ab erzählt Jona durchgängig unzuverlässig – anders als Anton ändert sich dies bei Jona aber zum Erzählende: Mit zunehmendem Weltwissen verliert Jona seine Naivität und seine Fehleinschätzungen unterbleiben, bzw. sie sind eher seiner Fabulierlust als einer kognitiven Überforderung geschuldet. Anders als bei Helden und Anton taucht ab wird die erzählerische Unzuverlässigkeit bei Außerirdisch ist woanders am Ende aufgelöst. Intermedialität/Intertextualität Intermediale Verweise im inneren Kommunikationssystem (vgl. Broich 1985) verstärken die erzählerische Unzuverlässigkeit in Außerirdisch ist woanders. Wiederholt wird auf ein ‚inneres Kino‘ des Erzählers verwiesen, es finden sich in Referenzen auf (abenteuer-)literarische Konventionen einerseits und auf (Pseudo)Forschungsliteratur andererseits (s. Kap. 2.2.4; Wicke [2014, 14] spricht in diesem Kontext von „erfundenen Prätexten“). Vor allem die Pseudoreferenzen sind als Einzelreferenzen explizit markiert. Funktionen Aus der Motivik von Fiktion/Realität sowie durch die (auch mittels der Illustrationen) generierten vermeintlichen Authentizität ergibt sich eine illusionsbrechende, metafiktionale Funktion der erzählerischen Unzuverlässigkeit. Die zentrale Funktion der Unzuverlässigkeit in Außerirdisch ist woanders ist aber (wie auch in den zuvor analysierten Werken) die Charakterisierung des Ich-Erzählers als naiv, wobei dies stellenweise mit einer komischen Funktion der Unzuverlässigkeit verknüpft ist. Wie auch in Helden ist in Außerirdisch ist woanders zudem eine externe literarische Funktion erkennbar – insbesondere als Gesellschaftskritik an dem Phänomen ‚Kindheit heute‘: Jona wird von seinen Eltern überbehütet, in seiner Naivität merkt er nicht, dass es anderen nicht so gut geht, und auch nicht, dass der Wohlstand, in dem er lebt, etwas Besonderes ist. Seine Unzuverlässigkeit manifestiert sich auch darin, dass er in einer behüteten ‚Blase‘ lebt: Er hält es für wahrscheinlich, dass sein bester Freund ein Außerirdischer ist und erkennt nicht, dass dieser in minderprivilegierten Umständen aufwächst. 123 Wie das kam, wollt ihr wissen? Dann hört mir gut zu, denn besser als ich erzählt die Geschichte euch keiner, ich war nämlich dabei. (Hoppe 2008, 9) 3.1.4 Felicitas Hoppe: Iwein Löwenritter Der Roman Iwein Löwenritter von Felicitas Hoppe erschien erstmals im Jahre 2008 in der Reihe ‚Die Bücher mit dem blauen Band‘ im Frankfurter Fischer Verlag. Hoppe erzählt in zwei Teilen und insgesamt sechzig kurzen Kapiteln Hartmann von Aues Artusroman Iwein (verfasst um 1200) für ein kindliches Publikum nach. Der Roman wird vom Verlag für eine Altersgruppe ab zehn Jahren empfohlen65. Vier Bilder hat Michael Sowa zum Roman beigesteuert; ein weiteres Bild findet sich auf der Vorderseite des Schubers, wobei das zentrale Rechteck ausgeschnitten ist und der entsprechende Ausschnitt durch einen passenden Aufkleber auf dem Leinenumschlag gefüllt wird. Die erzählerische Unzuverlässigkeit in Iwein Löwenritter betrifft vor allem die Erzähleridentität: Erst auf der letzten Seite wird aufgelöst, um wen es sich beim Erzähler überhaupt handelt – und anders als in den vorher besprochenen Romanen ist dies kein kindlicher Erzähler, sondern ein Löwe. Auch die Stellung des Erzählers zum Geschehen ist den gesamten Roman hindurch nicht eindeutig. Inhalt, Themen Hoppe orientiert sich inhaltlich nah an der literarischen Vorlage: Iwein, ein Ritter aus Artus‘ Tafelrunde, macht sich auf die Suche nach Âventiuren. Bei einem seiner Abenteuer begegnet er der schönen Burgherrin Laudine, deren Herz er gewinnt und die im Folgenden zu seiner Frau wird – Iwein wird zum neuen Burgherrn. Doch das schöne Leben genügt ihm nicht, zusammen mit seinem alten Freund Gawain macht er sich abermals auf, um Âventiuren zu erleben. Dabei verpasst Iwein eine ihm von Laudine gesetzte Jahresfrist und wird von der enttäuschten Frau verflucht. Der Verlust der Ehre bewirkt bei dem Ritter einen völligen Zusammenbruch. Gemäß dem gattungsspezifischen Merkmal des Doppelwegs erlangt Iwein in der Folge all jene Besitztümer, die er ehemals bereits errungen hatte, erneut: Wieder begibt er sich auf eine Reihe von Âventiuren, die sich diese Mal jedoch dadurch auszeichnen, dass er anderen hilft. So rettet er unter anderem auch einen Löwen und wird dadurch zum ‚Löwenritter‘. Diese Altersempfehlung scheint allerdings etwas hoch angesetzt. Der Roman eignet sich zum Vorlesen durchaus schon für Kinder ab sechs Jahren. 65 124 Inhaltliche Abweichungen der Nacherzählung finden sich vor allem in Form von Weglassungen, Vereinfachungen und Zusammenführungen. So fällt beispielsweise die in Hartmanns Iwein personal verwirklichte Minne bei Hoppe ersatzlos weg, während die Figur der Ginevra zwar erhalten bleibt, jedoch eine deutlich geringere Rolle spielt. Auch auf die im Original durchaus wichtige Figur des Kalogrenant verzichtet Hoppe, dafür ‚übernimmt‘ u.a. der Löwe Teile von dessen Funktion (wie zum Beispiel die detaillierte Beschreibung des „Mannes in Gestalt eines Ungeheuers“; Hoppe 2008, 27). Die im Artusroman vorrangigen Themen ‚Mut‘ und ‚Ehre‘ und – ganz im Sinne der Âventiurekonventionen – das heldenhafte Bestehen von Bewährungsproben sind auch in Hoppes Text wiederzufinden. Allerdings schwächt Hoppe diese Themen etwas zu Gunsten von Themen wie ‚Freundschaft‘ oder ‚Neugier‘ ab und passt damit und auch durch sprachliche und formale Änderungen (wie zum Beispiel den Verzicht auf die Reimform) den Roman ihrer Leserschaft an. Das ebenfalls alte Thema ‚Minne‘ wird in Hoppes Nacherzählung durch das modernere Thema ‚Liebe‘ ersetzt. Doch auch Themen wie ‚Sehnsucht‘ und ‚Mitleid‘ werden in Hoppes Text verhandelt. Von hoher Bedeutung im Kontext erzählerischer Unzuverlässigkeit ist zudem eine wiederholte Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Erzählen‘ einerseits, aber auch eine stark präsente Motivik des Schlafens und Träumens andererseits. Erzählerische Unzuverlässigkeit Im Kontext der vorliegenden Arbeit ist vor allem die Erzählsituation von Bedeutung, da sich in ihr die erzählerische Unzuverlässigkeit von Iwein Löwenritter manifestiert: in der Verschleierung der Erzähleridentität sowie der unklaren Stellung des Erzählers zum Geschehen. Aufbau und Erzählsituation Der Roman ist in zwei Teile mit je dreißig kurzen Kapiteln aufgeteilt. Im ersten Kapitel des ersten Teils („I. Iwein“) setzt die Erzählung in medias res mit der Schilderung einer Kampfszene zwischen einem Drachen und einem Löwen auf einer Lichtung ein, die im Folgenden dazu führt, dass Iwein den Drachen tötet und somit den Löwen rettet. Das zweite Kapitel markiert dann den Beginn einer umfassenden aufbauenden Analepse, in der erzählt wird, wie es zu dieser Situation gekommen ist. Diese Analepse umfasst den gesamten ersten Buchteil; erst zu Beginn des zweiten Teils gelangt die Erzählung wieder an die anfangs beschriebene Lichtung. Der Roman wird dann im zweiten Teil („II. Der Löwenritter“) in chronologischer 125 Ordnung zu seinem Ende geführt. Am Anfang der Geschichte beteuert der Erzähler: Wie das kam, wollt ihr wissen? Dann hört mir gut zu, denn besser als ich erzählt die Geschichte euch keiner, ich war nämlich dabei (ebd., 9). Die spezifische Kommunikationssituation stellt sich so von Beginn an als eine Situation mündlichen Erzählens dar. Ebenfalls noch auf der ersten Seite fügt er hinzu: Ich liebe die Träume. Besonders nach einem gewonnenen Kampf oder nach einem guten Essen. Man liegt warm und satt im Halbschlaf und hört lange Geschichten, in denen die Zeit keine Rolle spielt (ebd.). Eben eine solche lange Geschichte wird im Folgenden vom Erzähler dargeboten. Immer wieder spricht der Erzähler dabei seine vermeintlichen Zuhörer direkt an. Dies geschieht in Form von Nachfragen („Kennt ihr die Geschichte von Iwein […]?“; ebd.), Aufforderungen („Stellt euch jetzt Iwein vor, wie er neben dem Pferd auf dem Boden liegt“; ebd., 34) oder (impliziten) Unterstellungen („Aber wenn ihr jetzt glaubt, er wäre verzweifelt gewesen, dann täuscht ihr euch“; ebd., 39). Dabei wendet sich der Erzähler an ein kindliches Publikum, was deutlich wird, wenn er sich wiederholt kindlicher Referenzräume bedient: „Also vergesst die Schule“ (ebd., 10) / „Aber ich rede hier nicht von Löwen im Zoo oder im Zirkus“ (ebd.). Trotz der klaren Markierung der mündlichen Erzählsituation entfaltet sich jedoch nicht, wer eigentlich erzählt. Auf der ersten Seite erscheint ein Erzähler, der von sich in der Ich-Form spricht, dessen Identität und dessen Stellung zum Geschehen im weiteren Verlauf aber nicht bestimmbar sind. Erst im letzten Abschnitt des Romans gibt sich der Löwe im Nachhinein als Erzähler zu erkennen: „Denn der Löwe auf dem Burgweg bin ich“ (ebd., 250). Nur retrospektiv wird klar, dass die Beteiligung des Erzählers am Geschehen in den beiden Buchteilen grundsätzlich verschieden ist: Im ersten Teil handelt es sich um einen unbeteiligten Erzähler, der (noch) nicht als Figur am Geschehen teilnimmt – der Löwe erzählt das, was Iwein ihm erzählt hat. Im zweiten Teil ist der Erzähler hingegen als eine der Hauptfiguren an der Handlung beteiligt. Die vermeintlich homodiegetische Figurenanlage des Erzählers muss, was den ersten Buchteil betrifft, nach der Lektüre als heterodiegetisch umgedeutet werden. Textuelle Diskrepanzen: Die Stellung der Erzählinstanz zum Geschehen Im oben bereits zitierten Romananfang nimmt der Erzähler in Anspruch, in irgendeiner Form am Geschehen beteiligt und damit der erzählten Welt direkt zugehörig zu sein („ich war nämlich dabei“; ebd., 9). Doch in der im Anschluss geschilderten 126 Szene auf der Lichtung spricht der Erzähler von allen beteiligten Figuren (dem Drachen, dem Ritter und eben auch dem Löwen) in der dritten Person – und verschleiert so von Beginn an seine Identität. In seiner Funktion als erzählendes Ich spricht er in der ersten Person, in den Beschreibungen seiner Selbst als erlebendes Ich wählt er die dritte Person. Diese Besonderheit in der Selbstreferenz hält der Erzähler den gesamten Roman über aufrecht. Diese Unklarheit bezüglich der Beteiligung des Erzählers an der im ersten Kapitel geschilderten Szene führt zu einer Diskrepanz, zumal der Erzähler das Kapitel eben mit den Worten „Das habe ich selbst gesehen“ (ebd., 14) abschließt. Man könnte an dieser Stelle noch die Anwesenheit einer weiteren Figur (z.B. eines unbeteiligten Beobachters) vermuten, doch scheint dies eher unwahrscheinlich. Als der Erzähler dann im siebten Kapitel den Kampf Iweins mit dem Burgherrn Nebenan beschreibt, verrät er über seine eigene Stellung: Ich könnte den Kampf zu Worten machen, aber ich war nicht dabei. Nur die zwei waren da bei dem Lindenbrunnen, und außer den Vögeln hat niemand gesehen, wie sie schlugen und stachen und hauten und rasten. Nur so viel ist sicher, dass keiner von beiden ein Feigling war. Also musste der eine zu Tode kommen und der andere übrig bleiben. Und der Tote wird davon bestimmt nichts erzählen, denn der Tote ist tot, also müssen wir glauben, was der Andere sagt. Und weil Iwein der Andere ist, also der, der bis heute am Leben ist, erzähle ich euch, was er mir erzählte (ebd., 36). Zwar ist der Erzähler auf der Lichtung bei dem Drachenkampf anwesend, was aber an der Gewitterquelle passiert ist, weiß er aus den Schilderungen Iweins, dessen Bekannter er offensichtlich ist. Vereinzelt spielt der Erzähler im Laufe der Geschichte so auf seine Stellung zum Geschehen an. Dies geschieht im ersten Teil des Romans in Form von Hinweisen, dass er dieses oder jenes nicht genau wisse, weil er eben nicht ‚dabei‘ gewesen sei (vgl. ebd., 36, 48, 70, 105). Im zweiten Teil unterlässt der Erzähler solche Kommentare – weder erwähnt er seine Anwesenheit, noch seine Abwesenheit vom Geschehen. Lediglich am Ende, als Iwein und Laudine wieder vereint sind, kann man einen kleinen Hinweis finden, wenn der Erzähler mutmaßt: „Vielleicht haben sie sich einfach geküsst“ (ebd., 247) und dadurch offenbart, dass er wohl nicht anwesend gewesen ist. Gelegentlich tritt der Erzähler auch scheinbar als allwissend in Erscheinung. Vor der Auflösung der Erzähleridentität stellen diese Passagen eine weitere Verschleierung der Erzählerposition dar – im Nachhinein zeigt sich in ihnen ein Hang des Erzählers zur Hinzudichtung. Im 16. Kapitel beispielsweise entschließt sich König Artus herauszufinden, was mit Iwein passiert ist: 127 Also ließ er sein Pferd satteln, steckte sein Immerschwert in den Gürtel, küsste zum Abschied Ginevra auf den Mund und die Stirn und sagte: „Sonntag bin ich wieder zurück!“ Und Ginevra sagte: „Lass dir Zeit. Hier am Hof wirst du nichts verpassen.“ (ebd., 73) Es ist unwahrscheinlich, dass Artus dieses eheliche Gespräch mit Iwein teilt – und dass der es dann wiederum dem Löwen erzählt. Wahrscheinlicher ist, dass der Erzähler mit solchen Details seine Rede ausschmückt. Im Folgenden macht sich Artus dann ins Land Nebenan auf und ‚weckt‘ dort die Gewitterquelle. Später gibt der Erzähler die Gedanken und Gefühle der Frau mit den weißen Händen wieder, und diese können weder dem Löwen noch Iwein bekannt sein. Sie sind damit sogar als gänzlich außerhalb des möglichen Wissensbereiches des Löwen einzuordnen (vgl. ebd., 114f.). So inszeniert sich der Erzähler zwar gelegentlich als allwissend, im Nachhinein wird aber klar, dass seiner Erzählerrede auch in Bezug auf einzelne Handlungselemente nur bedingt zu ‚trauen‘ ist. Diese Diskrepanzen bezüglich der Erzähleridentität werden vor allem durch zweierlei Erzählstrategien unterfüttert, die einer Entlarvung des Löwen als Erzähler entgegenwirken: Einerseits ist dies die bereits erwähnte Tatsache, dass der Erzähler im gesamten Roman vom Löwen (also von sich) in der dritten Person spricht, anderseits tritt der Löwe in seiner Funktion als handelnde Figur auch stets als Tier – und damit nicht sprechend – auf. Im Roman findet sich kein einziges sprechendes Tier, und auch der Löwe scheint gar nicht der menschlichen Sprache mächtig zu sein. Eine Erzählerrede ist ihm auch daher schlichtweg nicht zuzutrauen. Diese beiden konstanten Ablenkungen wirken dem Auflösen der Identität des Erzählers entgegen, seine Selbstoffenbarung am Ende des Romans hat einen Überraschungseffekt: Das weiß ich genau. Und ich weiß auch, dass Lunete noch sehr lange winkte, als sie da oben am Burgtor stand, ich habe mich nämlich umgedreht. Denn der Löwe auf dem Burgweg bin ich. Und ich liebe Geschichten. Besonders nach einem gewonnenen Kampf oder nach einem guten Essen. Und so gut wie ich erzählt sie euch keiner. Ich war schließlich dabei (ebd., 249f.). Erst jetzt ist klar, dass der Erzähler eine völlig andere Rolle hat, als er glauben gemacht hat, und das Gelesene muss neu bewertet werden. Versteckte Hinweise Bei genauem Hinschauen findet man versteckte textuelle Hinweise auf die Tatsache, dass es sich bei dem Erzähler nicht um einen Menschen handelt. Diese Hinweise sind zwar deutlich, jedoch nur punktuell gesetzt. 128 So benutzt der Erzähler beispielsweise wiederholt das Attribut ‚menschlich‘ in seinen Ausführungen und transportiert dabei gleichzeitig ein gewisses Unverständnis: Was auch immer das ist, diese Menschenehre, von der ich genauso wenig verstehe wie der Mann in Gestalt eines Ungeheuers, sie kann jedenfalls kein Leben retten (ebd., 40). Dabei geht es in der Regel um die Beschreibung von emotionalen Konzepten wie Ehre oder auch Liebe: Die Liebe und der Schmerz sitzen nämlich beide im Herzen, eng nebeneinander, jedenfalls bei den Menschen (ebd., 48f). Auch Neugier (vgl. ebd., 70), Einsamkeit (vgl. ebd., 107) oder Rastlosigkeit (vgl. ebd., 163) werden so vom Erzähler als besonders menschliche Eigenarten betont. Gelegentlich weist der Erzähler auch auf seine Unkenntnis bestimmter Situationen hin, so zum Beispiel, wenn er zugibt: „von Stundenplänen verstehe ich nichts“ (ebd., 9) und damit offenbart, dass er keine Schule besucht hat. Später greift er dies erneut auf: „In Geduld der Beste zu sein, ist allerdings schwerer als in jedem anderen Fach. Das wisst ihr besser als ich“ (ebd., 55). Eine weitere Andeutung bezüglich seiner Identität macht der Erzähler im vorletzten Kapitel des ersten Teils: Ob Iwein gesund wurde, wollt ihr wissen? Die Antwort ist einfach. Er wurde gesund. Denn wäre er nicht gesund geworden, wie hätte er mir dann das Leben gerettet und mir seine ganze Geschichte erzählt? (ebd., 117) Damit ist immerhin klar, dass der Erzähler jemand ist, dessen Leben Iwein gerettet hat, allerdings wird diese Information nur scheinbar beiläufig gegeben. Zwar wird im Folgenden erzählt, wie Iwein dem Löwen das Leben rettet (vgl. ebd., 132), doch dies geschieht erst drei Kapitel später im zweiten Teil des Romans. Motive des Unzuverlässigen: Erzählen‚ Schlafen und Träumen Es fällt auf, dass der Erzähler immer wieder über das Erzählen spricht. Das erste Kapitel des ersten Teils („I. Iwein“) beginnt mit einer sehr knappen Zusammenfassung: Kennt ihr die Geschichte von Iwein, der eines Tages aus lauter Langeweile auszog, um Abenteuer zu suchen und sein Herz dabei gegen ein anderes tauschte und deshalb seinen Verstand verlor? Danach irrte er durch den Immerwald und musste gegen tausend Ungeheuer kämpfen, bis alles doch noch ein gutes Ende nahm. Wie das kam, wollt ihr wissen? Dann hört mir gut zu, denn besser als ich erzählt die Geschichte euch keiner, ich war nämlich dabei (ebd., 9). Nicht nur präsentiert der Löwe hier die Kommunikationssituation des Romans, er 129 inszeniert sich auch als nahezu prädestinierter Erzähler. Wiederholt geht er auf den Erzählakt ein: in Bezug auf sein eigenes Erzählen wie im obigen Beispiel, aber auch in Bezug auf das Erzählen von Geschichten im Allgemeinen. Eine Schlüsselfigur ist in diesem Zusammenhang König Artus, der wegen seiner Liebe zu Geschichten vom Löwen explizit als „König Neugier“ (ebd., 17) eingeführt wird: Ohne Geschichten kann der König nämlich nicht schlafen. So groß ist sein Hunger nach Geschichten, dass alle Ritter am runden Tisch ununterbrochen erzählen müssen, von morgens bis abends, bis zur Erschöpfung (ebd.). Der intrigante Ritter Keie wiederum wird als Mann charakterisiert, der „eine gefährliche Zunge“ (ebd., 20) hat: „Keie erzählt nämlich keine Geschichten“ (ebd.). Das Erzählen von Geschichten ist entsprechend positiv konnotiert, was ebenfalls deutlich wird, wenn der Löwe beschreibt, wie Artus erzählt: Beim Essen saß der König zwischen Iwein und Laudine. Und zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass er sich überhaupt nicht langweilte, sondern zum ersten Mal seit sehr langer Zeit selber Geschichten erzählte, und dass das Erzählen ihm Freude machte. Er ertappte sich sogar dabei, dass er nicht immer ganz bei der Wahrheit blieb, sondern dass er hier und da etwas hinzufügte oder änderte (ebd., 83). Dies scheint durchaus auch für die Erzählerrede des Löwen zu gelten. So wird vom Erzähler gelegentlich auch das Thema ‚Wahrheit/Fiktion‘ behandelt, und Hoppe lässt ihren (höchst) unzuverlässigen Erzähler über den Wahrheitsgehalt erfundener Geschichten sinnieren: „Wahre Geschichten sind allerdings selten, vor allem an einem Königshof“ (ebd., 18). Mitunter beteuert der Erzähler auch explizit seine eigene Glaubwürdigkeit: Glaubt mir, oder glaubt es mir nicht, wahr ist es trotzdem: Mit einem einzigen Hieb erschlug der Ritter den Immerwalddrachen, mitten hindurch, von oben nach unten, kurzerhand vom Scheitel zum Fuß! (ebd., 14) Ähnliche Konstruktionen finden sich an weiteren Stellen der Erzählung (vgl. ebd., 44, 68). Neben dem Erzählen sind auch ‚Schlaf‘ und ‚Traum‘ wiederkehrende Motive. Gleich zu Beginn des Romans merkt der Erzähler an: Die Geschichte ist übrigens ziemlich alt, mindestens tausend Jahre. Kann aber auch sein, sie ist erst gestern passiert, als ihr gerade unterwegs ins Bett wart, auf dem Weg in die Träume (ebd., 9). Als Iwein die Grenze zum Land Nebenan erreicht, kommentiert der Erzähler: „Und wo sind wir jetzt? Wir befinden uns zwischen Nacht und Morgen, zwischen Gestern und Heute, wir befinden uns genau auf der Grenze“ (ebd., 24). Durch die Betonung des Schlafens und Träumens wird ein fantastisches Element 130 der Geschichte betont, das eben gar keinen Anspruch auf (zeitliche) Genauigkeit oder Plausibilität hat. Oft wird vom Schlaf der Figuren erzählt: als Iwein zusammenbricht, nach dem Kampf, nach dem Fest, als der Mann in Gestalt eines Ungeheuers endlich erlöst ist. „Und die Wirklichkeit ist das Ende der Träume. Denn die Wirklichkeit ist kein Traum“ (ebd., 64), sagt der Löwe an einer Stelle. Keie wiederum „zieht den Schlaf den Geschichten vor“ (ebd., 20), schläft dabei „aber nur zum Schein“ (ebd.). Diesen Motiven ist ein gewisses unzuverlässiges Potential gemein, da sie jeweils eine ‚Abweichung‘ der Realität bedeuten: Das Konzept der Wahrheit verliert im Kontext von Erzählen, Schlafen und Träumen an Bedeutung. Die Häufigkeit, mit der der Erzähler in Iwein Löwenritter über diese Motive reflektiert, ist entsprechend auffällig im Kontext seiner unzuverlässigen Erzählerqualität. Subjektivität der Erzählerrede Insbesondere in den Figurenbeschreibungen wird ein durchweg hoher Grad an Subjektivität deutlich. Vor allem in oft wiederkehrenden Steigerungsformen wie z.B. die „Besten der Besten“ (vgl. z.B. ebd., 56, 71, 91, 105, 121), bzw. in Bezug auf Iwein auch „der Allerbeste der Besten“ (ebd., 19) oder „der Beste der Allerbesten“ (ebd., 57) zeigt sich ein klarer Hang zur Übertreibung. Ständig bedient sich der Erzähler in seinen Beschreibungen des Superlativs: Artus ist der „größte und mächtigste von allen“ Königen (ebd., 15), seine Frau Ginevra die „schönste Königin“ (ebd., 17). An Artus‘ Hof sind die „Besten der besten Gäste“ (ebd., 19), Iwein und Laudine sind die „Allerschönsten“ (ebd., 71) und der Immerwalddrache ist der „schrecklichste von allen“ Drachen (ebd., 132). Die Übertreibungen jedoch, die die Beschreibungen des Löwen betreffen, erhalten nach der Auflösung der Erzähleridentität eine gänzlich neue und durchaus komische Färbung. So beschreibt er wiederholt die Schönheit des Königs der Tiere: „Und das Fell des Löwen schimmerte in der Sonne wie frischgebürstetes Gold“ (ebd., 180) / „Neben ihm lief der König der Tiere, dessen Fell im Mondlicht schimmerte wie Gold“ (ebd., 228). Auffällig in diesem Zusammenhang ist auch die immer wiederkehrende Verwendung der Zahl ‚Tausend‘: Iwein ist der tausendste Ritter, er reitet durch das „Tausendburgenland“ (ebd., 126), vertritt die Tochter des Burgherrn der „tausendsten Burg“ (ebd., 164). „Über dem Feuer brieten tausend Ochsen, die Weinmeister rollten tausend Fässer“ (ebd., 98), und Iwein bindet das „tausendste blaue Band“ 131 (ebd.) in die Mähne seines Pferdes. Durch die Verwendung der doppelt gesteigerten Form und durch die Wiederholung der magischen Zahl ‚Tausend‘ entsteht mitunter ein beinahe naiver, vermeintlich kindlicher Eindruck des Erzählers. Die verschiedenen Erzähltechniken (Hyperbel, Leseranreden) verstärken den Eindruck mündlichen Erzählens, ebenso die kontinuierliche Verwendung von Ausrufen und auch erlebter Rede. Beispielsweise beschreibt der Erzähler Iweins Verlangen, als dieser Laudine zum ersten Mal erblickt, in solch einer Konstruktion: „Wie gern er sie angefasst hätte!“ (ebd., 50) Zeitliche Konstruktion In dem oben bereits angeführten Eingangszitat: Die Geschichte ist übrigens sehr alt, mindestens tausend Jahre. Kann aber auch sein, sie ist erst gestern passiert, als ihr gerade unterwegs ins Bett wart, auf dem Weg in die Träume (ebd., 9). tritt eine weitere Besonderheit zu Tage. Immer wieder finden sich Unstimmigkeiten in der zeitlichen Konstruktion. Ebenfalls bereits auf der ersten Seite sagt der Erzähler: „Um die Zeit habe ich mich sowieso nie gekümmert“ (ebd., 9). Und so scheint er auch in der Verwendung verschiedener Tempora zu springen. Gerade an Schlüsselstellen, oft bei Kampfszenen, wechselt die eigentlich in der Retrospektive stattfindende Erzählerrede aus dem Präteritum in ein historisches Präsens, so beispielsweise, als Iwein sich dem Drachen nähert: Was dem Ritter da übrig blieb? Nicht viel. Er sprang einfach vom Pferd und ging zu Fuß weiter. Sein Immerschwert fest in beiden Fäusten ging er voran und wich nicht zurück. Und während der Ritter weitergeht, Fuß vor Fuß und Auge in Auge mit dem Immerwalddrachen, hält der Immerwald seinen Atem an, die ganze Welt hört auf zu atmen. Als wäre die Zeit plötzlich stehengeblieben (ebd., 12ff.). Der abschließende Satz ist hier programmatisch und es entsteht eine vermeintliche Nähe zum Geschehen. Gleichzeitig wird eine Zeitlosigkeit der Geschichte unterstellt, und die bereits beschriebene mündliche Qualität des Erzählten wird durch solche Tempuswechsel weiter unterstützt. Intertextualität Der Löwe präsentiert sich als höchst subjektiver Erzähler, der zu Ausschmückungen und Übertreibungen neigt und der es mit der Wahrheit in seiner Rede nicht allzu genau nimmt. Textuelle Divergenzen bezüglich der Erzähleridentität lassen ebenfalls an der Glaubwürdigkeit zweifeln. Nach Nünning sind eben solche Erzählereigenschaften Indizien unzuverlässigen Erzählens. Umso erstaunlicher ist, wie wirkungsvoll der Erzähler seine unzuverlässigen Qualitäten zu vertuschen vermag 132 und dass seiner abschließenden Offenbarung ein ‚Aha-Effekt‘ innewohnt. Einerseits gelingt ihm dies durch die bereits genannten Ablenkungsmanöver (Selbstreferenz in der dritten Person, vermeintliches sprachliches Unvermögen des Löwen), andererseits wirkt auch eine kontextuelle Verortung des Gelesenen einer Unzuverlässigkeitsdiagnose entgegen. Eine genaue Betrachtung der intertextuellen Bezüge – insbesondere der höfischen Erzählweisen – ist hier dienlich. Betrachtet man die Gattungsmerkmale des höfischen Romans, fällt die enge Anlehnung von Hoppes Text an diese Gattung auf: Der auktoriale Erzähler des höfischen Romans artikuliert sich in Exkursen, Reflexionen und direkten Anreden sowohl an seine Gestalten als auch an die Hörer. Mit der stark idealisierenden Darstellung des ritterlichen Lebens korrespondiert eine stilisierte, von derben Wendungen gereinigte Sprache (Steinhoff 2007, 323). Nahezu alle aufgeführten Kriterien treffen auch auf Iwein Löwenritter zu, gerade Exkurse und Reflexionen sind charakteristisch für die Erzählweise des Löwen. Die bereits angeführten Ausführungen des Löwen über typisch menschliche Verhaltensweisen können auch an dieser Stelle als Beispiele dienen. Auch die „direkten Anreden sowohl an seine Gestalten als auch an die Hörer“ (ebd.). lassen sich wiederfinden: Entsprechend der homodiegetischen Anlage des zweiten Buchteils ist der Löwe direkt am Geschehen beteiligt und kommuniziert in dieser Funktion entsprechend unmittelbar mit den Figuren der Handlung. Zwar geschieht dies auf nonverbaler Ebene, doch scheinen Iwein und der Löwe eine durchaus innige Beziehung zu unterhalten. Der Löwe kommentiert: „Nichts kann mehr den König vom Ritter trennen und nichts den Ritter vom König. Auch nicht der Tod. Denn sie sind nicht mehr allein unterwegs“ (Hoppe 2008, 133). Besonders deutlich wird die Verbundenheit von Löwen und Ritter, wenn sie wiederholt aneinander gelehnt schlafen (vgl. ebd., 163, 221). Dass zumindest Iwein auch mit dem Löwen spricht, erschließt sich daraus, dass der Löwe die Geschehnisse des ersten Buchteils aus entsprechenden Erzählungen Iweins kennt: Und weil Iwein der Andere ist, also der, der bis heute am Leben ist, erzähle ich euch, was er mir erzählte (ebd., 36). Leseranreden, so wurde bereits gezeigt, finden sich an vielen Stellen des Romans. Der stark mündliche Erzählstil in Iwein Löwenritter, der sich gerade durch viele Übertreibungen und Superlative (und insbesondere auch eine „stark idealisierende Darstellung des ritterlichen Lebens“, Steinhoff 2007, 323) kennzeichnet, entspricht der mündlichen Tradition des Artusromans. Zwar ist Hoppes Erzähler nicht auktorial, jedoch, so wurde bereits hervorgehoben, tritt er mitunter als vermeintlich auktorialer Erzähler in Erscheinung. 133 In dem bereits mehrfach zitierten Romananfang liegt auch ein klarer Verweis auf die spezifische literarische Vorlage, die dort gelieferte Zusammenfassung ist natürlich auch eine Zusammenfassung des Originals. Hartmann von Aues Iwein entstand um 1200 und basiert wiederum auf dem in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Frankreich von Chrétien de Troyes verfassten Roman Yvain ou Le Chevalier au lion. Die zeitliche Einordnung: „sehr alt, mindestens tausend Jahre“ (Hoppe 2008, 9) ist damit zwar etwas übertrieben, dies entspricht jedoch durchaus der Erzählweise des Löwen. Da sich mündliche Überlieferungen der Artussage sogar bis ins 9. Jh. zurückverfolgen lassen (vgl. Quast 2007, 47), kann die Erzähleraussage sogar als ‚wahr‘ verstanden werden. Der Erzähler nimmt an dieser Stelle eine literaturhistorische Verortung vor, auf die er im Laufe des Romans zurückgreift, wenn er mutmaßt, Artus habe „einfach die Lust verloren, seit tausend Jahren König zu sein“ (Hoppe 2008, 17). Er spielt damit auf die Fiktionalität der Geschichte (und auch Artus‘) an und wird, da er ja auch Teil der Geschichte ist, zu einer Erzählerfigur, die sich ihrer Fiktionalität durchaus bewusst ist – was wiederum eine narrative Metalepse darstellt und entsprechend relevant ist im Kontext unzuverlässigen Erzählens. Auch die bereits erwähnte Zeitlosigkeit, die durch die Verwendung des historischen Präsens an Schlüsselstellen generiert wird, unterstreicht diesen universellen, fiktionalen Charakter des Erzählten. Ein Beispiel hierfür ist die Beschreibung des Riesen Harpin: Sein Schritt dröhnte wie Trommeln, und mit jedem Schritt schlug er der Erde, über die er ging, eine Wunde, die nicht mehr heilen konnte. Wo er einmal gegangen war, konnte für lange Zeit nichts wachsen. Und jetzt die Stimme! Denn das Schrecklichste ist nicht die Kraft des Riesen, sondern seine Stimme, mit der er alles mit Schimpf und Schande überzieht. Sobald Harpin den Mund aufmacht, spricht er nicht, sondern er spuckt. Alles überschüttet er mit Hohn und Spott. So ist Harpin. Und so erschien er am Morgengrauen unten am Burgweg der dreizehnten Burg (ebd., 147f.). Durch die präsentische Vorstellung des Riesen und insbesondere die Aussage: „So ist Harpin“ wird eine Unvergänglichkeit des Riesen hervorgehoben: Da er eine bekannte fiktionale Figur ist, hört er nicht auf zu existieren. Sowohl der Bezug auf die spezifischen Erzählweisen des höfischen Romans als auch die angedeuteten fantastischen Elemente liefern Hoppes unzuverlässigem Erzähler eine Möglichkeit zur Tarnung. Einerseits legen die Tendenz des Erzählers zum Großsprechen, sein mündlicher Stil und seine Subjektivität den Verdacht der 134 Unzuverlässigkeit nahe – andererseits liefert aber die klare Einordnung des Romans als Artusroman die Möglichkeiten einer kontextuellen Erklärung eben dieses Erzählerverhaltens. Anders gesagt: Dass der Erzähler ‚so große Reden schwingt‘, ist im Kontext der Rittererzählung nicht weiter verwunderlich und macht ihn nicht unglaubwürdig. Hinweise auf fantastische Elemente können zudem als vermeintliche Erklärung textueller Diskrepanzen dienen. Umso größer ist die Überraschung am Ende, wenn die Identität und die Stellung des Erzählers zum Geschehen aufgedeckt werden und er sich doch als unzuverlässig herausstellt. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Hoppes Iwein Löwenritter wie ein Spiel wirkt, das mit den Gattungskonventionen des höfischen Romans im Allgemeinen, aber auch mit den Eigenheiten des Hartmannschen Iwein im Besonderen getrieben wird – und das weit über eine inhaltliche Zusammenfassung von Hartmanns Text hinausgeht. Der Hypotext liefert Hoppe einerseits einen Nährboden für das fantasievolle Fabulieren ihres Erzählers – ermöglicht aber gleichzeitig eine Tarnung desselben als vermeintlich zuverlässig innerhalb der literarischen Konventionen. 135 Illustrationen Wie es auch Anton taucht ab sowie Außerirdisch ist woanders der Fall ist, sind auch die Illustrationen in Iwein Löwenritter von Bedeutung für die erzählerische Unzuverlässigkeit. Auf dem vorderen Bild sieht man im zentralen Ausschnitt Iwein und den Löwen bei einer Rast: Der Ritter schläft, doch der Löwe scheint dem Bildbetrachter in die Augen zu sehen. Abbildung 7: Iwein Löwenritter, Umschlagaufkleber Man könnte meinen, die ausgewählte Perspektive entspräche dem Blick eines ebenfalls anwesenden Betrachters (bei dem es sich um den Erzähler handeln könnte), doch kann man hier lediglich mutmaßen. 136 Das im ersten Kapitel enthaltene Bild zeigt dann mit dem Löwen, dem Drachen und dem Ritter nur die drei im Text erwähnten Figuren und entspricht damit der textuellen Darstellung. Abbildung 8: Iwein Löwenritter, 13 Die im Bild gewählte Perspektive von oben könnte hier durchaus den Blick einer Betrachterfigur darstellen: Ein solcher, womöglich im Baum sitzender Betrachter wäre dort außerhalb der Wahrnehmung der anwesenden Figuren. Dann wiederum scheint eine im Baum sitzende Figur unwahrscheinlich, und die erhobene Betrachterposition könnte auch auf eine mögliche auktoriale Qualität des Erzählers hindeuten, die auch, wie bereits gezeigt wurde, auf textueller Ebene angedeutet wird 137 Ein weiteres Bild findet sich im 17. Kapitel: Abbildung 9: Iwein Löwenritter, 77 In dieser Szene an der Gewitterquelle ist der Löwe gar nicht anwesend, er kennt sie nur aus den Schilderungen anderer. Eine bildliche Darstellung dieses Handlungsortes deutet jedoch auf eine Anwesenheit des Erzählers – oder eben wieder auf eine vermeintlich auktoriale Erzählerposition hin. 138 Anders als auf den übrigen Bildern ist auf dem dritten Bild weder Iwein noch der Löwe dargestellt. Den erhobenen Stock in der Hand, scheint nun der Riese Harpin dem Betrachter des Bildes direkt in die Augen zu sehen, wodurch suggeriert wird, dass der Erzähler bei dieser Szene Teil der Handlung ist – es gibt aber weiter keinen Hinweis darauf, dass es sich um den Löwen handeln könnte. Abbildung 10: Iwein Löwenritter, 149 139 Im letzten Bild des Romans, auf dem der Kampf Iweins und des Löwen mit dem ‚doppelten Ritter‘ zu sehen ist, findet sich dann wieder eine ähnliche Konstruktion wie bereits auf der Umschlagillustration: Abbildung 11: Iwein Löwenritter, 205 Wie es der Löwe auf der Vorderseite tut, scheint diesmal hier der in einer Ecke stehenden „Peitschenmann“ (ebd., 194) dem Betrachter direkt in die Augen zu blicken, obwohl sowohl Iwein als auch der Löwe im Bild dargestellt sind. Auf bildlicher Ebene werden so unterschiedliche, zueinander widersprüchliche Perspektiven angeboten, die zudem noch jeweils verschieden gedeutet werden können. Die textuelle Unklarheit bezüglich einer Geschehensbeteiligung des Erzählers wird so auch auf visueller Ebene aufgenommen, und die Bilder liefern keine Erkenntnisse bezüglich der Erzählerfigur. 140 Einordnung Anhand der in Kapitel 2.3.3 erarbeiteten Untersuchungsparameter lässt sich für Iwein Löwenritter zusammenfassen: Themen und Motive Die vordergründigen Themen und Motive sind dem Artusroman entlehnt: Es finden sich Themen wie ‚Mut‘, ‚Ehre‘ sowie das heldenhafte Bestehen von Bewährungsproben. Hoppe schwächt diese Themen gelegentlich zu Gunsten von Themen wie ‚Freundschaft‘ oder ‚Neugier‘, aber auch ‚Liebe‘, ‚Sehnsucht‘ oder ‚Leid‘ ab. Von hoher Bedeutung im Kontext erzählerischer Unzuverlässigkeit ist eine durchgängige Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Erzählen‘ einerseits sowie häufig vorkommende Schlaf- und Traummotive andererseits. Erzählsituation Gleich zu Beginn des Romans wird eine Situation mündlichen Erzählens explizit generiert: Der Erzähler wendet sich in einer direkten Anrede mit dem Anliegen, im Folgenden eine Geschichte zu erzählen an die Leser, und er nimmt zudem in Anspruch, den Geschehnissen selbst beigewohnt zu haben (vgl. ebd., 9). Es bleibt jedoch unklar, um wen es sich beim Erzähler handelt. Dies erschließt sich erst am Romanende, wenn sich der Löwe als Erzähler zu erkennen gibt. Erst zu diesem Zeitpunkt wird auch die erzählerische Unzuverlässigkeit des Löwen in Bezug auf seine Stellung zum Geschehen klar: Tatsächlich ist er, anders als er behauptet, nur bei einem Teil der erzählten Geschehnisse selbst anwesend gewesen. Sein homodiegetischer Anspruch muss nach der Lektüre für bestimmte Romananteile als tatsächlich heterodiegetisch korrigiert werden. Die Fokalisierung ist intern und an die Wahrnehmung des Löwen gebunden, allerdings finden sich, so wurde gezeigt, punktuell kurze nullfokalisierte Passagen, die sich erst im Nachhinein als Hinzudichtungen des Erzählers erklären lassen und die so auch der Auflösung der Erzähleridentität entgegenwirken. Auf der visuellen Ebene wird ein ähnlicher Effekt durch Wechsel in der Perspektivierung in den dem Roman enthaltenen Bildern erreicht. Die Modellierung der Erzählerfigur Anders als es in den zuvor besprochenen kinderliterarischen Werken der Fall ist, wird in Iwein Löwenritter nicht von einer kindlichen Instanz, sondern von einem Löwen erzählt. Dieser wird als guter Erzähler mit einem Hang zur Übertreibung 141 charakterisiert; seine angedeuteten Wissenslücken und viele verwendeten Superlativformen lassen ihn dabei stellenweise naiv wirken. Markierung der erzählerischen Unzuverlässigkeit Textuelle Signale finden sich in Form von Inkongruenzen, insbesondere als Hinweise auf die Tatsache, dass es sich um einen nicht-menschlichen Erzähler handeln könnte, z.B. durch die Unkenntnis des Erzählers bzgl. bestimmter Situationen. Weiterhin wird Unzuverlässigkeit durch die konzeptionelle Mündlichkeit des Löwen und seine damit verbundene höchst subjektive Art markiert. In den dem Roman enthalten Illustrationen lassen sich, so wurde gezeigt, Hinweise auf eine ambivalente Stellung des Betrachters zum Geschehen erkennen. Der von Kümmerling-Meibauer genannte Typ ironischen Text-Bild-Arrangements des change in point of view ist damit gegeben. Weitere Beschaffenheit der erzählerischen Unzuverlässigkeit Der ontologische Status des Erzählten ist bestimmbar, die Unzuverlässigkeit wird am Ende der Geschichte aufgelöst. Sie ist durchgängig und manifestiert sich in einer Verschleierung der Erzähleridentität. Es handelt sich um mimetische (vgl. Martínez/Scheffel 2016) sowie täuschende (vgl. Köppe/Kindt 2014) Unzuverlässigkeit. Intermedialität/Intertextualität Da es sich bei Iwein Löwenritter um eine Nacherzählung handelt, sind natürlich intertextuelle Bezüge enthalten; diese sind explizit gestaltet: Bereits der Untertitel („Erzählt nach dem Roman von Hartmann von Aue“) stellt den entsprechenden Bezug her. Der originale Prätext entstammt nicht dem kinderliterarischen Korpus, doch ist die Artussage in zahlreichen kinderliterarischen Adaptionen bearbeitet worden. Bei einer genauen Betrachtung lässt sich ein Umgang Hoppes mit der Vorlage erkennen, der über eine rein inhaltliche Nacherzählung hinausgeht und sich stark an den Erzählweisen des höfischen Romans orientiert. Diese intertextuellen Referenzen sind von Bedeutung im Hinblick auf die Unzuverlässigkeit des Romans, als dass sie einerseits einen Nährboden für die Fabulierlust des Erzählers liefern, andererseits dessen Unzuverlässigkeit verschleiern. 142 Funktionen Interne literarische Funktionen der erzählerischen Unzuverlässigkeit in Iwein Löwenritter sind neben der Verschleierung der Erzähleridentität auch die Charakterisierung der Erzählerfigur und die Betonung von Subjektivität. Nach der Auflösung der Unzuverlässigkeit müssen gerade die positiven Selbstbeschreibungen in neuem Licht betrachtet werden; die Unzuverlässigkeit hat so auch eine komische Funktion. Weiterhin sind eine illusionsbrechende sowie eine intern metafiktionale Funktion zu nennen. 143 Normalerweise hält ein Übersetzer sich zurück. Er tut, wofür er bezahlt wird: einen Text aus einer Fremdsprache in die eigene übertragen, und damit hat es sich. Aber das hier ist die große Ausnahme. Diesmal hat der Übersetzer sich kein bisschen zurückgehalten. (Caspak/Lanois 2004, 8) 3.1.5 Victor Caspak und Yves Lanois [d.i. Zoran Drvenkar]: Die Kurzhosengang Der Kinderroman Die Kurzhosengang erschien erstmals im Jahre 2004 im Hamburger Carlsen Verlag. Als Autoren sind Victor Caspak und Yves Lanois angeführt, das Titelblatt des Romans nennt Andreas Steinhöfel als Übersetzer („Aus dem kanadischen Englisch und mit Anmerkungen von Andreas Steinhöfel“, Titelblatt). Die Illustrationen lieferte Ole Könnecke. Das Werk wird vom Verlag für Kinder ab zehn Jahren empfohlen. Die Reaktionen auf den Roman waren nach seinem Erscheinen weitestgehend positiver Natur (vgl. z.B. Seuß 2004), jedoch kamen bald Zweifel an der Autorenschaft auf. Als auch die vermeintlichen Autoren Caspak und Lanois nicht aufgefunden werden konnten, wurde teilweise vermutet, dass es sich bei dem angeblichen Übersetzer Andreas Steinhöfel in Wirklichkeit um den Autor handele, der wiederum möglicherweise mit einem anderen Schriftsteller zusammengearbeitet habe (vgl. zum Beispiel Cronenberg 2008). 2005 erhielt Die Kurzhosengang den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte ‚Kinderbuch‘66, und erst im Nachhinein stellte sich heraus: Hinter dem Doppelpseudonym Victor Caspak und Yves Lanois verbarg sich der Autor Zoran Drvenkar, der für das Vorwort und die Fußnoten verantwortliche Andreas Steinhöfel fungierte tatsächlich nicht als Übersetzer. Der nachfolgende Roman Die Rückkehr der Kurzhosengang (2006) erschien wieder unter den Pseudonymen Caspak und Lanois. Dieses Mal trat Zoran Drvenkar als vermeintlicher Übersetzer in Erscheinung (wobei hier keine Anmerkungen zu finden sind), Andreas Steinhöfel war nicht mehr beteiligt. Auch der Folgeroman Die Kurzhosengang und das Totem von Okkerville (2012) wurde dann alleine von Drvenkar verfasst, dieser Band erschien auch unter seinem Namen. Die erzählerische Unzuverlässigkeit in Die Kurzhosengang unterscheidet sich deutlich von der der bisher besprochenen Romane und ist auf verschiedenen Ebenen angesiedelt: durch die irreführende Autorenschaft, durch eine Verschleierung Bereits im April 2004 war Die Kurzhosengang als eines der ‚besten 7 Bücher für junge Leser‘ (Deutschlandfunk/Focus) ausgezeichnet worden. Zu den Umständen der Veröffentlichung vgl. auch Seifert 2016. 66 144 des Erzählorts, durch Diskrepanzen der Binnenerzählungen, die aus einer multiperspektivischen Erzählanlage resultieren. Hinzu kommt eine höchst metaleptische Struktur, die dem gesamten Roman unterlegt ist. Inhalt, Themen, Komposition Noch bevor der ‚eigentliche‘ Roman des vermeintlichen Autorengespanns Caspak und Lanois beginnt, erfährt man in einem „Vorwort des Übersetzers“ (Caspak/Lanois 2004, 5f.) Folgendes: Die Kurzhosengang ist eine Gruppe von vier kanadischen Elfjährigen, genannt Rudolpho, Island, Snickers und Zement. Aufgrund einiger ominöser Abenteuer und Heldentaten, die die Jungen in der Vergangenheit bestritten haben, sind sie in Kanada zu großer Berühmtheit gelangt. Über einen Zeitraum von vier Wochen haben sich die Jungen im Sommer 1994 mit den beiden kanadischen Autoren Victor Caspak und Yves Lanois getroffen und ihnen ihre Geschichten erzählt. Inspiriert durch diese Treffen ist ein Roman entstanden, der in Kanada bereits mit großem Erfolg veröffentlicht wurde und dessen Übersetzung nun auch in Deutschland erscheint. Rudolpho, Island, Snickers und Zement sind in ein Fernsehstudio in Toronto eingeladen worden, um dort in einem Interview Auskunft zu geben, wie die Gruppe zu ihrem Namen gekommen ist. Jeweils rückblickend erzählen die vier Jungen nacheinander ihre jeweilige Version der Geschichte. Rudolphos Erzählung setzt ein, noch bevor die vier das Fernsehstudio betreten. Ihm zufolge geht der Name der Gruppe auf eine spektakuläre Rettungsaktion zurück: Als eines Wintertages „die gesamte Schule wegen Orkangefahr evakuiert“ (ebd., 37) wird, werden die Kinder der Sportklasse in der im Keller liegenden Turnhalle „einfach vergessen“ (ebd., 38). Das gesamte Schulgebäude wird von einem Orkan weggerissen, und die Kinder im Keller befinden sich in Lebensgefahr. Als klar ist, dass die Sportlehrer keine Hilfe darstellen, machen sich die vier Jungen durch den Schneesturm auf den Weg in den etwas entfernten Ort, um Hilfe zu suchen. Dort angekommen, bleiben ihnen jedoch die Türen verschlossen; man hält sie für Geister. Unter der Regie von Rudolpho nehmen die vier den Feuerwehrwagen und retten damit die Eingeschlossenen. Island erzählt dem Fernsehpublikum in seiner Geschichte von einer anderen Heldentat: Während eines Eishockeyspiels wird der Puck aus der Arena geschossen, und die vier (sie arbeiten als Helfer im Eishockeystadion) begeben sich auf die Suche. Sie stoßen auf einen Wolf, der den Puck im Maul trägt und der sie zu einer Schneewehe führt. Dort wiederum entdeckt Zement ein eingeschneites Auto – und 145 in dem Auto eine schwangere Frau. Die Geschichte findet ihren Höhepunkt darin, dass Island das Baby auf die Welt holt. Wie auch in Rudolphos Geschichte werden die Jungen am Ende als Helden gefeiert. Snickers wiederum führt den Namen der Gang auf ein Abenteuer zurück, in dem ein „Amok laufender Grizzlybär“ (ebd., 148) eine Hauptrolle spielt. Bei einem Videoabend (die Jungen nutzen die Abwesenheit von Snickers‘ Eltern, um Horrorfilme zu schauen) werden die Jungen zunächst von der rivalisierenden „PauliGang“ (ebd., 70) gestört. Als die Jungen kurze Zeit später wieder Lärm vor dem Haus hören, öffnen sie die Verandatür – und sehen sich einem ausgewachsenen, wütenden Grizzlybären gegenüber, der dann auch noch im Haus randaliert. Obwohl die Jungen alles andere als heldenhaft reagieren, schläft der Bär nach kurzer Zeit auf dem Sofa ein. Am Ende wird der Grizzly kurzerhand inklusive Sofa von der Feuerwehr mit dem Hubschrauber abtransportiert und wieder stehen die Jungen als Helden da. Zement schließlich erzählt dem Fernsehpublikum nichts, sondern denkt lediglich über die Namensgebung der Gruppe nach. Seine Geschichte beinhaltet einen außer Kontrolle geratenen Zug. Schon seit einem Jahr wird Zement von seinem Schutzengel begleitet, mit dem er gedanklich kommunizieren kann. Außerdem hat der Junge die Fähigkeit, die Geister von Verstorbenen zu sehen, bzw. die Geister von Menschen, denen der Tod unmittelbar bevorsteht. Als nun die vier Jungen den Zug besteigen, der sie für das Interview nach Toronto bringen soll, sieht Zement „den Geist des Zuges“ (ebd., 176). Im Inneren bietet sich ihm ein erschreckendes Bild: „Da waren die normalen Leute. Und da waren ihre Geister“ (ebd., 177). Zement findet heraus, dass der Zugführer einen Herzanfall hatte. An seiner statt ist nun der Geist eines kleinen Jungen am Steuer und plant, den gesamten Zug in einen Abgrund zu stürzen. Zement gelingt es, den zu dem Geist gehörigen Jungen ausfindig zu machen. Er findet heraus, dass der des Lebens überdrüssig ist, weswegen sein Geist ihn nicht mehr als lebendig erkennt. Zement überzeugt das Kind, dass das Leben doch lebenswert sei, der Geist findet zu seinem Jungen zurück, und der Zug ist gerettet. Alle Geschichten verlaufen dabei nach ähnlichem Muster: Sie beginnen mehr oder weniger glaubwürdig, werden dann schnell derart übersteigert, dass sie als ‚Räuberpistolen‘ zu verstehen sind. Themen des Romans sind damit neben dem Bestehen von Abenteuern auch das Lügen und das Erfinden und Erzählen von Geschichten. Immer wieder geht es auch um Kanada und um angebliche kanadische 146 Gepflogenheiten67. Dem bereits erwähnten Titelblatt und den bibliografischen Angaben des Buches folgt das bereits genannte Vorwort, in dem Andreas Steinhöfel erzählt, wie er die beiden Autoren Lanois und Caspak im Jahre 2003 in Kanada kennengelernt haben will. Diese beiden Autoren, so der ‚Übersetzer‘, hatten zuvor die Geschichte der Kurzhosengang aufgeschrieben: Es war die Idee von Yves Lanois, die vier Jungen der Kurzhosengang dazu zu überreden, ihre Abenteuer zu erzählen, um diese als Buch auf den kanadischen Markt zu bringen. „Das war die Chance, vier Jungs, denen plötzlich öffentliche Aufmerksamkeit zuteil geworden war, selbst zu Wort kommen zu lassen“, erklärte mir Yves. „Ungeschminkt, sozusagen, nicht verfälscht oder verzerrt oder verkürzt durch die Filter der üblichen Medien-Berichterstattung.“ (ebd., 6) Nach diesen Ausführungen beginnt der vorgeblich von Caspak und Lanois geschriebene Roman. In vier Teilen erzählen darin nacheinander die vier Jungen ihre jeweiligen Erlebnisse, die Erzählgegenwart aller vier Geschichten ist dabei um das bereits erwähnte Fernsehinterview arrangiert. Rückblickend schildern die Jungen ihre jeweilige Version der Namensfindung der Kurzhosengang. Die Erzählungen der Jungen werden durchweg von Fußnoten des ‚Übersetzers‘ begleitet: In insgesamt 50 Verweisen finden sich (angebliche) Hintergrundinformationen bzw. Kommentare zu (angeblichen) kanadischen Gebräuchen. Im Anschluss an diese vier Teile folgen Danksagungen der vermeintlichen Autoren Caspak und Lanois (ebd., 204f.), der Abdruck einer Postkarte, „die die vier Kurzhosen uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt haben“ (ebd., 206), Informationen über die ‚Autoren‘ (ebd., 206f.) sowie Informationen über den Illustrator (ebd., 207). Erzählerische Unzuverlässigkeit Wie bereits angeführt, manifestiert sich die Unzuverlässigkeit des Kinderromans auf verschiedenen Ebenen: in Unklarheiten im gesamten kommunikativen Gerüst des Romans und innerhalb der Binnenerzählungen, die multiperspektivisch von vier kindlichen Ich-Erzählern erzählt werden. Die unsichere Kommunikationssituation: Unzuverlässigkeit der Erzählanlage In keinem anderen untersuchten kinderliterarischen Werk findet sich eine vergleichbar unsichere Kommunikationssituation. In Die Kurzhosengang sind völlig unterschiedliche Lesarten möglich. 67 Vgl. hierzu auch Seifert 2016, 611-617. 147 Das vermeintliche Autorengespann Caspak und Lanois Zunächst könnte man meinen, dass es sich bei Caspak und Lanois um die konkreten (real existierenden) Autoren handelt, die den Roman „The Mysterious Adventures of the Short Ones“ verfasst haben. Andreas Steinhöfel habe als konkreter (realer) Übersetzer nicht nur die deutsche Übersetzung geliefert, sondern auch ein Vorwort und Fußnoten hinzugefügt. Die Danksagungen und Autoreninformationen können den Autoren bzw. dem Verlag zugeschrieben werden (s. Abb. 12). Schematisch lässt sich die Kommunikationssituation im Falle des Nichterkennens der Unzuverlässigkeit wie folgt darstellen: Abbildung 12: Senderseite der spezifischen Kommunikationssituation in Die Kurzhosengang im Falle des Nichterkennens der Unzuverlässigkeit der Erzählanlage Erkennt man jedoch die Unzuverlässigkeit, bietet sich ein anderes Bild und das gesamte kommunikative Gerüst ‚verrutscht‘ um eine Ebene: Als konkrete (reale) Autoren sind nun Drvenkar und Steinhöfel zu verstehen, und Caspak und Lanois stellen sich nun als abstrakte (fiktive) Autoren dar. Der angeblich konkrete Übersetzer Andreas Steinhöfel ist in Wirklichkeit ein abstrakter Übersetzer. Der gesamte Paratext68 ist nun als fiktional (und damit als extradiegetische Erzählebene) zu verstehen. Die als extradiegetisch markierte Geschichte, nämlich der Roman von Caspak und Lanois, ist entsprechend als intradiegetische Erzählung zu deuten (s. Abb. 13): Hier: Untertitel, bibliografische Angaben, Vorwort des Übersetzers, Danksagungen, Autoreninformationen und Fußnoten des Übersetzers 68 148 Abbildung 13: Senderseite der spezifischen Kommunikationssituation in Die Kurzhosengang nach einer Neubewertung im Falle des Erkennens der Unzuverlässigkeit der Erzählanlage Adressaten der extradiegetischen Erzählebene Betrachtet man die Empfängerseite des Kommunikationsschemas, wird klar, dass es auch hier Uneindeutigkeiten gibt. In seinem Vorwort kündigt der ‚Übersetzer‘ ein „Buch von Kindern für Kinder“ (ebd., 5; Hervorhebg. im Orig.) an, doch die Anmerkungen in seinen Fußnoten sind in dieser Beziehung nicht so eindeutig. Immer wieder finden sich englische Begriffe oder Fachjargon und auch die wissenschaftliche Form der Präsentation wird Kindern wohl eher nicht geläufig sein. Hinzu kommen mitunter sehr komplizierte Satzkonstruktionen: Vgl. hierzu B. Heimbettel: Voices from Heaven – One Short of a Subconscious; New York, 2002. Die Frage, ob Island bzw. Zement (siehe hierzu auch Kapitel 4 dieses Buches) über die Fähigkeit übersinnlicher Wahrnehmung verfügen, ob sie ihren Wunsch nach väterlicher Anerkennung schlicht nach außen projizieren oder ob die beiden Jungen womöglich Grundzüge dissoziativer Persönlichkeitsstrukturen aufweisen, wird dort ausgiebig und kritisch erörtert (ebd., 66; Hervorhebg. im Orig.). Es stellt sich die Frage nach den Adressaten. Einerseits, so könnte man argumentieren, scheinen die Fußnoten auch an erwachsene Mitleser adressiert zu sein, die entsprechendes Vorwissen mitbringen. Tatsächlich muten die vielen Fußnoten durchaus wie eine Parodie auf wissenschaftliche Texte an. Andererseits bildet die wissenschaftliche ‚Verpackung‘ haarsträubender Inhalte ein funktionierendes Mittel, Kindern den sprichwörtlichen ‚Bären aufzubinden‘. Den Anmerkungen kommt auch eine metatextuelle Funktion zu: Wiederholt wird in 149 ihnen auf den Entstehungsprozess des Romans bzw. insbesondere auch auf die Übersetzungsarbeit hingewiesen. Die vorletzte Fußnote weist beispielsweise auf Abweichungen der Veröffentlichung zum Manuskript hin: An dieser Stelle musste The Short Ones auf Betreiben der katholischen Kirche Kanadas unmittelbar vor der Publikation gekürzt werden. Im Original-Manuskript diskutieren Zement, Timmi und Lothar hier nicht nur die Frage, ob Tiere eine unsterbliche Seele besitzen, sondern auch, ob Gott in diesem Fall nicht zufällig eine im Himmel herumspazierende Ameise zertreten könnte. „Wenn die dann tot ist“, erörtert Zement, „obwohl sie ja schon vorher tot war, hat dann ihre Seele wieder eine Seele, und wo geht die dann hin?“ (ebd., 193; Hervorhebg. im Orig.) In Fußnote 29 findet sich dann sogar ein Hinweis der Übersetzerinstanz an ein angebliches Lektorat: Caspak und Lanois, von mir darauf angesprochen, winkten beide ab: „Es geht doch nicht darum, welche Version die richtige ist. Wichtig ist, was bei den Knirpsen in den kleinen Köpfen vorging, du kleiner Besserwisser von einem Übersetzer!“ (Hinweis Lektorat: Letzte Satzhälfte vor Drucklegung bitte unbedingt entfernen! Danke – A. S.) (ebd., 106; Hervorhebg. im Orig.) Durch solche Verweise auf die an der Veröffentlichung beteiligten Prozesse wird das Gemachte der Geschichte in den Vordergrund gerückt. Ein oftmals beinahe dozierender Ton unterstützt dabei den Eindruck, der Roman sei an kindliche Leser adressiert, denen in den Fußnoten ein Einblick in die Übersetzerwerkstatt geliefert wird. Adressaten der intradiegetischen Erzählebene Auch bei den vier Ich-Erzählungen der Jungen der intradiegetische Erzählebene fallen Uneindeutigkeiten bezüglich der Adressaten auf. Manchmal ist nicht klar, wer gerade eigentlich angesprochen wird, ob es sich bei den Adressaten um das Fernsehpublikum handelt, oder ob sich der jeweilige Erzähler an andere (kindliche) Adressaten richtet. Unklarheiten der Erzählerreden von Rudolpho und Island sollen an dieser Stelle als Beispiel dienen: Die Erzählgegenwart Rudolphos Schilderungen ist vor dem Interview lokalisiert und der Junge wendet sich an einigen Stellen in vertrautem Ton an ein scheinbar kindliches Publikum: „Wenn jeder wüsste, wer die Mitglieder der Kurzhosengang sind, dann würde hier aber die Post abgehen, das lasst euch mal gesagt sein“ (ebd., 19). Ähnliche Anreden finden sich noch an weiteren Stellen (vgl. ebd., 21, 28, 29, 54, 56), doch zu keinem Zeitpunkt wird suggeriert, dass Rudolpho sich gerade an das Fernsehpublikum des Interviews richten könnte. Am Ende seiner Ausführungen wird deutlich, dass er es sicherlich nicht getan hat: „Mal sehen, ob ich unsere Geschichte nachher noch einmal vor der Fernsehkamera erzähle. Mal sehen, ob ich Lust dazu habe“ (ebd., 56). Dass er tatsächlich diese Geschichte 150 später im Rahmen des Interviews erzählt, wird dann wiederum von Snickers thematisiert: „Rudolpho hat toll erzählt. Kein bisschen nervös, dafür dass er den Anfang machen musste. Und das mit der Schule war eine prima Geschichte“ (ebd., 110). Betrachtet man nun die Erzählung von Island, findet sich ein weniger eindeutiges Bild. Gleich am Anfang sagt er: Ich brauch mich bloß umzuschauen. Plötzlich sind überall Menschen und Kameras, als würde ein Film gedreht werden, aber nee, ist kein Film, das sind nur Rudolpho und Snickers, Zement und ich im Fernsehstudio bei einer Fernsehsendung über uns. Mehr gibt’s nicht zu sehen (ebd., 61). Im Anschluss beginnt er mit seiner Erzählung, die durchaus innerhalb des Interviews stattfinden könnte. In Islands gesamter Erzählung findet sich nur eine einzige Leseranrede: „HE, DA KOMMEN DIE SAFTTÜTEN!“ Da müsst ihr jetzt nicht hinhören, denn das ist die PauliGang, und was die auch ruft, ist so und so nur Blödsinn, da müsst ihr nicht hinhören. „HE, SEID IHR DIE RINKRATTENTATTENPLATTEN?!“ […] Nicht beachten, die sind nämlich neidisch und wollen seit Jahren auch Rinkratten sein, dürfen aber nicht, weil wir es schon sind. Es gibt immer nur sechs Rinkratten und die bleiben Rinkratten, bis sie sterben, also erst mal Pech gehabt, also einfach weghören (ebd., 70; Großschreibg. im Orig.). Der Hinweis wegzuhören deutet auf eine mündliche Erzählsituation, was auch durch die Konstruktion mit den eingeschobenen Zwischenrufen bestätigt zu sein scheint. Man könnte also annehmen, das Gelesene entspreche Islands Ausführungen vor der Kamera. Dieser Eindruck bestätigt sich in Snickers Erzählung, wenn dieser Island sogar wörtlich zitiert: Island sagt eben: „ … und jeder in der Stadt hörte und sah es und von dem Tag an waren wir Helden und sie nannten uns die Kurzhosengang.“ (ebd., 113) Eben mit diesen Worten beendet Island seine Erzählung (vgl. ebd., 106), er scheint sich also an das Fernsehpublikum zu richten. Zweimal jedoch erscheint Island der Geist seines verschollenen Vaters. Er steht Island zur Seite: „[…] wenn du schon was erzählst, dann erzähl die Wahrheit.“ „Aber die will keiner hören“, flüstere ich und die Fernsehleute gucken mich komisch an, denn sie können nicht hören, was ich sage.“ (ebd., 65) Diese Zwiegespräche sind in Dialogform gehalten, und auch beim zweiten Mal ermahnt ihn der Vater, bei der Wahrheit zu bleiben: „Hahaha, sehr witzig“, sagt Papa. „Besser als das andere“, sage ich leise. 151 „Nichts ist besser als die Wahrheit“, sagt Papa und kneift mich ins Ohr (ebd., 78). Zumindest diese beiden Stellen können nicht im Rahmen des Interviews lokalisiert werden und es stellen sich konsequenterweise die Fragen, welche Anteile des Gelesenen nun das Interview darstellen (und welche eben nicht) und wer denn hier nun angesprochen wird. Ähnliche Situationen finden sich an anderen Stellen in allen Erzählungen. Am deutlichsten innerhalb des Interviews lokalisiert erscheint Snickers‘ Erzählung zu sein. Anders als bei Rudolpho oder Island finden sich hier keine Momente, die nicht eindeutig zugeordnet werden können. Zements Ausführungen hingegen unterscheiden sich erheblich 69: Anders als bei seinen drei Vorrednern, findet seine Erzählung eindeutig nicht im Rahmen des Interviews statt. Er begründet: Jetzt fragt ihr euch bestimmt, warum ich diese Geschichte nicht im Fernsehen erzählt habe. Na, das ist doch ganz einfach. Ich möchte nicht, dass jemand all das erfährt (ebd., 202). Auch die fiktiven Adressaten der Binnengeschichten sind also keineswegs eindeutig. Stellenweise scheint es sich um das Fernsehpublikum des Interviews zu handeln, dann wieder sind doch klar an kindliche Adressaten gerichtete Anreden zu finden, die nicht innerhalb des Interviews anzuordnen sind. Das oben präsentierte Kommunikationsschema kann folgendermaßen ergänzt werden: Auf Zements besondere Stellung im Hinblick auf die Unzuverlässigkeit wird an späterer Stelle gesondert hingewiesen. 69 152 Konkrete Autoren: Zoran Drvenkar und Andreas Steinhöfel unklar Textinterne, intradiegetische Ebene Textinterne, extradiegetische Ebene Textexterne Ebene Abstrakte Autoren: Yves Lanois und Victor Caspak Abstrakter Übersetzer: Andreas Steinhöfel Erzähler 1: Rudolpho unklarer Adressat, definitv nicht das Publikum des Interviews Erzähler 2: Island unklar – Erzähler richtet sich z.T. an das Publikum des Interviews Erzähler 3: Snickers Erzähler richtet sich an das Publikum des Interviews Erzähler 4: Zement unklarer Adressat, definitv nicht das Publikum des Interviews Abstrakte Adressaten: uneindeutig, ob erwachsen oder kindlich Konkrete Adressaten: reale (i.d.R. kindliche) Leserinnen und Leser Abbildung 14: Die spezifische Kommunikationssituation in Die Kurzhosengang unter Berücksichtigung der Adressaten Metalepsen Dem Roman liegt dabei eine gleich mehrfach metaleptische Struktur zugrunde. Zunächst findet sich eine Vermischung der extratextuellen (realen) Ebene mit der intratextuellen (extradiegetischen) Erzählung: Der konkrete Autor Andreas Steinhöfel tritt als Figur in der Rahmenhandlung auf, wenn er sich als Übersetzer mit dem abstrakten Autorengespann Caspak und Lanois in Kanada trifft. Dann wiederum kommentiert der Übersetzer Steinhöfel als Romanfigur der extradiegetischen Ebene in den Fußnoten die Geschehnisse der intradiegetischen Erzählebene, was einen Kurzschluss dieser beiden Ebenen bedeutet, da Steinhöfel laut seiner Rolle als Übersetzer eben auch keine Erzählerfunktion zukommt. Sein Eingreifen in den Text kündigt er an: Normalerweise hält ein Übersetzer sich zurück. Er tut, wofür er bezahlt wird: einen Text aus einer Fremdsprache in die eigene übertragen, und damit hat es sich. Aber das hier ist die große Ausnahme. Diesmal hat der Übersetzer sich kein bisschen zurückgehalten (ebd., 8). Der unsichere ontologische Status des vorgeblichen Paratexts Glaubt man den Angaben des Titelblatts, geht man davon aus, ein Werk der Autoren Caspak und Lanois in den Händen zu halten, das von Andreas Steinhöfel übersetzt wurde. Viele Signale sprechen zunächst auch dafür, den Angaben zu glauben. 153 Vermeintliche Authentizität Irreführend ist besonders die in Teilen fiktive Bibliografie, in der nicht nur ein kanadischer Verlag, sondern auch ein „Originalcopyright“ (ebd., [4]) mit dem entsprechenden Symbol angegeben ist: Abbildung 15: Die Kurzhosengang (2004), bibliografische Angaben70– weder Verlag noch Originaltitel existieren wirklich. Im dann folgenden „Vorwort des Übersetzers“ (ebd., 5) werden die Begebenheiten um die Kurzhosengang als ‚wahr‘ präsentiert – Lanois und Caspak hätten aufgeschrieben, was ihnen die real existierenden Jungen erzählt hätten. Andreas Steinhöfel habe dann als Übersetzer Fußnoten eingefügt, die „eine Bereicherung für all jene Leser“ (ebd., 11) darstellen sollen, „die gern mehr über die Hintergründe um die Kurzhosengang erfahren wollen“ (ebd.). Ein Hinweis auf einen angeblichen Artikel in der ZEIT entspricht der metaleptischen Struktur des Romans: Noch dazu ist die gesamte verfügbare Literatur zum Thema Kurzhosengang […] in französischer und englischer Sprache verfasst und (bis auf einen einzigen Artikel in der ZEIT) nicht ins Deutsche übertragen worden (ebd., 10; Hervorhebg. im Orig.). Natürlich existiert kein solcher Artikel, doch der Verweis auf diese reale und etablierte Quelle unterstützt den Anschein von Seriosität und Faktualität, der im Vorwort generiert wird. Im ersten Teil der Binnenerzählung führt der dortige Erzähler Rudolpho einige Horrorfilme an, die der ‚Übersetzer‘ in einer Fußnote wie folgt kommentiert: Im Originaltext Bloody Massacre und Dead, Buried and Hit Three Times over the Head with a Shovel. In keiner internationalen Filmdatenbank aufgeführt. Die Titel Wie stark der Eindruck von Authentizität tatsächlich ist, zeigt sich auch darin, dass diese falschen Angaben noch 14 Jahre nach dem Erscheinen in den Werbetexten einiger Internet-Buchhandlungen wiederzufinden sind: vgl. z.B. ebook.de (2018) oder amazon.de (2018) 70 154 sind vermutlich eine Erfindung der Autoren, was Caspak und Lanois allerdings heftig bestreiten: Es handele sich hier um unabhängig produzierte Werke kanadischer Underground-Filmemacher („… even under underground, you know”; Lanois) (ebd., 17; Hervorhebg. im Orig.). Hier tritt der ‚Übersetzer‘ Steinhöfel deutlich in den Vordergrund, indem er die Richtigkeit der Erzählung seiner angeblichen Kollegen Lanois und Caspak anzweifelt. So inszeniert er die beiden als unzuverlässig – sich selbst aber gleichzeitig als zuverlässig, da er immerhin recherchiert habe und auch die beiden Autoren auf diese textuelle Ungereimtheit hin befragt habe. Er stellt sich so als kritischer Leser des Textes dar, dem man aufgrund dieser Gründlichkeit und auch wegen seiner vermeintlichen Objektivität durchaus Zuverlässigkeit attestieren kann. Die bereits erwähnte metatextuelle Funktion der Fußnoten unterstützt diesen Eindruck – gewährt der ‚Übersetzer‘ doch fortlaufend Einblicke in seine Werkstatt. In dem aufgeführten Zitat tritt noch eine weitere Besonderheit zu Tage: Wie er es auch schon im Vorwort unternimmt, untermauert der ‚Übersetzer‘ auch in den Fußnoten seine Kommentare immer wieder durch Verweise. Dabei zieht er neben den bereits genannten Vorlagen71 auch fiktive Quellen hinzu, die als echt präsentiert werden. Formal durchaus korrekt fügt der ‚Übersetzer‘ seinen Ausführungen an vielen Stellen Hinweise auf angebliche Sekundärliteratur, Aufsätze oder Studien hinzu, so zum Beispiel „J. Molar-Clayre: Golden Tooth – The Myth and the Menace; Edmonton, 1994“ (ebd., 56; Hervorhebg. im Orig.) oder „B. Heimbettel: Voices from Heaven – One Short of a Subconscious; New York, 2002“ (ebd., 66; Hervorhebg. im Orig.). In dieser Hinsicht dienen auch die Fußnoten der weiteren Authentifizierung des vermeintlichen Kommunikationsgerüsts des Romans und der Eindruck, die Kurzhosengang gebe es wirklich, wird so – zumindest teilweise – weiter unterstützt. Im Anschluss an den Text findet sich dann noch der Abdruck einer angeblichen Postkarte „die die vier Kurzhosen uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt haben“ (ebd., 206; s. Abb. 16). Dies sind die nicht weiter spezifizierten „internationalen Filmdatenbanken“ (ebd., 17); das Zitat Lanois‘ aus einem vom Übersetzer mit den ‚Autoren‘ geführten Interview bzw. der angeblichen Artikel der ZEIT. 71 155 Abbildung 16: Vermeintliche Postkarte von Caspak und Lanois, 206 Auf dem Bild sind zwei Männer in einer verschneiten Umgebung zu sehen, die in die Kamera zu grüßen scheinen. Vor ihnen watscheln vier Pinguine durch das Bild. Bei genauem Hinsehen kann man in den beiden Herren Drvenkar (stehend) und Steinhöfel (hockend) erkennen – doch die grobe Körnung der Auflösung und die nur sehr geringe Größe der Gesichter erschweren ein Erkennen. Neben dem Bild findet sich ein mit „Vic & Yves“ unterschriebener Gruß an die vier Jungen. Den beiden vermeintlichen Autoren Caspak und Lanois wird so eine tatsächliche Gestalt gegeben – dass es sogar eine Fotografie von ihnen zu geben scheint, erweckt einen Eindruck von Authentizität. ‚Wahres‘ und ‚Falsches‘ In der vierten Fußnote weist Steinhöfel als Kommentar auf den Spitzamen des ersten Protagonisten auf den Filmstar Rudolph Valentino hin: Mit Ausnahme der Mutter von Rudolph Valentino (amerikanischer Schauspieler und Stummfilmstar, 1895 – 1926). Gefeiert als „größter Liebhaber aller Zeiten“ war der Hollywoodstar dem kanadischen Filmpublikum unerklärlicherweise verhasst. Aus Kummer darüber entwickelte er ein Magengeschwür, das sich am 23. August 1926 öffnete. Weltweit folgten ihm viele, vor allem weibliche Fans in den Tod, indem sie von Brücken sprangen und dergleichen (ebd., 19). Hier findet sich dann – zumindest teilweise – Wahres wieder. So stimmen die Eckdaten Valentinos Lebens, und auch Todesursache und -umstände sind durchaus richtig. Die Tatsache allerdings, dass Valentinos Tod auf seinen Misserfolg in Ka- 156 nada zurückzuführen sei, ist als Fiktion zu verstehen. Trotzdem kann die Information, die hier gegeben wird, als immerhin teilweise richtig verstanden werden. Solchen Bezügen zur Realität kommt wieder eine metaleptische Funktion zu. Ähnliche Vermischungen von Wahrem und Erfundenem finden noch an einigen weiteren Stellen statt, so zum Beispiel in Fußnote 48: „In den entscheidenden Momenten deines Lebens hattest du nie ein Taschentuch bei dir.“ Diesen Satz sagt Rhett Butler zu Scarlett O’Hara in „Vom Winde verweht“. H. McDaniels vergleicht in Gone with the Short Ones (Los Angeles, 2002) den Untergang der Schule im Schneesturm mit dem Feuersturm von Atlanta, Melanie Hamiltons Geburt ihres Kindes mit jener von Agnes, die vier zentralen Männerfiguren im Leben der Scarlett O’Hara mit Rudolpho, Island, Snickers und Zement usw. (ebd., 191; Hervorhebg. im Orig.) Hattie McDaniel ist eine Schauspielerin des bekannten Films72 – ihr Name wird hier nur wenig verändert; zugeschrieben wird ihr eine Veröffentlichung über die Kurzhosengang. Dass dies erfunden ist, ist offensichtlich und nicht zuletzt deswegen unmöglich, dass McDaniel bereits 1952 verstorben ist. Kindlichen Lesern wird sich diese Anspielung aber sicher nicht erschließen. Auch die Platzierung der fiktionalen Autoreninformationen am Ende gleich neben den faktualen Informationen über den Illustrator (vgl. ebd., 206f.), bedient dieses Schema. Die so immer wieder vorkommende Praxis, Faktuales mit Fiktionalem zu vermischen, bzw. Faktuales in Fiktionales übergehen zu lassen, kann in zweierlei Weise gedeutet werden: Zum einen dient sie der weiteren Tarnung des Lügengeflechts, indem so stellenweise durchaus nachprüfbare Fakten geliefert werden (man darf nur nicht allzu genau hinschauen) – zum anderen zeigt sich gerade hier das Spiel, das mit erzählerischen Konventionen getrieben wird, besonders deutlich. Mitunter wirkt es wie ein Drahtseilakt: Wahre und fiktionale Anteile werden kombiniert, eine überkorrekte formale Präsentation auf der discours-Ebene steht mitunter haarsträubenden Inhalten auf der histoire-Ebene gegenüber. Dass das Ganze dann sogar noch, wie bereits angeführt, mit ‚Ansage‘ geschieht, mutet beinahe unverschämt an; Leser werden hier nach Strich und Faden beschwindelt. Die meisten Fußnoten erweisen sich auch als schlichtweg fiktional. Im Text wird beispielsweise wiederholt auf das „Trudeaux Penitentary“ (ebd., 29) hingewiesen, ein Gefängnis, das es in Wirklichkeit nie gegeben hat. Der ‚Übersetzer‘ jedoch kommentiert folgendermaßen: 72 Sie spielte in Gone with the Wind die Figur der ‚Mammy‘. 157 Das 1951 erbaute und für seinen harten Strafvollzug berüchtigte Trudeaux Penitentary. Nach der Schließung infolge einer Gefangenenrevolte (1979) gab es Überlegungen, den Gebäudekomplex als Zuchtanstalt für Legehennen zu nutzen, um die Abhängigkeit Kanadas von Eier-Importen aus den USA zu beenden. Nach der kanadischen Hühnerpest von 1980 wurde dieser Plan wieder fallen gelassen (ebd., 29). Keine der dieser Fußnote enthaltenen Informationen stimmt tatsächlich, jedoch werden sie alle vom vermeintlichen Übersetzer als wahr verkauft. Oft liefern die Fußnoten so ein Hintergrundwissen, das sehr detailreich ist und bis ins Absurde gesteigert wird: Gemeint ist wohl die Wickelnymphe (Ceratophyllum canadiensis), die einzige Wasserlilienart, die den klimatisch ungünstigen Bedingungen Kanadas angepasst ist. Die faszinierende Pflanze schützt sich gegen die unvermutet einfallenden, kalten arktischen Sommerwinde, indem sie ihre großen lederigen Blätter (bis 50cm Durchmesser) schlagartig zusammenrollt und durch Kontraktion des Stängels unter die Wasseroberfläche zieht. Kleinere Amphibien, die sich auf den Blättern ausruhen, werden dabei erbarmungslos mit in die Tiefe gerissen; (ebd., 114; Hervorhebg. im Orig.) Eine solche authentifizierende Funktion der Fußnoten findet sich häufig. In besonderem Maßen finden sich aber auch solche Momente, die Zweifel an einer vermeintlichen Authentizität aufkommen können lassen73. Die Dinge, die als wahr dargestellt werden, sind oftmals nahezu unglaublich: Die chronische Blasenschwäche kanadischer Wölfe untersucht außerdem eingehend der Artikel Of Leers and Leaks (J. Dante; Scientific American, Vol. XI, 1993) (ebd., 85; Hervorhebg. im Orig.). Kurz: Es wird hier nach Strich und Faden gelogen. Insgesamt ist der ontologische Status des Paratexts keineswegs eindeutig. Diskrepanzen der Binnengeschichten Die Unzuverlässigkeit der Erzählung beschränkt sich nicht auf die Erzählanlage und den vorgeblichen Paratext. Auch die Erzählungen der vier Jungen sind alles andere als zuverlässig. Diskrepanzen der einzelnen Erzählungen Bereits für sich betrachtet bietet jede einzelne Schilderung der Jungen unzuverlässige Momente. Oft begründet sich dies in der kindlichen Anlage der Figuren: Einerseits scheinen manche Dinge außerhalb ihres jeweiligen Wissens- und Wahrnehmungshorizont zu liegen, anderseits sind ihnen allen ein großer Hang zur Da es sich um ein Kinderbuch handelt und die Unzuverlässigkeit einerseits sehr komplex ist und anderseits nicht aufgelöst wird, ist nicht davon auszugehen, dass die Unzuverlässigkeit in jedem Fall erkannt wird. Es gibt auch keine Romane für Kinder mit vergleichbarer Konstruktion – und so ist es im Gegenteil wohl eher wahrscheinlich, dass die Unzuverlässigkeit von Kindern nicht erkannt werden wird. 73 158 Übertreibung und eine blühende Fantasie zuzuschreiben. Als ein Beispiel für eine auf Naivität beruhende Unzuverlässigkeit soll hier Islands Erzählung genannt werden. Sehr spät erst versteht der Junge, dass die in dem Auto eingeschneite Frau schwanger ist, obwohl es vorher bereits viele Hinweise darauf gegeben hat. Weder die Babysachen im Kofferraum, noch die Tatsache, dass sie sagt, sie bräuchte „dringend einen Arzt“ (ebd., 90) lassen ihn eine Schwangerschaft vermuten. Agnes sah nett aus, etwas blass und verschwitzt und mit einem kleinen Bauch, der sich gegen das Lenkrad drückte, obwohl sie nicht richtig dick war, aber vielleicht musste sie ja mal auf die Toilette (ebd., 94). Immer noch hegt Island keinen Verdacht, und auch die bei Agnes eintretenden Wehen bringen ihn nicht auf die richtige Fährte. Leser können so Rückschlüsse auf Islands Naivität ziehen. Nachdem Island das Baby entbunden hat, kommentiert der Junge: Ich lächelte und Agnes sagte ganz leise was und Snickers antwortete und Rudolpho fächelte uns Luft zu und Zement klopfte auf meine Schulter und weit entfernt war ein Krankenwagen zu hören und das Baby sah mich an und lächelte zurück (ebd., 101f.). Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass ein Neugeborenes tatsächlich ‚zurücklächelt‘. Hier zeigt sich Islands Hang zur Ausschmückung. Ähnliche Beispiele lassen sich auch in den Erzählungen der anderen Jungen finden. Diskrepanzen, die in mehreren Geschichten vorkommen Auffälliger und zahlreicher sind jedoch solche Divergenzen, die sich auf die Fiktionalität der Erzählungen zurückführen lassen. So ist es kaum vorstellbar, dass ein Orkan gleich ein ganzes Schulgebäude mitnimmt, ein Wolf einen Puck fortträgt, oder ein Grizzlybär samt Sofa via Hubschrauber abtransportiert wird (ohne aufzuwachen). Gerade diese textuellen Divergenzen treten dabei in gleich mehreren Erzählungen auf. Alle Jungen beziehen sich auch auf die Ereignisse der Geschichten ihrer Freunde – wobei jedoch ihre eigene Geschichte im Vordergrund steht. Ein weiteres Beispiel für eine solche erzählerübergreifende Divergenz ist auch die stets wiederkehrende Beschreibung von Islands Fahrrad. Immer stärker klingt es so, als handele es sich in Wirklichkeit um ein Motorrad: 159 Island dreht den Zündschlüssel, klappt den Seitenständer raus und stellt sein Fahrrad ab, als wäre es ein Chopper mit Breiträdern und einem Fuchsschwanz am Spiegel (Rudolpho; ebd., 16). Island bremst, kickt den Seitenständer seiner Maschine raus und prüft seine Frisur im Chrom des Auspuffs (Rudolpho; ebd., 17f.). Wir standen draußen und warteten. Es war nicht normal, dass Island als Letzter kam. Wenn Island seine Maschine ankickte, dann war er immer als Erster hier (Snickers; ebd., 117). „Meine Maschine ist schon ganz kalt geworden“, sagt Island und lässt den Motor aufröhren (Zement; ebd., 202). Diskrepanzen der verschiedenen Geschichten Anders als es in diesem Beispiel der Fall ist, sind die Geschichten der Jungen aber keinesfalls immer kongruent. Am deutlichsten manifestiert sich dies bereits in den jeweils unterschiedlichen Varianten der Namensbegründung. Jeder Junge präsentiert eine andere Version, woher der Name „Kurzhosengang“ stammt: Rudolpho zufolge liegt dies daran, dass sie bei der Rettungsaktion mit dem Feuerwehrwagen kurze Sporthosen trugen, Island schiebt den Namen auf ein Interview, das „PauliFünf“ (ebd., 105) im Anschluss an die Heldentat um das eingeschneite Auto gegeben hat („Wir nennen sie die Kurzhosengang, weil es bei denen im Sommer nicht für lange Hosen reicht“; ebd., 105). Snickers hat zwischenzeitlich so große Angst vor dem Bären, dass er sich „vor Schreck“ (ebd., 144) einnässt. Nach der Aufregung zieht er in der Schnelle eine kurze Hose an, bevor er interviewt wird. Er ist sich sicher: Die „Frau vom Radio hat uns diesen komischen Namen eingebrockt“ (ebd., 148). Zement wiederum kommentiert: „Wir wurden zum dritten Mal als die Kurzhosengang gefeiert, obwohl keiner so recht wusste, wo der Name herkam“ (ebd., 175). Eine eigene Begründung liefert er nicht, was durchaus kohärent zu seiner Figurenanlage ist. So betrifft eine andere, ebenfalls deutliche, Diskrepanz auch Zement, der – je nach Erzähler – unterschiedlich bewertet wird. In Rudolphos Erzählung erscheint Zement als behäbiger, durchaus dummer Junge: „manchmal wundern wir uns, wie er unbeschadet über eine Straße laufen kann“ (ebd., 19). Häufig kommt ihm eine komische Funktion zu, wenn er zum Beispiel verspätet antwortet oder bestimmte Sachverhalte nicht zu verstehen scheint: Nach den zwei Minuten setzte sich Zement in Bewegung. Und zwar überraschend schnell. Er dribbelte wie ein Teufel, rannte und rannte und dann war er in der Luft und der Ball im Netz. Na ja, er wäre im Netz gewesen, wenn Zement ihn mitgenommen hätte. Er aber hatte den Ball nach zwei Minuten völlig vergessen und fallen gelassen (ebd., 31). 160 Island charakterisiert Zement zwar ebenfalls als langsam, kommt aber zu ‚gnädigeren‘ Beurteilungen: „Er sprach zwar nicht viel, aber wenn er mal was sagte, dann saß das aber richtig“ (ebd., 64) / „Wir folgten Zement, denn wenn Zement was tat, dann war es richtig“ (84). So fügt Island Zement eine weise Attribuierung hinzu, und auch Snickers‘ Einschätzung scheint dies zu bestätigen: „Na, ja, ihr wisst ja, wie das ist, wenn Zement was sagt. Man hört es und kapiert plötzlich, dass er Recht hat“ (ebd., 124). Zement liefert dann in seiner Erzählung eine wiederum völlig unvermutete Begründung für seine Langsamkeit. Es handelt sich keinesfalls um ein Defizit – im Gegenteil, er verfügt sogar über übersinnliche Fähigkeiten: „So ist es immer. Wenn ich sehe, was andere nicht sehen. Die Zeit rennt davon und alles passiert zehnmal so schnell“ (ebd., 165). Auch seine Wirkung auf Andere ist ihm durchaus bewusst: „Das machen Leute öfter. Fragen wiederholen, als hätte ich sie beim ersten Mal nicht gehört. Ich meine, ich bin doch nicht taub, oder?“ (ebd., 156). So unterscheiden sich auch die Figurenbeschreibungen der anderen Jungen je nach Erzähler. Besonders Rudolpho und Island inszenieren sich in ihren Erzählungen als Helden – dagegen stehen Erzähleraussagen der anderen Jungen, wie zum Beispiel folgender Kommentar von Snickers: „Unsere Füße waren immer auf dem Sofa. Falls jemand sich unter dem Sofa versteckte, um während des Films nach unseren Füßen zu schnappen, dann sollte er erst mal suchen“ (ebd., 125). Vor allem Rudolpho wird von Snickers geradezu als ängstlich charakterisiert: Und Rudolpho hat gelacht und an der Seerose rumgewackelt und ist dabei irgendwie über Bord gefallen. Seitdem denkt er nicht mehr daran, mit auf den See rauszufahren. Er denkt nicht mal daran, noch einmal die Hütte zu besuchen (ebd., 115). Diskrepanzen der extra- und intradiegetischen Ebene Bislang wurden jene Widersprüche beleuchtet, die innerhalb der jeweiligen Orte der Erzählung festzumachen sind. Doch gibt es auch einige Diskrepanzen zwischen den Anmerkungen der Übersetzungsinstanz und den Erzählungen der Jungen. Insbesondere der starke Eindruck von Fiktionalität der Binnengeschichten ist als Widerspruch zur dem im Vorwort präsentierten Anspruch auf Faktualität zu verstehen. Im Vorwort behauptet Steinhöfel nicht nur, dass die Geschichte auf wahren Begebenheiten beruhe und zitiert Lanois: „Ungeschminkt, sozusagen, nicht verfälscht oder verzerrt oder verkürzt durch die Filter der üblichen Medien-Berichterstattung“ (ebd., 6). Zu erwarten wäre nun ein biographisches, auf Fakten aufbauendes Werk. Stattdessen folgt ein Ich-perspektivierter Roman, der mit völlig abstrusen Handlungsverläufen aufwartet, und der in seiner Machart oftmals an eine Novelle 161 erinnert. Die im Vorwort generierte Erwartungshaltung wird damit keinesfalls bedient. Das bereits beschriebene Spiel mit Fiktionalität und Faktualität, das innerhalb des Paratexts betrieben wird, setzt sich so auch in die intradiegetische Erzählebene fort. Gelegentlich stellt Steinhöfel dann in seinen Fußnoten die Richtigkeit des im Roman Geschilderten infrage oder verweist auf Testimonials, die den Darstellungen widersprechen. Mehrfach zweifelt er in den Fußnoten direkt an den Schilderungen der jeweiligen Erzähler (z.B. „Die Angaben […] gehen auseinander“; ebd., 27 / „Das darf bezweifelt werden“; ebd., 33 / „Snickers irrt“; ebd., 123) und in Fußnote 7 verweist Steinhöfel auf eine Publikation einer Mitschülerin der Kurzhosengang: Kristen Applegate: And They All Lied! – The Truth behind the Stories of the Short Ones; Vancouver, 2002“ (ebd., 27; Hervorhebg. im Orig.) Die „alte Laroux“ (ebd., 45) – eine alte Dame, die die Jungen in Rudolphos Geschichte für Geister hält und ihnen nicht die Türe öffnet – wird von Steinhöfel folgendermaßen zitiert: „Auf den Vorfall angesprochen, gab sie zu Protokoll: „Erstunken und erlogen! Die kleinen Hosenscheißer (short-shitters) gehören in ein Heim für schwer Erziehbare“ (ebd.; Hervorhebg. im Orig.). Immer wieder wird so vom angeblichen Übersetzer direkt auf Widersprüche hingewiesen. Motive des Unzuverlässigen: Erzählen, Lügen, Fantasie An vielen Stellen des Romans wird der Erzählakt stark in den Vordergrund gestellt, immer wieder geht es um das Erzählen an sich. Eine erste Thematisierung liefert der ‚Übersetzer‘ bereits im Vorwort: Und so erzählten Rudolpho, Island, Snickers und Zement ihre Geschichte … jeder für sich, jeder in weniger als vier Wochen, und im Holzhaus am See wurde fleißig geschrieben (ebd., 6). In dem aus diesen Erzählungen entstandenen Roman sind die verschiedenen Einlassungen der Jungen dann just um ein Interview angeordnet, in dem die Jungen ihre Geschichten erzählen sollen. Auch die vier Protagonisten weisen gelegentlich auf den Akt des Erzählens hin. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Passage von Snickers: Rudolpho hat toll erzählt. Kein bisschen nervös, dafür dass er den Anfang machen musste. Und das mit der Schule war eine prima Geschichte. Eine Schule, die verschwindet, ist ja wohl der Traum der Träume. Spannend finde ich aber auch, was Island so zu sagen hat. Mal sehen, wie seine Geschichte endet. Ich wusste nicht, dass meine Freunde so tolle Ideen haben (Snickers; ebd., 110). Snickers stellt hier klar den fiktionalen Charakter des Erzählten heraus, wobei er 162 den Einfallsreichtum seiner Freunde als positive Eigenschaft hervorhebt. Oft entsteht auch der Eindruck, dem jeweiligen Erzähler seien ‚die Pferde durchgegangen‘. Gerade Islands Geschichte ist hier beispielhaft: Beinahe assoziativ aneinander gefügte Handlungselemente kulminieren in einen absurden Höhepunkt: Geht es zunächst noch um ein Eishockeyspiel und die Rivalität mit der „PauliGang“, taucht plötzlich ein inkontinenter Wolf auf, der die Freunde zu einer schwangeren Frau führt, der sie dann bei der Geburt beistehen. Entsprechend dem Novellencharakter der Geschichte ist hier der Zufall treibendes Element. Eine große Faszination bringen die Jungen dem Genre des Horrorfilms entgegen: Die Kurzhosengang sitzt im Kino immer in der siebten Reihe auf den Plätzen 22, 23, 24 und 25. Wir gehen nur am Samstagnachmittag ins Kino. Die Kurzhosengang würde sich lieber die Filme im Abendprogramm ansehen, das könnt ihr mir glauben. Filme wie Blutiges Massaker oder Tot und begraben und dreimal draufgehauen (Rudolpho; ebd., 17; Hervorhebg. im Orig.). Wiederholt wird auch dieses Motiv in den verschiedenen Geschichten aufgegriffen. Rudolpho scheint mitunter völlig in dem Genre aufzugehen. Seine Selbstbeschreibung gestaltet sich so: Die Mitglieder der Kurzhosengang schweigen wie vier tiefe Gräber auf einem Friedhof voller Vampire. Überall ist Nebel zu sehen und da steht einer der Vampire und wedelt mit seinem Umhang und tschak kriegt er einen Pflock vor die Brust. Wo kommt der Pflock her? Da tritt aus dem Nebel ein junger Mann. Er hat kurzes Haar und sieht richtig toll aus. Er ist verliebt in ein Mädchen, das die Schwester seines Kumpels ist. Das Mädchen ist viel zu alt für den jungen Mann, aber so spielt nun mal das Leben (ebd., 20f.; Hervorhebg. im Orig.). Natürlich ist er der gutaussehende junge Mann, und bei dem Mädchen handelt es sich um Snickers‘ große Schwester. Sie ist auch verantwortlich dafür, dass die Jungen sich so gut im Genre auskennen: „Freitagabend werde ich mit meinen Jungs ein paar Filme gucken. Horror und so, die besorgt uns Snickers‘ Schwester aus der Videothek. Das machen wir jede Woche, was sein muss, muss sein […]“ (ebd., 121). Ein interessantes Phänomen findet sich in Islands Erzählung. Wenn Islands Vater seinen Sohn unterbricht und zur Wahrheit ermahnt, sieht sich Island gehalten, seine Erzählung zu ändern und bereits Gesagtes als erfunden zu gestehen: „Und was ich vorhin gesagt habe, ist so auch nicht richtig. Aber wer will schon immer das Richtige sagen, wenn das Falsche besser klingt?“ (ebd., 73) Durch solche Geständnisse suggeriert er, dass die nun folgende, berichtigte Geschichte wahr sein wird – was dann wiederum auch nicht der Fall ist. 163 Snickers relativiert am Ende seiner Erzählung: Ich finde ja noch immer, dass man nicht alles verraten muss. Und wenn man ein bisschen was sagt, dann ist es ganz gut, dabei nicht die ganze Wahrheit zu erzählen. Oder glaubt ihr wirklich, dass der Bär kampflos auf dem Sofa eingeschlafen ist oder die PauliGang nicht wiederkam? Ha (ebd., 149). Er markiert damit sogar selbst im Nachhinein seine Geschichte als lückenhaft und nicht wahrheitsgetreu. Das Lügen ist so innerhalb des Erzählens oftmals keinesfalls negativ konnotiert, sondern als Teil eines lustvollen Erzählaktes zu verstehen. Die Überschneidungen der Geschichte, also jene Handlungselemente, die in mehreren Geschichten aufgegriffen werden, scheinen dabei nahezu spielerisch in die jeweiligen Kontexte umgesetzt zu werden. Zements Geschichte als weitere Bedeutungsebene Die letzte der vier Geschichten unterscheidet sich vor allem in ihrer Funktion deutlich von den vorangehenden. Obwohl auch die Erzählungen von Rudolpho, Island und Snickers als erdacht oder zumindest als übertrieben markiert sind, wird in Zements Erzählung eine neue, klar fantastische Ebene hinzugefügt. Diese so in der vierten Geschichte entstandene Transzendenz des Erzählten ermöglicht, Ungereimtheiten der vorangehenden Geschichten aufzulösen. Als Beispiel hierfür kann die Begegnung der Jungen mit dem Grizzlybären herangezogen werden, die sowohl von Snickers als auch später von Zement aufgegriffen wird. Snickers erzählt: „Der Grizzly beachtete Island kein Stück. Er taumelte von links nach rechts, als würde er versuchen, die Balance zu halten, und schnüffelte im Wohnzimmer herum“ (ebd., 141). Später wird nicht so recht deutlich, warum der Bär von den Jungen ablässt, und sich lieber zu einem Nickerchen auf das Sofa legt: Ich versuchte zu lächeln, der Grizzly knurrte und Zement sagte: „He, lass mal Snickers in Ruhe.“ Der Grizzly hörte sofort auf zu knurren. Er nahm seine Schnauze unter meinem Kinn weg und trottete durch den Raum. Ungefähr da muss er das Sofa entdeckt haben. Es ist ein wirklich großes Sofa. […] Ohne lange nachzudenken, ließ sich der Grizzly darauf fallen (ebd., 143f.). In Zements Erzählung erfährt der Junge von seinem Schutzengel Lothar, dass es eigentlich Zements Schicksal gewesen wäre, von einem Grizzly gefressen zu werden. Lothar beruhigt Zement: „Und mach dir keine Sorgen wegen dem Grizzly, der wird dich in Ruhe lassen“ (ebd., 174). In Zements Schilderung gestaltet sich die Situation mit dem Bären dann auch entsprechend anders: 164 Obwohl Lothar mich ja vorgewarnt hat, war ich so was von überrascht, dass ich Herzflattern bekam. Dabei konnte mir ja nichts passieren, mein Schutzengel war ja da. Jedes Mal, wenn der Grizzly uns zu nahe kam, haute ihm Lothar eins auf die Nase. Das ging eine Weile hin und her. Irgendwann war der Grizzly so müde davon, eins auf die Nase zu bekommen, dass er auf das Sofa fiel und einschlief (ebd., 175). Das zuvor Gelesene muss zwangsläufig neu bewertet werden. Nicht nur Zements Charakter unterscheidet sich von dem seiner Freunde – auch seine Erzählung weicht ab. Die neue Bedeutungsebene geht mit einer unterschiedlichen Tatsachenperspektivierung einher, was zu einer weiteren Zuspitzung der Unzuverlässigkeit führt. Die hohe Komplexität ist nun kaum noch zu durchdringen. Einordnung Themen und Motive Neben dem kinderliteraturtypischen Thema des Bestehens von Abenteuern sind die wichtigsten Themen des Werks das Lügen und das Erfinden von Geschichten. Besonders das fantasievolle Ausschmücken von Geschichten aber auch das Wechselspiel von Wahrem und Falschem wird immer wieder in den Vordergrund gestellt. Eine Verknüpfung von Thema und erzählerischer Unzuverlässigkeit ist damit gegeben. Erzählsituation Die Erzählsituation ist stark mit der erzählerischen Unzuverlässigkeit des Werks verknüpft: Ein als real inszeniertes Autorengespann kann als fiktive Erzählerinstanz, ein angeblicher Paratext des Romans als Teil der Erzählung dekodiert werden. Die ‚eigentliche‘ Geschichte (in Form der Erzählungen der vier Ich-Erzähler Snickers, Rudolpho, Island und Zement) ist in Bezug auf den kommunikativen Ort entsprechend unterschiedlich zu deuten: Nur bei einer Entlarvung des Autorengespanns als fiktiv stellen sich die Erzählungen der Jungen als intradiegetische Ebene eines komplexen narrativen Gebildes dar. Die vier Ich-Erzählungen sind wiederum multiperspektivisch angeordnet und werden nacheinander präsentiert, wobei sie jeweils retrospektiv erzählt werden. Es finden sich zahlreiche Leseranreden, allerdings variieren die fiktiven Adressaten innerhalb der Erzählung je nach Erzähler. Der wissenschaftliche Duktus der Fußnoten kann als an erwachsene Leser gerichtet interpretiert werden: Es ist unwahrscheinlich, dass sich die Komik von korrekter Zitation einerseits und des skurrilen Inhalts des Zitierten andererseits einem kindlichen, nicht mit wissenschaftlichen Schreibweisen vertrauten Leser erschließt. 165 Die Modellierung der Erzählerfiguren Die Situation in Die Kurzhosengang ist bezüglich der Modellierung der Erzählerfigur komplexer als es in den übrigen untersuchten Werken der Fall ist, finden sich doch mehrere unzuverlässige Erzählinstanzen, die, wie gezeigt wurde, zudem auf verschiedenen narrativen Ebenen zu lokalisieren sind: Zu unterscheiden ist das extradiegetische Erzählerteam Caspak/Lanois mit dem vermeintlichen Übersetzer Andreas Steinhöfel einerseits sowie die vier kindlichen Ich-Erzähler der Intradiegese andererseits. Die Erzählerfiguren Caspak, Lanois sowie Steinhöfel werden als real existierende Personen dargestellt, was zumindest bei Steinhöfel ja auch der Fall ist. Ihm kommt damit eine Sonderrolle zu. Diese extradiegetischen Erzähler sind allesamt erwachsen; vor allem die Rede Steinhöfels ist in einem wissenschaftlichen Duktus gehalten und oft nahezu übertrieben hypotaktisch konstruiert, was ihn ‚studiert‘, aber auch besserwisserisch erscheinen lässt. Die vier kindlichen Erzähler der intradiegetischen Erzählungen unterscheiden sich deutlich von denen der erwachsenen Erzählinstanzen. Ihre Erzählungen sehr fantasievoll oft stark übertrieben und stellenweise klar als ‚Räuberpistolen‘ erkennbar, mitunter werden die Jungen als naiv dargestellt. Zement unterscheidet sich wiederum von den übrigen Kindern: Er erscheint weiser und verfügt zudem über übersinnliche Fähigkeiten. Markierung der erzählerischen Unzuverlässigkeit Markierungen erzählerischer Unzuverlässigkeit lassen sich in Die Kurzhosengang in Form textueller Diskrepanzen, subjektiver Erzählerrede, eines multiperspektivischen Aufbaus sowie von Hinweisen im Paratext zeigen. Diskrepanzen finden sich dabei sowohl innerhalb der jeweiligen Erzählungen, als auch zwischen ihnen. In der extradiegetischen Erzählung des vermeintlichen Übersetzers finden sich zunächst nur relativ wenige textuelle Signale der Unzuverlässigkeit. Vor allem sind sie (zum Beispiel durch die ‚wissenschaftliche‘ Tarnung der Fußnoten oder durch die Vermischung von Wahrem mit Falschem) gut ‚versteckt‘. Ein wissenschaftlichsachlicher Ton dient der weiteren Verschleierung der Unzuverlässigkeit dieser Ebene. In der Intradiegese zeigt sich ein anderes Bild: Vier verschiedene, höchst subjektive Erzähler liefern jeweils unterschiedliche Versionen der gleichen Geschichte ab. Inkongruenzen finden sich sowohl innerhalb der einzelnen Erzählungen als auch zwischen ihnen. 166 Die von Ole Konnecke beigesteuerten Illustrationen sind als symmetrisch einzuschätzen, es kommt ihnen keine Bedeutung in Bezug auf die Markierung der erzählerischen Unzuverlässigkeit in Die Kurzhosengang zu. Anders verhält es sich mit der sich im Anhang befindlichen Fotografie der beiden Autoren. In ihr werden, so wurde gezeigt, ambivalente Botschaften transportiert: Einerseits wird durch die Behauptung, es handele sich um Caspak und Lanois, Authentizität in Anspruch genommen (symmetrisches Text-Bild-Verhältnis), andererseits wird durch die Art der Präsentation eine gegenteilige Lesart angeboten (komplementäres Text-BildVerhältnis). Der Paratext ist Teil der erzählerischen Unzuverlässigkeit: Bereits die Autorennamen verweisen auf eine vermeintliche Authentizität des fiktiven Autorengespanns, die bibliografischen Angaben des Romans sind fiktiv und unterstützen die unzuverlässigen Aussagen des vermeintlichen Vorworts. Weitere Beschaffenheit der erzählerischen Unzuverlässigkeit Der ontologische Status in Die Kurzhosengang kann zwar entschlüsselt werden – gerade aber durch die gute Tarnung des extradiegetischen Erzählers ist dies nicht einfach. In Die Kurzhosengang wird durchgängig unzuverlässig erzählt; die Unzuverlässigkeit wird nicht aufgelöst, und sie manifestiert sich auf unterschiedlichen Ebenen: Nicht nur ist die gesamte kommunikative Situation unklar, es gibt auch gleich mehrere Erzähler, die allesamt als unzuverlässig einzuschätzen sind. Weiterhin ist die stark metaleptische Struktur des Romans für die erzählerische Unzuverlässigkeit von Bedeutung: Querverweise, Metalepsen aber auch Vermischungen von Faktualem und Fiktionalem verstärken die Uneindeutigkeit des Grundgerüsts. Die Unzuverlässigkeit ist als mimetisch (nach Martínez und Scheffel) bzw. täuschend (nach Köppe und Kindt) charakterisierbar. Von den in diesem Kapitel untersuchten Kinderbüchern ist die erzählerische Unzuverlässigkeit in Die Kurzhosengang als die komplexeste einzuschätzen. Intermedialität/Intertextualität Intertextuelle Referenzen finden sich in oft expliziter Markierung insbesondere in den Fußnoten: als Systemreferenzen auf wissenschaftliche Texte sowie als Einzelreferenzen auf fiktive Quellen (vgl. Wicke 2014, 14). Der kommunikative Ort der intertextuellen Verweise ist aufgrund der verschleierten Erzählsituation ebenfalls uneindeutig. Wie es auch bei den Illustrationen der Fall ist befördern diese Verweise ambivalente Lesarten: Die Präsentation der Kommentare in wissenschaftli- 167 chem Duktus kann als Authentifizierung des Dargebotenen gedeutet werden, allerdings konterkarieren die stark übertriebenen, teils grotesken Inhalte der Fußnoten eben diesen Anspruch. Funktionen Funktionen der Unzuverlässigkeit in Die Kurzhosengang sind vor allem die Verschleierung der Identität des extradiegetischen Erzählers sowie die Charakterisierung der vier kindlichen intradiegetischen Erzähler. Zusätzlich dient die Unzuverlässigkeit aber auch der Betonung von Subjektivität (Intradiegese), der Gestaltung der erzählten Welt, und es kommen ihr ästhetische, komische und illusionsbrechende Funktionen zu. 168 3.2 Jugendliteratur In den folgenden Einzelanalysen werden die ausgewählten sechs Jugendromane (Tom Avery: Der Schatten meines Bruders, Do van Ranst: Mütter mit Messern sind gefährlich, Christian Frascella: Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe, Nils Mohl: Es war einmal Indianerland, Tamara Bach: Marienbilder sowie Markus Berges: Ein langer Brief an September Nowak) bezüglich ihrer jeweiligen erzählerischen Unzuverlässigkeit untersucht. Das Vorgehen entspricht dabei weitestgehend dem der durchgeführten Kinderbuchanalysen. Wie auch bei den Analysen der kinderliterarischen Werke ist die Reihenfolge, so dies möglich ist, an einer (zunehmenden) Komplexität der untersuchten Werke orientiert. Zähnefletschend und knurrend war er durch unsere Pausen gestreift. An einem Tag war er nicht da, am nächsten stand er in der Tür unseres Klassenzimmers und besetzte nicht nur den Stuhl neben mir, sondern auch meine Gedanken. (Avery 2014, 28) 3.2.1 Tom Avery: Der Schatten meines Bruders Der Roman wurde 2010 in Großbritannien unter dem Originaltitel My Brother’s Shadow bei Andersen Press (London) veröffentlicht. 2014 erschien er in deutscher Übersetzung von Wieland Freund und Andrea Wandel unter dem Titel Der Schatten meines Bruders bei Beltz & Gelberg (Weinheim u.a.). Im Juni 2014 wurde er als eines der „Besten 7 Bücher für junge Leser“ ausgezeichnet 74, im Juli 2014 erhielt er den „Luchs“ des Monats75. Der Roman hat 145 Seiten und wird vom deutschen Verlag für Leser ab zwölf Jahren empfohlen, vom englischen für Leser ab neun Jahren76. Erzählerische Unzuverlässigkeit manifestiert sich in Der Schatten meines Bruders als höchst subjektive Erzählung einer noch sehr kindlichen, schwer traumatisierten und gehemmten Ich-Erzählerin. Die Bestenliste wird vom Deutschlandfunk und der Zeitschrift Focus ausgerichtet. Ausgerichtet von Radio Bremen und Die Zeit. 76 In dieser Arbeit wird der Roman, der deutschen Empfehlung entsprechend, als Jugendbuch behandelt. 74 75 169 Inhalt, Themen Seit sich Kaias Bruder Moses vor etwa einem Jahr das Leben genommen hat und sie ihn mit geöffneten Pulsadern in seinem Zimmer gefunden hat, steht für die IchErzählerin die Zeit still. Kaia hat sich zurückgezogen, spricht mit niemandem mehr, und inzwischen scheinen sich auch ihre Freunde von ihr abgewendet zu haben. Sie selbst kommentiert: „Ich bin festgefroren in der Vergangenheit. Festgefroren seit einem Tag, den ich niemals vergessen werde“ (Avery 2014, 11). In der Schule sieht sie sich Hänseleien ausgesetzt und wird als Freak bezeichnet (vgl. ebd.). Auch Kaias Mutter kommt mit Moses‘ Suizid nicht zurecht – sie betäubt ihren Schmerz über den Verlust des Sohnes mit Alkohol und ist nicht für ihre Tochter da. Eines Morgens sieht Kaia plötzlich vor dem Fenster des Klassenzimmers einen fremden Jungen stehen, der sie von draußen anzustarren scheint. Kaia ist sofort von ihm fasziniert: „Das war das Entsetzlichste, Aufregendste, Seltsamste, was mir seit langer Zeit in einer Mathestunde passiert war“ (ebd., 7). Fortan ist Kaia immer häufiger in der Gesellschaft des Jungen, und sie erzählt ihm von ihren Sorgen (vgl. z.B. ebd., 37). Das Verhältnis zu ihrer Mutter ändert sich, als Kaia eines Abends Zeugin eines alkoholinduzierten Zusammenbruchs der Mutter wird: Kaia findet sie, um Wasser bettelnd, in einer Lache von Erbrochenem. Diese Episode markiert einen Wendepunkt für die Mutter, ab dem es ihr nach anfänglichen Schuldgefühlen zunehmend besser geht. Allmählich kommt Kaia ihren Freunden wieder näher, und sie offenbart ihre Gefühle ihrer Klasse. In einem Aufsatz über ihr Lieblingsbuch, den sie laut vorliest, erzählt sie auch über ihren Bruder: Er war der liebste, komischste und lustigste Bruder, den sich ein Mädchen wünschen kann. Aber er war unglücklich. Ich wusste es nicht. Niemand hat es mir gesagt. Er war so unglücklich, dass es ihn krank machte. Er war so unglücklich, dass er keinen Weg fand, um weiterzuleben. Er fand keinen Weg, außer einem, dem Weg hinaus (ebd., 107). Nach und nach gelingt es Kaia, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Durchweg steht ihr der Junge zur Seite, und in der Regel begleitet er sie. Alles ändert sich erneut, als die beiden in einen Verkehrsunfall geraten. Nach vier Wochen erwacht Kaia aus dem Koma und stellt fest, dass der Junge fort ist. Niemand scheint ihn zu kennen, und Kaias Ärztin versichert ihr, außer ihr sei niemand eingeliefert worden (vgl. ebd., 136). Obwohl dies zu keinem Zeitpunkt explizit erzählt wird, drängt sich im Verlauf des Romans immer wieder der Verdacht auf, dass der Jungen nicht existiert, dass er 170 nur ein Produkt der Fantasie der Ich-Erzählerin ist. Das wichtigste Thema des Romans ist der Umgang mit Trauer und die Bewältigung eines Traumas. Weitere im Roman behandelte Themen sind ‚Freundschaft‘, ‚Schreiben und Poesie‘, allgegenwärtig sind auch die Motive ‚Bäume‘ und ‚Jahreszeiten‘. Im Kontext des unzuverlässigen Erzählens fällt weiterhin ein Doppelgängermotiv bzw. ein damit verknüpftes Motiv des disembodiment auf. Erzählerische Unzuverlässigkeit Die Erzählung in Der Schatten meines Bruders findet in höchst subjektiver, autodiegetischer Weise durch die Ich-Erzählerin statt. Die Erzählsituation ist dabei nicht eindeutig erschließbar: Kaia präsentiert die Geschehnisse stellenweise tagebuchartig, dann wieder erzählt sie in weiter Rückschau. Sequenzen eingeschobenen Erzählens wechseln sich mit später Erzähltem ab, ein eindeutiger Erzählzeitpunkt ist nicht bestimmbar. Erzählerische Unzuverlässigkeit manifestiert sich vor allem in Diskrepanzen der Erzählerrede: Obwohl Kaia dies zu keinem Zeitpunkt offen ausspricht, liegt die Vermutung nahe, dass der Junge nicht wirklich existiert. Die Ich-Erzählerin spricht von ihm, als sei er tatsächlich zugegen, durchweg finden sich aber ambivalente Signale bezüglich der Beteiligung des Jungen am Geschehen. Aufbau und Erzählanlage: Subjektive Erzählsituation Der Roman besteht aus 29 kurzen Kapiteln, die nahezu episodenartig und zum Teil elliptisch aneinandergefügt und jeweils mit kurzen proleptischen Überschriften versehen sind (z.B.: „Ankunft“; ebd., 7 / „Tagtraum“; ebd., 73 / „Zusammenstoß“; ebd., 124). Zehn weitere, jeweils auf eine ansonsten leere Buchseite gesetzte, eingeschobene Überschriften liefern eine Gliederung des Romans. Sie sind an Kaias Bruder Moses‘ „Lebensregeln“ (ebd., 13) angelehnt und geben einen zwar vagen, aber doch ebenfalls proleptischen Einblick in die nachfolgenden Kapitel, so zum Beispiel: „1. Lebensregel. Starren ist gut“ (ebd., 15) oder „6. Lebensregel. Pass gut auf – du könntest etwas verpassen“ (ebd., 85). Die Erzählung setzt in dem Moment ein, in dem Kaia zum ersten Mal den Jungen sieht, und sie behandelt im ersten Kapitel nur den kurzen Moment der Ankunft des Jungen. Das Kapitel schließt mit einer Prolepse: Selbst später, als ich diese breiten, buschigen pechschwarzen Augenbrauen lange Nachmittage lang angestarrt hatte, war ich mir nicht sicher, ob in diesem ersten Blick ein Lächeln gelegen hatte. Dieses Gesicht war für mich das größte Geheimnis, das es gab (ebd., 8). 171 Hier deutet sich eine spätere Erzählerin an, die aus einer (weiten) Rückschau die inzwischen abgeschlossene Geschichte um diesen Jungen erzählt, doch im nächsten Kapitel wird diese Erwartung nicht erfüllt. Kaia erwähnt nun ein Tagebuch, das sie im letzten Schuljahr von ihrem Lehrer erhalten habe. Sie kommentiert: Nein, ich habe nichts geschrieben. Aber dann ist der Junge aufgetaucht. Also beschloss ich, diese leeren Seiten doch zu füllen (ebd., 10). Im Anschluss ändert sich das Tempus in das Präsens: „Also lese ich nicht. Ich will mich nicht erinnern. Stattdessen schreibe ich das hier“ (ebd., 11). Es wird nun eine Tagebuchform suggeriert, und Kaia tritt als Verfasserin des Geschriebenen in den Vordergrund. Wiederholt wird im Folgenden Kaias Schreibprozess erwähnt: „Jetzt bin ich hier, im Auszeit-Raum, da, wo man hinmuss, wenn man etwas angestellt hat […]. Ich schreibe in mein Notizbuch“ (ebd., 39) / „Ich ziehe einen Stift aus der Tasche und ich schreibe, während die Welt um mich herum sich dreht“ (ebd., 45) / „Ich höre es klingeln, während ich das hier schreibe, die Schule geht los“ (ebd., 74, ähnliche Verweise vgl. u.a. 46,87,132). Zusätzlich zu solchen eingeschoben erzählten Passagen finden sich aber immer wieder auch Hinweise, die doch auf eine distanziertere Erzählhaltung und damit auf eine spätere Erzählung hindeuten, wie auch im folgenden Textausschnitt der Fall ist: Ich möchte Mum von meinen Zeichnungen erzählen, davon, dass die anderen es für Kunst halten. Ich möchte ihr sagen, wie viel Spaß es gemacht hat. Ich möchte es ihr erzählen, und ich möchte, dass sie stolz auf mich ist. Aber ich kann nicht. Wir reden nicht. Also schreibe ich es hier in meinem Zimmer auf. Ich schreibe es auf, und es scheint dadurch sogar noch wirklicher, aber gleichzeitig irgendwie auch noch unglaublicher. Dann kam dieser Donnerstag. Donnerstag ist der Tag der besonderen Leistung. Am Tag der besonderen Leistung wird ein Schüler in der Aula aufgerufen, und der Lehrer erklärt, warum gerade dieser Schüler etwas ganz Besonderes geleistet hat. Seit ich Moses gefunden hatte, war ich nichts Besonderes mehr gewesen (ebd., 80; Hervorhebg. im Orig.). In diesem Kapitel („Eine echte Künstlerin“; ebd., 76-82) hat Kaia zuvor erzählt, wie sie die besagten Zeichnungen angefertigt hat. Der erste Teil dieses Zitats entspricht in seiner präsentischen Form klar der Tagebuchform, er schließt den Einschub um die Zeichnungen ab. Für den zweiten Teil des Zitats gilt dies jedoch nicht: Mit dem „Tag der besonderen Leistung“ (ebd., 80; Hervorhebg. im Orig.) wird auf ein chronologisch später zu verortendes Ereignis hingewiesen, ohne, dass in diesem Kapitel eine neue Erzählgegenwart geliefert wird. Das Kapitel endet im 172 Präteritum, und der Zeitpunkt des Erzählens dieser Passage ist nicht zu erschließen: „Nun macht schon!“, rief Mr Wills. Alle waren weg. Nur ich war noch da und starrte. Jemand in der Bücherei – jemand, der nicht so spannend wie der Junge war – schloss die Tür, und ich, mit meinen eigenen Gedanken und Träumen, meiner Vergangenheit und meiner Zukunft, trottete Mr Wills hinterher (ebd., 13). Auch inhaltlich erinnert die Erzählung oft an ein Tagebuch, Kaia reflektiert ihre aktuellen Gefühle, ihre Ängste sowie Vorgänge in ihrem Inneren: Ich machte mir Sorgen wegen der Schule, wegen der dummen Typen, die mich beschimpften und wie Hyänen gackerten. Ich machte mir Sorgen wegen Mum, wegen des Alkohols und wegen des Gelds. Ich machte mir wirklich viele Sorgen (ebd., 18). Dabei zeichnet sich ihre Erzählung durch zahlreiche Ellipsen aus. Die so nur lückenhafte Erzählung korrespondiert mit Kaias Selbsteinschätzung, „erstarrt“ zu sein (vgl. u.a. ebd., 11, 34, 38, 53, 68). Viel gibt sie nicht preis – insbesondere erschließt sich nicht, was wirklich mit ihrem Bruder geschehen ist. Zunächst deutet sie auch nur an, dass etwas Schlimmes passiert ist und spricht von „einem Tag, den ich niemals vergessen werde“ (ebd., 11). Als sie dann in einem Traum ihren Bruder als Engel sieht, drängt sich die Vermutung auf, sein Tod könne die Ursache für Kaias Zustand sein. Erst im fünften Kapitel, das bezeichnenderweise mit „Der Tag, an dem ich verrückt wurde“ (ebd., 21) überschrieben ist, erzählt Kaia, was geschehen ist. Ohne weitere Verknüpfungen zum vorhergehenden bzw. nachfolgenden Kapitel liefert Kaia eine externe Analepse, in der sie über den Tag erzählt, an dem sie ihren Bruder gefunden hat. Bei der Schilderung des Funds wechselt die Erzählung in ein historisches Präsens: Ich lege die Hand auf Moses’ Tür und drücke sie auf. Dann sehe ich ihn, wie ich ihn jetzt so oft sehe – ob ich wach bin oder schlafe –, eingebrannt in mein Gedächtnis. Er liegt auf dem Rücken, ganz still und kalt. Sein Kopf lehnt am Bett, aber sein unbezahlbares geheimes Lächeln wird von der nach vorn gerutschten Kappe verdeckt. Sonst sehe ich nur Rot – der Teppich ist getränkt damit, es verschmiert die Seiten vorher weggelegter, offener Bücher, es befleckt meinen letzten Blick auf meinen Bruder (ebd., 22). So präsent dieses Trauma für Kaia ist, so wenig erzählt sie davon. Gelegentlich sieht Kaia nachts ihren Bruder als Engel und stellt sich vor, sie unterhielte sich mit ihm. Dass die Todesumstände des Bruders nicht eindeutig waren, stellt sich erst im weiteren Verlauf des Romans heraus. Über die Beerdigung erzählt Kaia noch spärlicher als über den Todestag. Sie schränkt sogar ein: „Über die Beerdigung will ich nicht reden, aber sie hat natürlich stattgefunden. […] Moses‘ Freunde waren auch da; alle mit Baseballkappen und schwarzen Jacken“ (ebd., 56f.). Als 173 Kaias Rivalin Poppy sie viel später mit einem alten Zeitungsausschnitt konfrontiert, wird klar, dass Moses Teil einer Gang war: „Bandenmitglied tot aufgefunden“, las sie vor. Ich erstarrte wieder. Einmal mehr betrete ich das Haus. Die kalte Luft lässt mich frösteln, der gefrorene Teppich knirscht unter meinen Füßen. „Polizei untersucht mysteriösen Tod eines Teenagers ...“, las Poppy vor. Ich gehe zu seinem Zimmer, Moses’ Zimmer, lausche der Stille. „... wurde gestern Nachmittag von seiner Familie tot aufgefunden.“ Ich strecke die Hand aus. Meine Hand berührt die Tür. Sie schwingt langsam auf, mit einem Knarren. „Der Ermittlungsbeamte ...“ Ein Gesicht taucht vor meinen Augen auf, der bärtige, breitmäulige Inspektor Runcorn. Fragen schießen mir durch den Kopf, Fragen, die er während der stundenlangen Verhöre gestellt hat. „ ... erklärte, dass beim derzeitigen Ermittlungsstand nichts ausgeschlossen werden könne.“ Die Tür steht jetzt weit offen, und da liegt er so, wie ich ihn gefunden habe, die Kappe im Gesicht und überall Blut. „MOSES WHITES FAMILIE ...“ – und das sagt sie wie in Großbuchstaben – „ ... wird weiterhin zu den Todesumständen befragt.“ (ebd., 97; Hervorhebg. im Orig.) Erst hier erschließt sich die wirkliche Tiefe von Kaias Trauma. So wie sie auch in der Schule nicht mehr spricht, lässt sie auch in ihrer Erzählung vieles unausgesprochen. Kaia scheint sich dabei ihrer eigenen labilen psychischen Disposition durchaus bewusst zu sein, und gelegentlich hebt sie Einschränkungen hervor: „Aber ich bin mir nicht sicher“ (ebd., 7, ähnliche Verweise vgl. u.a. ebd., 40, 68, 81). Vereinzelt finden sich direkte Leseranreden, in denen Kaia ihre Adressaten anspricht: „Und ihr werdet es nicht glauben, es wurde noch verrückter“ (ebd., 55) / „Habt ihr jemals mit Pappmaschee gearbeitet?“ (ebd., 95) / „Ich denke, ich kann mit Sicherheit behaupten, dass ich noch nie so glücklich gewesen bin, seit … na, ihr wisst schon“ (ebd., 124). Diese Anreden einer Mehrzahl von Adressaten widersprechen der zuvor suggerierten Tagebuchform und heben gleichzeitig die Erzählsituation hervor. Schließlich schreibt Kaia einen Aufsatz über ein Buch – das letzte Geschenk, das sie vor seinem Tod von ihrem Bruder erhalten hat. Dieser Aufsatz, den sie als Hausaufgabe verfasst, ist dem Fließtext des Romans eingefügt und nur durch die Überschrift: „Bäume Britanniens – Ein illustriertes Handbuch“ (ebd., 106; Hervorhebg. im Orig.) markiert. Hier findet sich nun eine weitere Erzählsituation: Das von Kaia für die Schule Geschriebene wird in den Roman integriert. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Kaias Erzählung geschieht stellenweise in einer vermeintlichen Tagebuchform. Episodenartig, collagenhaft und höchst subjektiv fügt die Erzählerin die Geschichte zusammen, wobei sich die Erzählsituation insgesamt nicht erschließen und in verschiedenen Passagen durchaus unterschiedlich einschätzen lässt. Kaia erscheint dabei als hochgradig verstörtes und 174 gehemmtes Kind, das sich erst im Laufe der Geschichte langsam von dem Schock zu erholen beginnt, den der Fund ihres verstorbenen Bruders bei ihm ausgelöst hat. Die Verschriftlichung innerer Vorgänge ist dabei als Teil des Heilungsprozesses der Protagonistin zu verstehen, der Text erinnert stellenweise an ein therapeutisches Tagebuch. Motive des Unzuverlässigen: Doppelgänger, Disembodiment Erzählerische Unzuverlässigkeit zeigt sich vor allem in der Unklarheit, ob es den Jungen tatsächlich gibt. An keiner Stelle wird explizit gesagt, dass es sich bei dem Jungen um eine Imagination der Erzählerin handelt, dies kann nur implizit erschlossen werden. Kaias Unzuverlässigkeit manifestiert sich auch in einem Motiv des disembodiments einerseits und einem Doppelgängermotiv andererseits. So beschreibt sie sich selbst als „erstarrt“ (vgl. u.a. ebd., 11, 34, 38, 53, 68). Sie zieht sich weiter zurück, spricht nicht mehr und ihr Verhalten ist oft ausweichend und passiv: Ich starre alle an. Alle ignorieren mich. Fast alle. Mein Blick fällt auf Luzie. Sie sitzt mitten zwischen meinen ehemaligen Freundinnen. Ihre Augen sind traurig. Ihre Mundwinkel heben sich zu einem Lächeln. Ich weiche ihrem Blick aus (ebd., 19). Beinahe scheint es, als sei sie nicht mehr anwesend. Auch von den anderen Figuren wird sie scheinbar nicht mehr wahrgenommen. Sie gibt zu: „Normalerweise sieht mich keiner. Nicht mal die Lehrer“ (ebd., 20), und deutet damit eine Körperlosigkeit, ein disembodiment an. Demgegenüber steht ein Doppelgängermotiv in Bezug auf den Jungen: Kaia scheint nicht (mehr) anwesend zu sein, der Junge verkörpert nun das, was sie nicht leisten kann. Durchweg bleibt er stark unterdeterminiert, und Kaia scheint auch nur wenig über ihn zu wissen. Oft taucht er plötzlich und unvermittelt auf: „Ich weiß nicht, wo er wohnt. Weiter weg als ich, so viel ist klar. Manchmal geht er mit mir. Leise kommt er angerannt und plötzlich ist er neben mir“ (ebd., 44). Kaia und der Junge haben einige Gemeinsamkeiten: Beide sprechen nicht, beide neigen dazu, andere anzustarren. Sie sind Außenseiter in der Klasse, und sie arbeiten nur sporadisch im Unterricht mit (vgl. u.a. ebd., 32). Auffällig sind die vielen Verweise zu (wilden) Tieren, die Kaia stets in Zusammenhang mit dem Jungen macht. Bereits bei seiner Ankunft erzählt Kaia: „Der Junge tauchte wie eine Ente unter dem Fensterrahmen ab“ (ebd., 7). Später stellt sie fest: „Ich mag den Jungen. Er ist wild. Er macht all den Idioten und Hyänen in meiner Klasse Angst; ich sehe, wie sie sich ducken, wenn er vorbeigeht“ (ebd., 19). 175 Wildheit bleibt das durchweg vordergründigste Charakteristikum des Jungen, er erhält keinen Namen, stattdessen bezeichnet Kaia ihn oft als „wilder Kerl“ oder „wilder Junge“ (vgl. u.a. ebd., 18, 23, 25, 83). Wie Kaia spricht der Junge nicht – aber er knurrt: „Zähnefletschend und knurrend war er durch unsere Pausen gestreift. An einem Tag war er nicht da, am nächsten stand er in der Tür unseres Klassenzimmers […]“ (ebd., 28). Gerade das Knurren wird wiederholt hervorgehoben (vgl. ebd., 10, 25, 28, 29, 55, 74, 122), und diese Seite des Jungen fasziniert Kaia besonders. Sie kommentiert: „Wilde Tiere sind ungestüm und gefährlich und frei“ (ebd., 19) und überlegt: „Tiere entschuldigen sich nicht, oder? Sie bedanken sich auch nicht. Tiere fühlen keinen Schmerz“ (ebd., 41). Es drängt sich die Vermutung auf, dass Kaia ihren Wunsch nach Heilung und Stärke in einen imaginären Freund, in einen Doppelgänger projiziert. Ihm macht – im Gegensatz zu ihr – Schmerz nichts aus, anders als sie kann er sich in seiner Wildheit sogar unter den „Hyänen“ (ebd., 19) der Klasse behaupten. Er tut das, wovon Kaia bislang nur geträumt hat: Der Junge war wirklich wild. Ich habe immer bloß davon geträumt, auf Tische zu springen. Er hat es einfach gemacht und dann die Decke angeheult. Wenn die Klasse über einen von Mr Wills’ dämlichen Witzen lachte, sah der Junge erst ganz perplex aus der Wäsche, dann klatschte er in die Hände und bellte, als würde er lachen. Er zerriss Bücher, kaute auf Stiften, kam und ging, wie es ihm gefiel. Keiner wusste, was er von ihm halten sollte. Ich fand ihn großartig (ebd., 32f.). Auch die Physiognomie des Jungen entspricht dieser Wildheit. Wenn Kaia sein Aussehen beschreibt, dann sind es oft sein starrender Blick sowie seine blitzenden grauen Augen (vgl. u.a. ebd., 13, 20,21, 25, 28, 33, 76, 81, 92, 93, 96, 112, 113, 126). In ihrer Beschreibung erinnert sein Gesicht an das eines Tieres: Einen Moment lang betrachtete ich sein kantiges Gesicht – die spitze Nase, die dicken, schwarzen Augenbrauen, das markante, vorspringende Kinn –, dann starrte ich wieder in den Himmel (ebd., 27). Dass Kaia dem Jungen ihre Sorgen erzählt, hilft ihr bei der Verarbeitung ihres aufgestauten Schmerzes, und sie orientiert sich auch konkret an ihm („Ich sprang auf, fast so, wie es der Junge getan hätte“; ebd., 76). Textuelle Diskrepanzen Die bereits genannten Hinweise sind eher impliziter Art. Es finden sich aber auch deutlichere textuelle Inkongruenzen bezüglich der Identität des Jungen, so kommt es zwischen der Erzählerrede und der Figurenrede anderer Figuren zu Auffälligkeiten. Kaia weist beispielsweise erst darauf hin, dass sie Selbstgespräche führe: 176 Mum sagt, dass ich keine Selbstgespräche führen soll, weil mich das sonst verrückt macht. Ich glaube, dafür ist es zu spät (ebd., 21). An anderer Stelle sagt sie dann über ihre Gespräche mit dem Jungen: „Mit ihm zu reden ist wie Selbstgespräche führen“ (ebd., 37). Vor allem aber lassen sich Inkongruenzen zwischen der Erzählerrede und den Äußerungen und dem Verhalten der anderen Figuren zeigen. Kaias Erzählung vermittelt oft den Eindruck, die anderen Figuren bemerkten den fremden Jungen – es lassen sich jedoch immer wieder Hinweise finden, die darauf hinweisen, dass eben dies nicht geschieht. Es manifestieren sich so verschiedene mögliche Lesarten, deren Ambivalenz maßgeblich für die erzählerische Unzuverlässigkeit in Der Schatten meines Bruders ist. Gelegentlich weist Kaia darauf hin, dass andere den Jungen sehen. Dies passiert zum Beispiel, als Kaia sich mit dem Schulpsychologen, Harry, unterhält: Am Nachmittag habe ich mich auf dem Flur mit Harry unterhalten. Harry versuchte, den Jungen im Blick zu behalten. Der Junge zog Kreise wie ein Vogel am Himmel, bevor er herabstößt. Aber ich wollte mit Harry reden (ebd., 65). An anderen Stellen geht Kaia davon aus, dass die anderen den Jungen sehen – deren Reaktionen sind diesbezüglich aber nicht eindeutig. So hört Kaia Poppy in der Bibliothek: Da stand ich und starrte auf das Bild eines rothaarigen Jungen, der auf einer Schaukel saß – ich hatte Luzie das Buch lesen sehen –, als ich ein Flüstern hörte und sofort wusste, über wen sie redeten: den Jungen. „… bloß so’n Irrer. Läuft rum und glotzt.“ (ebd., 23) Kaia bezieht das Schimpfwort auf den Jungen. Gleichwohl könnte Poppy hier aber auch Kaia meinen, die sich ja auch durch Schweigsamkeit und Starren auszeichnet und deswegen oft von Poppy geärgert wird. Es entsteht eine Doppelsinnigkeit, die in der englischen Originalfassung noch deutlicher wird. Hier heißt es: „… just a weirdo. Wandering around, staring“ (Avery 20142, 23). Das geschlechtsneutrale englische Wort „weirdo“ (ebd., 23) gibt – anders als das maskuline deutsche Wort „Irrer“ (Avery 2014, 23) – keine eindeutige Zuordnung vor. Ähnliche Situationen ergeben sich an weiteren Stellen, an denen die deutsche Übersetzung deutlich weniger vage ist als das Original und eine Lesart (Kaias Deutung stimme) zu unterstützen scheint. Zu Beginn hört Kaia: Als Dev und seine idiotischen Freunde an mir vorbeilaufen, höre ich, wie Dev ihn Wilder nennt. Natürlich zischt er das bloß und sagt es ihm nicht ins Gesicht (ebd., 19, Hervorhebg. im Orig.). Es scheint unwahrscheinlich, dass Dev mit „Wilder“ (ebd., 19, Hervorhebg. im 177 Orig.) Kaia meint. Im Englischen stellt sich dies jedoch erneut anders dar: I hear Dev calling him ‘Wild Child’, not to his face of course, but in a whispered hush as he and his idiot friends scuttle past me (Avery OA 2014, 13). Hier liegt es viel näher, Kaias Erzählung anzuzweifeln, zumal sie auch das Pronomen „me“ (ebd.) und nicht ‚us‘ verwendet. Als Kaias Lehrer der Klasse heißersehnte Zettel für die Zuordnung zu einem Fahrradkurs austeilt, ist Kaia zuletzt an der Reihe: „Und zu guter Letzt“, sagte der Lehrer, „bitte sehr!“ Dann lächelte er mich und den Jungen an. „Ihr verdient es“, sagte er und reichte uns unsere Zettel (Avery 2014, 88). Im Englischen heißt es: ‘Last but not least,’ the teacher said, ‘here you go.’ Then he smiled at me and the boy. ‘You deserve it,’ he said and handed us a letter of our own (Avery OA 2014, 116). Hier wird nicht klar, ob „you“ in singulativer oder in pluraler Bedeutung zu verstehen ist. Ebenfalls anders als es in der Übersetzung der Fall ist, wird zudem deutlich, dass der Lehrer nur einen Brief („a letter of our own“; ebd.) anstelle von ‚letters of our own‘) überreicht, was nun als ein klares Signal für eine Deutung als Fantasie zu verstehen ist. Im Originaltext fallen die wiederholt vorkommenden Doppelsinnigkeiten auf. Gerade an diesen Stellen manifestiert sich eine erzählerische Unzuverlässigkeit, die in der deutschen Übersetzung, in der eine andere Lesart präferiert wird, verloren geht. Viele weitere Hinweise deuten darauf hin, dass der Junge nicht anwesend ist. Oft scheint er von den anderen Figuren gar nicht bemerkt zu werden: „Keiner redete über den Jungen, wie es sonst üblich war“ (Avery 2014, 23) / „Niemand sprach über den Jungen“ (ebd.) / „Unser Klassenlehrer hatte uns den neuen Schüler nicht vorgestellt. Wir kannten ihn sowieso alle“ (ebd., 28). Als der Junge in der Schulkantine beim Mittagessen einen Lehrer mit Erbsen bewirft, muss Kaia, und nicht der Junge, anschließend in den Auszeit-Raum (vgl. ebd., 39). Schließlich lassen sich auch deutliche Ungereimtheiten im Text finden. So schildert Kaia, der Junge „hockte wie eine Amsel auf einem Tisch zwischen den Regalen, die Knie hochgezogen bis zur Brust, die Zehen um eine Stuhllehne gekrallt“ (ebd., 12). Diese Position scheint tatsächlich kaum möglich. Auch Kaias Aussage, der Junge habe in der Schule gewohnt, ist mehr als unwahrscheinlich: Mr Wills sagte, ich solle draußen warten. Was ich nicht tat. Ich ging in die Bibliothek. Eine Zeit lang hat der Junge hier zwischen den Büchern gewohnt. Ich sehe seine 178 Sachen immer noch vor mir; einen bestimmten Stuhl, aus dem man ein Bett machen kann, und einen Schlafsack mit lauter Bildern von Autos darauf (ebd., 74). Am Ende des Romans wird eine Auflösung der Unzuverlässigkeit angedeutet. Als Kaia im Krankenhaus aufwacht, ist der Junge nicht da: „Der Junge“, versuchte ich es noch einmal. „Er muss mit mir eingeliefert worden sein. Er war auch an dem Unfall beteiligt.“ Die Ärztin starrte mich immer noch an, dann sprach sie ganz langsam, so als hätte sie es mit jemand sehr Begriffsstutzigem zu tun. „Du bist allein eingeliefert worden, Kaia. An dem Unfall war sonst niemand beteiligt. Oder meinst du den Fahrer? Er ist nicht verletzt.“ Jetzt traten mir die Tränen in die Augen. „Nicht der Fahrer“, sagte ich. „Der Junge, der Junge.“ Die Ärztin machte einen Schritt auf mich zu und legte mir die Hand auf die Schulter. „Ich sehe jetzt nach dem Essen, Liebes, danach machen wir noch ein paar Untersuchungen.“ Ich antwortete nicht, sah der Ärztin aber nach, als sie durch die Tür verschwand (ebd., 136f.). Zwar scheint hier eine Antwort angezeigt – doch direkt im Anschluss findet Kaia einen Zettel, als dessen Verfasser sie den Jungen wähnt. Abschließend wird so die vermeintliche Auflösung doch wieder infrage gestellt: Eine Weile lag ich wie vor den Kopf geschlagen da, meine Gedanken rasten. Dann erinnerte ich mich an den Zettel, den ich in meiner Bademanteltasche gefunden hatte. Er war immer noch in meiner Hand. Ich hielt ihn dicht vor mein Gesicht. In großen hingekritzelten Buchstaben, Buchstaben von jemandem, der das Schreiben nicht gewohnt war, standen nur drei Worte darauf. „Leb wohl, Freundin.“ (ebd., 137) Einordnung Für Der Schatten meines Bruders lässt sich unter Rückbezug auf die definierten Untersuchungsparameter zusammenfassend festhalten: Themen und Motive Die Hauptthemen des Romans – der Umgang mit Trauer und die Bewältigung eines Traumas – sind Themen, die durchaus in jugendliterarischen Texten vorkommen, jedoch keine Themen, die ihnen vorbehalten sind. Durch die Imagination ihres Freundes wird implizit auch das Thema ‚Fantasie‘ verhandelt sowie ein Doppelgängermotiv generiert: Kaia schafft mit dem imaginierten Jungen ein Alter Ego, das wilder und tougher ist als sie, und das ihr bei der Bewältigung ihrer Probleme hilft. Parallel wird eine Körperlosigkeit (disembodiment) der Erzählerin angedeutet, die sich in ihrer Passivität zu verlieren droht. Gerade dieses Motiv ist im Kontext des unzuverlässigen Erzählens von hoher Bedeutung; auch ein dem Roman enthaltenes Traummotiv ist hier festzuhalten. Das Thema ‚Erzählen‘ ist durchweg präsent, besonders manifestiert sich dies in 179 Leseranreden, Hervorhebungen von Schreibprozessen und einer insgesamt sehr poetischen Sprache. Erzählsituation Senderin der Unzuverlässigkeit ist die Ich-Erzählerin Kaia. Die Erzählanlage ist als extradiegetisch-autodiegetisch bestimmbar, die Erzählsituation ist höchst subjektiv und nicht immer eindeutig. Die Fokalisierung ist fixiert intern an Kaia gebunden, deren Wahrnehmungen nicht zu trauen ist. Die erzählerische Unzuverlässigkeit resultiert aus dieser Erzählanlage, und sie manifestiert sich vor allem in einem unklaren ontologischen Status der Figur des wilden Jungen: Erst nach und nach erschließt sich, dass der Freund der Erzählerin nur imaginiert ist. Die Modellierung der Erzählerfigur Die noch kindliche Ich-Erzählerin ist kaum in der Lage, mit dem Suizid des Bruders umzugehen, ihre Unzuverlässigkeit ist ein direktes Resultat und ein Spiegel ihrer schwierigen psychischen Lage. Sie ist passiv, zurückgezogen und beschreibt sich selbst als „erstarrt“ (vgl. z.B. 11). Kaias fragile psychische Disposition ist für die erzählerische Unzuverlässigkeit von höchster Bedeutung. Markierung der erzählerischen Unzuverlässigkeit Textuelle Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit nach Nünning stellen sich, so wurde gezeigt, sowohl in Form von Diskrepanzen in der Erzählerrede dar, als auch als hohe Subjektivität, die Kaias Erzählung auszeichnet. Es finden sich keine Hinweise auf erzählerische Unzuverlässigkeit im Paratext. Weitere Beschaffenheit der erzählerischen Unzuverlässigkeit Kaias Unzuverlässigkeit ist als durchgängig einzuschätzen, eine Auflösung wird am Ende implizit angedeutet. Obwohl dieser impliziten Auflösung am Romanende abschließend noch ein gegenläufiges Signal entgegengesetzt wird, gibt es eine klar zu präferierende Lesart: Zahlreiche Signale unterstützen die Deutungsweise, dass es sich bei dem Jungen um eine Imagination Kaias handelt. Die Unzuverlässigkeit ist als mimetisch (nach Martínez und Scheffel) bzw. täuschend (nach Köppe und Kindt) charakterisierbar. Intermedialität/Intertextualität Intermediale bzw. intertextuelle Referenzen kommen in Der Schatten meines Bruders nicht vor. 180 Funktionen Der erzählerischen Unzuverlässigkeit kommt eine interne literarische Funktion in Averys Roman zu; sie dient insbesondere der Charakterisierung der Erzählerfigur sowie dem Spannungsaufbau. Durch die Unzuverlässigkeit der Erzählerrede wird Kaias emotionale Überforderung deutlich. 181 In meinem Kopf hat sich alles, was geschehen ist, vermischt und sich zu einem schönen, glatten Ball geformt. Den muss ich nur noch ins Tor schießen und Süleyman wird mir dabei helfen. Er muss mir helfen, denn seit ich in der Küche auf ihn gestoßen bin, ist Süleyman mein Sklave. So ist es. Und so wird es klappen. (van Ranst 2010, 116) 3.2.2 Do van Ranst: Mütter mit Messern sind gefährlich Der Jugendroman wurde im Jahr 2008 unter dem niederländischen Originaltitel Moeders zijn gevaarlijk met messen von der belgischen Davidsfonds Uitgeverij (Leuven) herausgegeben. Er erschien 2010 in deutscher Übersetzung von Andrea Kluitmann im Hamburger Carlsen Verlag unter dem Titel Mütter mit Messern sind gefährlich. Der Roman hat 158 Seiten und wird vom Verlag für Jugendliche ab vierzehn Jahren empfohlen. Wie es bei Averys Roman der Fall ist, ist auch die Erzählinstanz in Mütter mit Messern sind gefährlich als noch sehr kindlich einzuschätzen: In beiden Romanen ist dies von hoher Bedeutung für die Unzuverlässigkeit der Erzählung. Auch van Ransts Erzähler ist psychisch stark belastet, seine vermeintlichen Lösungswege sind höchst problematisch. Inhalt, Themen, Motive Der dreizehnjährige Jef lebt mit seiner Mutter Bekka und seiner älteren Schwester Iene in einem Hochhaus. Iene ist geistig und körperlich behindert: Sie kann nicht sprechen und ist, da sie ihren Körper nicht kontrollieren kann, tagsüber an einen Rollstuhl fixiert. Jef formuliert: „Sie hat den Körper einer Sechzehnjährigen, aber den Verstand eines dreijährigen Kindes. Das jedenfalls sagen die Ärzte“ (van Ranst 2010, 11). Jefs bester Freund Süleyman ist vierzehn Jahre alt, er wohnt sechs Etagen weiter oben im gleichen Haus. Gemeinsam beobachten die beiden oft die anderen – mitunter skurrilen – Bewohner des Hochhauses. Außerdem gibt es noch Harry, den neuen Freund von Jefs Mutter, den der Junge nicht ausstehen kann. Jef will nicht, dass sich die Dinge ändern – am liebsten würde er weiter nur mit seiner Mutter und Iene leben. Er sieht nicht, wie anstrengend das Leben für seine Mutter ist, und auch nicht, wie sehr sie sich für ihre Kinder aufopfert. Harry betrachtet er entsprechend als Eindringling, und als immer wieder Besitztümer der Mutter verschwinden, meint Jef, Harry sei dafür verantwortlich – beweisen kann er seinen Verdacht aber nicht. Jef ist davon überzeugt, dass seine Mutter seinen Vater getötet hat, als er noch kleiner war: In Notwehr habe sie ihren Mann erstochen, als 182 dieser sie im Alkoholrausch angegriffen hatte. Damit habe sie nicht nur ihr Leben, sondern auch das ihrer Kinder gerettet. Einen vermeintlichen Blutfleck im Wohnzimmer betrachtet Jef als Beweis der Tat. Im Keller findet Jef im Abfall einen verpackten Hundekadaver. Er möchte Süleyman, den er eigentlich gesucht hat, von seinem Fund erzählen, doch als Jef zurück in seine Wohnung kommt, sieht er Süleyman ein Höschen der Mutter aus der Wäscheschublade stehlen. Süleyman gesteht, Bekka „großartig“ (ebd., 112) zu finden und ihre Sachen aus diesem Grund entwendet zu haben. Jef entwickelt daraufhin einen Plan, wie er Süleyman bestrafen und gleichzeitig Harry loswerden kann: Er möchte Harry „wegjagen“ (ebd., 149), indem er ihn davon überzeugt, dass seine Mutter seinen Vater umgebracht hat. Jef droht Süleyman, ihn zu verraten, und er erpresst ihn, ihm bei der Durchführung seines Plans zu helfen. Er zwingt ihn, den verwesenden Hundekörper auszupacken, zum Waldrand zu bringen und dort auszuweiden. Jef verbrennt und begräbt die Knochen, Harry soll sie später für die Knochen des vermeintlich getöteten Ehemannes halten. Sein Plan geht jedoch nicht auf; Bekka und Harry reagieren relativ gelassen auf sein „Quertreiben“ (ebd., 139), und Harry glaubt nicht, dass es sich um die Gebeine des Mannes handelt. Es kommt zur Aussprache von Mutter und Sohn, und Jef beginnt zu verstehen, dass er es ist, der sich ändern muss. Der Roman endet mit einer Auflösung: Jef beginnt eine Therapie, und seine Mutter begibt sich auf einen einwöchigen Urlaub. Eine Lösung der Probleme des Jungen wird durch den Beginn der Therapie allerdings nur in Aussicht gestellt, seine Schwierigkeiten sind noch nicht überwunden. In erster Linie geht es in dem Roman um die Probleme des noch kindlichen Protagonisten: Jef gelingt es nicht, sich von der Mutter zu lösen, und er projiziert seine Verlustängste in aggressive Ablehnung gegenüber dem neuen Freund der Mutter. Anstehende Coming-of-Age-Prozesse Jefs werden dabei lediglich angedeutet. Mitverhandelt werden Themen wie der Verlust eines Elternteils, Behinderung und Verantwortung, aber auch Freundschaft, (mangelnder) Respekt und Fremdenfeindlichkeit. Immer wieder findet sich das Motiv des Messers. Erzählerische Unzuverlässigkeit Die erzählerische Unzuverlässigkeit in Mütter mit Messern sind gefährlich zeigt sich deutlich im Titelbezug: Wiederholt erzählt Jef, seine Mutter habe seinen Vater getötet (vgl. z.B. ebd., 7f., 9, 42f., 79), doch zunehmend wird klar, dass dies nicht der Wahrheit entspricht. Analog manifestiert sich die erzählerische Unzuverlässigkeit: Je deutlicher sich die Figurenkonzeption des Ich-Erzählers entfaltet, desto 183 klarer wird, dass er nicht nur kindlich und naiv, sondern nahezu zwanghaft regressiv ist und das Unvermögen, mit seiner Lebenssituation umzugehen, mit Wut, Aggression, Verdrängung und Projektion zu lösen versucht. Die mündlich anmutende Erzählung ist dabei höchst subjektiv an Jefs (unzuverlässige) Wahrnehmung gebunden. Dass er sich oft von der Wahrheit entfernt, wird zusätzlich durch zahlreiche Spekulationen und Imaginationen des Erzählers markiert. Paratext Dem Romantext vorangestellt findet sich ein Zitat der britischen Rockband The Pretenders: „It’s a thin line between love and hate“ (ebd., 5) aus dem beinahe gleichnamigen Song („Thin line between love and hate“; ebd., 1984; Originalfassung 1971 von der US-amerikanischen R&B Band The Persuaders). Der Zitatinhalt liefert zunächst einen proleptischen Ausblick auf Jefs Innenleben, der im Roman Gefühle in ihr vermeintliches Gegenteil wandelt. Seinen aus der Liebe zu Mutter und Schwester resultierenden Verlustängsten verleiht der Junge Ausdruck in Form von Wut und Hass gegenüber Harry. Betrachtet man den zitierten Song genauer, fällt auf, dass die Prolepse nicht nur Jefs emotionale Ambiguität betrifft, sondern dass sie auch auf das Mutter-Sohn-Verhältnis vorverweist. In der ersten Strophe des Lieds wird ein fiktives ‚du‘ angesprochen, das frühmorgens nach Hause kommt und dort fürsorglich von einer Frau empfangen wird. Der anschließende Refrain lautet: The sweetest woman in the world Could be the meanest woman in the world If you make her that way You keep hurting her She'll keep being quiet She might be holding something inside That'll really, really hurt you one day (The Pretenders, 1984). Hier wird eine familiäre Situation beschrieben, die sich, ebenso wie die Situation im Roman, durch ein Ungleichgewicht auszeichnet: Wie auch die Frau im Lied opfert sich Jefs Mutter ohne Rücksicht auf ihr eigenes Glück für einen anderen auf. Zweimal wird im Refrain weiteres Unglück angekündigt: durch die paradoxe Gleichsetzung ‚the sweetest/the meanest woman‘, die auf einen Verhaltenswechsel der Frau deutet, sowie durch die Aussage „that’ll really, really hurt you one day“ (ebd.). Jefs Mutterbild im Roman ist ähnlich ambivalent; für ihn hat seine Mutter zwei Seiten: die Seite der ihn liebenden, fürsorglichen Mutter sowie die der ihn ablehnenden, vernachlässigenden Mutter. Wie es das angesprochene ‚du‘ des Pretenders184 Song mit der Frau tut, behandelt auch Jef seine Mutter schlecht, und wie im Song ist Jef für die Opferrolle, die sie daraufhin einnimmt, mitverantwortlich. Die RefrainProlepsen des Pretenders-Songs, die bereits vermuten lassen, dass sich die schlechte Behandlung der Frau rächen werde, werden dann in der zweiten Strophe des Lieds wahr, als das angekündigte Unglück eintritt. Bemerkenswert an der Version des Lieds von den Pretenders ist, dass sich hier ein signifikanter Unterschied zur Originalfassung der Persuaders von 1971 findet. Im Original rächt sich die Frau an ihrem Mann, und er findet sich in der Folgestrophe im Krankenhaus wieder: Yeah I'm layin’ in the hospital Bandaged from feet to head In a state of shock Just that much from bein’ dead I didn't think my woman Would do something like this to me Didn't think my girl had the nerve Here I am, I guess Actions speak louder than words (The Persuaders 1971). In der im Roman zitierten Version der Pretenders ist es die Frau, die im Krankenhaus liegt. In beinahe gleichem Wortlaut wird die Situation verkehrt: I see her in the hospital Bandaged from foot to head In a state of shock Just that much from being dead You couldn't believe the girl Would do something like this, ha You didn't think the girl had the nerve But here you are I guess action speaks louder than words (The Pretenders, 1984). Hier wird ein Suizidversuch der Frau nahegelegt. Die Frau bei den Pretenders rächt sich nicht an dem, der ihr den Schaden zugefügt hat, sie hält aber die Situation nicht aus und versucht, ihr durch Selbstmord zu entgehen. Diese Situation lässt sich leichter als die des Originals auf den Roman übertragen; ein tätlicher Angriff Bekkas auf ihre Kinder wäre unwahrscheinlich. Auch der Bandname The Pretenders kann als paratextuelles Signal erzählerischer Unzuverlässigkeit gedeutet werden; er liefert einen Hinweis darauf, dass im Folgenden etwas vorgegeben werden könnte, das nicht wirklich den Tatsachen entspricht. Aufbau Die Erzählung beginnt mit einer kursiv gesetzten Passage, in der Jef schildert, dass (und wie) seine Mutter seinen Vater umgebracht hat. In ultimas res beginnt er diese fiktive Geschichte mit den Worten: „Meine Mutter hat meinen Vater mit 185 einem Messer ermordet“ (van Ranst 2010, 7; Hervorhebg. im Orig.). Detailliert schildert der Junge im Folgenden, wie Bekka einen Angriff ihres betrunkenen und gewalttätigen Ehemanns abwehrt und ihn schließlich in Notwehr ersticht (vgl. ebd., 7f.). Jefs Erzählung ist in dieser Passage intern fokalisiert und an die Wahrnehmung der Mutter gebunden; er weiß, was in ihrem Kopf vorgeht, als sie das Messer auf dem Couchtisch liegen sieht: Mit diesem Messer hatte sie am Abend Käse geschnitten, um ihn vor dem Fernseher zu essen. Das machte sie sonst fast nie. Einen Moment wunderte sie sich über den Zufall, griff dann mit letzter Kraft nach dem Messer und stach blindlings zu (ebd., Hervorhebg. im Orig.). Jefs Sprache ist dabei durchaus poetisch; so verwendet er unter anderem Wortspiele und Sprachbilder („Trunken vor Bier und Wut kam er auf sie zu, die Hände wie Klauen nach ihr ausgestreckt“; ebd.; Hervorhebg. im Orig. / „Er trat einen Schritt zurück, um Gleichgewicht ringend wie ein Seiltänzer“; ebd., 8; Hervorhebg. im Orig.). Obwohl seine Schilderungen beinahe szenisch und in ihrer Bildlichkeit sogar dramatisch anmuten, wird durch die gewählte Vergangenheitsform, die poetische Sprache sowie den einleitenden Satz, der die nachfolgenden Ausführungen zusammenfasst, ein narrativer Modus generiert. Es wird eine Ausgangssituation geschaffen, auf der die gesamte Romanhandlung basiert: Jef inszeniert sich nicht nur als Berichterstatter, als Kenner (der Geschichte) seiner Mutter – er stellt auch die Behauptung auf, dass sie ihren Mann getötet habe. Dieser einleitenden Passage folgen vierzehn nummerierte Kapitel, die jeweils mit proleptischen Überschriften, zum Teil in Form von Zitaten, versehen sind. Abgesehen von einigen Analepsen ist die Erzählweise chronologisch. Im Unterschied zur einleitenden Passage ist der Modus der Erzählung in den Kapiteln (fixiert) intern fokalisiert und an die Wahrnehmung des Ich-Erzählers Jef gebunden. Zu keinem Zeitpunkt gibt Jef (proleptische) Hinweise auf den weiteren Fortgang der Geschichte, und die durchweg präsentische, nun autodiegetische Erzählung mutet wie gleichzeitiges Erzählen an. Die erzählte Zeit ist nicht klar definiert, gerade da sich an den Kapitelübergängen immer wieder Ellipsen finden. In etwa dürfte es sich um einen relativ kurzen Zeitraum von ein paar Tagen handeln – der anfangs in der Mülltonne gefundene Hundekörper ist auch am Ende noch vorhanden, die Müllabfuhr ist also noch nicht dagewesen. Der Modus ist deutlich dramatischer, die Sprache weniger poetisch als in der Eingangspassage, stattdessen oft drastisch und umgangssprachlich. Zudem finden sich oft lange Dialogsequenzen und viele szenisch erzählte Passagen. Die präsentische Erzählweise in den Kapiteln erhöht ebenfalls den Eindruck von Unmittelbarkeit. 186 Ein letztes (nicht nummeriertes) Kapitel ist mit „Schluss. Nicht irgendein Messer“ (ebd., 154) überschrieben. Aus einiger zeitlicher Distanz erzählt Jef, wie es ihm inzwischen geht und was in der Zwischenzeit geschehen ist. Er rekapituliert in iterativ-raffender Form: „Ich gehe jetzt jede Woche zu einer Frau, mit der ich über all diese Dinge rede“ (ebd., 155). Die Konzeption des Ich-Erzählers Zu Beginn des Romans erscheint der Erzähler als ein für sein Alter sehr kindlicher und naiver Junge. Er spielt mit Süleyman im Treppenhaus, träumt davon, Kapitän eines Schiffes zu sein: „Ich stehe am Ruder, Mama kocht und Iene sitzt auf dem Deck in der Sonne“ (ebd., 29). Sein Alltag ist durch Spielen, insbesondere durch Rollenspiele mit Iene oder Süleyman gekennzeichnet, und im Spiel herrscht für Jef ein kindlicher Spielernst, an den er sich in regressiver Weise klammert. Dabei kümmert sich Jef liebevoll um seine behinderte Schwester: Ich mache es so: Ich nehme einen Zipfel von Ienes Bettlaken und wische die Spucke damit ab. Das mache ich jetzt auch. Ich wische ihre Nase, ihre Mundwinkel und ihre Wangen sauber. „So“, flüstere ich (ebd., 53). Er wird so zunächst als noch sehr kindliche und dabei liebenswerte Figur inszeniert. Im Unterschied zu Jef zeigt Süleyman klar pubertäre Verhaltensweisen. Vor allem manifestiert sich Süleymans sexuelle Entwicklung in einem hohen Interesse an Brüsten. Besonders der Busen von Mariewivine Staas, einer Nachbarin, die von den beiden Jungen aufgrund einer Behinderung „Klumpfuß“ (ebd., 46) genannt wird, hat es Süleyman angetan: „Manchmal fantasiere ich davon“, sagt Süleyman. „Wovon?“ „Ihren Titten.“ Ich höre mich das Wort wiederholen und – für meine Verhältnisse – ziemlich gestört lachen (ebd., 48). Durch Süleymans Interesse angestoßen, setzt sich auch Jef im Folgenden mit Brüsten auseinander, doch als er an Mariewivine denkt, bemerkt er: Ich tue mein Bestes, Brüste zu sehen, aber das Einzige, was ich mir klar und deutlich vorstellen kann, ist ein Schuh mit dicker Sohle. „Also, bei mir bewegen sie nichts“, sage ich schließlich (ebd., 49). Am selben Abend schleicht er sich zu seiner Schwester und betrachtet den Körper des schlafenden Mädchens. Seine Gedanken wandern über diese Betrachtung jedoch nicht zu sexuellen Themen, der Anblick der Schwester führt dazu, dass Jef sich Gedanken über Familie und über seinen Vater macht. Der Erzähler sieht sich 187 zwar durch seinen Freund wiederholt mit adoleszenten Themen konfrontiert, in seiner Gedankenwelt sind jedoch andere Themen wichtig. Erst am Romanende markiert Jef mit seinem Urteil über die Psychologin („Aber sie hat wunderschöne Brüste“; ebd., 156), dass er nun doch einen Schritt in Richtung einer adoleszenten Entwicklung gegangen ist. Zunächst ist dies aber nicht der Fall, stattdessen fallen Jef die Veränderungen an seinem Freund auf. Als Süleyman über Jefs Mutter spricht, denkt Jef: „Der Stiesel ist tatsächlich verknallt in meine Mutter!“ (ebd., 73), und er bemerkt daraufhin: „Zum ersten Mal fällt mir auf, dass er einen Adamsapfel hat“ (ebd.). Um Süleyman abzuschrecken, versucht Jef im Anschluss, die Mordgeschichte zu authentifizieren, indem er ihm den vermeintlichen Blutfleck zeigt. Jef fühlt sich von Süleyman verraten, und der Freund wird für ihn zur Bedrohung. Vor allem aber zeigt sich zunehmend eine tiefe Wut, die Jef darüber empfindet, dass seine Mutter einen neuen Freund hat. Zunächst tritt Harry nicht in Erscheinung, und Jef formuliert: „Aber über ihn will ich eine Weile nichts sagen“ (ebd., 11). Später beschreibt er: „Er hat einen Geruch, von dem mir schlecht wird“ (ebd., 21), und er beschwert sich über den […] Lärm, den er macht, wenn er redet und wenn er läuft oder sich hinsetzt, wenn er isst und trinkt, wenn er etwas aus dem Schrank nimmt, wenn er auf dem Klo sitzt sogar wenn er nur mit den Augen zwinkert […] (ebd., 21). Der Erzähler kann keine Argumente vorbringen, was an Harry ‚falsch‘ ist – vielmehr ärgert er sich allein über dessen Existenz. Jef weiß nahezu nichts über seinen leiblichen Vater, über sein Aussehen spekuliert er anhand der Gesichtszüge seiner Schwester: Also muss mein Vater ein Mann mit wenig Platz zwischen den Augen gewesen sein, denn das hat sie bestimmt von ihm. Und seine Augenbrauen, solche, die ineinander übergehen. Die hat Iene nämlich auch (ebd., 56). Tatsächliche Informationen über den Vater gibt es – abgesehen von seiner angeblichen Ermordung – nicht. Auch wenn Jef sein Bedürfnis nach Information nicht explizit äußert, zeigt es sich doch in seinem Verhalten. Gerade die Dringlichkeit, mit der er bei der Mutter nach der ritualisierten vermeintlichen Mordgeschichte verlangt, ist hier beispielhaft (vgl. z.B. ebd., 42). Zu Jefs Verlustängsten mischt sich Eifersucht gegenüber Süleyman, und er entschließt sich dazu, sowohl Süleyman als auch Harry „loswerden“ (ebd., 67) zu wollen. In seinem Zimmer imaginiert er: 188 Wohin gehen wir?, fragt Süleyman in meiner Vorstellung. „Mexiko.“ Vielleicht ist er [d.i. Jefs Vater, N.W.] ja dort. Mit einem knallroten Sombrero auf dem braun verbrannten Kopf. Er sitzt auf einem gammeligen Mofa, eigentlich einem Scooter. Er transportiert Hühner. Oder Kisten mexikanisches Bier. Er singt „O sole mio!“ und denkt an uns. Wie es früher war (ebd., 69). Das ist in erster Linie ein Widerspruch zur Mordgeschichte, und es wird deutlich, dass Jef an ihr zweifelt. Auch wenn der Junge nicht direkt sagt, dass er hier von seinem Vater spricht, wird dies doch klar. Eine massive unterdrückte Sehnsucht des Jungen nach seinem Vater wird hier angedeutet. Jefs Konzeption als für sein Alter außerordentlich kindlich und naiv wird im Laufe der Erzählung um eine wütende, aggressive, teilweise rassistische und schließlich gewalttätige und sadistische Dimension erweitert. Besonders deutlich zeigt sich dies in Jefs Verhalten gegenüber seinem Freund Süleyman. Immer wieder beschimpft er ihn und spricht in herablassender Weise mit ihm und über ihn (vgl. z.B. ebd., 95). Die Situation eskaliert, als Jef Süleyman beim Stehlen erwischt und damit Macht über ihn erhält. Jefs Verhalten wird immer gemeiner, er erpresst, erniedrigt und demütigt Süleyman, zwingt ihn, den übelriechenden Kadaver des Hundes auszuweiden, und er stört sich weder daran, dass Süleyman weint, noch dass er völlig blutverschmiert ist. Im Gegenteil: Er charakterisiert und beschimpft ihn als „Schleimscheißer“ (ebd., 125) und als „Schlappschwanz“ (ebd., 127). Die Figurenanlage des Protagonisten ist insofern von Bedeutung für die erzählerische Unzuverlässigkeit, als dass sich seine höchst bedenkliche psychische Konstitution erst allmählich entfaltet. Der Erzähler stellt sich so als sehr vielschichtige Figur dar: Eine grundsätzlich liebenswerte und fantasievolle Seite wird um eine nahezu unkontrollierbare wütende Seite ergänzt. Jef beherrscht seine Gefühle nicht: Er projiziert seine Ängste in einen gnadenlosen Hass gegenüber Harry, und er lässt ihn wiederum an seinem (schwächeren) Freund Süleyman aus. Die Geschichte des Gattenmords Immer wieder kehrt die Erzählung Jefs zu der in der Eingangspassage erzählten Situation um die vermeintliche Tötung seines Vaters zurück. Obwohl unwahrscheinlich, gibt es zunächst Signale, die dafür sprechen, dass das Ereignis tatsächlich stattgefunden haben könnte. So lebt die kleine Familie ohne Vater, und Bekka spricht auch nie von ihm. Auf dem Wohnzimmerteppich findet sich ein vermeintlicher, vertrockneter Blutfleck, und Jefs Mutter „achtet immer darauf, dass der 189 Fleck genau von einem Tischbein verdeckt wird“ (ebd., 9). Außerdem hat seine Mutter eine große Leidenschaft für Messer und ist sogar Mitglied im „Club deutscher Messer“ (ebd., 33). Sie besitzt eine Tasche ausgewählter Messer, kennt sich gut mit deren Eigenschaften und Pflege aus und ist geschickt im Umgang mit ihnen. Gleichwohl ist die Geschichte von Beginn an mit Zweifeln verbunden. So sagt Jef am Anfang des ersten Kapitels über den Hergang des vermeintlichen Mordes: „Das weiß ich von meiner Mutter, obwohl sie manchmal auch behauptet, es sei nicht so gewesen“ (ebd., 9). Die Aussage der Eingangspassage: „Meine Mutter hat meinen Vater mit einem Messer erstochen“ (ebd., 7; Hervorhebg. im Orig.) wird so noch direkt am Erzählanfang relativiert. Das Rätsel um seinen Vater lässt Jef nicht los; abends bittet er Bekka, ihm die Geschichte erneut zu erzählen: „Wie war das, Mama? Schliefen wir und griff er dich mit seinen Riesenpranken an? Und du konntest noch gerade eben nach einem Messer greifen und ihn ins Herz stechen? War es so?“ „Ganz genau so“, sagt Mama. Sie blickt müde auf ihre Hände auf dem Tisch. Sie gähnt. „Wir gehen schlafen, Jef.“ Sie will aufstehen, aber ich lege meine Hand auf ihr Handgelenk und halte mein Gesicht nah an ihres. „Und dann, Mama?“ Sie seufzt und sieht mich an, den Mund eher schief verzogen als lächelnd. Meine Augen flehen, das sehe ich daran, wie Mama aus dem schiefen Lächeln ein echtes Lächeln macht und dabei sanft den Kopf schüttelt. Dann schlägt sie mit der flachen Hand auf den Tisch und sagt: „Los, schlafen.“ „Ma-ma“, quengle ich. „Ich habe es dir schon zwanzig Mal erzählt“, sagt sie matt (ebd., 42f.). Jef ist vom fehlenden Enthusiasmus der Mutter enttäuscht, er sagt im Anschluss: „Ich kann an ihren Bewegungen sehen, dass sie aus dem Spiel ausgestiegen ist. Denn das Ganze ist ein Spiel“ (ebd., 43). Hier markiert der Erzähler selbst die Geschichte als „Spiel“ (ebd.), und es wird deutlich, dass es sich um eine Fantasiegeschichte der Mutter handelt. Jefs Eingangsaussage, er kenne den Tathergang von seiner Mutter, erklärt sich: Sie hat ihm nicht einen Mord gestanden, sie hat ihm eine Geschichte erzählt. Jef präsentiert diese Mordgeschichte allerdings immer wieder als wahr. Mehrere Schlüsse lassen sich aus diesen Beobachtungen ziehen: Zunächst lässt sich festhalten, dass Jef sich grundsätzlich durchaus darüber im Klaren ist, dass die Geschichte nicht wahr ist. Weiterhin zeigt sich in Jefs Beharren auf dem wiederholten Erzählen durch die Mutter – seine kindliche Art wird im zitierten Ausschnitt durch das Adverb „quengelnd“ (ebd.) unterstrichen –, dass er sich an diese 190 Geschichte nahezu klammert. Es wirkt, als suche Jef verzweifelt die Nähe der Mutter, die sich von ihm zu entfernen droht. Die Erzählsituation dieser Mordgeschichte ist als inszeniertes Spiel zwischen Mutter und Sohn zu verstehen, was auch die poetische Sprache der wiederkehrenden Geschichte erklärt: Die beiden haben sie schon so oft erzählt, dass sich diese Ausdrücke ritualisiert haben. Jefs Problem ist nun, dass sich die Mutter nicht mehr an die Spielregeln hält. Des Weiteren deutet die Geschichte auf Jefs erhebliche Schwierigkeiten hin, mit seiner Vaterlosigkeit umzugehen. Dass er immer wieder nach der Geschichte fragt, weist auch auf sein Interesse an Informationen über seinen Vater hin – gerade, da nun mit Harry ein neuer Mann ins Leben der Mutter tritt. Im Keller des Hochhauses erzählt Jef erneut die Mordgeschichte. Diesmal richtet er sich an Süleyman – doch dieser reagiert genervt: „Weißt du, was wirklich ein grauseliger Tod ist?“, frage ich. Erzähl’s nur, sagt Süleymans Blick. „Erstochen werden.“ „Jaha, mit einem Messer“, leiert Süleyman. „Mit einem Küchenmesser Wüsthof Grand Prix 2“, schnaube ich. „Ja, grau-s-e-lig“, sagt Süleyman gespielt entsetzt. „Meine Mutter …“ Ich mache eine Pause, weil sich das gut macht, wenn man etwas Spannendes erzählt, aber Süleyman fällt mir sofort ins Wort: „Hat deinen Vater mit einem Messer ermordet. Das hast du schon erzählt“, sagt er (ebd., 71f.). Auch Süleyman glaubt Jef nicht. Nahezu wortwörtlich gibt Jef die Geschichte der Eingangspassage ein zweites Mal wieder, doch Süleyman kommentiert: „So etwas würde deine Mutter nie tun“ (ebd., 73). Erst als sich Bekka und Jef am Feuer aussprechen, sagt sie ihm die Wahrheit darüber, was mit seinem Vater geschehen ist: „Er hat uns verlassen, weil er Iene nicht im Haus haben wollte“ (ebd., 150). Im Gespräch von Mutter und Sohn wird deutlich, wie groß das Bedürfnis des Jungen danach ist, zu erfahren, was mit seinem Vater wirklich geschehen ist. Jef sagt: „Ich wollte es immer schon wissen, aber du wolltest nie etwas sagen“ (ebd., 149). Es stellt sich zudem heraus, dass Bekka Jef tatsächlich stets gesagt hat, der Vater sei tot, obwohl dies nicht der Wahrheit entspricht. Im letzten Kapitel geht es Jef besser. Er lässt nun zu, dass Harry ins Leben seiner Mutter – und damit auch in sein Leben – getreten ist. Das Fehlen seines Vaters verarbeitet Jef weiterhin mithilfe seiner Fantasie: Zwar glaubt er nicht mehr, seine Mutter habe ihn getötet, doch erzählt er am Romanende eine abgeschwächte Version der Mordgeschichte, in der die Mutter den Vater zwar nicht umbringt, aber 191 doch verletzt. Der Vater, so erzählt (sich) Jef, lebe nun in Istanbul, und er imaginiert: Er singt immer, wenn er mit seinem Mofa durch die volle Innenstadt brettert. Manchmal tastet er nach der Narbe an seinem Knie. Vor allem, wenn das Wetter umschlägt. Ab und zu tastet er auch nach seinem Herzen. Wenn er an uns denkt. Daran, wie es auch hätte sein können (ebd., 157f.). Die Geschichte liefert Jef die einzige Möglichkeit, über den Vater zu sprechen. Sie funktioniert dabei durchweg als Indikator für Jefs Innenleben. Sie bildet die Verbundenheit von Jef und Bekka ab: einerseits durch eine als innig arrangierte Erzählsituation, anderseits durch die Tatsache, dass die beiden ein derartig dunkles Geheimnis teilen. Die von der Mutter ausgehende Ablösung wird in ihrem zunehmenden Widerwillen an der Mordgeschichte manifest. In der Eingangspassage wird die Geschichte noch durchaus glaubhaft dargestellt. Schon bald beginnt dieses Konstrukt jedoch zu ‚wackeln‘: Obgleich sich Jef an diese Geschichte klammert, hören die ihn umgebenden Figuren auf, das Spiel mitzuspielen. Am Ende modifiziert Jef die Geschichte, er ist aber weiterhin noch nicht so weit, dass er die Realität akzeptieren kann. Tiefenpsychologische Aspekte/Symbolik Durchweg finden sich auffallend viele tiefenpsychologische Symbole. Insbesondere das Messermotiv ist hier zu nennen, das sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht; der Erzähler wirkt fasziniert vom archaischen Potential des Küchenwerkzeugs, von der potentiellen Waffe. Als Bekka Gemüse zubereitet, kommentiert Jef beispielsweise: Hakhakhakhak macht ihr Messer. Mama ist wild auf Messer (ebd., 32f.). Bekka beschwert sich im Folgenden über ihr anstrengendes Leben; das Messer, das sie in der Hand hält, erinnert an eine Waffe: Mama streicht sich müde eine Haarsträhne aus dem Gesicht, zeigt dann mit der Messerspitze auf Iene und sagt: „Dass ein Kind, das mich hier drinnen festhält, offensichtlich noch nicht genug ist.“ Und bei genug ist wedelt sie mit dem Messer in der Luft rum. Sie sieht mich an, als wolle sie auch noch auf den Boden spucken, aber sie zuckt nur mit den Schultern, dreht sich wieder zur Anrichte und schüttelt langsam den Kopf (ebd., 36; Hervorhebg. im Orig.). Dass die Mutter die Messerspitze auf ihr Kind richtet, verleiht ihr – kongruent zum Titel – eine gefährliche Seite. Auffällig oft wird in Jefs Erzählung gehackt (vgl. z.B. ebd., 91), gestochen (vgl. z.B. ebd., 42), (ab-)geschnitten (vgl. z.B. ebd., 36) oder gar ausgeweidet (vgl. z.B. ebd., 131f.). Als Süleyman ihm beispielsweise von einem Mann erzählt, dem „der Pimmel abgeschnitten wurde“ (ebd., 38), kommentiert 192 Jef: „Meine Mutter hätte ihn erst erstochen“ (ebd., 39). Hier manifestiert sich die tiefenpsychologische Bedeutung des Phallussymbols Messer, und es offenbart sich eine im gesamten Roman wirksame stark psychologisierte Grundsituation. Überspitzt formuliert lässt sie sich folgendermaßen zusammenfassen: Die regressive Erzählerfigur steckt in einer ödipalen Krise, die aus einer misslungenen Triangulierung aufgrund eines abwesenden Vaters resultiert. Als mit Harry ein neuer Mann in das Leben der Familie tritt, macht Jef ihn für sein Unglück verantwortlich, er erhält aber eine neue Möglichkeit zur Ablösung von der Mutter und damit zur Entwicklung von Autonomie. Dies gelingt allerdings nicht im Laufe des Romans, sondern wird lediglich am Romanende in Aussicht gestellt. Hervorhebung des Erzählaktes: Imaginieren, Hinzudichten, Spekulieren Die in der einleitenden Passage generierte Erzählsituation wird in den Kapiteln des Romans insofern fortgeführt, als dass Jef weiterhin klar als Erzähler in den Vordergrund tritt. Gelegentlich hält er beispielsweise in seiner Erzählung inne, um Erklärungen einzufügen: „Mama weiß alles über Messer. Sie ist nämlich Mitglied im Club deutscher Messer. Ich werde kurz erklären, was das ist“ (ebd., 33) / „Ich erkläre das mal eben: Mama ist noch nie mitgefahren nach Solingen“ (ebd., 45) / „Kurze Erklärung: Der Zeitungsklauer wohnt bei Süleyman auf dem Gang“ (ebd., 70). An anderer Stelle verweist der Erzähler darauf, wie sich eine erzählte Situation in einem Film weiterentwickelt hätte: In einem Film würde es jetzt so weitergehen: Die Kamera fährt höher und höher bis weit über das Glasflaschenfeld hinaus. Man sieht Iene und mich auf dem offenen Feld und die Bäume drum herum. Wir bewegen uns nicht. Wir sind hier einfach und lassen den Regen gewähren. Er tut uns nichts. Dann würde eine Melodie erklingen, eine traurige Geige oder eine Harfe. Oder ein Klavier, das ginge auch. Auf jeden Fall würde sich die nächste Szene in der Küche oder im Wohnzimmer abspielen. Dort ist es warm und wir haben schon längst trockene Sachen angezogen. Wir trinken Kakao und unsere Mutter steht am Herd. Ich meine: Die hässliche Szene, in der wir nach Hause kommen und zur Schnecke gemacht werden, weil wir lebensgefährlich nass geworden sind, die wird nicht gezeigt, es gibt sie nicht mal. Bei uns gibt es sie aber (ebd., 97). Jefs Erzählung, so wird deutlich, ist zumindest hier ganz fern von der Realität. Immer wieder finden sich direkte Leseranreden, wobei sich Jef in Du-Form an eine nicht weiter bestimmten Leserinstanz wendet (vgl. z.B. ebd., 23, 25, 40, 55, 67): als fragende Rückversicherung („Kennst du Birnenbranntwein?“; ebd., 23 / „Verstehst du?“; 23 / „Das wäre nicht nötig, wenn er immer da wäre, verstehst du?“; 193 ebd., 40), als emphatische Aufforderung („Das müsstest du dir mal anschauen!“; ebd., 23) oder als Unterstellung („Du fragst dich bestimmt, warum ich diesen langen Weg mit Iene mache und mich an ihrer Karre fast zu Tode schiebe“; ebd., 25). Solche wiederholten Lesereinbezüge suggerieren eine Situation mündlichen Erzählens, die durch viele umgangssprachliche Ausdrücke und teilweise drastische Sprache (vgl. z.B. ebd., 125, 127) verstärkt wird. Durch die Leseranreden macht Jef die Leser zu Komplizen, bzw. will er dies tun; es wird auch klar, dass niemand sonst mehr seine Geschichte hören will. Jef zeigt sich dabei als sehr fantasievoller Erzähler, seine Mutter sagt ihm: „Du hast zu viel Fantasie, Jef“ (ebd., 42) und weist damit bereits auf eine potentielle Unzuverlässigkeit hin. Jef selbst gesteht auch einen Hang zum Hinzudichten ein: Aber dann höre ich einen Husten, der wie Alteisen klingt, und ein paar Kehllaute, als würde jemand in der nächsten Sekunde loskotzen, und dann den Aufprall des Schleimpfropfens, den Harry mit Karacho in die Blechschale neben dem Holzofen spuckt. (Das Letzte erfinde ich, wir haben nicht mal einen Holzofen. Aber ich finde, es passt gut zu ihm.) (ebd., 15) Viele, durchweg imaginierte Gespräche mit seiner schwerbehinderten Schwester Iene fallen in diesem Kontext auf: Lass mich doch schlafen, Jeffie, sagt sie, stelle ich mir vor. Ich weiß nicht, warum, aber in meiner Fantasie würde sie das sagen, Jeffie (ebd., 54). Hier zeigt sich Jefs Wunsch, seine Schwester wäre „normal“ (ebd., 134). Obwohl und gerade, weil er sie sehr liebt, leidet er darunter, dass sie kaum zu Kommunikation fähig ist. Gleichwohl formuliert er diese Sorge nicht, sondern er überspielt sie durch die Vorstellung einer ‚normaleren‘ Iene. Gleichfalls zeigt sich hier erneut Jefs regressive Seite, wenn er die Verniedlichung seines Namens herbeisehnt. Schließlich neigt Jef dazu, Spekulationen anzustellen, wenn sich ihm eine Situation nicht sofort erschließt. In der Regel sind seine Überlegungen jedoch unglaubwürdig und stellen sich auch sofort oder im Nachhinein als falsch heraus. Als Jef beispielsweise bei Süleyman klingelt und ihm niemand öffnet, sinniert Jef über die möglichen Gründe: Ich warte und denke: Er stellt sich taub, solange er denkt, ich stehe hier noch. Und: Er hat etwas zu verbergen. Er hat seine Familie niedergemetzelt. Riesenkrach mit seinem Vater. Süleyman hat ein Messer genommen und seinen Vater erstochen und danach den Rest der Familie, wenn er schon gerade dabei war. So was hört man manchmal. […] Ich trete gegen den Türpfosten. Die Nummer 8, die nur locker an die Tür geschraubt worden ist, klappert noch eine Weile nach. […] Vielleicht ist sie mit irre langen Schrauben befestigt, die an der anderen Seite durch das Holz ragen, und Süleyman ist gestolpert, als er zur Tür wollte, und mit der Stirn gegen die Schrauben gefallen. Vielleicht ist er tot. So was hört man manchmal (ebd., 104f.). 194 Die naheliegende Erklärung, es könnte einfach niemand zu Hause sein, kommt ihm nicht in den Sinn. Insgesamt wird so in Jefs Erzählung eine subjektive mündliche Erzählsituation generiert, in der sich der Erzähler oft durch Imaginationen, Hinzudichtungen und Spekulationen von der Wahrheit entfernt. Bekka und Süleyman als (vermeintliche) Korrektive In vielen Situationen kommt Jef zu ‚falschen‘ Schlüssen. Seine Beobachtungen sind dabei – entsprechend der Figurenkonzeption – oft in naiver Manier verzerrt. Nicht selten zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie moralisch unzulänglich sind. Als Jef Süleyman beispielsweise beim Stehlen erwischt, bezeichnet er seinen Freund als „jämmerlich“ (ebd., 116). Jef entwickelt daraufhin seinen Plan zu Harrys Vertreibung; was er konkret vorhat, verrät er aber nicht. Er erzählt lediglich: In meinem Kopf hat sich alles, was geschehen ist, vermischt und sich zu einem schönen, glatten Ball geformt. Den muss ich nur noch ins Tor schießen und Süleyman wird mir dabei helfen. Er muss mir helfen, denn seit ich in der Küche auf ihn gestoßen bin, ist Süleyman mein Sklave. So ist es. Und so wird es klappen (ebd., 116). Die Durchführung des Plan gestaltet sich dann keineswegs ‚schön‘ oder ‚glatt‘, und diese Einschätzung der Situation durch Jef ist als mehr als fragwürdig zu bewerten. Jef sieht dies zum Zeitpunkt des Erzählens nicht – er erfreut sich lediglich an dem erhofften Effekt der Tat. Die Figuren, die die Unzuverlässigkeit des Erzählers kontrastieren, sind ebenfalls als nur eingeschränkt zuverlässig zu bewerten. Insbesondere Bekka und Süleyman kommt eine solche kontrastierende Funktion zu: Gerade in Jefs Interaktion mit diesen beiden Figuren entstehen jeweils Diskrepanzen, die auf Jefs erzählerische Unzuverlässigkeit hinweisen. Gleichwohl ist aber auch den Aussagen und Handlungen Bekkas und Süleymans aus unterschiedlichen Gründen nur bedingt zu ‚trauen‘. Bekka möchte ihren Sohn schützen und erzählt ihm nicht, dass der Vater die Familie verlassen hat. Stattdessen sagt sie ihrem Sohn, sein Vater sei tot, und sie lässt ihn lange in diesem Glauben. Sehr spät sagt sie Jef die Wahrheit und erklärt: Ich wollte nicht, dass du nach ihm suchen würdest. Und für einen Jungen wie dich war so eine Mordgeschichte geheimnisvoll genug, um von dem abzulenken, was du wirklich wissen wolltest (ebd., 150f.). So finden sich auch innerhalb des Geschehens doch einige Situationen, in denen Jef versucht, die Wahrheit über seinen Vater zu erfahren – und in denen er an 195 Bekkas Antworten scheitert. Gerade die Tatsache, dass Bekka, wenn auch widerwillig, die Mordgeschichte immer wieder bestätigt, nimmt auch ihr Glaubwürdigkeit. Jef, aber auch Leser, können sich auf ihre Antworten nicht verlassen. Auch Süleyman kann nur eingeschränkt als Korrektiv dienen. Er lässt zu, dass Jef oft herablassend mit ihm spricht, und obwohl er ihn gelegentlich auf sein Fehlverhalten hinweist, scheint es ihn oft auch nicht zu stören. Besonders deutlich wird dies in dem Moment, als Jef ihn zwingt, den Hund auszuweiden: Jef droht Süleyman, den Diebstahl dessen Vater zu verraten, woraufhin Süleyman tut, was Jef ihm befielt. Erst nach der blutigen Tat offenbart Süleyman, dass sein Vater längst ausgezogen ist. Seine Beweggründe mitzumachen sind wohl andere gewesen, dies erschließt sich jedoch nur bedingt. So hat Süleyman eine sehr unsichere und labile Seite, und man kann sich ebenfalls nur eingeschränkt auf sein Urteil verlassen. Einordnung Entsprechend den zuvor erarbeiteten Untersuchungsparametern wird die erzählerische Unzuverlässigkeit im Folgenden im theoretischen Kontext betrachtet. Für Mütter mit Messern sind gefährlich lässt sich zusammenfassen: Themen und Motive In Mütter mit Messern sind gefährlich geht es um die Probleme eines adoleszenten Protagonisten, dem es nicht gelingt, sich von der Mutter zu lösen. Seine Verlustängste lebt er als aggressive Ablehnung gegenüber dem neuen Freund der Mutter aus. Weitere Themen sind der Verlust eines Elternteils, Behinderung und Verantwortung, Freundschaft, (mangelnder) Respekt und Fremdenfeindlichkeit. Immer wieder findet sich das Messermotiv, das mit einer tiefenpsychologischen Bedeutung als Phallussymbol konnotiert wird. Im Kontext erzählerischer Unzuverlässigkeit fällt weiterhin das durchweg behandelte Motiv des Erzählens von Geschichten (und damit auch das behandelte Verhältnis von Faktualität und Fiktionalität) besonders auf. Es nimmt mit Geschichte des Gattenmordes, deren ontologische Unsicherheit entscheidend zur erzählerischen Unzuverlässigkeit beiträgt, eine zentrale Stellung ein. Erzählsituation Ich-Erzähler ist der dreizehnjährige Jef. Die Erzählsituation ist als extradiegetisch und autodiegetisch charakterisierbar, der Modus zeichnet sich durch eine fixiert intern an Jef gebundene Fokalisierung aus. Die erzählerische Unzuverlässigkeit in 196 Mütter mit Messern sind gefährlich ist Resultat dieser Erzählsituation: Aufgrund seiner eingeschränkten Wahrnehmung kommt Jef zu falschen und oftmals auch moralisch fragwürdigen Schlüssen bezüglich der Geschehnisse in seiner Umgebung. Die Modellierung der Erzählerfigur Jef ist, obwohl er bereits dreizehn Jahre alt ist und bereits an der Schwelle zur Pubertät steht, ein noch sehr kindlicher Junge. Jefs psychische Konstitution ist heikel: Er findet sich in seiner sich verändernden Lebenssituation nicht zurecht, reagiert mit regressivem Verhalten. Er ist eifersüchtig auf den neuen Freund seiner Mutter und lässt seinen Frust an seinem Freund Süleyman aus. Jefs Verzweiflung wird im Laufe der Erzählung immer größer, entsprechend wird sein Verhalten immer bedenklicher, bis es auf dem Höhepunkt der Erzählung eskaliert. Jefs Unzuverlässigkeit ist ein direktes Resultat seiner psychischen Verfassung. Markierung der erzählerischen Unzuverlässigkeit Beinahe alle von Nünning (1998) formulierten textuellen Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit lassen sich in Van Ransts Roman finden (lediglich eine multiperspektivische Auffächerung findet sich nicht). Mit einem intermedialen Verweis auf einen Song der Pretenders findet sich bereits im Paratext ein Hinweis auf eine potentielle Unzuverlässigkeit. Textuelle Unzuverlässigkeitsmarkierungen werden im Laufe der Erzählung entsprechend zu Jefs Entwicklung immer deutlicher, und sie manifestieren sich als Diskrepanzen in der Erzählerrede sowie als hohe Subjektivität und Involviertheit der Erzählerrede. Bemerkenswert ist, dass zwar mit Bekka und Süleyman Korrektivfiguren eingesetzt werden, diesen aber ebenfalls nur eingeschränkt zu trauen ist. Weitere Beschaffenheit der erzählerischen Unzuverlässigkeit Die Unzuverlässigkeit steht in Zusammenhanf mit Jefs psychischer Konstitution, und sie manifestiert sich mit zunehmender Eskalation seines Verhaltens deutlicher. Sie ist damit als durchgängig, ansteigend und am Ende zum Teil aufgelöst charakterisierbar, und sie bleibt ontologisch entscheidbar. Die Unzuverlässigkeit ist als mimetisch (nach Martínez und Scheffel) bzw. täuschend (nach Köppe und Kindt) charakterisierbar. Intermedialität/Intertextualität Mit einem intermedialen Verweis auf einen Song der Pretenders sind im Paratext quasi-explizite Hinweise auf erzählerische Unzuverlässigkeit in Mütter mit Messern 197 sind gefährlich enthalten (s.o.). Dieser Prätext entstammt nicht dem kinder- und jugendliterarischen Korpus, es ist nicht anzunehmen, dass das Lied von Bekanntheit innerhalb der Adressatengruppe ist. Funktionen Der erzählerischen Unzuverlässigkeit in Mütter mit Messern sind gefährlich kommen sowohl interne als auch externe literarische Funktionen zu. Die Unzuverlässigkeit dient der Charakterisierung der Erzählerfigur, sie ist dem Spannungsaufbau förderlich, und sie beinhaltet ein komisches Moment (interne literarische Funktionen). Immer wieder gerät Jef in einen fremdenfeindlichen Duktus gegenüber Süleyman. Gleichzeitig wird Lesern aber mit der Naturalisierung der erzählerischen Unzuverlässigkeit klar, dass Jef entgegen seiner Selbstdarstellung dem Freund keinesfalls überlegen ist. Damit ist der erzählerischen Unzuverlässigkeit eine externe literarische Funktion enthalten: Lesern wird nahegelegt, eine gesellschaftskritische Perspektive auf Fremdenfeindlichkeit einzunehmen. 198 Dass jemand so wenig Eier in der Hose hatte, konnte ich mir nicht mal vorstellen. Ich hätte noch welche zu verschenken gehabt! (Frascella 2012, 53) 3.2.3 Christian Frascella: Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe Der Roman Mia sorella è una foca monaca wurde erstmals 2009 im römischen Verlag Fazi Editore veröffentlicht. Er erschien 2012 ohne Altersempfehlung in deutscher Übersetzung von Annette Kopetzki unter dem Titel Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe bei der Frankfurter Verlagsanstalt (Frankfurt a.M.). Der Roman umfasst 316 Seiten. 2013 wurde das Werk für den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie Jugendbuch nominiert. 2014 erschien er als Taschenbuch bei Gulliver (Beltz & Gelberg) mit einer Altersempfehlung ab vierzehn Jahren. Wie es auch bei den zuvor untersuchten Jugendromanen der Fall ist, findet sich eine autodiegetische Ich-Erzählinstanz mit instabiler psychischer Konstitution. Frascellas Protagonist ist ein zunächst pikaresk anmutender Antiheld, dessen verzerrte Weltwahrnehmung den Wirkungsort der erzählerischen Unzuverlässigkeit in Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe darstellt. Inhalt, Themen, Motive Der namenlose Ich-Erzähler lebt mit seinem Vater und seiner Schwester im Italien der späten 1980er Jahre. Zwei Jahre zuvor hat die Mutter die Familie für einen deutlich jüngeren Mann verlassen, was ein Trauma für die ganze Familie darstellt. Der Sechzehnjährige überspielt seine Unsicherheit durch übertrieben chauvinistisches Gehabe, und er scheint die ganze Welt zu verachten. Sein Vater, von ihm „Chef“ (vgl. z.B. Frascella 2012, 15) genannt, trinkt zu viel; seine Schwester sucht im Glauben Halt. Ihre christliche Hingabe hat ihr vom Erzähler den titelgebenden Spitznamen „Mönchsrobbe“ (vgl. z.B. ebd., 21) eingebracht. Eine Prügelei auf dem Schulhof, nach der sein Gegner abends mit einem Schädelbruch im Krankenhaus eingeliefert wird, hat für den Erzähler einen dreitägigen Schulverweis zur Folge, und anstatt in die Schule zurückzukehren, entscheidet er sich, fortan zu arbeiten. Acht Monate später ändert sich sein Leben von Grund auf. Sein Vater verliebt sich, und schon bald zieht Virginia bei der Familie ein. Auch seine Schwester hat einen Verehrer: Mauro, einen Politikstudenten, dem der Protagonist bei jeder möglichen Gelegenheit das Leben schwer macht. Der Erzähler kommt mit den Veränderungen nicht zurecht, er verärgert alle, die ihm nahestehen, und er gerät zunehmend 199 ins Straucheln. Zu allem Übel geht auch sein Arbeitgeber, ein kleiner Familienbetrieb, in Konkurs, und er wird arbeitslos. Einzig die schlagfertige und zwei Jahre ältere Chiara scheint seine Defensive zu durchbrechen. Sie interessiert ihn, und trotz Chiaras Vorbehalten und seines oft unbeholfen patzigen Verhaltens kommen sich die beiden im Laufe des Geschehens näher. Als sie ihm erzählt, dass „Tony Moscalda, Tony Champion genannt, die Sportlegende“ (ebd., 65) schlecht über seine Mutter gesprochen habe, wirft er dessen Harley Davidson um und wird daraufhin von Tony krankenhausreif geschlagen. Sein Schicksal scheint sich zu wenden, als er zu einem Vorstellungsgespräch in die Trak AG eingeladen wird, ein Unternehmen, in dessen Werk Blechteile für Autos hergestellt werden. Er wird zu Probearbeiten eingestellt, eine Woche lang muss er sich unter den harten Bedingungen der Fließbandarbeit behaupten. Wie zuvor in der Schule gerät er auch im Betrieb in eine Außenseiterposition – diesmal durch seine Versuche, seinem Vorgesetzten zu imponieren. Seine verschlagen-gerissene Art ist ihm hilfreich, doch vor allem durch Anstrengung gelingt es ihm, den überhöhten erforderlichen Soll von mehr als 600 Teilen pro Stunde zu pressen und seinen Chef von sich zu überzeugen. Sein Kollege George kommentiert: „Du hältst dich für schlau, aber du bist nur in einer Falle gelandet, aus der du nicht mehr rauskommst“ (ebd., 264). Ihm glaubt er nicht, aber auch Chiara bestätigt: „Du hast dich reinlegen lassen“ (ebd., 300). Die Fassade des Erzählers bröckelt, als sein Vater mit einer Leberblutung ins Krankenhaus kommt und notoperiert werden muss. In der Klinik trifft sich die gesamte Familie, und erstmals findet eine echte Annäherung des Erzählers an seine Schwester, aber auch an Virginia statt. Dann muss der Vater ein zweites Mal operiert werden, seine Überlebenschancen liegen bei nur dreißig Prozent. In der Schlusssequenz des Romans entscheidet sich der Protagonist gegen eine ihm angebotene Festanstellung bei der Trak AG, er ‚flieht‘ aus dem Werk und macht sich auf den Weg ins Krankenhaus zu seinem Vater. Insgesamt kann der Roman als Coming-of-Age-Roman verstanden werden: Lange gehemmt und in ständiger Abwehrhaltung, gelingen dem großmäuligen Antihelden schließlich doch die ersten Schritte einer erfolgreichen Ich-Findung; eng verbunden damit ist auch seine Liebesgeschichte mit Chiara. Wie eine Folie unterliegen dem Ganzen Gegebenheiten und Probleme des Lebens im Italien der späten 1980er bzw. der beginnenden 1990er Jahre. 200 Erzählerische Unzuverlässigkeit Die erzählerische Unzuverlässigkeit in Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe resultiert vor allem aus der Figurenkonzeption des autodiegetischen Ich-Erzählers. Die prahlerische Selbstinszenierung des Antihelden wird sowohl durch gegenläufig gesetzte textuelle Signale als auch durch einen Hang zu nicht selten satirischer Übertreibung in der Erzählerrede infrage gestellt; seine stellenweise pikaresk anmutende Erzählung qualifiziert sich durchweg als höchst unzuverlässig. Erzählsituation In vier langen Kapiteln erzählt der namenlose Erzähler in der Rückschau seine inzwischen abgeschlossenen Erlebnisse. Nur punktuell jedoch wird diese Erzählsituation deutlich, etwa in folgender Textstelle: Wenn ich heute daran zurückdenke, erscheint mir das alles so paradox: Ein Junge geht kiloweise Lebensmittel einkaufen für ein sonntägliches Mittagessen, das ihm scheißegal ist, raucht und flucht den ganzen Weg über, bis er zu einer beliebigen Uhrzeit einen beliebigen Laden in einem beliebigen Ort betritt. Und damit ändert sich sein Leben, wenigstens so, wie er es bis zu diesem Moment vage verstanden hatte, von Grund auf (ebd., 44). Hier zeigt sich, dass der Erzähler zum Zeitpunkt des Erzählens gereift ist. In der Regel tritt das erzählende Ich aber zugunsten des erlebenden Ichs deutlich in den Hintergrund, und die Schilderung der Geschehnisse erfolgt nahezu durchweg in der Perspektive des Sechzehnjährigen. Gelegentlich lässt sich dabei eine Nähe zum Pikaroroman feststellen. Zwar begibt sich der Protagonist in Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe nicht auf eine genretypische Reise, er entstammt aber – wie jeder pícaro – einer gesellschaftlich unteren Schicht, und ihm ist eine schelmenhafte Verschlagenheit zu eigen. Immer wieder entzieht er sich aus unangenehmen Situationen – merkt dabei aber oft nicht, dass er diese Situationen selbst durch sein Verhalten erst heraufbeschworen hat. So behauptet er bei einer ärztlichen Untersuchung gegenüber einigen anderen Arbeitern, er sei ein erfolgreicher Fußballspieler und müsse deshalb zur Blutabnahme. Als er dann später feststellt, dass sie im selben Betrieb angestellt sind, muss er sich aus dieser Lüge wieder herauswinden (vgl. ebd., 172ff., 188f.). Generell dienen dem Erzähler Erfahrungen nicht zur Lehre, er begeht immer wieder die gleichen Fehler und qualifiziert sich damit erneut als pícaro. Mit der autobiographischen Erzählform, einer der Figur eingeschriebenen Ambivalenz und einer teilweisen Anlehnung an episodisches Erzählen lassen sich in Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe noch weitere Anlehnungen an Genremerk201 male des Pikaroromans erkennen. Jacobs (2003, 371) definiert den pícaro als einen Außenseiter, der „mit moralisch nicht unbedenklichen, ja kriminellen Mitteln, aber auch mit Zähigkeit und Witz in einer korrupten und feindlichen Welt abenteuerliche Gefahren überlebt“ (vgl. hierzu auch Riggan 1981, 38-78). Als eben solcher inszeniert sich der Erzähler zu Beginn des Romans. Im Laufe der Erzählung ändert sich dieser Eindruck jedoch; die genannten pikaresken Elemente werden weniger deutlich (kongruent zu einer immerhin beginnenden ‚Einsicht‘ des Erzählers), bis sie schließlich am Romanende nicht mehr vorzufinden sind. Die autodiegetische Erzählsituation ist dabei eng an die unzuverlässige Wahrnehmung des Ich-Erzählers gebunden und höchst subjektiv gefärbt. Oft finden sich an mündlichen Sprachgebrauch angelehnte emphatische Ausdrücke in der Erzählerrede, so zum Beispiel „basta“ (Frascella 2012, 133), „Meine Fresse!“ (ebd., 22) oder „Bam! Bam! Ba-bam!“ (ebd., 22) Neben der Verwendung konzeptueller Mündlichkeit zeichnet sich die Erzählerrede weiterhin durch einen Hang zur Übertreibung aus, oft überzeichnet der jugendliche Ich-Erzähler die Geschehnisse stark. Nachdem er sich bei der Prügelei geschlagen geben muss, lamentiert er: Doch ein Tag würde nicht genügen. Zwei auch nicht. Nicht einmal drei. Vielleicht wäre nicht mal ein Monat genug. Nein, mein Ruf als Verprügelter würde mich bis ins Grab begleiten. Er würde sogar meinen Tod überleben, um noch bei den Kindeskindern der Typen, die bei dem Massaker dabei gewesen waren, spöttisches Gelächter hervorzurufen. Denn die Geschichte würde von Generation zu Generation überliefert werden wie ein Schlaflied oder ein Abzählreim oder irgendein anderer unvergänglicher, nie rostender Scheiß. „Höre, mein Sohn“, würde eines Tages ein Mensch zu seinem Rotzbengel sagen, „mein Großvater hat meinem Vater einmal die Geschichte von einer Prügelei auf einem Schulhof erzählt, und jetzt erzähle ich sie dir, damit du sie eines Tages deinen Kindern weitererzählen kannst, die sie dann ihrerseits …“ Und so weiter. Für immer und ewig in den Dreck gezogen. In saecula saeculorum. Amen (ebd., 20). Diese extreme Darstellung eines für den Erzähler zwar unangenehmen, aber keinesfalls derart katastrophalen Sachverhalts unterstreicht die unzuverlässige Disposition seiner Rede, und sie wird durch die Gebetsformel am Ende noch unterstrichen. Immer wieder finden sich übertrieben positive Selbstbeschreibungen des Erzählers, hier wird selbst die negative ins Extrem gesteigert. Figurenkonzeption des Ich-Erzählers Der Figurenkonzeption des Protagonisten kommt eine Schlüsselbedeutung in Bezug auf die erzählerische Unzuverlässigkeit zu. Die Tatsache, von der Mutter verlassen worden zu sein, belastet ihn sehr, und er überspielt dies durch aufschneiderisches und machohaftes Auftreten. Der Erzähler gibt an keiner Stelle direkt zu, wie verletzt er durch das Verhalten 202 seiner Mutter ist. Dennoch kann man dies an verschiedenen Romanstellen aus seiner Rede, aber auch aus seinen Handlungen ableiten. Er spricht schlecht von seiner Mutter (vgl. z.B. ebd., 41f., 70), ihren neuen Freund nennt er oft „Pumpenschwengel“ (vgl. ebd., 18, 42, 58) in Anspielung auf dessen Job als Tankwart. Als sich nun sowohl sein Vater als auch seine Schwester in Beziehungen befinden, kommentiert der Erzähler: Und Monate später, Jahre später, waren meine Mitbewohner in demselben Haus, wo meine Mutter ihre Flucht geplant hatte, schon wieder bereit, sich zu verlieben, jemanden zu empfangen, sich reinlegen zu lassen, indem sie dasselbe Ritual erneuerten. Arme libidinöse Arschlöcher (ebd., 70; Hervorhebg. im Orig.). Es zeigt sich hier, wie belastet er noch immer ist – und auch, dass er in seiner Entwicklung stagniert. Zu Beginn des Romans sagt sein Vater zu ihm: „Du bist ein Sechzehnjähriger mit einem Haufen Probleme, ist dir das klar? Du könntest ein bisschen Disziplin gebrauchen“ (ebd., 14). Als Strafe für seine Prügelei lässt der Vater ihn den Rasen mähen. Der Erzähler resümiert: [V]on einem arbeitsscheuen Alkoholiker-Vater bedroht; Bruder einer durchgedrehten Klausurnonne, Sohn einer Mutter, die mit einem jungen Pumpenschwengel geflüchtet ist; potentieller Fische-Aufschlitzer; außerdem müde, verdreckt und zerbeult. Nee, Gerechtigkeit gab es wirklich nicht. Mein Leben lief nicht in die richtige Richtung. Ich sagte es laut: „Mein Leben läuft nicht in die richtige Richtung.“ Mein Vater brach in schallendes Gelächter aus, schaukelte in seiner Hängematte und trank (ebd., 18). Der komische Effekt der Repetitio (discours) wird durch das Lachen des Vaters (histoire) verstärkt. Wie an vielen anderen Stellen des Romans zeichnet der Erzähler hier ein durchaus selbstironisches Bild. Besonders auffällig ist das wichtigtuerische Auftreten des jungen Mannes, das sich sowohl in seiner Figuren- als auch in seiner Erzählerrede finden lässt. Versteht der Erzähler etwas nicht, beugt er die Tatsachen so, dass er gut dasteht. Als Beispiel können hier die Geschehnisse um die Schulhofschlägerei herangezogen werden. Zunächst scheint es für ihn nicht so gut auszusehen. Er erzählt sehr anschaulich, wie er, bereits am Boden liegend, von seinem Kontrahenten getreten wird (vgl. ebd., 10). Im Anschluss kommentiert der Erzähler: „Man hatte mich geschlagen und gedemütigt“ (ebd., 11). Als der Erzähler am nächsten Tag dann aber erfährt, dass sein Gegner mit einem Schädelbruch ins Krankenhaus eingeliefert worden ist, rekapituliert er: Wie hatte ich bloß daran zweifeln können? Recht bedacht, hatte ich ihn regelrecht massakriert. Mein ausdauernder rechter Haken war phänomenal gewesen. Filmreif. Bam! Bam! Ba-bam! Großartige Leistung. Ein bisschen steif im Rumpf vielleicht, aber unerbittlich beim Angriff. Ein gewaltiger Arm, der mit der Wucht eines 203 Baseballschlägers auf dieses Arschgesicht niedergegangen war. Dutzende Male, hunderte vielleicht, ich erinnerte mich nicht mehr. Übermächtig wie ein Mammut und präzise wie ein Chirurg hatte ich zugeschlagen. Eine perfekte Arbeit (ebd., 22). Seine Schilderung sieht nun gänzlich anders aus, und es entsteht eine Inkongruenz, die Leser zunächst nicht auflösen können. Zwar erscheint es suspekt, dass die Tatsachen durch den Erzähler derart unterschiedlich dargeboten werden – durch die enge Bindung an die Erzählerperspektive wird aber keine andere, in diesem Zusammenhang hilfreiche Information geliefert. Die hohe Subjektivität und die unzuverlässige Disposition des Erzählers verursachen zwar ein generelles Misstrauen gegenüber seinen Schilderungen, Leser können hieraus aber zunächst nicht erschließen, was wirklich passiert ist. Im Laufe des Romans rekurriert der Erzähler an verschiedenen Stellen auf seinen Sieg, der ihm eine Rechtfertigung für sein überhebliches Verhalten (vgl. z.B. ebd., 49) liefert. Eine tatsächliche Auflösung wird dann im letzten Kapitel geboten: Auf dem Weg zu seinem Vorstellungsgespräch in der Trak AG trifft der Erzähler zufällig einen alten Klassenkameraden, der ihm offenbart, dass nicht er für den Schädelbruch seines früheren Schulhofgegners verantwortlich gewesen ist, sondern dass er als Sündenbock für dessen gewalttätigen Stiefvater hat hinhalten müssen (vgl. ebd., 257f.). Die Eingangssituation um seinen Schulverweis kann nun rückblickend neu gedeutet werden; der Erzähler versucht jedoch auch in dieser Situation, sein Gesicht nicht zu verlieren: „Das ist nicht wahr!“ Jetzt schrie ich. […] „Alle in der Schule wissen es.“ Ich kam mit meinem bösen Gesicht dicht an seines heran. „Er hat euch alle verarscht“, zischte ich und spuckte ihm ein bisschen ins Gesicht. „Weil er sich in Grund und Boden schämte. Eine andere Wahrheit gibt es nicht. Aber sag ihm ruhig, dass ich bereit bin, ihn wieder zu vermöbeln, und diesmal werde ich mich nicht mit einer Gehirnerschütterung begnügen. Sag ihm das.“ Mit Befriedigung konstatierte ich, dass dieses blöde Grinsen aus seinem Sackgesicht verschwand. Er hatte begriffen, wer in der ganzen Geschichte der harte Kerl war. Ich, einzig und allein und immer ich. Er versuchte, Boden zu gewinnen, indem er noch einmal in Hohngelächter ausbrach, aber es kam sehr unnatürlich heraus (ebd., 258). Die Aussage, es gäbe keine andere Wahrheit, wirkt wie ein verzweifeltes Festhalten des Erzählers seinem Selbstbild, und seine abschließende Einschätzung, das Hohngelächter sei unnatürlich, kann nun (wieder) angezweifelt werden. Für die Leser bietet sich hier aber eine klare Auflösung der Eingangssituation, und es entsteht ein Vorsprung gegenüber dem Erzähler, dessen Aussagen diesbezüglich nun mit Sicherheit als ‚falsch‘ gelesen werden können – was wiederum Rückschlüsse über die (vulnerable) Erzählerpsyche zulässt. 204 An vielen anderen Stellen gestaltet sich die Unzuverlässigkeit in ähnlicher Weise. Die erzählerischen Ausführungen sind oft stark übersteigert, und der Erzähler scheint impulsiv zwischen Extremen zu oszillieren. So ändert sich beispielsweise seine Einschätzung seiner Mathematiklehrerin schlagartig, als ihm klar wird, dass diese ihm nicht so begegnet, wie er es sich ausgemalt hat: Die Mathematiklehrerin kam herein. Eine schöne Frau um die vierzig. Fleischige Lippen. Bevor sie sich setzte, suchte sie mit Blicken nach mir, fand mich und betrachtete mich eine Weile. Ich begriff, dass ich sie hätte haben können, wenn ich nur gewollt hätte. Ich über ihr, während mein Becken zustieß und ich in ihre Lippen biss, bis sie bluteten, dann fuhr ich mit meiner Zunge über ihre … „Geh rauf zum Direktor“, sagte sie zu mir. „Wie bitte?“ „Geh rauf zum Direktor!“, wiederholte sie mit drohender Betonung. Unsere Vereinigung war verschoben. „Was will der Direktor von mir?“ „Beweg dich!“, kreischte sie. „Okay, okay“. Ich erhob mich sehr langsam und ging nach vorn. Von nahem gesehen war sie bloß eine alte Jungfer mit Hängetitten. Ekelhaft! (ebd., 25) Wie zuvor ergibt sich hier eine komische Funktion der erzählerischen Unzuverlässigkeit. Durch die kurz hintereinandergestellten, diametral verschiedenen Einschätzungen des Erzählers wird zudem seine psychische Disposition als sprunghaft, impulsiv – und höchst unzuverlässig dargetan. In seiner Figurenrede ist er oft unverschämt, so sagt er bei ihrem ersten Treffen zu Chiara: „Hör mal, Mädchen, höchstwahrscheinlich sind schon zu viele Stunden vergangen, seit du mit der Arbeit angefangen hast. Vielleicht bist du müde. Vielleicht hast du deine Tage. Vielleicht bist du gestern Abend mit einem ausgegangen, der an Ejaculatio praecox leidet. Es ist dein mieses Leben, ich kann nichts daran ändern, okay? Such nicht nach Sündenböcken für deine Niederlagen.“ (ebd., 46) Chiara verpasst dem Erzähler daraufhin eine Ohrfeige, die ihn ohnmächtig zu Boden gehen lässt. Als er erwacht, kann er mit dieser Schmach nicht umgehen und flüchtet sich in Ausreden: Scheiße, ich war ohnmächtig geworden! Ohnmächtig! Ich! Wie war das möglich? Einer, der was einstecken konnte! Ein Schlägertyp, der Hackfleisch aus einem Riesen wie Riccardo [...] gemacht [...] hatte. Nein, es war unmöglich. Wahrscheinlich war ich wirklich krank. Ich trug den Keim zu irgendwas in mir, eine Krankheit, einen Virus, der mir die Sinne betäubt, mich schlapp gemacht und niedergestreckt hatte, noch bevor die dumme Kuh mich ins Gesicht traf. Wenn ich es recht bedachte, hatte ich schon während der Diskussion mit ihr ein Schwindelgefühl verspürt, ja, so was wie verfremdete Wahrnehmung, wahrscheinlich verursacht durch den Stress um das beschissene Mittagessen am Sonntag, das kurz bevorstand. Genau (ebd., 49f.). Gerade die Aussage „Genau“ (ebd., 50) am Ende dieses Abschnitts wirkt wie eine Selbstbestätigung eines Erzählers, der es vermeidet, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Sexistische Aussagen und Schilderungen wie in den obigen Beispielen werden an 205 vielen Stellen durch nahezu selbstironische Beschreibungen konterkariert. Immer wieder erwähnt der Protagonist, dass er sich an seine Geschlechtsteile fasst, scheinbar, um sich (und andere) seiner Männlichkeit zu versichern. Nach seinem Gespräch mit dem Direktor, in dem er von seinem Schulverweis erfahren hat, unterhält er sich mit einem Mitschüler. Statt die Wahrheit zu sagen, erzählt er, er habe ein Stipendium erhalten und werde nun drei Tage „von einigen Koryphäen an einem geheimen, streng bewachten Ort geprüft“ (ebd., 28): „Viel Glück!“, sagte er ganz ernst. Ich fasste mir an die Eier. „Aber kein Wort. Verstanden?“ „Verstanden.“ Ich fasste mir noch mal an die Eier (ebd., 28; ähnliche Situationen vgl. ebd., 57, 77, 121, 192). Seine Männlichkeit ist für den Erzähler von höchster Bedeutung. Nach einer Begegnung mit dem ortsbekannten Cannabisraucher äußert er: Dass jemand so wenig Eier in der Hose hatte, konnte ich mir nicht mal vorstellen. Ich hätte noch welche zu verschenken gehabt! (ebd., 53) Gerade solche aufschneiderischen, aber auch selbstironischen Momente bewirken trotz der Konzeption als Angeber, Rodomonteur und Macho eine dennoch immer wieder sympathisch anmutende Figurenzeichnung des Protagonisten. Nachdem er seiner Schwester den Arm verdreht hat, damit sie ihm den Namen der Freundin des Vaters preisgäbe, steckt sich der Erzähler eine Zigarette an: „Ich zog an der Zigarette wie Humphrey Bogart. Ein paar Mal. Dann fing ich an zu husten“ (ebd., 40). Es zeigt sich, dass er weniger maskulin ist, als er gerne wäre. Wie in diesem Beispiel kann er oft die Fassade des Draufgängers nicht aufrechterhalten – und er hat auch eigenartige Vorstellungen davon, was einen Mann ausmacht: Das Ärgern der Schwester wird von ihm nahezu als Heldentat dargestellt. Grundsätzlich ist der Erzähler als durchaus intelligent und wortgewandt zu beschreiben. Immer wieder ergeben sich aber Situationen, in denen klar wird, dass er die ihm widerfahrenden Geschehnisse schlichtweg nicht versteht oder nicht einordnen kann. Mit dem zweiten Kapitel wird die neue Frau an der Seite seines Vaters eingeführt; aus dessen verändertem Verhalten zieht der Erzähler aber zunächst den Schluss, sein Vater sei ein Mörder: Besonders das Foto eines Kindsmörders aus der Region Marken versetzte mich in Aufregung. Denn der Mann auf diesem Bild hatte ein ganz ähnliches Grinsen wie das, was der Chef in jenen verfluchten Tagen im Gesicht trug (ebd., 31). Die Erkenntnis, dass der Vater eine Beziehung hat, ist für ihn eine Überraschung: 206 Mein Chef hatte eine Beziehung. Sein überdrehtes Verhalten, das ich für Mordgier gehalten hatte, zeugte in Wirklichkeit vom Wahn eines Verliebten. Der Chef hatte eine Frau (ebd., 36). Der Protagonist ist als Antiheld konzipiert, dessen eingeschränkte Weltsicht sowie großmäuliges Auftreten in einem nicht gelösten Mutterkonflikt begründet sind. Unverschämt, impulsiv und in einer ständigen Defensive schlägt er sich von Situation zu Situation, wobei er sich in seiner Erzählerrede als starken und maskulinen Gewinnertypen inszeniert. Die Diskrepanz zwischen seinen Taten und seinen Worten ist dabei enorm. Sein Verhalten lässt sich als eine Mischung aus Großsprecherei und Selbstbetrug beschreiben. Korrektivfiguren Durch die enge Bindung der Erzählung an die unzuverlässige Wahrnehmung des Erzählers kommt den anderen Figuren eine kontrastive und damit vermeintlich korrektive Funktion zu. Die verbalen und nonverbalen Reaktionen der anderen Figuren auf das Verhalten und die Rede des Erzählers sind entscheidend, und an vielen Stellen des Romans sind genau an dieser Stelle Diskrepanzen zu lokalisieren. Allerdings stellt sich die Situation in Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe keinesfalls eindeutig dar: Wie der Erzähler sind auch die anderen Figuren keine zuverlässigen Charaktere. Gerade jene Figuren, die als Kontrastiv wirken, bieten durch ihre jeweilige Konzeption ebenfalls Grund zu Misstrauen. So ist der Vater – zumindest am Romananfang – Alkoholiker, die Schwester nahezu in ihrer Religiosität versunken, Chiara hingegen scheint ein Katz-und-Maus Spiel mit dem Erzähler zu spielen und wechselt zwischen annäherndem und ablehnendem Verhalten. Es entstehen immer wieder Diskrepanzen; wem in der jeweiligen Situation zu trauen ist, ist dabei durchaus nicht immer entscheidbar. Die Figurenrede der anderen Figuren ist in diesem Zusammenhang aber dennoch aufschlussreich, zahlreiche Inkongruenzen werden in ihr manifest. Gerade das überhebliche Gehabe des Protagonisten wird durch verschiedene gegenteilige Einschätzungen untergraben. Der Chef hebt wiederholt die Unreife des Erzählers hervor: „Du bist ein Sechzehnjähriger mit einem Haufen Probleme, ist dir das klar? Du könntest ein bisschen Disziplin gebrauchen“ (ebd., 14) / „Du bist ein kleiner Junge. Und strohdumm obendrein“ (ebd., 81). Das wiederholte Betonen des Erzählers, er sei ein „Mann“ (vgl. ebd., 62, 139, 196), wird durch die Aussagen des Vaters kontrastiert; die mitunter nahezu patzige Figurenrede des Erzählers sowie sein stellenweise beinahe kindliches Verhalten unterstützen die Einschätzung des Vaters. Auch Chiara dient in diesem Zusammenhang als Kontrastiv: 207 „Oder es liegt an dir“, fuhr ich fort, „du hoffst, dass ich dich anstarre, obwohl ich es gar nicht tue.“ […] „Kleiner Junge“, sagte sie traurig, als wäre sie enttäuscht (227f., ähnlich 62). Viele andere Figuren zeichnen ein wenig schmeichelhaftes Bild des Erzählers. Der Schulleiter nennt ihn eine „taube Nuss“ (ebd., 27); seine Schwester fragt ihn: „Ist das wieder eine von deinen bescheuerten Touren?“ (ebd., 32), und sie sagt über ihre Beziehung zu Mauro: „Wir haben uns gern. Und auch Papa und diese Virginia haben sich gern.“ Dann blickte sie mich hart an. „Du dagegen hast niemanden. Darum weißt du nicht mal, wovon ich rede.“ (69) Die Aussagen der anderen Figuren scheinen den Erzähler oft nicht zu bekümmern. Er nimmt sie zur Kenntnis und wehrt ab: „Das Volk hasste mich“ (ebd., 57). Lediglich Chiaras Einschätzungen treffen den Erzähler, ihre Meinung ist ihm wichtig. Ausgerechnet sie ist es, die ihn darauf hinweist, was über ihn geredet wird: Sie schrie nur noch. „Willst du wissen, was man im Ort von dir sagt? DASS DU EIN VERSAGER BIST! DASS NIEMAND WAS MIT DIR ZU TUN HABEN WILL! DASS DU DER SOHN EINER ARMEN FRUSTRIERTEN SCHLAMPE BIST, DIE MIT EINEM TYPEN DURCHGEBRANNT IST, DER FAST JÜNGER IST ALS DU, DAMIT SIE JA NICHT DEINE MUTTER SPIELEN MUSS!“ Diesmal war ich geschockt. „Wer sagt das?“ „Tony Champion erzählt es allen, und was meinst du, wie wir uns totlachen, wenn wir an deine Mutter mit dem Tankwart denken!“ (ebd., 112; Großschreibg. im Orig.) Wenn sie ihn kritisiert, hört er zu: Ich wollte mich schon auf sie stürzen, da fügte sie hinzu: „Aber du bist nur ein kleiner Junge. Unreif. Und jämmerlich dazu. Als wäre die Welt dir was schuldig. Als wären dir alle was schuldig.“ Sie schüttelte den Kopf. „Und du bist noch nicht erwachsen genug, um zu begreifen, dass es nicht so ist.“ Ich fühlte mich hundeelend. Mein Blut gefror in der Gluthitze des Julis. Auf einmal war ich kein Schauspieler in irgendeinem Film mehr. Mir fiel absolut nichts mehr ein. Ich war nur noch ich selbst, und es ist nicht gerade schön, in so einem Moment nur noch man selbst zu sein (185). Ihr gegenüber gibt der Erzähler zu: „Ich weiß nicht … Ich mache blöde Sachen, die ich fast sofort bereue“ (ebd., 299). Schließlich gelingen dem Erzähler die ersten Schritte in Richtung einer Ich-Findung. Anfangs ist er der immer Verprügelte, ein Verlierertyp, der sich durch großspuriges Gerede seiner Männlichkeit versichert und seine diversen Niederlagen dabei als Siege inszeniert. Bei einem Dartturnier bietet sich ihm schließlich die Möglichkeit eines ersten echten Sieges: Er steht, nachdem er sogar Tony Champion besiegt hat, gegen einen alten Mann im Finale. Aus Mitleid lässt er seinen Gegner gewinnen, was allein von Chiara bemerkt wird. Erstmals ist seine Handlung nicht egoistisch motiviert: Er behält seinen Schwindel für sich, und anders als 208 zuvor geht es ihm nicht um Selbstdarstellung. Es lässt sich zusammenfassen: Eine autodiegetische und stark subjektive Erzählsituation, ein erzählerischer Hang zur Übertreibung sowie zum (Selbst-)Betrug, ein traumatisierter und generell als unsicher und labil konzipierter Erzähler sowie durchweg erhebliche Diskrepanzen zwischen erstens der Rede und den Taten des Erzählers und zweitens der Wiedergabe des Geschehens durch den Erzähler und den Aussagen der übrigen Figuren fügen sich in Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe zu einer durchgängig höchst unzuverlässigen Gesamtkonstruktion. Einordnung Entsprechend den zuvor formulierten Untersuchungsparametern kann in Bezug auf die erzählerische Unzuverlässigkeit in Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe festgehalten werden: Themen und Motive Im Kontext erzählerischer Unzuverlässigkeit fällt in Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe das zentrale Thema ‚Identität‘ besonders auf. Der traumatisierte Erzähler muss sich darüber klarwerden, wer er sein will, und er hat große Orientierungsschwierigkeiten. Das Motiv des Fabulierens ist dabei von sehr hoher Bedeutung. Erzählsituation Wie es auch in den zuvor untersuchten Jugendromanen der Fall ist, handelt es sich in Frascellas Roman um eine extradiegetisch-autodiegetische Erzählsituation mit einer eng an den Wahrnehmungshorizont des Ich-Erzählers gebundenen fixiert internen Fokalisierung. Leser sind den Schilderungen und Urteilen des großsprecherischen Jugendlichen nahezu ausgeliefert. Die Modellierung der Erzählerfigur Der namenlose Erzähler ist ein verunsicherter Jugendlicher, der nicht mit der Tatsache zurechtkommt, dass seine Mutter die Familie verlassen hat. Er muss die Schule verlassen, und er findet sich nur schwer im Arbeitsleben zurecht. Die Figurenkonzeption des Erzählers entspricht dabei einem pikaresk anmutenden Antihelden; er wird durchweg als ‚Loser‘ inszeniert. Erzählerische Unzuverlässigkeit manifestiert sich in der Tatsache, dass seine überschwänglichen und angeberischen Selbstbeschreibungen nicht den Tatsachen zu entsprechen scheinen. 209 Markierung der erzählerischen Unzuverlässigkeit Abgesehen von einer multiperspektivischen Auffächerung sowie Hinweisen im Paratext – beide Merkmale finden sich in Frascellas Werk nicht – sind alle übrigen von Nünning (1998, 27f.) formulierten textuellen Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit in Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe enthalten. Sie sind von Beginn an Charakteristikum der Erzählerrede, und sie manifestieren sich deutlich in Form von Diskrepanzen sowie als hohe Subjektivität und Involviertheit. Wie es auch in Mütter mit Messern sind gefährlich der Fall ist, ist auch in Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe Figuren, denen eine vermeintliche Korrektivfunktion zukommt, nur bedingt zu trauen: Sie sind in nahezu gleichem Maße wie der mit Schwächen ausgestattet. Erzählerische Unzuverlässigkeit wird so einerseits generiert, andererseits sind die Möglichkeiten für Leser, eine ‚Wahrheit‘ zu erschließen, begrenzt; schlussendlich kann diesbezüglich nur gemutmaßt werden. Weitere Beschaffenheit der erzählerischen Unzuverlässigkeit Die Erzählung ist ontologisch entscheidbar. Die Unzuverlässigkeit ist als mimetisch (nach Martínez und Scheffel) bzw. offen (nach Köppe und Kindt) charakterisierbar. Die Erzählung ist durchgehend unzuverlässig, wird aber mit zunehmender Reife des Erzählers etwas zuverlässiger. Intermedialität/Intertextualität Im intertextuellen Kontext fallen im inneren Kommunikationssystem zahlreiche pikareske Anlehnungen auf, die sowohl die Figurenkonzeption des Ich-Erzählers als auch die Erzählsituation betreffen. Ihnen kommt gerade im Zusammenhang mit der unzuverlässigen Erzählweise des jugendlichen Protagonisten eine Bedeutung zu. Die Verweise sind nicht explizit markiert. Funktionen Es lassen sich sowohl interne als auch externe literarische Funktionen der erzählerischen Unzuverlässigkeit feststellen. So dient die Unzuverlässigkeit auch in Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe in besonderem Maße der Charakterisierung der Erzählerfigur. Besonders fällt dabei ein komisches Potential der Unzuverlässigkeit auf, das gerade in jenen Momenten der beschriebenen textuellen Diskrepanzen zur Geltung kommt, die das Großsprechertum des Jugendlichen entlarven. Diese komische Funktion wird um eine ironische Komponente erweitert, wenn sich der Erzähler in der für ihn typischen herablassenden Art mit Geschlech- 210 terrollen auseinandersetzt. Indirekt wird mit der Konzeption des jugendlichen Antihelden auch die Jugendphase persifliert (externe literarische Funktion). In der erzählerischen Unzuverlässigkeit in Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe ist aber auch eine ernsthaftere gesellschaftskritische Funktion enthalten: Dem Erzähler erschließt sich die Tatsache nicht, dass er an seinem Arbeitsplatz ausgebeutet wird. Sein Rivale, Schwarzy, studiert am Romanende; aufgrund seiner Herkunft bietet sich dem Erzähler eine solche Perspektive nicht. Mit der Auflösung der erzählerischen Unzuverlässigkeit bekommen Leser einen Überblick über die Situation des Erzählers, und sie erhalten Einblicke in gesellschaftliche Ungerechtigkeiten des Italiens der 1980er Jahre – selbst wenn diese dem Erzähler verborgen bleiben. 211 Starre nach draußen, starre nach drinnen, ich stehe mir gespiegelt im Glas gegenüber und starre auf mich selbst. (Das Klacken im Kopf.) Wer bist du? Wer bist du wirklich? (Mohl 2011, 93, Hervorhebg. im Orig.) 3.2.4 Nils Mohl: Es war einmal Indianerland Der Roman Es war einmal Indianerland von Nils Mohl erschien im Jahr 2011 im Rowohlt Taschenbuch Verlag (Reinbek) als erster Teil der so genannten Stadtrand-Trilogie77. Das Werk hat 347 Seiten und wird vom Verlag für junge Erwachsene ab sechzehn Jahren empfohlen. 2012 erhielt Nils Mohl für Es war einmal Indianerland den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte ‚Jugendbuch‘. Auch in Mohls Werk findet sich ein psychisch labiler Ich-Erzähler, und die Unzuverlässigkeit seiner Erzählung manifestiert sich in Wahrnehmungsdefiziten sowie daraus resultierenden Unsicherheiten bezüglich Elementen der Erzählung: Ähnlich wie es bei Der Schatten meines Bruders der Falls ist, entpuppt sich eine Hauptfigur im Laufe des Romans als Imagination des Erzählers. In Es war einmal Indianerland kommt zu diesen Merkmalen ein völliges Aufheben der Chronologie auf der discours-Ebene hinzu. Unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten bezüglich der Erzählgegenwart werden eröffnet, je nach Lesart kann der ontologische Status großer Teile der Erzählung infrage gestellt werden. Die erzählerische Unzuverlässigkeit in Es war einmal Indianerland geht damit deutlich über die der zuvor untersuchten Jugendromane hinaus. Inhalt, Themen, Motive, Komposition Der siebzehnjährige namenlose Ich-Erzähler lebt alleine in einer Hochhauswohnung am Stadtrand, einige Etagen über der Wohnung seines Vaters. Seine Zeit verbringt er vor allem mit Boxen: Zur Vorbereitung auf die nächste Saison hat er gerade einen Boxsack bestellt, den er in seiner Wohnung anbringen möchte. Im Laufe zweier Wochen in den Sommerferien geschieht so einiges, das das Leben des jungen Mannes durcheinanderbringt: Er lernt erst Edda und dann Jackie kennen, zwei völlig verschiedene junge Frauen, zu denen er sich auf ganz unterschiedliche Weise hingezogen fühlt und zwischen denen er sich entscheiden muss. Zur gleichen Zeit fordert ihn Kondor, ein Freund aus Jugendtagen, zu einem Der zweite Teil der Trilogie, Stadtrandritter, erschien 2011, der dritte Teil 2016 unter dem Titel Zeit für Astronauten (jeweils im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek). 77 212 Boxkampf heraus. Diese Herausforderungen treten in den Hintergrund, als sein Vater, Zöllner, seine Frau umbringt. Erst nach zwei Tagen, die Zöllner mit der Frauenleiche in seiner Wohnung verbracht hat, wird die Tat vom Ich-Erzähler entdeckt. Anstatt sich, wie versprochen, zu stellen, flieht Zöllner vor der von seinem Sohn alarmierten Polizei. Der Erzähler versucht die Tat zu verstehen, und er macht sich auf die Suche nach seinem Vater. Zusammen mit Edda fährt er zu einem „Powwow“ (Mohl 2011, 16; Hervorhebg. im Orig.), einem Event, das in Konkurrenz zu einem großen Festival an der Grenze stattfinden soll – und auf dem sich neben Zöllner auch Jackie befindet. Mal nüchtern, mal im Drogenrausch bewegt sich der Erzähler inmitten skurriler Gestalten über das Gelände, trifft Jackie und wird sich dabei seiner Gefühle für die bodenständige Edda klar. Wieder kommt es zu einem Kampf, dieses Mal mit zwei jungen Männern, die ihn schließlich an einen Baum an einer Lichtung fesseln und im Hagelsturm stehen lassen. Dort findet ihn Zöllner, und es kommt zu einer Aussprache von Vater und Sohn. Nachdem Zöllner erneut verschwindet, erscheinen Jackie und Edda. Obwohl sich der Erzähler längst für Edda entschieden hat, verhält sich Jackie, als wären er und sie selbst ein Paar. Edda fährt in ihrem Wagen davon, der Erzähler läuft ihr nach und das Auto kollidiert mit einem Wildschwein. Die junge Frau bleibt unversehrt, und gemeinsam bestatten der Erzähler und Edda das tote Tier in einem Kanu in einem nahegelegenen Teich. Am Ende stellt sich Zöllner, und der Erzähler und Edda verbringen den vorletzten Tag der Sommerferien gemeinsam am Meer. Vordergründiges Thema des Romans ist das Erwachsenwerden. Das Coming-ofAge des Protagonisten ist eng verknüpft mit Themen wie der ersten Liebe oder jugendlichen Rivalitäten, aber auch der Identitätsfindung und der Abgrenzung zum ehrgeizigen Vater. Dieser Prozess wird allerdings durch die Ermordung der Stiefmutter durch den Vater erheblich belastet. Die Auseinandersetzung mit diesem traumatischen Erlebnis stellt eine besondere Herausforderung für den Erzähler dar. Mitunter ist er derart unsicher in seiner Identität, dass ihm Merkmale einer gespaltenen Persönlichkeit zu diagnostizieren sind, die, wie später zu zeigen sein wird, von erheblicher Bedeutung für die erzählerische Unzuverlässigkeit sind. Immer wieder taucht eine Figur namens Mauser auf, die zunächst als vermeintlicher Freund des Protagonisten in Erscheinung tritt, sich aber spätestens in der Mitte des Romans als Alter Ego des Protagonisten entpuppt. Neben dem Coming-of-Age, den damit verknüpften Ich-Findungsprozessen und dem Bestehen einer traumatischen Situation geht es auch um unterschiedliche 213 Privilegierung der Jugendlichen, die in der Kontrastierung der Vorstadtbewohner mit den Kindern des Villenviertels sichtbar wird. Einige weitere Themen und Motive durchziehen den Roman: Das Thema ‚Film‘ ist allgegenwärtig – Referenzen zum Western liegen sowohl auf der Handlungs- als auch auf der Darstellungsebene wie eine Folie über dem gesamten Roman. Hiermit verbunden ist auch das Motiv des Kämpfens von hoher Bedeutung78. Permanent auftretende detaillierte Schilderungen extremer Wetterbedingungen sind ebenfalls mit dem filmischen Thema verknüpft. Auch diese Motive und Themen sind, wie später zu zeigen ist, von Bedeutung für die spezifische Unzuverlässigkeit des Erzählers in Es war einmal Indianerland. Die Komposition des Romans ist in vielerlei Hinsicht unkonventionell und dabei höchst komplex. Auf der ansonsten leeren Frontispiz-Seite findet sich rechtsbündig im unteren Bilddrittel eine vignettenartige Illustration, die die Symbole für play, pause, rewind, fast forward und stop darstellt. Die gleiche Illustration findet sich auch am Ende des ersten Romanteils sowie am Ende der Erzählung; sie strukturiert und umschließt somit die gesamte Erzählung: Abbildung 17: Vignette in Es war einmal Indianerland (Mohl 2011, [2], 184, [346]) Nach dem Titelblatt (ebd., [3]), den bibliografischen Angaben (ebd., [4]) und einer Widmung (ebd., [5]) folgt ein kurzer, kursiv gesetzter Paratext über die Fiktionalität des vorliegenden Werkes (ebd., [6]). Auf der gegenüberliegenden Seite findet sich in der rechten oberen Ecke eines davon abgesehen leeren Blattes das Symbol für play (ebd., [7]). Auf der nächsten Seite steht ein Text, in dem der Erzähler in medias res in die Handlung einsteigt und der zeitlich in der Mitte der beiden folgenden Romanteile anzuordnen ist (ebd., [8]). Im Anschluss folgen die beiden römisch nummerierten Romanteile (I. Krieger. Die Geschichte von Mauser – und Jackie; ebd., [9] – 184 / II. Grenzen. Die Geschichte von Grünhorn – und Edda; ebd., 185 – [347]), die sich wieder jeweils in kleinere Teile aufteilen. In beiden Teilen findet man zunächst einen „Kalender“ (ebd., 11, 187), der einen chronologischen Überblick über die nachfolgenden Geschehnisse liefert. Auffälligstes kompositorisches Merkmal von Es war einmal Indianerland ist An dieser Stelle wäre noch das Grenzmotiv zu nennen, das aber eng verbunden ist mit der Raumsemantik des Romans, die zu entfalten hier wiederum über das eng gefasste Thema hinausginge. 78 214 eine völlige Aufhebung der zeitlichen Ordnung innerhalb der beiden Romanteile, in denen die Kapitel nicht chronologisch, sondern versatzstückartig in scheinbar wahlloser Ordnung hintereinandergestellt werden. In beiden Romanteilen sind stellenweise zwischen die Kapitel noch einzelne Seiten montiert, auf denen zusätzliche Informationen (überschrieben zum Beispiel mit „Was zum Fall Zöllner in der Zeitung steht [I]“; ebd., 29), Erzählerkommentare (wie zum Beispiel „Drei Dinge, die ich sicher über Edda weiß“; ebd., 68; Hervorhebg. im Orig.) oder Handlungselemente (Postkarten, die auch in der Geschichte vorkommen) hinzugefügt werden. In diesen Fällen schließt das voranstehende Kapitel nicht – wie es sonst der Fall ist – mit einem stop-Symbol ab; diese Einschübe werden durch ein Pause-Zeichen eingeleitet. Der Erzählung nachgestellt findet sich ein „Soundtrack“ (ebd., [347]), eine Auflistung von vierzehn Songtiteln. Erzählerische Unzuverlässigkeit Die erzählerische Unzuverlässigkeit in Es war einmal Indianerland durchzieht die gesamte Erzählkonstruktion; Inkongruenzen betreffen sowohl die histoire- als auch die discours-Ebene. Sie manifestieren sich in einer Verkehrung der zeitlichen Ordnung, in einer unklaren Erzählsituation, einer Verschleierung der Erzähleridentität sowie einer unsicheren Wahrnehmung des Erzählers. Sie ist eng verflochten mit einer Vielzahl intertextueller Referenzen. Paratext Dem Romantext vorgestellt findet sich ein Verweis auf die Fiktionalität der Geschichte, der mit den Worten beginnt: Dieser Roman spielt zum Teil an einem Ort, der an den Hamburger Stadtteil Jenfeld erinnert. Außerdem erinnern bestimmte Begebenheiten der Geschichte womöglich an Ereignisse, die dort (oder ganz in der Nähe) wirklich stattgefunden haben (ebd., [6]; Hervorhebg. im Orig.). Die Formulierung erinnert an in der Regel eher im Film übliche Hinweise zu intendierten Haftungsausschlüssen im Fall von Verletzungen der Persönlichkeitsrechte. Allerdings weicht der Ton in diesem Abschnitt am Ende von rechtlicher Fachsprache ab, und die Passage schließt mit dem Hinweis: Leben und Ansichten der Figuren sind freie Erfindungen. Wie vermutlich alles. (Jenfeld eingeschlossen.) (ebd., [6]; Hervorhebg. im Orig.) Es erschließt sich nicht, ob dieser Teil noch zum Paratext gehört, oder ob es sich bereits um einen Teil der Erzählung handelt; die Erzählsituation wird so noch vor 215 dem Erzählbeginn bzw. von Beginn an verschleiert. Auf der gegenüberliegenden, sonst leeren Seite findet sich ein kleines play-Symbol (ebd., [7]), was wiederum nahelegen könnte, dass (erst) nun die Erzählung beginnt. Insgesamt entspricht diese Anfangskonstruktion der starken Anlehnung an filmisches Erzählen in Es war einmal Indianerland, was, wie zu zeigen ist, von hoher Bedeutung für die erzählerische Unzuverlässigkeit des Romans ist. In dem Romantext nachgestellten Soundtrack (ebd., [347]) findet sich ein weiterer, jedoch sehr versteckter Hinweis auf die erzählerische Unzuverlässigkeit des Romans: Das achte Lied der Liste, „Where Is My Mind?“ von den Pixies, ist der Titelsong des höchst unzuverlässig erzählten postmodernen Films Fight Club (1999), auf dessen hohe intermediale Bedeutung im Kontext der erzählerischen Unzuverlässigkeit von Es war einmal Indianerland ebenfalls an späterer Stelle noch genau eingegangen wird. Verkehrung der zeitlichen Ordnung Die oben angeführte unkonventionelle zeitliche Konstruktion in Es war einmal Indianerland ist das zuvörderst bemerkbare Signal erzählerischer Unzuverlässigkeit: Gleich zu Beginn entsteht eine Inkongruenz in Form einer erheblichen Störung des Leseflusses, die von den Lesern zu naturalisieren ist. Die erzählte Zeit im ersten Romanteil entspricht einem Zeitraum von acht Tagen, auf der Titelseite des ersten Romanteils mit „Mittwoch bis Mittwoch“ (ebd., [9]) angegeben. Es folgen neunzehn erzählte Kapitel, deren zeitliche Bezüge zueinander jeweils am Kapitelanfang durch ein Symbol (entweder oder ) sowie eine sprachliche Markierung (z. B. „zurück: Sonntag, noch 8 Tage Ferien“; ebd., 13, / „vor: Donnerstag, noch 11 Tage Ferien“; ebd., 40) hergestellt werden. Durch die Umstellung der Chronologie in den erzählten Kapiteln des ersten Romanteils ergibt sich ein Bild einer nahezu völligen Durchmischung, lediglich das Erzählende ist chronologisch korrekt positioniert. Berücksichtigt man die oben genannten Erzählerkommentare, lässt sich – zumindest was diese Einschübe betrifft – dann doch eine Symmetrie erkennen. Die zeitliche Konstruktion lässt sich wie folgt darstellen: 216 Chronologische Ordnung (story): Mi Do Fr Sa So Mo Mittwoch Di A1 A2 A3 A4 B1 B2 B 3 C1 D 1 D 2 D 3 E1 E2 F1 F2 G 1 G2 H 1 H2 S. 48 S. 69 S. 16 8 S. 31 S. 77 S. 112 S. 40 S. 94 S. 21 S. 103 S. 13 0 S. 13 S. 85 S. 119 S. 140 S. 15 8 S. 148 S. 58 S. 176 E 2 C 1 D 2 B 2 F 1 D 3 F 2 G 2 G 1 A 3 H 2 Reihenfolge in der Erzählung (plot): E 1 D 1 A 4 B 3 A 1 H 1 A 2 B 1 Reihenfolge unter Berücksichtigung der einmontierten Erzählerkommentare (rot markiert): E 1 D 1 A 4 B 3 A 1 H 1 A B E C D B 2 1 2 1 2 2 F 1 D 3 F 2 G 2 G 1 A 3 H 2 Abbildung 18: Zeitkonstruktion in Es war einmal Indianerland, erster Romanteil (ebd., 13184) Die Konstruktion des zweiten Romanteils mutet ähnlich an, allerdings ist die er- zählte Zeit mit einem Zeitraum von drei Tagen („Donnerstag bis Samstag“; ebd., 185) deutlich kürzer. Bei einer analogen Sortierung der Kapitel des zweiten Romanteils ergibt sich folgendes Bild: Chronologische Ordnung (story): Donnerstag Freitag Samstag I1 I2 I3 I4 J1 J2 J3 J4 J5 J6 J7 J8 J9 K1 K2 K3 K4 K5 K6 S. 331 S. 216 S. 200 S. 252 S. 275 S. 233 S. 189 S. 224 S. 243 S. 266 S. 290 S. 307 S. 322 S. 208 S. 260 S. 283 S. 298 S. 315 S. 340 J7 K4 J8 K5 J9 I1 K6 Reihenfolge in der Erzählung (plot): J3 I3 K1 I2 J4 J2 J5 I4 K2 J6 J1 K3 Reihenfolge unter Berücksichtigung der einmontierten Erzählerkommentare (rot markiert): J 3 I 3 K 1 I 2 J 4 J 2 J 5 I 4 K 2 J 6 J 1 K 3 J 7 K 4 J 8 K 5 J 9 I 1 K 6 Abbildung 19: Zeitkonstruktion in Es war einmal Indianerland, zweiter Romanteil (ebd., 185-347) Auch im zweiten Romanteil ist das Ende chronologisch. Generell fällt auf, dass hier ‚mehr‘ pro Tag erzählt wird – die Ereignisse überschlagen sich, mitunter werden 217 einzelne Episoden in mehreren Teilen erzählt (vgl. z. B. ebd., 224 u. 243), was erheblich zum Spannungsaufbau beiträgt. Zusätzlich zu der anachronischen Erzählweise wird in Es war einmal Indianerland stark elliptisch erzählt. Gerade im ersten Romanteil werden die Kapitel dabei nahezu episodenartig hintereinandergestellt. Zusammenhalt wird – mehr noch als durch die eingefügten Kalender – durch bestimmte Requisiten und Motive geliefert, die durchweg in der Erzählung auftauchen. Ein solches MacGuffin ist beispielsweise Eddas Bohrmaschine, die den Protagonisten immer wieder beschäftigt: Mal überlegt er, woher er eine Bohrmaschine bekommen könnte, dann plant er, Zöllner zu fragen, dann Edda, dann trägt er sie mit sich herum, dann hat er sie verloren, an anderer Stelle gerade wiedergefunden, schließlich verwendet er sie, um das Kanu für die Seebestattung des Wildschweins zu präparieren. Die Bohrmaschine funktioniert so auch als Orientierungspunkt, anhand dessen man zeitliche Bezüge herstellen kann. Ähnlich verhält es sich mit der Mütze des Protagonisten sowie den sehr wechselhaften Wetterbedingungen. Verschleierung der Erzählsituation Innerhalb der Kapitel wird durchweg präsentisch erzählt, es finden sich auch einige echte Analepsen, in denen der Erzähler rückblickend bestimmte Ereignisse schildert. Gerade die Entdeckung von Zöllners Tat durch den Protagonisten wird in aufbauender Rückwendung erzählt, wodurch eine distanziertere Erzählsituation generiert wird, als dies im übrigen Text der Fall ist. Zwar bleibt die Erzählweise auch in diesen Passagen präsentisch, sie ist hier aber eindeutig als historisches Präsens zu verstehen. Obwohl die Tat zeitlich in den ersten Romanteil einzuordnen ist, wird erst im zweiten Romanteil, fünf Tage später auf dem Powwow, davon erzählt: Ich bleibe stehen, direkt vor einer Großleinwand, versuche, die aufkommenden und durch das Hirn wehenden Erinnerungsfetzen abzuschütteln. Wie mein Finger über dem Klingelknopf von Zöllners Wohnung schwebt. Das Klingelgeräusch (ein grelles Schellen). Das Warten. Wie sich das milchige Licht ganz leicht ändert, hinter dem kleinen Guckloch des Spions. Die Geräusche dazu jenseits der Tür, ihr Anschwellen, als geöffnet wird. Zöllners Gesicht. Wie das eines Tiers (von den herannahenden Scheinwerfern eines Wagens erfasst). Er ist bleich um die Nase. Zieht mich an der Schulter hinein in die Wohnung. Ein fester Griff. Zöllners Augen sind wässrig, an den Rändern gerötet. Er setzt zum Sprechen an. – Laura, sagt er, sie ist tot. Ich war’s (ebd., 234). Ähnliches lässt sich in der Episode des ersten Romanteils beobachten, in der der Erzähler mit Jackie eine Heißluftballonfahrt unternimmt. Die Szene wird durch einen cliffhanger eingeleitet: 218 – Was denkst du? – Ich denke, wir sollten fliegen, sage ich (ebd., 102). Es folgt aber keine Episode, die mit der Ballonfahrt einsetzt. Vielmehr wird die Fahrt analeptisch und eher unvermittelt erzählt, wenn der Erzähler drei Tage später auf der Baustelle in die Wolken blickt und sich – ebenfalls präsentisch erzählt – daran erinnert (vgl. ebd., 120ff.). Auch hier entsteht eine Distanz; die Ballonfahrt erscheint eher als Traum denn als Realität. Durch die höchst komplexe zeitliche Konstruktion ist es nicht einfach, die Erzählgegenwart genau zu bestimmen. Vereinzelt werden Signale wie falsche Fährten einer Entschlüsselung entgegengestellt: Der den beiden Romanteilen vorangestellte Text ist zeitlich im ersten Romanteil zu lokalisieren. In ihm scheint sich der Erzähler an seine Leser zu wenden, es wirkt, als gäbe er eine Übersicht über den Stand der Dinge: „Ich brauche ein Auto, ich brauche Geld, ich brauche Schlaf. Was ich habe, sind eine Mütze, noch 5 Tage Sommerferien, die Bohrmaschine von Edda“ (ebd., [8]). Es finden sich gleich vier direkte Anreden („Raten Sie mal, wie ich mich fühle. Und wenn Sie schon dabei sind, dann geben Sie doch ruhig noch einen Tipp ab […]. [...] Sie wissen es ja: Zöllner hat seine Frau umgebracht. [...] Dann erzähle ich Ihnen nochmal, was Zöllner gesagt hat […]“; ebd., [8]). Im gesamten nachfolgenden Roman folgt dann keine einzige weitere Leseranrede, sodass sich die Stimme in dieser Passage deutlich vom Rest der Erzählung unterscheidet. Man könnte annehmen, dass es sich hier um die Erzählgegenwart handele, der anschließend eine aufbauende Analepse folge. Die auf der nächsten Seite gegebene sprachliche Markierung „( REWIND | rückspulen)“, die von dem entsprechenden Symbol begleitet wird (ebd., [9]), unterstützt auch diesen Eindruck. Die vermeintlichen Leseranreden des Eingangstexts stellen sich jedoch als etwas anderes heraus: Es handelt sich bei dieser Passage um eine Konfrontation des Erzählers mit „Manitu“ (ebd., 183), der Erzähler ‚schleudert‘ der fiktiven Indianergestalt seine Wut entgegen: (Und ich bin mir sicher, ich habe dabei das Grinsen eines Irren im Gesicht.) – … ich brauche ein Auto, ich brauche Geld, ich brauche Schlaf … Neben mir steht das Köfferchen von Edda. Ich nestle an der Mütze, springe auf. Schreie das Nächste aus mir heraus, dass es im Hals kratzt: – Was ich habe, schreie ich, sind noch 5 Tage Sommerferien, eine Mütze, die Bohrmaschine von Edda! Ich trete gegen die Straßenlaterne. Das Licht flackert. Ich trete noch einmal zu und noch einmal. Klage Manitu unterdessen im Schnelldurchlauf mein Leid. […] Und dann trifft es mich. […] Ich bin allein. Allein. Ich (ebd., 183f.). 219 Mit dieser Passage schließt der erste Romanteil ab, sie markiert gleichzeitig den Zeitpunkt, in dem sich der Erzähler von seiner doppelten Identität löst, und sie liefert eine Klammer um den ersten Romanteil, in dem es ja maßgeblich um die Identität des Erzählers geht. Der zweite Romanteil beginnt dann auch mit der Markierung „( FAST FORWARD | vorspulen)“ sowie dem entsprechenden Symbol (ebd., 185). Handelte es sich bei dem Eingangstext tatsächlich um die Erzählgegenwart, müsste nun gleichzeitig und vor allem chronologisch weitererzählt werden, was aber nicht der Fall ist. Man könnte den gesamten zweiten Romanteil als Prolepse verstehen, und es gibt hierzu auch eine Fährte: Am letzten Tag der Erzählung befinden sich der Erzähler und Edda am Strand, und der Erzähler verliert sich in einer Träumerei, in der er die Heimfahrt imaginiert: Ich weiß, wir werden gleich die Brücke passieren, wo sie mich aufgelesen hat. Und genau das ist die Stelle, an der ich plötzlich ins Schleudern komme. Ist es denn ausgeschlossen, dass ich nicht genau dort noch sitze? Dass ich mich vielleicht nie fortbewegt habe, nie die Grenze unserer Siedlung überschritten, die ganze Reise bloß phantasiert habe? Dass Mauser und ich nur in meiner Einbildung eins sind? Dass die Zeit überhaupt nicht vorangeschritten ist? Dass ich mir nur eine Geschichte ausgedacht habe, in der ich mich selbst begleite (bei meiner Expedition zu mir selbst)? Eine Geschichte, wie es weitergehen könnte? (ebd., 343f.) Diese Passage scheint die Deutung der Geschichte als Prolepse zu stützen. Dass dieser Befund allerdings nicht zutreffend ist, wird unmittelbar danach von Edda aufgelöst: – Und wer sagt mir, dass das hier kein Traum ist? – Dein Sonnenbrand? Zum Beispiel, sagt Edda (ebd., 344). Durchweg ist Edda die bodenständige Bezugsperson für den Erzähler; ihre Einschätzung ist als klares Korrektiv zu verstehen. Eddas Aussagen ist – im Unterschied zu denen des Erzählers – stets zu vertrauen. Zur Bestimmung der Erzählsituation ist eine kurze Passage kurz vor dem Tagtraum des Erzählers aufschlussreich, in der ganz konkret auf die Komposition des Romans verwiesen wird: Edda und ich liegen Kopf an Kopf. Lassen uns rösten. Mein Körper fühlt sich leicht an. Ich träume im Liegen. Völlig inhaltslos. Mit offenen Augen. Bin einfach noch einmal für eine Zeit woanders, jenseits des Hier und Jetzt. Bis ich nach einer Weile anfange, über die Rückfahrt nachzudenken. Eigenartig konkrete Vorstellungen davon nehmen im Kopf Gestalt an. Beinah so, als könnte ich in der Zeit (ganz nach Belieben) nicht nur zurück-, sondern auch vorspulen (ebd., 342). 220 Dieses – allerdings nur schwache – Signal legt nahe, die Erzählgegenwart an dieser Stelle zu verorten, und die gesamte Erzählung als spätere Erzählung, als Montage des Erlebten in durchweg historischem Präsens zu deuten. Diese Lesart wäre auch konform mit dem Einsatz der Filmsymbole. Die Erzählerkommentare wären entsprechende Erzählpausen, die eine zweite Ebene der Erzählung darstellten. Die Erzählstimme der einzelnen erzählten Episoden ist tatsächlich unmittelbar und nah am erlebenden Ich des Erzählers orientiert, die eingefügten Passagen erscheinen deutlich reflektierter und gereift. Lediglich die letzten Seiten, auf denen das Ende des Strandtages mit Edda erzählt wird, wären nach dieser Lesart als gleichzeitige Erzählung zu entschlüsseln. Man kann zusammenfassen, dass in Es war einmal Indianerland Diskrepanzen bezüglich Zeit und Stimme generiert werden, die ein erhebliches Unsicherheitsmoment darstellen. Verschleierung der Erzähleridentität Die Unzuverlässigkeit betrifft jedoch vor allem die Erzähleridentität. Im gesamten ersten Romanteil tritt eine Figur namens Mauser in Erscheinung, die erst im Nachhinein als Teil des Ich-Erzählers markiert wird: Es handelt sich nicht, wie zunächst naheliegend scheint, um einen Freund des Erzählers, sondern um ein Alter Ego seiner selbst. Sämtliche Dialoge der ‚beiden‘ müssen nach der Auflösung der Unzuverlässigkeit als innere Zwiegespräche einer zumindest in Ansätzen gespaltenen Persönlichkeit umgedeutet werden; vermeintlich als Außensicht präsentierte Aussagen über Mauser müssen als Innensicht neu gelesen werden. Textuelle Hinweise gibt es reichlich, sie bleiben jedoch zunächst implizit. Auf der ersten Seite der Erzählung präsentiert sich der Erzähler in einem Dialog mit Mauser inmitten sintflutartigen Regens: – Hunde und Katzen, sage ich. […] – Die kommen nicht mehr, höre ich Mauser sagen. Seine Stimme: weit weg, undeutlich (wie die hallenden Worte eines Predigers in einer halbleeren Kirche). Selbst meine eigene Stimme klingt im Kopf seltsam hohl wegen des Geprassels. – Ja, es schüttet Dobermänner und Säbelzahntiger, sage ich (ebd., 13). Es gibt hier noch keinen Grund zu der Annahme, es handele sich dabei um ein Selbstgespräch nur einer Figur. Das Personalpronomen ‚ich‘ steht in Abgrenzung zu dem Namen Mauser, „seine Stimme“ (ebd.) im deutlichen Gegensatz zu dem sogar gedoppelten Ausdruck „meine eigene Stimme“ (ebd.). Gleich auf der ersten 221 Seite der Erzählung wird so eine falsche Fährte gelegt. In der Folge stellt der Erzähler Mauser konsequent als außenstehende autonome Persönlichkeit dar. Als der Erzähler von Jackie tagträumt, beschreibt er in diesem Kontext Mauser: „Mauser, nicht groß, aber gebaut wie eine griechische Statue, ein austrainierter Athlet“ (ebd., 43). Es gibt insgesamt nur wenig Informationen über den vermeintlichen Freund, lediglich einmal führt der Erzähler an: „Es ist auch die Zeit, in der ich mit dem Boxen angefangen habe, Mauser wird mein ständiger Begleiter, zwölf, dreizehn Jahre alt bin ich damals“ (ebd., 51). Die Bezeichnung „ständiger Begleiter“ (ebd.) ist hier entsprechend doppeldeutig zu verstehen – ähnliche Uneindeutigkeiten lassen sich an vielen Stellen finden, sie sind versteckte Hinweise auf die Identität des scheinbaren Freundes. Durchweg abrupt erscheint Mauser im Geschehen: „Und das ist jetzt wirklich Mauser, der wie aus dem Nichts einfach da ist“ (ebd., 47). Als der Erzähler sich noch im ersten Kapitel eine Prügelei mit Mauser liefert, zeigt dieser keine Reaktion: Schiebe den Schirm der Mütze ein Stück nach oben. Der Regen prasselt, und ich knacke beiläufig mit den Fingerknöcheln, habe nicht übel Lust, mit einer satten Gerade auf Mausers Kinn zu zielen. Hole tatsächlich aus und schlage ins Leere. Noch einmal. Und immer weiter. Wie bei einer Prügelei in einem Albtraum, in der man auch so oft zuschlagen kann, wie man will, und nie trifft und trotzdem kein Ende findet (ebd., 18). Im Anschluss folgen keine weiteren Kommentare über Mauser, und der Erzähler läuft kurz darauf davon, ohne ein weiteres Wort oder einen Gedanken an Mauser zu verlieren. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang ein Spiegelmotiv; mehrfach betrachtet der Erzähler sein Spiegelbild, so zum Beispiel im Fenster seines Zimmers: Ich blicke hinaus Richtung Westen, vorbei an den Schlieren der Regentropfen, auf zum Himmel, in dem ich vorgestern noch mit Jackie gewesen bin (150 Meter hoch). Betrachte das Fensterglas direkt vor meiner Nase (150 Millimeter entfernt). Starre nach draußen, starre nach drinnen, ich stehe mir gespiegelt im Glas gegenüber und starre auf mich selbst (ebd., 93; vgl. auch 69). Hier gibt es nun tatsächlich zwei Versionen seiner selbst. An anderer Stelle scheint es gar Mauser zu sein, der zurückblickt: „Blicke ebenfalls in die Spiegel, sehe, dass Mauser jetzt wie eine antike Büste ins Leere starrt“ (ebd., 135). Neben dem Traum- und dem Spiegelmotiv finden sich viele weitere Andeutungen und Doppelsinnigkeiten, die auf die Tatsache hinweisen, dass es sich bei dem Erzähler und Mauser um ein und dieselbe Figur handelt. Wiederholt formuliert der Erzähler mehr oder weniger versteckte Anhaltspunkte, so beispielsweise, als er 222 von Kondor zum Kampf herausgefordert wird: Und mir kommt es so vor, als wäre es gar nicht mehr ich, der das sagt. Als wäre ich (wie manch einer, der bei Dunkelheit in ein Kostüm mit Maske und Umhang schlüpft, um das Gute gegen das Böse zu verteidigen) jetzt ein anderer (ebd., 46). Schließlich kommt es zur Auflösung dieser Unzuverlässigkeit, als Mauser zu Kondor in den Ring steigt und in der Beschreibung des Kampfes von der Außensicht zur Innensicht gewechselt wird: Runde drei: Mauser kämpft überlegen (kühl und elegant bis an die Grenze zur Arroganz). Kondor rennt mittlerweile nur noch verzweifelt gegen seine Deckung an. Feucht suppt es aus einem Cut über dem rechten Auge. Es ist zugeschwollen. Das tropfende Blut. Die winzigen Flecken am Boden. Mir ist, als würde Mauser einen kurzen Moment zögern. Als würde ich zögern. (Der Kampf ist entschieden.) Alle Bewegungen scheinen für eine Sekunde wie eingefroren. Ich höre nur meinen Atem. Mein Herz, das zwei-, dreimal von innen gegen die Brust schlägt wie Eddas Herz vorhin von außen. Dann geht der Kampf weiter: Meine Schläge kommen präzise aus der Schulter geschossen. Ich tänzle im Ring von einem Bein aufs andere: Schaue Kondor über die Handschuhe hinweg direkt ins lädierte Gesicht (ebd., 137). Rückwirkend müssen nun sämtliche Dialoge mit Mauser, alle Szenen, in denen er aufgetreten ist, neu bewertet werden. Die Persönlichkeit der Erzählerfigur erhält eine neue Dimension: Ihr ist – zumindest für den ersten Romanteil – eine Ich-Störung zu diagnostizieren. In einem in der Erzählung vor der Auflösung einmontierten Erzählerkommentar, der mit „Drei Dinge, die ich sicher über Mauser weiß“ (ebd., 129, Hervorhebg. im Orig.) betitelt ist, verrät der Erzähler: Seinen Namen hat er von mir bekommen, als er das erste Mal in den Ring gestiegen ist. (Mochte – wie ich – damals das Teekesselchenspiel besonders.) (ebd., 129) Hier erhält man einen Einblick in die Erzählerpsyche, wenn der Erzähler Mauser als den Teil von sich beschreibt, der für das Kämpfen zuständig ist. Dies kann man allerdings nur entnehmen, wenn man die Identität des Erzählers entschlüsselt hat. Der letzte einmontierte Kommentar des Erzählers im ersten Romanteil ist mit „Drei Dinge, die ich sicher über mich weiß“ (175, Hervorhebg. im Orig.) überschrieben. Der Erzähler formuliert ganz explizit: Mauser ist ein Teil von mir, der Boxer, an dem sein Vater besonders hängt. (Ich bin deshalb nicht schizo. Nur erwachsener, wenn es darauf ankommt.) (ebd., 175; Hervorhebg. im Orig.) Entsprechend ist dem Erzähler seine Doppelidentität durchaus bewusst, er selbst 223 bewertet seine psychische Disposition hier als „nicht schizo“ (ebd., 175; Hervorhebg. im Orig.). Man kann seine doppelte Identität auch als mehr oder weniger erfolgreiche Resilienzstrategie im Umgang mit einem überehrgeizigen Vater verstehen, zumal die Stimme der einmontierten Passagen die eines gereiften Erzählers ist, der um den schlussendlich als erfolgreich zu wertenden Ausgang der IchFindung weiß. In der Erzählung selbst ist dies allerdings nicht so klar. Hier finden sich immer wieder Passagen, in denen der Erzähler sehr wohl an seiner geistigen Verfassung zweifelt. Oft meldet sich dabei scheinbar sein Unbewusstes zu Wort. Die oben bereits zitierte Textstelle, in der der Protagonist sich im Spiegel betrachtet, wird folgendermaßen fortgeführt: Starre nach draußen, starre nach drinnen, ich stehe mir gespiegelt im Glas gegenüber und starre auf mich selbst. (Das Klacken im Kopf.) Wer bist du? Wer bist du wirklich? (ebd., 93; Hervorhebg. im Orig.) Oft durch Klammern und/oder Kursivdruck markiert, finden sich immer wieder solche Signale: „(War ich das? Wer spricht da?)“ / „(Mir ist, als würde mein Kopf jeden Moment von innen explodieren.)“ / „(Sage es zu mir. Und nur zu mir.)“ (alle ebd., 155). Unzuverlässigkeit und Intermedialität/Intertextualität (1): Wilder Westen Den gesamten Roman hindurch manifestiert sich die erzählerische Unzuverlässigkeit in den Beschreibungen und Deutungen der Erzählerumwelt. Obwohl sich die Handlung in weiten Teilen in einer eigentlich eher tristen Umgebung einer Hochhaussiedlung abspielt, schildert der Erzähler sein Umfeld in filmischer Westernmanier und legt dabei einen starken Hang zum Fabulieren an den Tag, wenn er ausladend und in höchst dramatischem Modus auf Westernstereotype zurückgreift. Wiederholt wähnt er sich dabei von einem Indianer verfolgt. Wieder ergeben sich pathologische Grenzbereiche – in diesem Fall durch teilweise paranoide Vorstellungen des Erzählers. Westernmotive Zunächst fallen viele dem Western angelehnte Vergleiche und Bilder auf, die vom Erzähler konsequent in die Erzählung eingearbeitet werden. So ist für den Erzähler die Tatsache, dass Jackie nicht in den Regen hinausgehen wird, so sicher wie „der Sonnenuntergang am Ende eines Westerns“ (ebd., 17). An anderer Stelle heißt es: „Mein Rücken fühlt sich malträtiert an (als hätte ich den ganzen Nachmittag am Marterpfahl zugebracht)“ (ebd., 42). Einen Bekannten von Jackie benennt er nach 224 dem Spruch auf dessen T-Shirt „Ponyhof“ (z.B. ebd., 31) und beschreibt ihn folgendermaßen: „Und Ponyhof? Der stellt seine kleinen Hände zu einem Tipi auf, bei dem sich alle Fingerkuppen berühren. Grinst mich an, als wäre er Sheriff und mein Konterfei auf jedem Steckbrief dieser Stadt“ (ebd.). Solche Beschreibungen durchziehen den gesamten Roman wie ein roter Faden. Die Erzählweise ist dabei stark an die filmische Dramaturgie des Westerns angelehnt. In durchweg stark dramatischem Modus finden sich höchst detailreiche Panorama-Beschreibungen, die oft auf stereotype Westernmotive zurückgreifen: Ich lasse den Kopf im Nacken kreisen. Im Licht der Peitschenleuchten schwirren Staubpartikel und Motten (völlig ausgelassen kurz vor ihrem nahen Ende). Es ist nach 23 Uhr. Die letzten Schimmer des Tageslichts sind vor Stunden bereits in ein unwirkliches, pflaumenblaues Halbdunkel übergegangen. Rauch und der Geruch von Grillkohle durchziehen noch immer die Luft. Aber die Wege vor den Häusern sind verwaist. Ein Plastikbecher kollert über die Straße wie ein verdorrter, entwurzelter Busch in der Prärie. Nachtruhe. Nur bei den Mülltonnen mache ich für einen Moment zwei Silhouetten aus: die beiden kleinen Cowboys. Der eine trägt etwas, das aussieht, als wäre es ein totes Tier (eine schwarze Katze, gepackt am Nackenfell) (ebd., 42). Die Liste solcher Requisiten und Motive ist lang, es finden sich noch Opossums (ebd., 53) und Klapperschlangen (ebd.), Saloontüren (ebd., 59), Sombreros (ebd., 86), Canyons (ebd., 87), Prärien (ebd., 104) etc. Zusätzlich zu den bereits benannten allgemeinen intermedialen Referenzen zum Westerngenre finden sich insbesondere auch Einzelbezüge zu Sergio Leones berühmtem Italowestern C’era una volta il West (englischer Verleihtitel: Once Upon a Time in the West, deutscher Verleihtitel: Spiel mir das Lied vom Tod, 1968). Bereits der Titel des Jugendromans Es war einmal Indianerland birgt – neben dem Märchenmotiv, auf das später noch eingegangen wird – diesbezüglich einen deutlichen Verweis. Jackie ähnelt Jill MacBain (Claudia Cardinale, s. Abb. 20), der weiblichen Hauptfigur aus Leones Film. Über Jackie äußert der Erzähler: „Sie hat sandbraune Haut, Sommersprossen, rotes Haar. Fuchsrotes, langes Haar“ (ebd., 20). An anderer Stelle schildert er „Im Top mit westernartigen Fransen lacht sie mich an, und ich bin mir sicher, sie trägt keinen BH“ (ebd., 59). Jackies Aussehen erinnert stark an Claudia Cardinale in ihrer Paraderolle. 225 Abbildung 20: Claudia Cardinale in C’era una volta il West (1968, 2:26:03) Doch Jackie bleibt künstlich, das ist es auch, was den Erzähler an ihr stört. Er fragt sie, ob sie Schauspielerin sei (vgl. ebd., 172), und zweifelt schließlich, ob „Jackies Leben überhaupt etwas anderes ist als ein ständiger Kostümwechsel“ (ebd., 270). Dass er sich für die bodenständige Edda entscheidet, die in ihrer Natürlichkeit das Gegenteil von Jackie darstellt, verwundert nicht. Bekannt ist C’era una volta il West vor allem auch für die Filmmusik von Ennio Morricone. In Es war einmal Indianerland findet auch dies seinen Niederschlag: Das ist die Szene, in der die Musik kommt: die Crescendi, die von aufsteigenden Melodielinien getragen werden (von aufwallenden Streichern) (ebd., 81f.). Den überschwänglichen Schilderungen ist dabei eine unzuverlässige Komponente enthalten: Inwiefern der Erzähler bei den Fakten bleibt und inwieweit seine Darstellungen der Wildwestromantik geschuldete Hinzudichtungen sind, ist mitunter kaum zu entschlüsseln. Es sind teils banale, teils erschütternde Ereignisse, die vom Erzähler in Westernmanier verzerrt werden. Dass dem Erzähler die Konventionen des Western geläufig sind, verwundert nicht, schließlich leiht er sich jeden Mittwoch einen Film in der Videothek aus. Auf das Thema ‚Film‘ wird wiederholt verwiesen: Stellvertretend sind hier vor allem die Schauplätze Videothek, Autokino und Großleinwand zu nennen. Immer wieder geht der Erzähler auch auf Elemente filmischer Westerndramaturgie ein: „Wie der Sonnenuntergang am Ende eines Western“ (ebd., 17), „Noch drei Stunden bis zum Showdown“ (ebd., 24). Auch Edda scheint sich auszukennen: „Der klassische Filmanfang, findest du nicht?“ (ebd., 202) In der Figurenrede der anderen Protagonisten wird die erzählerische Unzuverlässigkeit in solchen Momenten deutlich, in denen die Figuren mitunter wie in kindlichem Spiel miteinander interagieren. Auch Kondor, Edda und Ponyhof bedienen 226 sich in ihrer Figurenrede gelegentlich der ‚Cowboy- und Indianersprache‘ des Erzählers (vgl. ebd., 53, 157, 224). Bereits die Namen der Figuren (Mauser, Kondor, Zöllner) wirken wie Spielnamen – und dies trifft in einigen Fällen ja auch zu. Den Namen Mauser hat sich der Erzähler selbst gegeben, auch Ponyhof bekommt seinen Namen vom Erzähler ‚verpasst‘, gleiches gilt für „Biberzahn“ (ebd., 266) und den „Trapper“ (ebd., 267). Im zweiten Romanteil nennt sich der Erzähler dann „Grünhorn“ (ebd., 26, 185), nachdem er zuvor bereits mehrfach von verschiedenen Figuren so angesprochen wurde (vgl. ebd., 124, 225). Diese Bezeichnung stellt einen klaren intertextuellen Verweis zu den Wildwestgeschichten Karl Mays, insbesondere zu Winnetou der Rote Gentleman (1893), dar. Winnetou Es ist nicht nur der Western, der den Erzähler zu beeinflussen scheint, gerade auch auf die bekannten Idole Winnetou und Old Shatterhand wird immer wieder rekurriert. Ein „Greenhorn“, so formuliert es der Erzähler Old Shatterhand in Winnetou I, ist „ein Mensch, welcher noch grün, also neu und unerfahren im Lande ist und seine Fühlhörner behutsam ausstrecken muß“ (May 1992, 15). Old Shatterhand begibt sich als Greenhorn in Winnetou I auf eine Reise, aus der er nach einem doppelten Initiationsprozess erst als Westmann und dann, nach seiner Aufnahme in den Indianerstamm, sogar als Häuptling der Apachen hervorgeht (vgl. Brunken 1995, 306). Der Erzähler in Es war einmal Indianerland begibt sich im zweiten Romanteil ebenfalls auf eine Reise, auch er durchläuft bei dieser einen Initiationsprozess: Er übersteht einen Faustkampf mit gleich zwei Gegnern, einen Drogenrausch, einen nahezu apokalyptischen Hagelsturm, er wird gemartert, spricht sich mit seinem Vater, einem gesuchten Mörder, aus und beerdigt ein Wildschwein. Die Hauptmotive Mays – „Flucht und Verfolgung, Anschleichen und Belauschen, Gefangennahme und Befreiung“ (Klotz zit. n. Schmiedt 2005, 142) – lassen sich dabei in Es war einmal Indianerland wiederfinden. Am Ende erscheint der Erzähler deutlich gereift, er hat seine Ich-Störung überwunden und seine Identität gefestigt. Höchst unzuverlässig wird die Erzählerrede allerdings auch in jenen Momenten der Erzählung, in denen sich der Erzähler von einem Indianerhäuptling verfolgt fühlt. Zunächst ist er sich nicht sicher, ob er sich nur vertan hat („Ist der Indianer vielleicht nur ein Pappaufsteller gewesen, eine lebensgroße Filmwerbung? Oder habe ich einen an der Pfanne?“; Mohl 2011, 55f.), doch als die Halluzinationen anhalten, hat er zunehmend das Gefühl, der Indianer wolle ihm etwas mitteilen: 227 Ich bin mir nicht sicher, ob er mich sieht, aber er nickt einmal mit dem Kopf, und mir ist, als würde er meiner Wenigkeit damit einen Tipp geben, nach dem Motto: hinterher (ebd., 27; Hervorhebg. im Orig.). Winkt er mir zu? (ebd., 86) Mein roter Bruder berührt mit dem Zeigefinger erst die wettergegerbte Haut unter einem seiner dunklen Augen, deutet anschließend mit demselben Finger sowie steinerner Miene nach vorn: eine Sei-wachsam-Geste. (Meint er mich?) (ebd., 222f.) Nach und nach verändert sich das Erscheinungsbild des Indianers: Zunächst nur mit „Pockennarbengesicht“ (ebd., 27) ausgestattet und als „hoch aufgeschossen“ beschrieben (ebd., 55), erinnert er später an das Indianerantlitz auf einem Tabaksbeutel (ebd., 152)79. Der Erzähler vertraut sich Edda an („Im Ernst, sage ich, ich könnte schwören, von einem Indianer verfolgt zu werden, hörst du: von einem Indianer!“; ebd., 253), die ihn allerdings beruhigt: – Du glaubst, du spinnst? Warum? Wir alle hören Stimmen im Kopf. Und als ich 17 war, habe ich mit niemandem auch nur ein Wort gewechselt (ebd., 254). Anders als die Unzuverlässigkeit um die Erzähleridentität wird die Bedeutung des Indianers nicht explizit aufgelöst, die Halluzinationen kommen in beiden Romanteilen vor, häufen sich zum Ende hin sogar. Aufschlussreich ist die Tatsache, dass der Erzähler sich an „Manitu“ (ebd., 183) wendet, von einem „Häuptling“ (ebd., 86), von seinem „roten Bruder“ (ebd., 222) spricht. Hier kommt es zu einer Vermischung der intertextuellen Verweise – Manitu ist bei May eine Gottheit der Apachen, die beiden anderen Begriffe weisen klar auf Winnetou selbst hin. Am Ende, auf der Suche nach Edda, wird die Situation umgekehrt – es ist nun nicht mehr der Häuptling, der den Erzähler verfolgt, sondern der Erzähler verfolgt nun den Indianer, die Initiationskette ist damit erfolgreich beendet: Es ist, als würde ich schlagartig verstehen, dass die Gestalt (ich bin mir jetzt fast hundertprozentig sicher, es ist der Indianer) mir etwas signalisieren will. Und versuchsweise trabe ich auf das Gestrüpp zu. Tatsächlich: Das Augenpaar verschwindet. Ich springe hinterher. Jage durch das Unterholz. Höre die Zugluft im Ohr. Den eigenen Atem. Höre die Tritte, das plötzliche Knistern, wenn Laub am Boden liegt [...] (ebd., 299). Zu Beginn kommentiert der Erzähler seinen Zustand mit den Worten: „Tatsächlich herrscht unter meiner Schädeldecke gerade die gleiche Leere wie im Lauf eines abgefeuerten Henrystutzens vor dem Durchladen“ (ebd., 106). Der Henrystutzen ist ein weiteres klares May-Zitat: Old Shatterhands berühmtes Gewehr findet in Hier wird wohl die Verpackung der Zigaretten- bzw. Tabakmarke ‚American Spirit‘ gemeint sein. 79 228 Winnetou I bereits proleptische Erwähnung, und es wird Old Shatterhand in Winnetou II vom Büchsenmacher Henry übergeben. Besonders aufschlussreich ist jedoch der Ringkampf von Mauser und Kondor, den Mauser schließlich für sich entscheidet: Er wird weich in den Knien, und Mauser holt noch einmal aus zu einem letzten Aufwärtshaken. Trifft. Dreht ab, noch ehe Kondor hart auf dem Ringboden aufschlägt (ebd., 138). Diese Situation erinnert stark an den legendären Faustkampf des jungen Ich-Erzählers in Winnetou I: Während seiner Zeit als Vermesser streckt der Ich-Erzähler Mr. Rattler, einen unverschämten, „hoch und breit gebaute[n] Kerl, welcher die Kraft von drei, vier Menschen zu besitzen schien“ (May 1992, 49f.), mit einem Schlag nieder: Er konnte nicht weiter reden, denn ich schlug ihm die Faust an die Schläfe, daß er steif wie ein Sack niederstürzte und betäubt liegen blieb (May 1992, 50). Dieser Schlag begründet den Westmannamen Old Shatterhand; der Erzähler von Es war einmal Indianerland führt hier seine eigene Geschichte mit der Old Shatterhands eng. Insgesamt können die intermedialen/intertextuellen Bezüge zum Wilden Westen als höchst bedeutungsvoll in Bezug auf die erzählerische Unzuverlässigkeit gewertet werden, tragen sie doch entscheidend zur Konzeption der Erzählerpersönlichkeit bei. Zunächst neigt der Erzähler zum spielerischen Fabulieren und Hinzudichten, dieser Aspekt der Erzählerfigur wird zusätzlich noch durch den vielfachen Gebrauch des Filmmotivs verstärkt. Weiterhin wird seine im ersten Teil etablierte Ich-Störung um paranoide Momente ergänzt. Wieder lassen sich kognitive bzw. emotionale Defizite des Erzählers erschließen, die – wie die Ich-Störung – am Ende der Erzählung überwunden sind. Unzuverlässigkeit und Intertextualität (2): Märchen und Sagen Neben der Anspielung auf C’era una volta il West ist der Titel Es war einmal Indianerland als Verweis auf die Gattung Märchen zu verstehen. Bei genauem Hinsehen finden sich auch in der Erzählung Verweise zu Märchen, aber auch zu Sagen. Referenzen kommen dabei zum Teil als Anspielungen auf Einzeltitel vor: Ponyhof und ich, wir trampeln beide auf der puscheligen Federschlange herum wie zwei Rumpelstilzchen (Mohl 2011, 250). Andere Hinweise sind eher struktureller Art und manifestieren sich in der Übernahme bestimmter Erzählschemata. So sind Eddas erste an den Erzähler gerichtete Worte: 229 –Kommt gestern ein possierliches Opossum hier rein, nimmt Bozorg, ich meine, Martin, es auf die Hand, gibt ihm einen Kuss und verwandelt sich daraufhin selbst in eine Texas-Klapperschlange. Rasselt er dann vor Glück mit dem Schwanz, verspeist das possierliche Tierchen gleich an Ort und Stelle und kraucht weg (ebd., 53). Der Erzähler ist klar als Held konturiert, er tritt mutig und furchtlos seinen Gegenspielern (Kondor, Sombrerogang) entgegen und wird dabei durch Helfer (Edda, Ponyhof) unterstützt. Gerade diese Figuren werden sehr stereotyp eingeführt, wie im Märchen gibt es klare Gegensätze von Gut und Böse, Arm und Reich, Künstlich und Natürlich. Der Name Edda ist wiederum ein Verweis auf die nordischen Götterund Heldenlieder, wieder steht das Motiv des Helden im Vordergrund. Im Kontext der erzählerischen Unzuverlässigkeit sind jene Verweise vor allem insofern von Interesse, als sie noch klarer den Vorgang des Erzählens hervorheben, und das, obwohl in Es war einmal Indianerland – gegensätzlich zu Märchenkonventionen – in höchst dramatischem Modus erzählt wird. Unzuverlässigkeit und Intertextualität (3): Film der 1990er Jahre Des Weiteren sind in Es war einmal Indianerland deutliche Anleihen vom (unzuverlässig erzählten) Film der 1990er Jahre auszumachen. Parallelen zu Pulp Fiction (1994), Fight Club (1999) und The Big Lebowski (1998) sollen im Anschluss herausgearbeitet werden. Den Rekurrenzen auf Pulp Fiction und Fight Club kann dabei eine insgesamt sehr hohe und konkrete Bedeutung für die erzählerische Unzuverlässigkeit in Es war einmal Indianerland zugeschrieben werden. In The Big Lebowski gestaltet sich die Situation anders; jene Verweise verstärken das den Roman durchziehende Filmmotiv, ihnen kommt damit eine eher indirekte Bedeutung für die Unzuverlässigkeit zu. Pulp Fiction (1994), Regie: Quentin Tarantino Pulp Fiction ist ein Gangsterfilm aus dem Jahr 1994. Mehrsträngig und episodenhaft werden die Geschichten der Kleinkriminellen Honey Bunny und Pumpkin, eines Boxers (Butch), des Gangsterduos Vincent und Jules, des Gangsterbosses Marcellus Wallace und seiner Frau Mia erzählt. Knut Hickethier (2002) bezeichnet Pulp Fiction als „Prototyp des postmodernen Films“ (ebd., 97). Er schreibt weiter: „Zunächst irritieren die zeitlichen Sprünge innerhalb der Narration. Die Geschichte wird nicht chronologisch erzählt, vielmehr ergeben die einzelnen Episoden ein Puzzle“ (ebd., 98). Zwar kann man bei Es war einmal Indianerland im Unterschied zu Pulp Fiction lediglich einen Handlungsstrang identifizieren – die zeitliche Konstruktion weist aber trotzdem deutliche Ähnlichkeiten auf. 230 Michaela Krützen (2010) hebt bei Pulp Fiction das Vorkommen von „verdeckten Paralipsen“ hervor, also das Auslassen von handlungsrelevanten Ereignissen, die „nicht erkennen lassen, dass es eine Aussparung gibt“ (ebd., 248). Als Beispiele führt sie Szenen an, die zwar durch einen cliffhanger vorbereitet würden, dann aber nicht erzählt würden. Verdeckt blieben diese Paralipsen, da die Szenen zwar in einer wiederholten Erzählung erneut aufgegriffen würden, durch einen Perspektivwechsel jedoch weiterhin Leerstellen blieben. In Es war einmal Indianerland findet sich eine zwar nicht deckungsgleiche, aber dennoch vergleichbare Erzählanlage: Wenige bestimmte Szenen (Fesselballon, Tat des Vaters) heben sich, wie oben gezeigt wurde, durch eine deutlich distanziertere Erzählweise von der übrigen Erzählung ab. Auch hier werden Leerstellen generiert, die im Nachhinein gefüllt werden. Zwar wird nicht die Perspektive, wohl aber der Modus der Erzählung geändert. Eine der Figuren aus Pulp Fiction, Butch, ist ebenso wie der Erzähler in Es war einmal Indianerland ein Boxer, die erste Filmsequenz zeigt ihn im Ring. Am chronologischen Erzählende80 fährt er, untermalt durch Westernmusik, mit seiner Freundin auf einem Chopper in Richtung Horizont davon; wie auch in Es war einmal Indianerland geht die Geschichte in Pulp Fiction für den Boxer gut aus. Immer wieder kommt in Pulp Fiction ein MacGuffin in Form eines mysteriösen Koffers vor, dessen Inhalt die Figuren zu faszinieren scheint. Tatsächlich erfährt man aber nie, was sich darin befindet. In Es war einmal Indianerland ist es kein Koffer, sondern eine Bohrmaschine in einem „Köfferchen“ (z.B. Mohl 2011, 179), das von dem Erzähler über das Gelände des Powwow getragen wird. Fight Club (1996), Regie: David Fincher David Finchers Fight Club ist ein Film aus dem Jahr 1999, der auf der gleichnamigen Romanvorlage von Chuck Palahniuk (1996) basiert 81. Fight Club ist ein oft besprochenes Paradebeispiel für unzuverlässiges Erzählen im Film. Der namenlose Ich-Erzähler, ein unsicherer junger Mann, der unter Schlaflosigkeit leidet, lernt den charismatischen und gutaussehenden Tyler Durden kennen. Als die Wohnung des Erzählers durch eine Explosion zerstört wird, zieht er bei Tyler ein. Gemeinsam gründen die beiden den ‚Fight Club‘, eine Versammlung von „Männern, die von Frauen großgezogen wurden“ (Fight Club, 00:38:42), in der sie sich mittels Durch die Anachronie in Pulp Fiction bedingt, ist dies nicht die letzte Szene des Films. Aufgrund der hohen Bedeutung des Themas ‚Film‘ im Roman sowie des großen Erfolgs der Verfilmung wird im Folgenden auf den Film, nicht auf die Romanvorlage Bezug genommen. 80 81 231 mitunter sehr brutaler Prügeleien ihrer Männlichkeit bewusst werden. Der Erzähler wird zusehends selbstbewusster, bleibt dabei aber stets in Abhängigkeit von Tyler. Zunehmend gerät die Situation außer Kontrolle, und der ‚Fight Club‘ wird mehr und mehr zu einer terroristischen Organisation unter der Führung Tylers. In einer Schlüsselszene am Ende des Films versteht der Erzähler, dass Tyler nicht wirklich existiert, er selbst in Wirklichkeit Tyler ist und unter einer Ich-Störung leidet. Die in Es war einmal Indianerland vorkommenden Anspielungen auf den Film sind deutlich: Mit Mauser und Tyler finden sich in beiden Romanen scheinbar autonome Figuren, die sich erst im Nachhinein als imaginierte, einer Persönlichkeitsspaltung entsprungene Idealprojektionen eines namenlosen Ich-Erzählers erweisen. Tyler formuliert: Du hast einen Weg gesucht, dein Leben zu verändern, und allein hast du es nicht geschafft. All das, was du immer sein wolltest, das bin ich. Ich sehe aus, wie du aussehen willst, ich ficke, wie du ficken willst, ich bin intelligent, begabt, und das Wichtigste: Ich hab all die Freiheiten, die du nicht hast (Fight Club, 2:06:26 2:06:32). Anders als Tyler ist Mauser aber nicht der Teil seiner selbst, der er gerne wäre. Vielmehr ist er der Teil, „an dem sein Vater besonders hängt“ (Mohl 2011, 176). Vor allem die athletischen Fähigkeiten Mausers werden wiederholt hervorgehoben. Er ist ein „Boxer mit sagenhaftem Timing, großartigem Instinkt und außergewöhnlicher Begabung“ (ebd., 129), „gebaut wie eine griechische Statue, ein austrainierter Athlet“ (ebd., 43). Der Erzähler in Fight Club schafft es nicht, sich ohne Tyler zu verändern. Der Erzähler in Es war einmal Indianerland schafft es nicht mit Mauser: Er muss Mauser hinter sich lassen, um weiterzukommen, was ihm auch gelingt. Anders als der IchErzähler in Fight Club kann der Ich-Erzähler in Es war einmal Indianerland so einen gesunden Weg aus seiner Krise finden. Er ist sich, und hier findet sich ein weiterer Unterschied zu Fight Club, seiner Persönlichkeitsspaltung vollkommen bewusst. Tyler Durden führt den Protagonisten in die beinahe völlige Selbstzerstörung, ein Prozess, den der Erzähler paradoxerweise nur dadurch aufhalten kann, dass er sich selbst in den Kopf schießt. Die Situation in Es war einmal Indianerland gestaltet sich deutlich moderater: ‚Mauser‘ ist eher eine Strategie des Protagonisten, in einer spröden und gewaltvollen Umgebung zurechtzukommen – und vor allem auch seinem ehrgeizigen Vater gerecht zu werden. An vielen Stellen des Romans zeichnet sich Mauser durch Sprachlosigkeit aus. Oft formuliert der Erzähler: Mauser schweigt: –… (vgl. z. B. ebd., 16, 17, 23, 49, 69, 114, 115, 130, 135) 232 Mauser hat keinen Rat mehr für ihn, und der Erzähler muss sich nun selbst helfen. Sowohl in Fight Club als auch in Es war einmal Indianerland liegt die Ich-Störung in einem Vaterkonflikt begründet: Der Erzähler in Fight Club leidet stark unter seiner Vaterlosigkeit, was ihn auch zu der Gründung des ‚Fight Clubs‘ bewegt – eine auf einem stereotypen Konzept von Männlichkeit beruhende, testosterongeladene Zurschaustellung von Gewalt und Aggression. In beiden Fällen wird auch eine Liebesgeschichte erzählt. Der Erzähler in Fight Club schwärmt für die extravagante Marla Singer (Helena Bonham Carter). Edda ist ihr nicht unähnlich: Beide Frauen entsprechen nicht den Hollywood-Schönheitsidealen, beide sind ausgeprägte Individuen – und beide sind der geistigen Gesundheit des jeweiligen Erzählers förderlich, stehen trotz derer psychischer und/oder emotionaler Probleme zu ihnen. Erwartungsgemäß ist auch in Fight Club das Motiv des Kämpfens von zentraler Bedeutung. Gerade die oben bereits zitierte Stelle in Es war einmal Indianerland, in der der Ich-Erzähler gegen Mauser kämpft, erinnert dabei sehr stark an Fight Club. An dem Abend, an dem sie den ‚Fight Club‘ gründen, liefern sich auch der Ich-Erzähler und Tyler Durden einen Faustkampf: Abbildung 21: Kampf des Ich-Erzählers mit Tyler Durden in Fight Club (1996, 00:34:13) Nach der Auflösung der Unzuverlässigkeit wird die Szene erneut gezeigt, allerdings ist der Erzähler dieses Mal alleine gegen sich selbst kämpfend zu sehen: 233 Abbildung 22: Kampfszene nach Auflösung der Unzuverlässigkeit in Fight Club (1996, 01:49:14) Was diese Szene betrifft, kann man mit Blick auf Es war einmal Indianerland von einem direkten Filmzitat sprechen. Ein weiteres Motiv beider Werke ist das Motiv des Schlafens bzw. der Schlaflosigkeit. Beide Erzähler heben ihre Schlaflosigkeit wiederholt hervor. The Big Lebowski (1998), Regie: Joel Coen Ein weiterer Kultfilm der 1990er Jahre muss an dieser Stelle noch erwähnt werden: Joel Coens The Big Lebowski, in dem die Geschichte eines Mannes erzählt wird, der aufgrund einer Namensverwechslung in eine turbulente Verkettung von Ereignissen gerät. Auch hier findet sich ein Doppelgängermotiv, doch es gibt andere, deutlichere Bezugnahmen intermedialer Natur von Es war einmal Indianerland zu The Big Lebowski. In Tradition des Film-Noir tritt in The Big Lebowski ein Erzähler auf – allerdings ist dies ein Cowboy, was nichts mit dem Rest der Geschichte zu tun hat. Nur auf der discours-Ebene wird auf Westernmotive zurückgegriffen, und genau an dieser Stelle ist auch die Ähnlichkeit zu Es war einmal Indianerland auszumachen. 234 Abbildung 23: Der Cowboy als Erzähler (The Big Lebowski, 01:52:20) Die Erzählung in The Big Lebowski wird, untermalt von Westernmusik, von der sonoren Erzählerstimme aus dem Off mit den Worten eröffnet: „Ganz weit draußen im Westen, da gab es mal einen Typen, von dem ich euch erzählen will“ (The Big Lebowski, 00:00:44). Dass dieser ‚Typ‘ den Erwartungen nicht gerecht wird, ist schnell klar, wenn die Hauptfigur, der Dude, gezeigt wird: Abbildung 24: Der Dude (The Big Lebowski, 00:02:59) Auch der Vorspann verweist auf den Wilden Westen, hier findet sich das auch in Es war einmal Indianerland zitierte Tumbleweed: Abbildung 25: Tumbleweed (The Big Lebowski, 00:01:48) 235 Es lässt sich zusammenfassend eine insgesamt sehr hohe Bedeutung der intermedialen Bezüge für die erzählerische Unzuverlässigkeit in Es war einmal Indianerland feststellen. Einordnung Für die erzählerische Unzuverlässigkeit in Es war einmal Indianerland kann bezüglich der definierten Parameter resümiert werden: Themen und Motive Einige Themen und Motive fallen auf, die in einem besonderen Verhältnis zur erzählerischen Unzuverlässigkeit zu stehen scheinen. Zuvörderst ist dies das bereits genannte Thema ‚Identität‘ (wie auch bei Frascella bleibt der Protagonist bis zum Ende namenlos) in Verbindung mit dem einem Doppelgängermotiv: Die in der imaginierten Figur Mauser begründete ontologische Unsicherheit ist grundlegend für die erzählerische Unzuverlässigkeit. Auch Motive des Schlafens und Träumens, insbesondere auch als ‚Schlaflosigkeit‘ sind relevant für die erzählerische Unzuverlässigkeit. Schließlich ist auch in Mohls Roman das Thema ‚Erzählen‘ relevant, es manifestiert sich besonders in einem Hang des Erzählers zum Fabulieren. Eng hiermit verbunden ist durchweg das Thema ‚Film‘, das sich vor allem als ein ständiges intermediales und intertextuelles Einbeziehen von Western- und Wildwestmotiven darstellt. Erzählsituation Die Erzählsituation ist als extradiegetisch und autodiegetisch charakterisierbar, der Modus zeichnet sich, wie in allen zuvor besprochenen Jugendbüchern, durch eine fixiert intern an einen Ich-Erzähler gebundene Fokalisierung aus. Diese spezifische Erzählsituation ist auch in Es war einmal Indianerland essenziell für die erzählerische Unzuverlässigkeit: Aufgrund der exklusiven Bindung an die Wahrnehmung des Erzählers sind die Leser abhängig von dessen Schilderungen. Dass es sich bei Mauser um eine imaginierte Figur handelt, behält der Erzähler zunächst für sich. Zwar gibt es bereits früh Hinweise darauf, diese müssen sich Leser aber erst erschließen. Die Modellierung der Erzählerfigur Erzähler in Es war einmal Indianerland ist ein namenloser siebzehnjähriger Jugendlicher, der im kargen Milieu einer Großstadtrandsiedlung lebt. Er ist damit beschäftigt, sich in seiner Situation zurechtzufinden – und vor allem damit, sich von seinem ehrgeizigen Vater abzugrenzen, als er sich plötzlich in einer traumatischen 236 Situation wiederfindet. Der junge Mann ist erschüttert, und er befindet sich in einer tiefen Identitätskrise. Die erzählerische Unzuverlässigkeit basiert auf dieser Erschütterung des Erzählers: Er generiert Mauser, ein Alter Ego, der zunächst wie eine tatsächlich ‚existierende‘ Figur in der Erzählung präsentiert wird. Erst im Laufe der Erzählung wird klar, dass dieser Doppelgänger des Erzählers nicht ‚real‘ ist, Passagen der Erzählung müssen nach der Auflösung der Unzuverlässigkeit entsprechend umgedeutet werden. Markierung der erzählerischen Unzuverlässigkeit Weiterhin manifestiert sich die tiefe Erschütterung des Erzählers als völlige Aufhebung der narrativen Chronologie sowie einer Verschleierung der Erzählgegenwart. Auch aus dieser Konstruktion ergeben sich, wie gezeigt wurde, verschiedene Lesarten. Nahezu alle von Nünning (1998, 27f.) formulierten textuellen Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit lassen sich wiederfinden. Textuelle Signale manifestieren sich damit in Form von Diskrepanzen sowie hoher Subjektivität und Involviertheit. Auch im Paratext, so wurde gezeigt, finden sich Hinweise auf erzählerische Unzuverlässigkeit in Es war einmal Indianerland. Lediglich eine multiperspektivische Auffächerung findet sich nicht. Weitere Beschaffenheit der erzählerischen Unzuverlässigkeit Langsam gelingt es dem Erzähler, sich in seiner Situation zu orientieren, am Ende des ersten Romanteils wird aufgelöst, dass es sich bei Mauser um eine imaginierte Figur handelt; dieser Aspekt der Unzuverlässigkeit ist damit nur für den ersten Romanteil relevant. Durch eine unklare Zeitlichkeit wird jedoch der ontologische Status des zweiten Romanteils verschleiert. Die Lesart, es könnte sich beim gesamten zweiten Teil der Erzählung um Imaginationen des Erzählers handeln, wird zwar in der vorliegenden Analyse nicht favorisiert, dennoch gibt es ambivalente Signale, die eine solche Lesart suggerieren. Die Unzuverlässigkeit ist als mimetisch (nach Martínez und Scheffel) bzw. täuschend (nach Köppe und Kindt) charakterisierbar. Es ergibt sich eine insgesamt durchgehende Unzuverlässigkeit in Es war einmal Indianerland – wobei sich die Qualität der Unzuverlässigkeit in der Romanmitte ändert. Intermedialität/Intertextualität Von besonderer Wichtigkeit für die erzählerische Unzuverlässigkeit ist zudem die Vielzahl intertextueller und intermedialer Verweise in der Erzählung. Es lassen sich Einzel- aber auch Systemreferenzen auf verschiedene Prätexte zeigen: auf die 237 Gattung ‚Western‘ (hier insbes. auf Sergio Leones C’era una volta il West), auf den Wildwestroman Winnetou der Rote Gentleman, auf die Gattung ‚Märchen‘ sowie auf verschiedene unzuverlässig erzählte Filme der 1990er Jahre (Fight Club, Pulp Fiction, The Big Lebowski). Neben der bereits angeführten Relevanz in Bezug auf die Hervorhebung des Themas ‚Erzählen‘ kommt diesen Verweisen eine weitere, kompositorische Bedeutung zu: Mohl lässt seinen Erzähler spielerisch völlig unterschiedliche Elemente verschiedener Gattungen zu einem postmodernen Werk verknüpfen. Funktionen Die erzählerische Unzuverlässigkeit in Es war einmal Indianerland erfüllt damit vor allem interne literarische Funktionen. Sie dient der Charakterisierung der Erzählerfigur, und sie ist in Form von falschen Fährten und einer rückwirkenden Überraschung in besonderem Maße dem Spannungsaufbau sowie der Illusionsbildung förderlich. Der jugendliche Protagonist muss sich in schwierigen Verhältnissen in einer kargen Stadtrandsiedlung im wahrsten Wortsinne ‚durchschlagen; das gelingt ihm, indem er Mauser erschafft. Bei der Auflösung der Unzuverlässigkeit ist die soziale Herkunft des Erzählers durchaus relevant: Es ist plausibel und sogar nachvollziehbar, dass der sensible junge Mann eine toughere Version seiner selbst erschafft, damit er in der rauen Umgebung bestehen kann. Unterprivilegierung von Jugendlichen in Deutschland wird so abgebildet und implizit kritisiert (externe literarische Funktion). 238 Wir können reden, wenn wir wollen, vielleicht auch nicht. Du fragst, worüber. Ich weiß nicht. Mir fällt nichts mehr ein. Da könnte ein Kind in meinem Bauch sein, darüber, aber nein und auch nicht über Mutter, Vater, Familie, Freunde, nicht über Liebe, Herzen, Sehnsucht. All die Geschichten, die doch nur Fiktion sind, sobald sie passiert sind. Ich trau den Geschichten nicht. (Bach 2014, 79f.) 3.2.5 Tamara Bach: Marienbilder Marienbilder von Tamara Bach erschien 2014 bei Carlsen (Hamburg). Der Roman hat 134 Seiten und wird vom Verlag für Jugendliche ab vierzehn Jahren empfohlen. Bereits 2011 erhielt Bach für das Buchprojekt den Martha-Saalfeld-Förderpreis des Landes Rheinland-Pfalz. Im April 2014 wurde das Werk als eines der ‚Besten 7 Bücher für junge Leser‘ (Deutschlandfunk/Focus) ausgezeichnet. In Marienbilder wird durch eine klar identifizierbare Ich-Instanz erzählt: Die jugendliche Erzählerin findet sich plötzlich haltlos und allein in einer für sie höchst traumatischen Lage wieder. Ihre Erzählung stellt sich als Collage verschiedener ontologischer Zustände dar. Nacheinander, aber miteinander verknüpft, werden von der völlig verunsicherten Erzählerin unterschiedliche Möglichkeiten durchgespielt, wie sich ihre Geschichte nach dem Trauma weiterentwickeln könnte. Immer wieder nimmt sie dabei ihre Familiengeschichte in den Fokus und webt (vermeintlich) Erlebtes ihrer Mutter und ihrer Großmutter mit in ihre Erzählung ein. Es ergibt sich eine Erzählsituation, in der der ontologische Status des Erzählten oft nicht entscheidbar ist; die erzählerische Unzuverlässigkeit in Marienbilder ist von entsprechend hoher Komplexität. Inhalt, Themen, Motive, Sprache Die sechzehnjährige Ich-Erzählerin Mareike ist das jüngste von drei Kindern, ihre beiden Geschwister Frank und Nadine sind bereits von zu Hause ausgezogen. Eines Donnerstags kommt Mareike aus der Schule nach Hause, und ihre Mutter Magda ist verschwunden; sie hat ohne Ankündigung die Familie verlassen. Für Mareike und den Rest der Familie bedeutet dies einen Schock, mit dem umzugehen allen schwerfällt. Sie hoffen, Magda könnte es sich anders überlegen und zurückkommen, und sie versuchen, das Geschehene vor der Umwelt zu verheimlichen. Mareike fällt das schwer, und sie ist alleine: Die Geschwister sind nicht da, der Vater Günther liegt apathisch auf dem Sofa. Auf Anraten ihres Bruders Frank besucht Mareike zur Ablenkung eine Party. Sie betrinkt sich, nimmt Drogen und macht „Heavy Petting“ (Bach 2014, 43) mit Gregor, einem Bekannten. 239 Die Familie muss sich der Realität stellen und akzeptieren, dass Magda nicht wiederkommen wird. Mareike trifft es indes besonders hart: Ihre Periode bleibt aus. Ohne die gewohnte Hilfe der Mutter findet sie sich plötzlich in einer Schlüsselsituation, die ihr eine Entscheidung abverlangt. Sie begibt sich zum Bahnhof, wo sie zufällig Gregor mit seiner neuen Freundin sieht. Am Gleis sinniert sie: Der Zug kommt gleich. Manchmal kommt der Zug zu spät. Züge fallen manchmal aus. Manchmal kommt der andere Zug, der südwärts fährt, zuerst (ebd., 47). Von dieser Situation ausgehend, entwickelt die Erzählerin in der Folge vier verschiedene Szenarien, wie ihre Geschichte weitergehen könnte: In einer ersten Geschichte steigt Mareike in den nächsten Zug und macht sich auf eine familiäre Spurensuche. Sie besucht nacheinander zuerst ihre Schwester, dann eine Freundin der Mutter und schließlich ihre Großmutter im Pflegeheim. In einer zweiten Alternative nimmt Mareike einen verspäteten Zug; in dieser albtraumartigen ‚Realität‘ sucht die junge Frau verzweifelt nach der Mutter, die doch stets nur an der Peripherie und nicht greifbar bleibt. In einer dritten Geschichte, in der der Zug ausfällt, verliert Mareike das ungeborene Kind; in einer vierten Möglichkeit steigt Mareike in einen anderen Zug, der „nach Süden“ (ebd., 122) fährt. Sie bekommt das Kind und lebt mit ihm in einer glücklichen und diesmal wunschtraumartigen Idylle. Schließlich präsentiert die Erzählerin noch eine fünfte Alternative, die sich von den vorherigen unterscheidet und in der der Zug keine Rolle mehr spielt. Mareike greift eine am Romananfang bereits erzählte Situation wieder auf, führt sie aber zu einem unterschiedlichen Ende: Sie erzählt von dem Moment, in dem ihre Mutter ihrem Vater eröffnet, dass sie mit Mareike schwanger sei. Anders als zuvor entscheidet sich Mareikes Mutter in dieser Alternative aber gegen die Schwangerschaft, und die Erzählung endet mit den Worten: […] und meine Mutter ist müde und entscheidet sich. Und behält mich nicht (ebd., 134). Immer wieder setzt sich Mareike mit ihrer Familiengeschichte, besonders mit den Schwangerschaften ihrer Ahninnen, auseinander. Zunächst imaginiert sie, wie das Leben ihrer Mutter vor ihrer Geburt gewesen sein mag: wie Magda ungeplant schwanger wird, wie sie Günther trifft, wie sie, obwohl die Ehe nicht gut läuft, noch ein drittes Mal schwanger ist. Mareike stellt sich aber auch vor, wie es für ihre Großmutter Marianne gewesen sein könnte: wie diese während des Krieges von einem Amerikaner schwanger wird, während ihr Mann in Sibirien ist. Die Erzählerin spielt so verschiedene Entscheidungsmomente durch und führt sie zu unterschiedlichen Ausgängen. Schlussendlich bleibt das Ende offen, und es 240 kommt zu keiner Entscheidung Mareikes; vielmehr kreist ihre gesamte Erzählung um die Tatsache der Möglichkeit einer Schwangerschaft. Sie muss gleichzeitig den Verlust der Mutter und die eventuelle Schwangerschaft verarbeiten. Die Auseinandersetzung der Protagonistin mit der eigenen Identität ist dabei essenziell: Mareike ist verzweifelt, und sie befindet sich in einer tiefen Identitätskrise. Über das Befassen mit den Biographien ihrer Ahninnen sucht sie vergeblich nach Orientierung und Halt. Diese Suche bleibt erfolglos, auch Mutter und Großmutter haben keine eigenständigen Ich-Identitäten entwickelt. Mit dem zentralen Thema ‚Identität‘ werden auch die Themen ‚Schicksal‘ sowie ‚Religion‘ verknüpft: Mareikes Unsicherheit ob der eigenen Identität erweckt in ihr den Wunsch nach Religiosität, sieht sie doch, dass ihre Großmutter eben jenen Halt, den sie sich auch wünscht, im Glauben findet. Durchweg finden sich zahlreiche religiöse Motive und Verweise. Auch Jahreszeiten und Wetter, und damit verbunden auch Bauernregeln, sowie Volkslieder und Sprichwörter werden motivisch eingesetzt. Immer wieder wird das Erzählen selbst hervorgehoben. Marienbilder zeichnet sich durch eine besonders poetische Sprache aus, die auch stilistisch abwechslungsreich gestaltet ist. So finden sich unter anderem Personifikationen, Repetitiones, Symbole und Sprachbilder. Das Paradoxon ist in der Erzählung aber durchweg als das wichtigste rhetorische Mittel in Bezug auf die Unzuverlässigkeit auszumachen, und es zieht sich sowohl auf histoire-Ebene als auch auf discours-Ebene wie ein roter Faden durch den gesamten Roman, der dadurch eine weitere, philosophische Ebene erhält. Erzählerische Unzuverlässigkeit Die erzählerische Unzuverlässigkeit in Marienbilder manifestiert sich vor allem in der Tatsache, dass sich die Erzählung collageartig aus wahren und imaginierten Elementen zusammenzusetzen scheint; an vielen Stellen ist eine Entscheidung darüber, welche Teile der Erzählung auf Tatsachen beruhen und welche Imaginationen abbilden, nicht möglich. Religiöse und philosophische Motive liegen eng miteinander verknüpft wie eine Folie über der gesamten Erzählung, sie liefern eine Metaebene und verweisen auf die Fiktionalität der Erzählung. Weitere metafiktionale Elemente sowie Motive wie ‚Erzählen‘, ‚Lügen‘ und ‚Träumen‘ heben diese ontologische Unsicherheit der Erzählsituation weiter hervor. 241 Erzählsituation/ontologischer Status/Diskrepanzen Mit dem Erzählanfang, den vier Parallelwelten, die Mareike am Bahnhof ersinnt, sowie der abschließenden fünften Alternative lassen sich drei verschiedene Erzählsituationen ausmachen, die sich bezüglich ihres ontologischen Status graduell voneinander unterscheiden. Immer wieder finden sich unterschiedlich deutlich markierte Diskrepanzen, die sich nur durch eine Unzuverlässigkeitsdiagnose auflösen lassen. Der erste Romanteil Der erste Teil der Erzählung (ebd., 5-47) ist in zwanzig kurze, zum Teil auf wenige Zeilen beschränkte, nummerierte Kapitel unterteilt und umfasst Mareikes Schilderung ihrer Ausgangssituation. Mareike erzählt, wie sie nach Hause kommt und Magda nicht da ist; sie erzählt von ihren Schwierigkeiten, mit dem Weggang der Mutter umzugehen, davon, wie sie an einer Party teilnimmt und dort mit Gregor intim wird, wie sie schließlich vermutet, schwanger zu sein, und dann einen Schwangerschaftstest macht – das Ergebnis dieses Tests wird nicht erzählt. Durchweg finden sich jedoch auch Kapitel, in denen Mareike von ihrem Blickwinkel abweicht und stattdessen aus Magdas Perspektive von deren Leben erzählt. Besonders auffällig ist, dass Mareikes Erzählung sogar mit einer Blickrichtung auf ihre Mutter beginnt. So besteht das erste Kapitel nur aus dem Satz „Die Sehnsucht meiner Mutter hat rote Haare“ (ebd., 5), und im Anschluss folgen gleich zwei Kapitel, in denen Mareike ihrer Mutter nachspürt: In präsentischer Form erzählt sie, wie Magda Günther sagt, dass sie ein drittes Kind (Mareike) erwarte. Mareike erzählt weiterhin, wie Magda Jahre zuvor heimlich in einen rothaarigen Mann verliebt ist, der im gleichen Bus fährt wie sie. Insgesamt befasst sich Mareike so in immerhin acht der zwanzig ersten Kapitel mit der Geschichte ihrer Mutter. Anders als in den Kapiteln, in denen Mareike ihre eigene Geschichte erzählt, stehen diese Kapitel in keiner erkennbaren chronologischen Ordnung. Neben der bereits erwähnten Erzählung um den rothaarigen Mann aus dem Bus führt Mareike beispielsweise an, wie sich die Eltern kennenlernen oder wie sich Magda als noch junge Frau im Wald mit einem Mann trifft, den sie kaum kennt und von dem sie schwanger wird; immer wieder kreist die Erzählung um die Schwangerschaften Magdas. Die Anfänge der Magda-Kapitel greifen dabei stellenweise Gedanken auf, die Mareike am vorherigen Kapitelende bei der Erzählung ihrer eigenen Geschichte formuliert hat. Als Mareike beispielsweise im achten Kapitel von Gregor erzählt, unterbricht sie diesen Erzählstrang mit dem neunten Kapitel, das sich mit Magdas 242 erster sexueller Erfahrung auseinandersetzt. Im zehnten Kapitel nimmt Mareike dann die Schilderung der Partygeschehnisse wieder auf und erzählt von ihren eigenen sexuellen Erlebnissen mit Gregor. Magda wird schwanger, ob dies bei Mareike der Fall ist, bleibt zwar offen, eine Schwangerschaft wird aber durch die Engführung der beiden Geschichten suggeriert. Mareikes Auseinandersetzung mit der Geschichte der Mutter wirkt so stark assoziativ und von ihren eigenen Erfahrungen beeinflusst (ähnliche Konstruktionen vgl. z.B. ebd., 33, 38f.). Inwieweit sich Mareike bei ihren Schilderungen von Magdas Erlebnissen an Tatsachen hält, ist an vielen Stellen nicht nachvollziehbar. Vieles des von ihr Erzählten scheint durchaus plausibel, und gerade durch seinen Detailreichtum mutet es zunächst nicht als imaginiert an. So könnte man sich durchaus vorstellen, Magda habe Mareike von dem rothaarigen Mann erzählt, den Mareike „die Sehnsucht meiner Mutter“ (ebd., 5) nennt. Zunehmend finden sich jedoch Passagen, in denen es unwahrscheinlich scheint, dass Mareike derart genau über die Geschehnisse informiert sein könnte. Gerade in dem erwähnten Kapitel um Magdas erstes Mal trifft dies zu: Er wartet mit ausgeschalteten Scheinwerfern an der Ecke, der Hund schlägt nicht an, und wenn schon, der Wagen ist schnell, rote Wagen sind schneller als andere. Wenn sie dann einsteigt, legt er ihre Hand in seinen Schoß und sagt: „Schau, wie sehr ich mich freue.“ (ebd., 24) Dass Magda dies der jugendlichen Tochter erzählt hat, ist nicht wahrscheinlich, gerade, da sie durch Mareike stets als Mutterfigur in einem traditionell konservativen Sinne dargestellt wird: Das erste Signal für Magdas Weggang ist für Mareike beispielsweise, dass kein Essen auf dem Herd steht (ebd., 9). Dass ihre Regel ausgeblieben ist, merkt Mareike spät, da die Mutter nicht – wie normalerweise – das Betttuch gewechselt hat. Es klingt wie eine Erkenntnis, als die Erzählerin feststellt: „Meine Eltern waren einmal zwei Menschen, die sich nicht kannten. Waren eine Magda und ein Günther“ (ebd., 14). Zunehmend wird deutlich, dass das, was Mareike über ihre Mutter weiß, nicht für eine lückenlose Erzählung ausreicht. Den zuvor erzählten, vermeintlich plausiblen Handlungsstrang um den rothaarigen Mann stellt Mareike mit der Äußerung „Und ich frage mich, ob meine Mutter mir je erzählt hat, warum sie rote Haare mag“ (ebd., 33) später infrage. Analog zum Zusammenbruch der Familie dekonstruiert Mareike auch das in ihr manifeste Familienbild. Die vielen Beschreibungen der Mutter und der Stationen ihres Lebens sind entsprechend als Imaginationen einer Tochter zu verstehen, der auffällt, wie wenig sie über die eigene Mutter weiß – und die nun in einer Krisensituation keine Möglichkeit hat, sich hilfesuchend an sie zu wenden. Dass es sich, 243 zumindest stellenweise, um Imaginationen oder Hinzudichtungen handelt, wird weiterhin deutlich, wenn Mareike in ihrer Erzählung gelegentlich verschiedene Möglichkeiten durchspielt. So ist ihr beispielsweise durchaus nicht klar, wie sich die Eltern kennengelernt haben, und sie präsentiert nacheinander zwei verschiedene Versionen: Der Freund fragt also Günther, ob der mitkommt, damit Magda beschäftigt wird und er mit der Rothaarigen allein sein kann. Oder: Der Freund ruft die Rothaarige an und redet davon, dass er mit meinem Vater ins Kino will, ob sie denn die beiden nicht begleiten mag, vielleicht? (ebd., 16) Durch die oder-Konjunktion wird deutlich hervorgehoben, dass hier zwei einander ausschließende Möglichkeiten präsentiert werden. Im zwölften Kapitel, in dem Mareike dann aus Magdas Blickrichtung von dem Tag erzählt, an dem Magda die Familie verlässt, wird dieses Durchspielen von Möglichkeiten auf die Spitze getrieben. Mareike kann hier auch nur spekulieren, denn Magda kann ihr nichts von den Geschehnissen an diesem Tag erzählt haben. Die Unsicherheit der Jugendlichen bezüglich der Beweggründe der Mutter zeigt sich hier in einem ständigen Aufheben des zuvor Erzählten. Wie in einem Bewusstseinsstrom erzählt sie davon, wie ihre Mutter an einer Ampel den rothaarigen Mann wiedertrifft: Er ist in seinem Leben nie glücklich geworden. Er ist sehr glücklich, er hat eine gute Anstellung in einem krisensicheren Betrieb, er ist glücklich verheiratet, zum zweiten Mal, ein Wunschkind ist auf dem Weg und ein Haus gebaut. Er ist unglücklich und hat immer nur an sie denken müssen und jetzt, wo er sie trifft, da macht er Nägel mit Köpfen und nimmt ihre Hand […]. Der Mann mit den roten Haaren ist keine Sehnsucht mehr, er redet Unfug, er redet zu laut und schlecht. Er hat schlechte Manieren, schlechte Ansichten und Zähne, er hat ausgefranste Fingernägel und stinkt aus dem Mund. Er greift ihr an den Hintern und reißt Zoten. Die Sehnsucht meiner Mutter hat keine Haare mehr. Der Mann mit den roten Haaren war ein anderer und meine Mutter fährt weiter. Die Sehnsucht meiner Mutter hat einen Namen, er heißt Paul, er heißt Georg, er heißt Heinz, er heißt Dieter. Die Sehnsucht und meine Mutter haben nie ein Wort gewechselt, er hatte einen Namen, den wusste sie nie. Sie wusste seinen Namen und hat ihn wieder vergessen (ebd., 30f.). Es lässt sich für den ersten Romanteil feststellen, dass Mareikes Erzählung hier einen deutlich unzuverlässigen Charakter hat, der sich in den Kapiteln, die sich mit Magdas Geschichte befassen, manifestiert. Vermeintlich zuverlässige Informationen müssen im Nachhinein als Imaginationen und Hinzudichtungen einer verunsicherten Jugendlichen umgedeutet werden, die sich auf einer Suche nach Halt befindet. Der ontologische Status kann als ‚in Teilen unsicher‘ zusammengefasst werden. 244 Die Romanmitte: vier Fortführungen der Geschichte Die zweite genannte Erzählsituation umfasst die vier alternativen Fortführungen, die von Mareike präsentiert werden (ebd., 49-130). Analog zu Mareikes Bemerkung auf dem Bahngleis sind die vier Geschichten mit den Überschriften „Der Zug kommt gleich“ (ebd., 49), „Manchmal kommt der Zug zu spät“ (ebd., 91), „Manchmal fällt ein Zug aus“ (ebd., 103) sowie „Manchmal kommt ein anderer Zug“ (ebd., 119) versehen. Die Überschriften dieser Erzählteile markieren bereits, dass in ihnen verschiedene alternative Möglichkeiten vorgestellt werden. Mareike imaginiert in ihnen jeweils einen anderen Weg; ihr Schicksal und das ihres ungeborenen Kindes ändern sich von Mal zu Mal. Zunächst ist diese Parallelkonstruktion aber nicht ersichtlich, und die erste Geschichte („Der Zug kommt gleich“; ebd., 49ff.) scheint inhaltlich an das Vorgesagte anzuknüpfen und wird in vergleichbarem Duktus erzählt. Ähnlich wie der erste Teil der Erzählung ist sie in 21 sehr kurze, nummerierte Kapitel unterteilt. In dieser Variante scheint die Schwangerschaft für die Erzählerin noch irreal; sie erzählt niemandem davon. Dennoch versucht Mareike, die Frauen in ihrer Familie und insbesondere deren jeweilige Sehnsucht zu verstehen, und sie besucht dazu erst Nadine, dann eine Freundin der Mutter und schließlich ihre demente Großmutter im Pflegeheim. Erst ihr erzählt sie: „Vielleicht bin ich schwanger“ (ebd., 87). Ähnlich wie Mareike im ersten Teil der Erzählung kapitelweise Magdas Blickwinkel einnimmt, tut sie dies in dieser Geschichte zuerst mit Nadine (vgl. ebd., 51., 53f., 58-60), dann mit Marianne (vgl. ebd., 81f., 84-86, 89f.). Durch die formale Ähnlichkeit dieser Geschichte zur vorhergehenden Erzählung sowie durch deren vermeintliche inhaltliche Fortführung ist auf den ersten Blick kein großer Unterschied bemerkbar, und der ontologische Status dieses im Nachhinein allerdings als durchweg imaginiert zu verstehenden Erzählteils bleibt zunächst unklar. Man könnte meinen, Mareike erzähle wie zuvor abwechselnd von Ereignissen, die ihr tatsächlich widerfahren sind und von zumindest zum Teil imaginierten Erlebnissen, die Mareike ihren weiblichen Verwandten zuschreibt. Dass dies nicht zutrifft, wird in dieser ersten Geschichte durch punktuell gesetzte Diskrepanzen markiert. Insbesondere ist hier die Figur eines jungen Mannes zu nennen, den Mareike trifft, als sie ihre Schwester besucht. Mitunter spricht sie ihn mit ‚du‘ direkt an; durch diesen Wechsel des Adressaten wird die Bedeutung dieser Figur in diesen kurzen Passagen auch auf der discours-Ebene hervorgehoben: Und dann wach ich auf und du sitzt vor mir. Ich kenn dich nicht. Du liest ein Buch und schaust erst hoch, als ich mich wieder aufsetze, […] (ebd., 62). 245 Der junge Mann kommt in mehreren Kapiteln dieser Geschichte vor (vgl. ebd., 53f., 60-62, 63-66, 79-81), und Mareike hebt den schicksalhaften Charakter der romantischen Begegnung durch die Floskel „Boy meets girl“ (ebd., 63) noch hervor. Bald zeichnet sich jedoch ab, dass der junge Mann nicht tatsächlich existiert, sondern vielmehr die Personifizierung von Mareikes eigener Sehnsucht darstellt: In einem mit etwa dreieinhalb Seiten ungewöhnlich langen Kapitel (ebd., 63-66), das zudem nahezu ohne Absätze gesetzt ist, entwickelt Mareike in beinahe übertrieben schwärmerischem Ton die Geschichte eines Treffens. Dabei greift die Erzählerin auf frühere romantische Erlebnisse zurück: Er hat einen Arm um mich gelegt, und ich habe beschlossen, dass er der Junge ist, den ich mit sieben auf der Stadtranderholung kennengelernt habe, der mit den Locken und der Nickelbrille, mit dem ich bei jedem Ausflug zusammen gegangen bin, dem ich danach nur noch einmal im Freibad begegnet bin und erst da begriffen habe. Ich habe ihn Robin genannt (ebd., 64f.). Mit dieser Figur taucht nun ein unzuverlässiges Element auch in einem Kapitel auf, in dem Mareike ihre eigene Geschichte erzählt. Dies war zuvor nicht der Fall, und so kann man nun auch Anteile dieses Erzählteils als Imaginationen verstehen. Hat man diese Unzuverlässigkeit aufgelöst, mutet ein Wortwechsel der beiden dabei durchaus humorvoll an: Ich frag dich, was dir zu Eskapismus einfällt. Und du sagst: „Eine ganze Menge.“ (ebd., 62) In drei der letzten fünf Kapitel (Kap. 17, 19, 21) dieser ersten Alternative nimmt Mareike Mariannes Blickwinkel an. Sie schildert, wie Marianne ein außereheliches Kind empfängt und wie ihr Mann mit dem ‚Kuckuckskind‘ umgeht: [N]ur manchmal, wenn dem Jungen was aus der Hand rutschte, wenn dem Erwin die Hand ausrutschte, wenn Marianne den Jungen nicht rausgeschickt hatte, da rutschte es ihm raus. „Bastard“, sagte er dann. „Bas-tard“ (ebd., 90). Mit diesen drastischen Worten endet die erste der Fortführungen. Spätestens mit dem zweiten alternativen Erzählstrang („Manchmal kommt der Zug zu spät“; ebd., 91ff.) wird dann klar, dass eine Parallelkonstruktion vorliegt, da die Geschichte im gleichen Moment einsetzt wie die vorhergehende, nämlich mit Mareikes Aufenthalt am Bahnhof. Aufbau und Form der Erzählung unterscheiden sich in dieser Alternative erheblich vom zuvor Erzählten: Sie ist insgesamt kürzer, besteht aus einem einzigen, nummerierten, mit einem Umfang von zehn Seiten aber deutlich längeren Kapitel. Vor allem aber unterscheidet sie sich durch einen stark 246 albtraumähnlichen und höchst diffusen Charakter82. Immer wieder stellt Mareike Fragen und wirkt orientierungslos – insbesondere bezüglich der Zeit: Als wäre ich tagelang unterwegs gewesen. Reibe mir die Augen. Wie spät ist es? Ich sehe eine Uhr, sehe noch eine, beide zeigen unterschiedliche Uhrzeiten an, ich entscheide mich für eine, die nahe liegend ist. Wann geht der nächste Zug? (ebd., 96) Mehrmals spricht Mareike mit verschiedenen jungen Männern, dabei ist nicht immer klar, um wen es sich handelt. Anfangs stellt sich ein kataphorisch nur mit ‚er‘ eingeführter Mann als Gregor heraus (vgl. ebd., 94f.). Sie sitzen eine Weile beieinander, es kommt jedoch kein signifikantes Gespräch zustande. Als Mareike später ihre Mutter sucht, wird sie wiederum von einem jungen Mann begleitet/verfolgt, dessen Identität aber nicht explizit aufgelöst wird: Es wird weder klar gesagt, um wen es sich bei ihm handeln könnte, noch ob es ihn überhaupt gibt. Die Lesart, dass es sich hier wieder um die Personifikation ihrer Sehnsucht handeln könnte, liegt nahe: Wie auch in der vorherigen Geschichte geht der erste Kontakt der beiden von ihm aus, indem er eine Bekanntschaft vermutet. Anders als zuvor weist Mareike ihn in dieser Geschichte jedoch ab: „Jetzt sag doch mal, kenn ich dich?“, fragt der hinter mir, ich drehe mich um, sage nein, nein, wir sind uns noch nie begegnet, du siehst nur jemandem ähnlich, den ich mal kannte, glaube ich, damals, als ich klein war, aber davon weißt du nichts, heißt du Robin, frag ich und er schüttelt den Kopf, siehst du, du bist es nicht, lassen Sie mich doch endlich durch, Unverschämtheit (ebd., 98). Weder die Mutter noch die eigene Sehnsucht werden in dieser Geschichte für die Erzählerin greifbar. Mareike wirkt dabei durchweg hilf- und haltlos, mitunter regressiv („Wäre ich klein, dann würden sie mir helfen“; ebd., 99). Ihre vielen Fragen bleiben in dieser Geschichte aber unbeantwortet, und sie kulminieren in der Erkenntnis, von der Mutter verlassen zu sein: Du hast dich doch schon mal für mich entschieden, warum bist du denn jetzt gegen mich? Sie ist nicht im Zug (ebd., 100). Mareike kann mit der Situation nicht umgehen, und sie kündigt einen weiteren Versuch, einen Neustart, schon am Ende der zweiten Geschichte an: Dann fang nochmal an. Geh zurück auf Los. Sei am Bahnhof, steh da vor einer Bank (da ist eine Bank), schau auf die Anzeige und überlege, ob du dich setzen sollst. Als ob alles davon abhängt, ob du dich setzt oder nicht. Als ob es sich daran entscheidet (ebd., 101). Auf das sehr prominente Motiv ‚Träumen‘ wird an späterer Stelle noch genauer eingegangen. 82 247 Die dritte Alternative („Manchmal fällt ein Zug aus“; ebd., 103ff.) ist dann wieder realistischer gestaltet: In zehn Kapiteln erzählt Mareike, wie der Zug ausfällt und was danach passiert. Sie unterhält sich nun mit Gregor, sagt ihm aber nichts über die Schwangerschaft. Anders als in beiden vorherigen Alternativen setzt sie sich nun aber immerhin mit ihrer Schwangerschaft auseinander. Bei einer Frauenärztin lässt sie sich diese bestätigen, und sie bemüht sich um eine Entscheidung: Wenn man schwanger ist, kann man das Kind bekommen. Man kann es zur Adoption freigeben. Man kann es abtreiben. Das sind die Möglichkeiten (ebd., 108). Bevor sie jedoch zu einer Entscheidung kommt, verliert sie das Kind. Zwar wirkt Mareike in dieser Alternative abgeklärter, und es scheint, als sähe sie den Tatsachen ins Auge – doch auch in dieser ‚Welt‘ hält sie die Schwangerschaft vor ihrem Vater geheim, und sie sehnt sich weiterhin danach, klein zu sein. In Klammern gesteht sie: „(Ein Kind würde weinen, würde sagen: ‚Ich will meine Mama‘)“ (ebd., 112). Sie bedauert, nicht religiös zu sein: „Hätte ich Religion, dann wäre es leicht. Dann wäre ungeborenes Leben heilig. Dann gäbe es nur zwei Möglichkeiten“ (ebd., 109). Mit dem Verlust des Kindes findet sie in dieser Alternative jedoch ein ‚Hintertürchen‘, und sie bemerkt: „Es gab also doch noch eine Möglichkeit“ (ebd., 114). Nach etwa einem Monat ruft ihre Mutter an, Mareike legt aber auf, als Magdas Antworten sie nicht zufriedenstellen. Auf einer Party meint sie Robin zu erkennen und will ihn ansprechen. Er ist jedoch mit einem anderen Mädchen da und geht, bevor sie etwas sagen kann. Am Ende entscheidet sich Mareike für Gregor: Ich trinke die Flasche leer. Gehe raus in den Garten. Es ist warm, es ist fast Sommer. Nicht mehr lange, dann sind Ferien. Danach fängt die Oberstufe an. Ich lege mich auf den Boden, sehe nach oben, da sind Sterne und Wolken und ein Bruchteil Mond. Setze mich wieder auf. Neben mir sitzt Gregor. „Meine Eltern sind nicht daheim“, sagt er. Ich stehe auf. „Dann komm“, sag ich (ebd., 117). Es wird hier nicht klar, ob Mareike nun im Begriff ist, das Getane zu wiederholen, oder ob sie nun einen anderen Weg als zuvor gehen wird; beide Möglichkeiten sind denkbar. In der vierten Alternative („Manchmal kommt ein anderer Zug“; ebd., 119ff.) versucht die Erzählerin, alles ins Positive zu führen. Diese letzte Fortführung ist wieder ein einziges Kapitel, das, anders als es in den vorhergehenden Geschichten der Fall war, nicht nummeriert ist. Mareike entwirft hier ein sehnsuchtsvolles Szenario: Sie bekommt das Kind und lebt mit ihm, einem Hund und einer Katze in einer 248 südlichen Idylle. Von Gregor ist in dieser Alternative keine Rede mehr. Wieder findet sich eine Passage, in der sie sich in der Du-Form an ihre Sehnsucht wendet: „Man könnte die Liebe finden. Jemanden, der Vater sein will“, sage ich dem Kind am Abend, bevor es einschläft. Und du wartest abends auf mich, wenn ich von der Arbeit komme, lässt mir ein Bad ein und erzählst mir eine Geschichte, die dir passiert ist. Erzählst mir, wie du als kleiner Junge warst, als ich ein kleines Mädchen war, erzählst, da war ein Mädchen, das habe ich einen Sommer kennengelernt und erst Jahre später verstanden, dass das schon Liebe war. Ja sage ich, das war ja ich (ebd., 127). Entgegen allem, was wahrscheinlich ist, setzt sich Mareike in dieser Alternative über die Logik hinweg und versammelt all ihre diffusen und naiven Sehnsüchte. Schließlich wechselt die Erzählerrede ins Futur, und Mareike spinnt eine nahezu undenkbare Zukunft: Und eines Tages werde ich nach Hause kommen und vor meiner Tür sitzt meine Mutter und wartet auf mich. Sagt, dass sie mich gesucht hat, dass sie mich gefunden hat. Umarmt mich und lässt mich einen Tag lang nicht los. Dass ich wieder klein und ihr Jüngstes bin, sagt, wie stolz sie auf mich ist und dass sie froh ist, dass es mit gut geht. Und erklärt mir, warum sie gegangen ist (ebd., 128). Auch diese vierte Alternative ist nicht haltbar. Mareike beschreibt: „Aber ich bin in diesen einen Zug gestiegen, der unwahrscheinlich war. Der nicht möglich war“ (ebd., 128). Noch während der Erzählung dieser Möglichkeit ist ihr deren Irrealität bewusst. Magda kommentiert Mareikes allzu idyllisches Leben mit Kind mit den Worten: „Das ist ein schöner Gedanke, eine schöne Idee“ (ebd., 129) und impliziert dabei ebenfalls, dass dieses Leben nicht real sein kann. Im festen Griff der Mutter bemerkt Mareike: „Etwas tut weh und der Hund steht draußen und bellt. Ich habe ein Kind, ich bin Mutters Tochter, ich bin eine Trümmerfrau“ (ebd., 129). Nach einer albtraumartigen Wende kehrt dann auch diese Erzählung wieder zur Ausgangssituation zurück: Ich stehe auf dem Bahnhof und warte auf meinen Zug, ich warte, da ist eine Bank, darauf meine Mutter, die mich in ihren Armen hält, da ist keine Ansage, irgendein Zug wird kommen, irgendeine Richtung wird es geben, mach die Augen auf und entscheide dich. Mach die Augen auf, die festen Arme meiner Mutter, und plötzlich lässt sie los (ebd., 129f.). Diese letzte Passage der vierten Alternative stellt einen Schlüsselmoment der Erzählung dar. Da nun keine weitere Fortführung folgt, könnte es sich hier um eine Rückkehr zur zeitlichen Ordnung handeln. Ob dies der Fall ist, bleibt aber unklar. Es lässt sich zusammenfassend festhalten, dass in diesem mittleren Teil der Erzählung vier alternative Geschichten hintereinandergestellt werden, die mehr oder wenig realistisch erscheinen und die alle als imaginiert verstanden werden können. 249 Zweimal wird eine plausibel erscheinende Variante von einer nicht realistisch erscheinenden, traumartigen Alternative abgelöst. Alle vier Geschichten setzen zum gleichen Zeitpunkt ein, nämlich dem Moment, als Mareike auf dem Bahnsteig steht; sie werden von dort aus auf unterschiedlichen Wegen weitergeführt. Auffallend ist, dass alle Geschichten am Ende ‚implodieren‘, indem sie nicht zu einem befriedigenden Ende geführt werden, sondern zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren. Formal durchaus verschieden umgesetzt, lässt sich in den vier Alternativen inhaltlich eine graduelle Zunahme in der Bereitschaft der Ich-Erzählerin erkennen, sich mit ihrer Situation auseinanderzusetzen, auch wenn es dabei in keiner der Alternativen zu einer Entscheidung Mareikes kommt. Die Alternativen stellen damit zwar Parallelwelten dar, sind aber in ihrer Reihenfolge durchaus nicht austauschbar, sondern sie entwickeln sich nacheinander aus einander. Mitunter werden Elemente vorheriger Geschichten in spätere eingeflochten. Dies geschieht beispielsweise in der dritten Geschichte, als Mareike ihrer Mutter sagen möchte: „Ich hab dich in einem Zug im Restaurant sitzen sehen. Oma hat nach dir gefragt“ (ebd., 115). Ersteres passiert in der zweiten, letzteres in der ersten Geschichte. Anders als es am Erzählanfang der Fall ist, betrifft die Unzuverlässigkeit in diesem Teil der Erzählung auch jene Anteile, in denen Mareike von ihren eigenen Erlebnissen erzählt. Dies ist aber nicht sofort ersichtlich, sondern wird erst nach und nach deutlich. „ODER“: Das Ende des Romans Der letzte Teil der Erzählung, der unter der Überschrift „ ODER“ (ebd., 133; Kapitälchen im Original) den Romanschluss darstellt, bietet eine weitere Alternative. Bereits dadurch, dass diese Geschichte nicht am Bahngleis ansetzt, lässt sich ein deutlicher Unterschied zu den alternativen Fortführungen des mittleren Romanteils feststellen. Mit dieser letzten Geschichte, in der Mareike erzählt, wie Magda sich gegen die dritte Schwangerschaft entscheidet, greift die Erzählerin eine am Romananfang im zweiten Kapitel bereits erzählte Passage beinahe wörtlich wieder auf und kreiert so eine Klammer, die (abgesehen vom einzeiligen ersten Kapitel) den gesamten Roman umschließt. Aufschlussreich sind vor allem die kleinen Unterschiede zwischen den beiden Kapiteln. So beginnt das zweite Kapitel beispielsweise mit den Worten: Als meine Mutter mit mir schwanger wurde, war Frank schon fast erwachsen und Nadine aus dem Gröbsten raus (ebd., 5). 250 Diese Passage klingt in ihrer Reprise am Romanende folgendermaßen: Als meine Mutter wieder schwanger ist, als ich ein kleiner Zellhaufen bin, so groß wie ein Stecknadelkopf, da ist Frank schon erwachsen und Nadine aus dem Gröbsten raus (ebd., 133). Die Formulierung „Zellhaufen“ (ebd.), die hier den Unterschied ausmacht, verwendet Mareike innerhalb der Erzählung in Bezug auf ihre eigene Schwangerschaft (vgl. ebd., 108, 113). Direkt im Anschluss an das bereits Zitierte sagt sie im letzten Kapitel: Meine Mutter heißt Magda und weiß nicht, ob sie noch ein Kind will, neun Jahre nach der Geburt der Jüngsten (ebd., 133). Im zweiten Kapitel spricht Mareike lediglich von ihrer Mutter, ohne deren Namen zu nennen. Am Romanende weicht sie bei der wiederholten Erzählung der Anfangssituation mehrfach von dieser Erzählung ab, und sie flicht dabei Elemente aus dem Romangeschehen ein. Sie scheint am Ende der Mutter mehr Verständnis entgegenzubringen als am Anfang, und sie mildert die am Erzählanfang imaginierte Situation zwischen den Eltern am Ende zugunsten der Mutter ab. Mit dem Entschluss zur Abtreibung schreibt Mareike Magda nun eine weitere Entscheidungsmöglichkeit zu, die sie sich selbst in den vier Möglichkeiten zuvor nicht durchzuspielen gewagt hat. Mit dieser Geschichte führt die Erzählerin gleichzeitig ihre gesamte Erzählung ad absurdum: Hätte sich die Mutter tatsächlich gegen sie entschieden, gäbe es keine Erzählerin für den vorliegenden Roman. Bach generiert so eine paradoxe Schlusssituation, die ontologisch unmöglich ist. Insgesamt kann man Marienbilder als besonders komplex bezüglich des ontologischen Status zusammenfassen. Eine zu Anfang in Teilen unsichere Erzählsituation wird in ihrer erzählerischen Unzuverlässigkeit graduell gesteigert, bis sie schließlich am (physischen) Romanende in einer paradoxen Schlusspointe eskaliert. Marienbilder als religiöser und philosophischer Diskurs Bereits der Romantitel suggeriert eine religiöse Komponente des Romans, und tatsächlich lassen sich durchweg zahlreiche Verweise auf religiöse Praxen und Rituale sowie Bibelreferenzen entdecken. Eng verwoben mit dieser religiösen Ebene des Romans findet sich noch eine weitere, abstraktere philosophische Ebene. Auffallend oft lassen sich in der Erzählerrede religiöse Anspielungen erkennen. Magdas Empfindungen für den rothaarigen Mann veranschaulicht Mareike beispielsweise folgendermaßen: 251 [D]a scheint die Sonne durch die Ohren der Sehnsucht mit den roten Haaren, der drei Reihen vor Magda sitzt. Wie in der Kirche, denkt Magda, wenn sonntagsfrüh das Licht durch die Fenster über dem Altar strahlt […] (ebd., 8). Die titelgebenden Marienbilder sind das vielleicht offensichtlichste Beispiel religiöser Anspielungen, und sie kommen auch im Roman vor: Marianne sammelt kleine Bildchen der Gottesmutter, und sie zeigt sie Mareike bei ihrem Besuch: „Die Marienbildchen, schau doch, wie schön die sind“ (ebd., 88). Betrachtet man die Vornamen der drei Generationen von Frauen genauer, fällt auf, dass die Namen Mareike, Magda und Marianne allesamt auf den Namen Maria rekurrieren – wobei sich Mareike und Marianne auf den Namen der Gottesmutter zurückführen lassen (Mareike stellt eine Verkleinerungsform des Namens Maria dar). Der Name Magda hingegen bezieht sich auf Jesu Gefährtin Maria von Magdala (Maria Magdalena), ihr kommt damit eine Sonderstellung zu. Gerade die drei Frauenfiguren können immer wieder mit ihren Namenspatroninnen enggeführt werden. Insbesondere zeigt sich bei Mareike: Sie wird schwanger, ohne Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Alle drei Frauen werden unehelich schwanger, immer wieder findet Mareikes Erzählung zu den Empfängnissen zurück. Mareike sagt, „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, Mutters Tochter. Wie die Jungfrau zum Kinde“ (ebd., 42). Als Mareike in der dritten Alternativgeschichte über ihre Optionen nachdenkt, äußert sie: „Hätte ich Religion, dann wäre es leicht“ (ebd., 109). Mareike, so wird deutlich, empfindet ihren mangelnden Glauben als großen Verlust. Bei Marianne hat sie gesehen, wie viel Halt Religion bieten kann, und beinahe schmerzvoll äußert Mareike: Ich könnte beten. Wenn ich einen Funken Religion hätte (ebd., 110). In der nächsten Alternative scheint sich Mareike an diesen Wunsch nach Religion zu klammern, und sie zeichnet ein allzu idyllisches Traumbild, in dem sie glücklich mit ihrem Kind lebt. Sie formuliert hier: Da sind neues Land und neuer Himmel. Da ist ein Meer mit Strand. Da werde ich wohnen (ebd., 122). Hiermit liefert die Erzählerin einen deutlichen Verweis auf die Bibel. Im Buch Jesaja heißt es mit Bezug auf das endzeitliche Heil: Ja, vergessen sind die früheren Nöte, / sie sind meinen Augen entschwunden. Denn schon erschaffe ich einen neuen Himmel / und eine neue Erde. Man wird nicht mehr an das Frühere denken, / es kommt niemand mehr in den Sinn. Nein, ihr sollt euch ohne Ende freuen und jubeln / über das, was ich erschaffe. 252 Denn ich mache aus Jerusalem Jubel / und aus seinen Einwohnern Freude. Ich will über Jerusalem jubeln / und mich freuen über mein Volk. Nie mehr hört man dort lautes Weinen / und lautes Klagen (Jes 65, 16e-19). In der Offenbarung wird die Darstellung der neuen Welt Gottes eingeleitet mit den Worten: Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr. Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat (Offb 21, 1-3; Hervorhebg. im Orig.). Es lässt sich ableiten, dass Mareike mit der vierten Alternative auf Heilsvorstellungen in jüdisch-christlicher Tradition rekurriert: auf das Vergessen und das Ungültigmachen von allem, was traurig und schrecklich ist. Sie sehnt sich nach einem ‚himmlischen Jerusalem‘, das an die Stelle ihrer Sorgen gesetzt wird. Ebenfalls in dieser Geschichte sagt Mareike über ihr Kind: Meine Augen, kleiner Flaum auf dem Kopf, der irgendwann blond wurde, wie ich, alles wie ich, als hätte es nie einen Vater gegeben (Bach 2014, 124). Mareike inszeniert sich hier als ‚kleine Maria‘, als Mutter eines Kindes ohne Vater. Mit dieser Geschichte negiert die Erzählerin auch ihre vorher getroffene Aussage, sie habe keine Religion (vgl. ebd., 109). Mareike würde gerne glauben, und sie ist nicht ohne Religion. Sie weiß tatsächlich sogar sehr gut über religiöse Konventionen Bescheid, ihre christliche Sozialisierung manifestiert sich auch in der von ihr erzählten Familiengeschichte. Gleichwohl verfügt sie ebenfalls über eine große Kenntnis von Sprichwörtern und Redensarten sowie Bauernregeln, die teilweise abergläubischen Inhalts sind. Die Erzählerin vermischt dabei gelegentlich Glauben mit Volksglauben. Gerade Gnadenbildern, die eben oft in der Form von Marienbildern auftreten, kommt neben der religiösen Bedeutung eine solche volksgläubige Komponente zu; ihnen werden häufiger übersinnliche Eigenschaften zugesprochen. Neben dem begriffsbestimmenden Vermögen der Bildchen, Gnade zu gewähren, handelt es sich hierbei insbesondere um Unterstützungs-, Trost- und Schutzfunktionen. Mareike, die in ihrer misslichen Lage nahezu keine zwischenmenschlichen Zuwendungen erfährt, sehnt sich nach eben diesen Sentiments. Sie sieht, dass die Marienbilder Marianne Unterstützung, Trost und Schutz bieten, doch so sehr sich Mareike danach sehnt: Ihr Bedürfnis nach Glauben kann nicht gestillt werden. Zu dieser religiösen Ebene kommt eine weitere, eine philosophische Ebene hinzu. Sie ist weniger offensichtlich als die religiöse, steht aber durchweg in engem Zusammenhang zu ihr und liegt gleichermaßen wie eine Folie über der gesamten Erzählung. 253 Bereits im Paratext lassen sich Paradoxa zeigen, ein verstecktes Paradoxon findet sich im Titel: So schafft die Erzählerin Mareike mit ihren Imaginationen ‚Bilder‘ der drei Frauen, Mareike, Magda und Marianne – also Marienbilder. Diese Argumentation erinnert an Magrittes bekanntes Werk La trahison des images („Der Verrat der Bilder“): So wie auch die gemalte Pfeife keine reale Pfeife ist („Ceci n’est pas une pipe“), so sind auch die Imaginationen der Erzählerin keine realen Erlebnisse, sondern bleiben lediglich (sprachliche) Bilder. Bei Magritte wird das Philosophische gerade durch den Bezug von Bild und Titel hervorgehoben, indem die Diskrepanz von Bild und Rezeption als Verrat beurteilt wird: Ein Bild suggeriert die Authentizität des Erdachten und damit die Existenz des Nichtexistenten; Magrittes Werk führt so auch zu einem Hinterfragen des Realitätsbegriffs. Durch die erzählerische Unzuverlässigkeit der Erzählerin in Marienbilder, die unklar lässt, bei welchen Erzählanteilen es sich um Imaginationen bzw. Hinzudichtungen handelt, wird (innerhalb der Diegese) ebenfalls Authentizität suggeriert. Es kommt so ebenfalls zu einem ‚Verrat‘, wenn Leser bestimmte Handlungselemente als ‚wahr‘ rezipiert und diese sich dann als erdacht herausstellen bzw. ihr ontologischer Status nicht zu entschlüsseln ist. Mit einem der Erzählung vorangestellten Zitat Kurt Vonneguts findet sich dann ebenfalls noch im Paratext ein weiteres Indiz, das diese Argumentation stützt und das gleichzeitig eine potentielle Unzuverlässigkeit der dann folgenden Erzählung andeutet: „All of the true things that I am about to tell you are shameless lies.“ KURT VONNEGUT, CAT’S CRADLE (ebd. ,4; Kapitälchen im Original) Wieder wird mit Gegensätzen gespielt; die Aussage, die präsentierten ‚wahren‘ Dinge seien Lügen, stellt ein Paradoxon dar, das zunächst widersprüchlich, bei näherer Betrachtung aber philosophisch sinnhaft ist. Der Argumentation des vorherigen Kapitels dieser Analyse folgend, lässt sich dann für den Romantext zusammenfassen: Im ersten Teil der Erzählung werden punktuell Widersprüchlichkeiten alternativ gegeneinandergestellt (vgl. wie oben beschrieben 16, 30f.); im zweiten Teil der Erzählung trifft dies durch die (sukzessive) Parallelkonstruktion für ganze Handlungssequenzen zu. Dass Mareike schlussendlich im letzten Kapitel ihre gesamte eigene Existenz infrage stellt, bildet wiederum ein Paradoxon, diesmal auf erneut höherer Ebene. Mareikes Erzählung kann als eine dialektische Auseinandersetzung mit der Ausgangssituation interpretiert werden, bei der Gedanken immer wieder in ihr Gegenteil geführt werden: In jedem Sein ist auch das Nicht-Sein enthalten, und durch 254 Aufhebung des Widerspruchs verändert sich das jeweilige Sein. Die erzählerische Unzuverlässigkeit in Marienbilder entspricht dieser Auseinandersetzung, und sie zeichnet sich durch verschiedene Abstraktionsniveaus aus. Mareike selbst formuliert: Meine Geschichte ist ein müheseliges Zusammenflicken von Hörensagen und schiefen Chronologien, und nichts dran, was hieb- und stichfest ist, nur Indizien, eventuell, aber das reicht nicht für ein Urteil (ebd., 80). Sie kann, in Hegelschem Sinne, nicht urteilen, solange sie Teil der Sache ist: Erst als sie sich am Erzählende selbst auflöst, indem sie sich Magda gegen sie entscheiden lässt, führt sie die Erzählung zu einer höheren Ebene. Sie verändert ihr Sein, indem sie den Widerspruch aufhebt, dass sie gleichzeitig der Mutter vorwirft, sich gegen sie entschieden zu haben, und doch selbst die Möglichkeit einer Abtreibung erwägt. Die Erzählerin generiert in diesem Zitat zudem eine Doppeldeutigkeit: Einerseits ist es ihr unmöglich, zu einem Urteil bezüglich ihrer Situation zu kommen. In diesem Verständnis stünde Urteil synonym zu Verständnis oder auch Entscheidung. Andererseits ist es auch Lesern unmöglich, über Fiktionalität und Faktualität des Gelesenen zu entscheiden. In diesem Fall wäre Urteil gleichbedeutend mit Beurteilung. Bezüglich der erzählerischen Unzuverlässigkeit in Marienbilder lässt sich feststellen, dass durch einen nahezu leitmotivischen Umgang mit religiösen und philosophischen Referenzen eine Meta-Ebene entsteht, die wiederum die Fiktionalität von Marienbilder betont. Metafiktionale Elemente/Unzuverlässige Motive Zahlreiche weitere metafiktionale Elemente wirken in die erzählerische Unzuverlässigkeit in Marienbilder mit ein, und die potentiell unzuverlässigen Motive des Erzählens, des Träumens bzw. des Schlafens sowie des Lügens durchziehen den gesamten Roman. In nicht wenigen Textbelegen, die bislang in anderen Zusammenhängen in dieser Analyse angeführt worden sind, lässt sich auch eine metafiktionale Komponente entdecken. Dies ist zum Beispiel in dem Zitat Vonneguts im Paratext (ebd., 4), der Fall oder auch in der beschriebenen Komposition mit sukzessiven Alternativwelten. Hieraus lässt sich bereits ablesen, wie präsent die Metafiktionalität in Marienbilder ist – und wie sehr sie mit der erzählerischen Unzuverlässigkeit zusammenhängt. 255 Weitere metafiktionale Passagen sollen hier nur exemplarisch hervorgehoben werden. Besonders das Verhältnis von Fiktion und Faktualität wird an vielen Stellen in Marienbilder thematisiert. Wir können reden, wenn wir wollen, vielleicht auch nicht. Du fragst, worüber. Ich weiß nicht. Mir fällt nichts mehr ein. Da könnte ein Kind in meinem Bauch sein, darüber, aber nein und auch nicht über Mutter, Vater, Familie, Freunde, nicht über Liebe, Herzen, Sehnsucht. All die Geschichten, die doch nur Fiktion sind, sobald sie passiert sind. Ich trau den Geschichten nicht (ebd., 79f.). Hier weist die Erzählerin in diesem Kontext sogar explizit auf Unzuverlässigkeit hin, sie stellt implizit auch den ontologischen Gehalt ihrer eigenen Erzählung infrage. Wiederholt stellt sich Mareike auch selbst als Fiktion dar, bezeichnet sich beispielsweise als „Klischee“ (ebd., 42), als „Geschichte mit Moral“ (ebd., 43) oder als „Geschichte, die nicht anders ausgehen kann, als man das kennt“ (106; ähnlich auch ebd., 36, 78, 111). Mareikes Krise bezüglich der eigenen Identität wird hier zudem besonders deutlich. Mitunter scheint die Erzählerin die Geschehnisse aktiv zu beeinflussen. Als Mareike sich bei der Freundin der Mutter befindet, wächst ihr die Situation über den Kopf. Es wirkt, als zöge sie hier eine Notbremse: In meiner Hand mein Handy, vielleicht hat er angerufen, vielleicht ich ihn, sage: „Hol mich hier raus“, und lass mich finden, raus hier, weg hier. Hier kann ich nicht denken. Hier will ich nicht sein (ebd., 79). Im unmittelbar folgenden sechzehnten Kapitel befindet sich Mareike dann in Robins Gesellschaft, im siebzehnten Kapitel ist sie schon bei Marianne. Die Erkenntnis „[H]ier will ich nicht sein“ (ebd.) führt auch zu einem unmittelbaren und abrupten Ortswechsel in der Erzählung. An einer Stelle zeigt sich ein Eingriff der Erzählerin im Layout des Texts: Heute Nacht wird nichts mehr erzählt. Wir halten das, was sie Geschichte nennen, an, halten an, nur noch Leerzeichen, bis irgendwann die Sonne aufgeht (ebd., 81). Durch die genannten metafiktionalen Momente wird das Erzählen wiederholt motivisch in den Vordergrund geführt. Weiterhin geschieht dies durch das wiederholte Einflechten von Liedern (vgl. ebd., 24, 66), Redewendungen (vgl. ebd., 42) und Bauernregeln (vgl. ebd., 58, 70), worauf ebenfalls bereits eingegangen worden ist. Das Erzählen ist damit auch in Marienbilder ein zentrales Motiv. 256 Die Motive ‚Träumen‘ und ‚Schlafen‘ finden sich ebenfalls an vielen Stellen. Es ist auffällig, wie oft Mareike aufwacht. Über die erste Begegnung mit Robin erzählt sie: „Und dann wach ich auf und du sitzt vor mir“ (ebd., 62). Bevor sie ihre Mutter in der zweiten Geschichte entdeckt, schläft sie ebenfalls ein: „Jemand fasst mich an der Schulter, und ich mache die Augen auf. ‚Aufstehen‘, sagt der Schaffner, ‚Endstation‘“ (ebd., 95, ähnlich auch 129). Der enge Zusammenhang dieses Motivs mit der erzählerischen Unzuverlässigkeit ist offensichtlich. Im folgenden Beispiel wird er besonders deutlich: Dann wach ich auf. Nadine steht auf dem Balkon und telefoniert. Es ist spät, früh, dunkel. Denke, sie redet mit Mama. Will aufstehen und sagen, dass sie ihr sagen soll ... oder dass ich mit ihr reden will, und warum sagt Nadine nicht, dass sie mit Mama Kontakt hat, aber das träume ich bestimmt und Nadine steht nur draußen auf dem Balkon oder ich träum auch das und Nadine liegt im Bett neben mir oder ich bin daheim und alles ist ganz anders. Oder alles ist ganz anders (ebd., 68f.). Durch das Traummotiv wird hier – wie an vielen weiteren Stellen der Erzählung – eine ontologische Unsicherheit generiert, die nicht überprüfbar ist. Die Markierung dieser Passage als potentieller Traum impliziert, dass es zwar so sein könnte, aber nicht zwingend so sein muss. Gerade in der zweiten und der vierten Parallelwelt hat die Erzählung einen diffusen Traumcharakter, der sämtliche Geschehnisse nahezu vernebelt, und der sich mal als albtraumhaft und mal als wunschtraumartig manifestiert. Auch das Lügen wird wiederholt thematisiert (vgl. hier wieder das Zitat im Paratext; ebd., 4). Magda erfindet Lügen, um sich mit ihrem Verehrer treffen zu können (vgl. ebd., 22f.); ihre Schwester Nadine lässt Mareike sagen: „Der Trick beim Lügen ist, die Lüge so simpel und so nah an der Wahrheit zu halten wie möglich“ (ebd., 53). Später stellt Nadine fest: „John Hughes hat gelogen“ (ebd., 54). Obwohl das Lügen in Marienbilder damit zwar wiederholt zur Sprache gebracht wird, kommt ihm ein eher geringer Stellenwert hinzu. Einordnung Anhand der in Kapitel 2.3.3 erarbeiteten Untersuchungsparameter lässt sich für Marienbilder zusammenfassen: Themen und Motive Das Thema ‚Identität‘ fällt im Kontext erzählerischer Unzuverlässigkeit erneut besonders auf, und wieder manifestiert sich ein Doppelgängermotiv. Weiterhin, so geht aus den obigen Ausführungen hervor, sind die Themen ‚Erzählen‘ sowie das Verhältnis von Fiktionalität und Faktualität bedeutsam, mit ihnen einhergehend die Motive ‚Lügen‘ sowie ‚Träumen‘. 257 Erzählsituation Senderin der Unzuverlässigkeit ist die extradiegetisch-autodiegetische IchErzählerin Mareike. Die Erzählung zeichnet sich besonders dadurch aus, als dass die Erzählerin mehrere alternative Möglichkeiten imaginiert und gegeneinanderstellt, wie die Handlung ab einem bestimmten Punkt weitergehen könnte. Die Modellierung der Erzählerfigur Mareike ist eine sechzehnjährige Jugendliche, die damit zurechtkommen muss, dass ihre Mutter die Familie plötzlich und unangekündigt verlässt; zudem besteht bei Mareike die Möglichkeit einer ungeplanten Schwangerschaft. Ihre Erzähleraussagen kreisen um ihr Bedürfnis nach Halt und ihre Sehnsucht nach Rückversicherung dessen, was sie als Person ausmacht. Mareike erscheint damit als haltlose und verunsicherte Jugendliche auf der Suche nach sich selbst. Mareikes angeschlagene psychische Verfassung manifestiert sich deutlich in ihrer erzählerischen Unzuverlässigkeit. Markierung der erzählerischen Unzuverlässigkeit In Marienbilder finden sich nur sehr wenige von Nünning (1998, 27f.) formulierte textuelle Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit. Lediglich explizite Widersprüche des Erzählers, sowie Hinweise im Paratext lassen sich, wie gezeigt, feststellen. Das von Nünning benannte Signal „Multiperspektivische Auffächerung des Geschehens und Kontrastierung unterschiedlicher Versionen desselben Geschehens“ (Nünning 1998, 28) ist ebenfalls relevant bezüglich der Unzuverlässigkeit in Marienbilder, allerdings stellt es sich als Kontrastierung unterschiedlicher Imaginationen dar. Es werden nicht verschiedenen Perspektiven auf ein Geschehen geboten, sondern es werden vielmehr unterschiedliche Varianten dessen, was sein könnte, gegeneinandergesetzt. Weitere Beschaffenheit der erzählerischen Unzuverlässigkeit Der ontologische Status des Erzählten ist oft nicht bestimmbar. Die erzählerische Unzuverlässigkeit in Marienbilder lässt sich als durchgängig und sehr komplex zusammenfassen. Intermedialität/Intertextualität Intertextualität ist in Bachs Roman als philosophischer und religiöser Diskurs von Bedeutung; sie manifestiert sich unter anderem in Form von Rekurrenzen auf die Bibel. Dem Roman ist zudem ein direktes Zitat von Vonnegut als Motto vorangestellt, das als deutlicher Hinweis auf eine potentielle erzählerische 258 Unzuverlässigkeit gedeutet werden kann. Funktionen Wichtige Funktion der erzählerischen Unzuverlässigkeit ist es, Mareikes Identitätskrise hervorzuheben: Die Erzählerin ist ratlos; sie weiß nicht, wer sie ist oder was sie tun soll. Ihre Unsicherheit setzt sich mit der erzählerischen Unzuverlässigkeit auf der discours-Ebene ihrer Erzählung fort. Eine Funktion der erzählerischen Unzuverlässigkeit in Marienbilder ist, so wurde gezeigt, auch die Hervorhebung des Gemachten (interne metafiktionale Funktion). Schließlich ist auf intern literarischer Ebene noch die ästhetische Funktion zu nennen, die der erzählerischen Unzuverlässigkeit in Marienbilder ebenfalls zugeschrieben werden kann. Keine der drei Frauen aus den drei Generationen hat eine stabile Ich-Identität erlangt, besonders Mareikes Mutter und Großmutter scheinen unter den Umständen, unter den sie ihre Kinder bekommen haben, zu leiden. Es werden so auch (historische) gesellschaftliche Frauen- und Mutterbilder verhandelt. Mareikes Orientierungslosigkeit veranlasst sie, sich auf die Geschichten ihrer Ahninnen zu besinnen. Gerade hier ist, so wurde gezeigt, ein Wirkungsort der Unzuverlässigkeit, die hiermit eben auch auf gesellschaftliche Phänomene hinweist. Die erzählerische Unzuverlässigkeit in Marienbilder erfüllt damit sowohl interne als auch externe literarische Funktionen. 259 Plötzlich, schlagartig, war ich überzeugt, dass Betti sich ihre ganze Durchschnittlichkeit von Anfang an auch nur ausgedacht hatte. Zum Beispiel ihren Dackel Hexchen. Das Tischtennis. Vor zwei Jahren ihren dritten Platz bei der Kreismeisterschaft im Doppel. Erst recht ihren ewigen Freund Markus und sein verficktes Blasorchester der freiwilligen Feuerwehr. Elisabeth … Lauban. Vielleicht sogar ihren Namen. (Berges 2010,163) 3.2.6 Markus Berges: Ein langer Brief an September Nowak Ein langer Brief an September Nowak von Markus Berges erschien ohne Altersempfehlung im Jahr 2010 im Rowohlt Berlin Verlag. Der Roman hat 208 Seiten 83. Die Konzeption der erzählerischen Unzuverlässigkeit unterscheidet sich in diesem Werk erheblich von der der zuvor analysierten Romane. Auffälligster Unterschied ist, dass es in Berges‘ Roman keine klar identifizierbare Ich-Erzählinstanz gibt; eine solche tritt zwar punktuell in Erscheinung, bezüglich ihrer Identität bleiben aber widersprüchliche Lesarten offen. Unzuverlässiges Erzählen manifestiert sich als generelle Verunsicherung, die wie eine Folie über weiten Teilen der Erzählung liegt. Zahlreiche intertextuelle Verweise durchziehen den Roman; sie manifestieren sich als postmoderne Mischung romantischer, pikaresker sowie zeitgenössischer Motive, und sie verstärken die unzuverlässige Grundstimmung in Ein langer Brief an September Nowak. Inhalt, Themen, Motive, Komposition Die neunzehnjährige Betti Lauban aus Warendorf reist nach ihrem Abitur nach Monaco, um ihre langjährge Brieffreundin September Nowak zu besuchen. Dort angekommen erwartet sie jedoch eine Überraschung, denn die junge Frau, die Betti am Bahnhof abholt, ist nicht die, die sie erwartet hat. September hatte sich in ihren Briefen als Balletttänzerin ausgegeben, nun ist Betti von ihrer Erscheinung konsterniert: „Sie war fett. Ihr großes farbloses T-Shirt spannte am Busen und an dem gewaltigen, schlaffen Bauch, der zu zwei Dritteln unter dem Gürtel einer offenbar sonderangefertigten Jeans steckte“ (Berges 2010, 13). Auch der Name stellt sich als Lüge heraus – in Wirklichkeit heißt die Frau Nicole –, und ihre Lebensumstände entsprechen nicht dem, was sie Betti glauben gemacht hat. Für 83 Der Roman ist nicht dezidiert an eine jugendliche Leserschaft adressiert, aufgrund der jugendlichen Konzeption der Protagonistin und der behandelten adoleszenten Themen, wird er hier dem jugendliterarischen Korpus zugerechnet. 260 Betti ist das alles ein Schock, sie ist entgeistert und reagiert zunächst passiv und verhalten. Am nächsten Tag lernt Betti im monegassischen Schwimmbad Stade Nautique Ingrid kennen, eine exzentrische Frau, die mit ihrem Sohn Anders Frankreich mit einem Wohnmobil bereist. Sie lädt Betti ein, sie zu begleiten, und Betti entschließt sich, Nicole den Rücken zu kehren und Monaco mit Ingrid und Anders zu verlassen. Gemeinsam brechen die drei noch am gleichen Tag nach Marseille auf. Im Laufe einiger gemeinsamer Unternehmungen wird zunehmend deutlich, dass Ingrid, die „Hypnose“ (ebd., 78) studiert haben will, psychisch auffällig ist. Auf dem Dach des Corbusierhauses in Marseille, in dem Ingrid ein Zimmer gemietet hat, hat Ingrid eine manische Episode. Anschließend verkündet sie Betti: „Wenn du möchtest, kannst du morgen mitfahren bis Portbou. Das ist hinter der spanischen Grenze“ (ebd., 103). In Portbou trennen sich ihre Wege, und nur kurze Zeit später lernt Betti die Deutsche Christine und deren Kinder Jack und Josie kennen. Betti stellt sich den dreien als September Nowak vor, und sie erzählt ihnen in der Folge eine Reihe von Lügengeschichten, die stark an das Lügenkonstrukt der ‚echten‘ September Nowak angelehnt sind. Christine lädt Betti/September ein, sie in ihr Ferienhaus in Carpit an der französische Atlantikküste zu begleiten, und Betti schließt sich nun dieser Reisegruppe an. Sie treibt ihre Lügengeschichten auf die Spitze, als sie Christine und deren angereisten Freund Rien eine umfangreiche Räuberpistole auftischt, die sich collagenähnlich aus Elementen von Bettis bis dahin Erlebtem zusammensetzt und eine verdrehte Version ihrer Reisegeschichte darstellt. Schließlich wird Bettis Schwindel aufgedeckt: Bei einem Ausflug zum Meer schläft sie in der Sonne ein und wird von Christine und Rien gesucht, die Bettis Ausweis finden und so ihre wahre Identität entdecken. Betti bleibt noch kurze Zeit in Carpit, um die Folgen eines massiven Sonnenbrandes bzw. Sonnenstichs auszukurieren. Als es ihr besser geht, begibt sie sich auf den Heimweg nach Warendorf. Jahre später besucht Betti eine Gursky-Ausstellung. Auf einer Fotografie entdeckt sie eine kleine, einsame Schwimmerin im Stade Nautique und glaubt, sich darin selbst wiederzuerkennen. Eng miteinander verknüpft werden in Ein langer Brief an September Nowak die Themen ‚Identität‘ sowie ‚Realität und Fiktion‘ behandelt, wobei gerade deren Grenzbereiche besonders ausgeleuchtet werden. Bettis Reise ist ein ständiges, pikareskes Sich-Durchschlagen und ein Ausprobieren von Möglichkeiten; sämtliche Handlungsverläufe resultieren aus zufälligen Begegnungen und 261 spontanen Entscheidungen der Protagonistin, durchweg spielt der Zufall eine große Rolle. Wie eine Folie liegt E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen Meister Floh (1822/1908) über der Geschichte. Auf der Zugfahrt nach Monaco beginnt Betti mit der Lektüre des romantischen Werks, und wiederholt wird darauf rekurriert: in expliziten Verweisen auf Bettis Lektüre, in Parallelen einzelner Handlungselemente sowie in impliziten Systemreferenzen auf romantische literarische Konventionen. Berges’ Roman besteht aus acht römisch nummerierten Kapiteln sowie einem weiteren Kapitel, das mit „PS“ (Berges 2010, 198) überschrieben ist. Abgesehen vom zweiten Kapitel (ebd., 40-54), das einige der Briefe versammelt, die Betti von Nicole/September erhalten hat, wird Ein langer Brief an September Nowak von einer nicht klar bestimmbaren Ich-Erzählinstanz erzählt, die nur selten in Erscheinung tritt. Im letzten Kapitel des Romans ändert sich die Erzählsituation: Hier erzählt die deutlich ältere Betti Lauban retrospektiv, wie sie Jahre später die Gursky-Ausstellung besucht. Gerade in Bezug auf die Erzähleridentität sind unterschiedliche und durchaus widersprüchliche Lesarten möglich, weshalb ihr bei der Untersuchung der erzählerischen Unzuverlässigkeit eine hohe Bedeutung zukommt. Der Roman enthält insgesamt acht einmontierte Fotografien in Schwarzweiß (vgl. ebd., 47, 52, 77, 114f., 137, 170, 193, 205). Erzählerische Unzuverlässigkeit Zahlreiche intertextuelle bzw. intermediale Referenzen sind im Kontext der erzählerischen Unzuverlässigkeit in Ein langer Brief an September Nowak von höchster Bedeutung. Hierzu zählen Verweise auf die Romantik (in Form von Einzelreferenzen auf Meister Floh sowie als Übernahme romantischer Schreibweisen) sowie auf den Pikaroroman. Weniger deutlich sind Bezüge auf den Roman The Real Life of Sebastian Knight von Vladimir Nabokov (1941; dt.: Das wahre Leben des Sebastian Knight), doch auch diese Hinweise lassen sich als Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit verstehen. Im Kontext postmodernen Erzählens, dem Ein langer Brief an September Nowak zweifelsohne zugeordnet werden kann, ist ein intermedialer Bezug zu Bryan Singers Film The Usual Suspects (1995) aufschlussreich84. Konkret manifestiert sich die erzählerische Unzuverlässigkeit in textuellen Weiterhin finden sich Hinweise auf das Leben und das Werk von Walter Benjamin (vgl. 104, 114f., 167). Da diese Rekurrenzen aber nicht in unmittelbarem Zusammenhang zur erzählerischen Unzuverlässigkeit stehen, werden sie in der Analyse nicht weiter berücksichtigt. 84 262 Diskrepanzen, in Motiven des Unzuverlässigen sowie in einer Verschleierung der Erzählsituation bzw. der Erzähleridentität, die schlussendlich unentscheidbar bleibt. Der Roman ist in vielerlei Hinsicht offen konstruiert: Je nach Lesart stellen sich Situationen mitunter völlig unterschiedlich dar. Da sich die Unzuverlässigkeit kaum von der ihr zu Grunde liegenden Intertextualität trennen lässt, soll zunächst auf diese Verweise eingegangen werden. Unzuverlässigkeit und Intertextualität (1): Bezüge zur Romantik E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen ist für die Reise der Protagonistin von hoher Bedeutung. Auf der Hinfahrt beginnt Betti mit der Lektüre des Buches, das sie als Geburtstagsgeschenk von ihrer Brieffreundin erhalten hat (vgl. Berges 2010, 10). Immer wieder liest Betti im Meister Floh; jene Momente des Lesens kongruieren stets mit den Wendepunkten von Bettis Reise, und sie markieren die Wechsel ihrer eigenen Abenteuer. Kurz bevor sie Nicole/September verlässt, findet sie deren Buch: In der Hocke sah sie ihr E.T.A.-Hoffmann-Lesebuch und einen weiteren Hoffmann-Band. Sie zog ihn heraus, suchte den „Meister Floh“ und fand ihn gleich. Auf der aufgeschlagenen Seite las sie vom Leben eines Mannes, der wegen eines falschen Glases Schnaps als Komet zum Himmel aufstieg und nach Jahren als Klümpchen Asche wieder zur Erde fiel (ebd., 33). Sie liest, bevor sie im Schwimmbad auf Ingrid trifft (vgl. ebd., 57), und wieder, als sie in ihrer Pension in Portbou ist, kurz vor bzw. nach ihrem Abschied von Ingrid und Anders (vgl. ebd., 111, 116). In Carpit fasst sie für Jack und Josie ihr bisher Gelesenes zusammen (vgl. ebd., 144-148), und erst unmittelbar vor ihrer Rückkehr nach Warendorf, nachdem mit dem Aufenthalt an der Atlantikküste ihr letztes Abenteuer beendet ist, schließt sie die Lektüre ab: Sie geht zur Scheune zurück und holt den Meister Floh, schon auf dem Rückweg im Gehen fängt sie zu lesen an, die allerletzten Seiten des letzten Abentheuers. Endlich klären die verwischten Fronten sich. In einer Doppelhochzeit trennt sich die Welt der Menschen von der der Blumen, Peregrinus heiratet das englische Fräulein, die Distel Zeherit bekommt die Tulpe Gamaheh (alias Dörtje Elverdink) (ebd., 195). Die erzählte Welt des Kunstmärchens Meister Floh besteht aus zwei Parallelwelten: einer realen Welt, in der der Protagonist und Buchhaltersohn Peregrinus Tyß lebt, und der fantastischen Blumenwelt Famagusta, in der die Liebesgeschichte der Tulpenprinzessin Gamaheh und der Distel Zeherit ihren 263 Ausgang hat85. Immer wieder kommt es zu Berührungen und Kurzschlüssen dieser beiden Welten. Die Figuren der realen Welt haben jeweils eine Entsprechung in der Welt Famagusta: George Pepusch, ein junger Mann, ist die Distel Zeherit, und die junge Frau Aline ist die Prinzessin Gamaheh. Im siebten und letzten ‚Abentheuer‘ des Kunstmärchens kommt es nach den Intrigen und Verwirrungen der vorhergehenden zuerst zu einer Verschmelzung, dann zur völligen Trennung der beiden Welten. Die Prinzessin und die Distel finden zueinander. Eine textuelle Inkongruenz, in der sich erzählerische Unzuverlässigkeit manifestiert, findet sich in Ein langer Brief an September Nowak in einem Moment, in dem auf erzählerischer Ebene eine scheinbare Aufweichung der intertextuellen Grenzen zu Meister Floh zu beobachten ist: Während eines Restaurantbesuchs bittet Ingrid Anders und Betti auf die Bühne. Zunächst spielt Ingrid für das Publikum eine Melodie auf dem Flügelhorn, dann scheint sie Betti und Anders in Apfelbäume zu verwandeln: Urplötzlich war da wie aus einem dunklen Brunnen geholt ein Gefühl der Erlösung. Zweihundert Herren und Damen schauten auf Betti mit dem gleichen befreiten Ausdruck des Erkennens […]. Da begann es, aus ihren Fingern, Handflächen, aus den Ellenbogen, an den Armen bis in die Achseln zu sprießen. Erst kam Grün, dann zartes Rosa. Ihr wuchsen Blüten (93f.). Aus den Blüten sprießen in der Folge Äpfel, die von anderen Restaurantgästen gepflückt und verspeist werden (vgl. 93f.). Als Erklärung für dieses unerwartete und scheinbar inkongruente Ereignis wird ein Dialog von Anders und Betti angeführt. Gleichwohl geschieht diese Auflösung als negativ formulierte Frage: „Was genau war das?“, fragte sie ihn irgendwann. „Was glaubst du denn?“ „Sie hat uns doch nicht hypnotisiert? Uns alle, den ganzen Saal?“ „Was willst du hören? Dass es ein Wunder war?“ (95) Deutlich wird in der Hypnosepassage auf die fantastische Blumenwelt von Meister Floh rekurriert: Für einen kurzen Moment scheint traumartig Famagusta aufzuschimmern. Bereits zuvor, wenn von Bettis Lektüre während der Zugfahrt erzählt wird, deutet die Erzählinstanz eine derartige Verschmelzung an: Und Betti begriff: Alle, alle Menschen sind kämpfende Blumen. Und, ach, Dörtje Elverdink ist Prinzessin Gamaheh. So reiste sie, zwischen Dämmern, Lesen und Starren, bis sich endlich ihr eigenes Abentheuer wie ein stummer Zugestiegener Es ergibt sich eine stark metaleptische pluriregionale Konstruktion in Meister Floh. Auf weitere, faktual/fiktionale Vermischungen, die sich aus der Entstehungsgeschichte des Werks ergeben, soll hier lediglich verwiesen werden. Zur so genannten ‚Knarrpanti-Handlung‘ vgl. auch: Wulf Segebrecht: Zur Entstehungsgeschichte. In: E.T.A. Hoffmann: Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abentheuern zweier Freunde. Herausgegeben von Wulf Segebrecht. Bibliogr. erg. Ausg., 2006, S.193f. 85 264 neben sie setzte (ebd., 11). Insbesondere der Hinweis auf den transitorischen Zustand des Dämmerns markiert hier eine Öffnung der intertextuellen Grenzen. Als Betti in Portbou erneut in Meister Floh liest, schläft sie ein: Es brauchte viele Seiten, bis es Betti zurückzog in diese Geschichte über Blumen und Menschen und zu einem harmlosen Helden namens Peregrinus. Als George Pepusch endlich wieder die Distel Zeherit war, blieben ihre Augen hängen wie an einem Schallplattenkratzer: „Georges Augen brannten, er biß sich in die Lippen, er schlug sich vor die Stirn, er rief, als Peregrinus geendet, in voller Wut: ‚Die Verruchte! Die Treulose! Die Verräterin!‘ Georges Augen brannten, er biß sich …“ Betti erwachte wie aufgebahrt. Das Telefon schellte, ein grauer Apparat an der Wand (ebd, 111f.). An vielen weiteren Romanstellen manifestiert sich dieses romantische Traumbzw., Schlafmotiv (vgl. u.a. ebd., 105, 108, 112, 113, 129, 133, 147). Mit einem stellenweise sehnsuchtsvollen Blick auf die Kindheit findet sich in Berges‘ Roman noch ein weiteres romantisches Motiv: Wovon sie dann träumte, weiß ich nicht, nur dass sie am Morgen erwachte mit dem seit Kindertagen seltenen Gefühl, in den Traum zurückzuwollen (ebd., 105). Es finden sich einige weitere Bezüge zur Romantik, so beispielsweise, als Ingrid das Lied Nacht und Träume von Schubert (D 827) singt (vgl. Berges 2010, 100) – und in dem sich auch das Traummotiv wiederfindet. Außerdem wird auf zwei Märchen verwiesen: auf das auf Perraults Kunstmärchen Le Petit Poucet zurückgehende Märchen Der kleine Däumling (Bechstein DM 39 [34]): „Kennst Du Däumlings Siebenmeilenstiefel?“ (Berges 2010, 44), sowie auf Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich aus den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (KHM 1): „Dennoch sprangen ihr eiserne Bänder vom Herzen“ (Berges 2010, 105). Das wiederholte Einflechten von Handlungselementen von Meister Floh sowie von romantischen Motiven und Erzählweisen bewirkt so eine oft stark romantisch eingetönte unzuverlässige Grundstimmung in Ein langer Brief an September Nowak. Unzuverlässigkeit und Intertextualität (2): Bezüge zum Pikaroroman Im Unterschied zu den romantischen Einzelbezügen finden sich hinsichtlich des Pikaroromans eher Systembezüge – diese sind allerdings sehr deutlich. So entspricht die Handlungsorganisation in vielerlei Hinsicht den Konventionen eines Pikaroromans: Nach einer anfänglichen Desillusionierung begibt sich die Protagonistin auf eine Reise, deren verschiedene Stationen lose aufeinanderfolgen und episodenhaften Charakter haben. Neben den typisch 265 pikaresken Motiven ‚Reisen‘ und ‚Zufall‘ ist in Ein langer Brief an September Nowak besonders das Erzählen von (Lügen-)Geschichten von zentraler Bedeutung. Immer wieder werden von den verschiedenen Figuren Geschichten erzählt, die sich mehr oder weniger weit von der Realität entfernen (vgl. u.a. ebd., 35ff., 59, 101, 119f. 125ff., 139, 143ff., 153). Mitunter lässt sich der ontologische Status auch nicht überprüfen (vgl. z.B. ebd., 119f.). Anfangs erlebt Betti ‚Septembers‘ Lüge als Betrug, sie zieht sich zurück und weint. Indem sie Ingrids Einladung annimmt, ergreift sie die erstbeste Möglichkeit der Flucht vor der Brieffreundin. Ingrid ist nahezu das Gegenteil Bettis – laut, selbstbewusst und extravagant scheint sie sich um keinerlei Konventionen zu kümmern, auch durch ihre bipolare psychische Disposition wirkt sie nahezu grenzenlos. Als Betti mit Christine, Jack und Josie im Anschluss auf eine ‚normale‘ Familie trifft, beginnt sie sich auszuprobieren („Sie konnte offenbar sagen, was sie wollte.“; ebd., 118), und sie gewinnt zunehmend Gefallen an dem Spiel mit den Möglichkeiten („Was, wenn sie aufflog? Nichts!“; ebd., 125). Die drei Zeitabschnitte, die Betti jeweils mit einer anderen Begleiterin (‚September‘, Ingrid, Christine) verbindet, können so als Phasen von Bettis Pikaroleben verstanden werden, in denen sie sich von anfänglich naiver Gutgläubigkeit zu schamloser Gerissenheit bewegt: Als sie Christine und Rien am Ende ihre Geschichte auftischt (vgl. ebd., 157-169), erinnert die Situation beinahe an eine Prüfung, in der Betti ihr Können unter Beweis stellt („Plötzlich saßen ihr die beiden gegenüber wie eine glasäugige Prüfungskommission“; ebd., 156). Betti spickt ihre Erzählung mit Elementen von Erlebtem, sie verbindet sie in einem komplexen Geflecht, das ihr zumindest Rien auch abnimmt. Christine ist skeptischer: Aber auf dem Rückweg grinste Christine. „Da hab ich mich aber ganz schön verschätzt in dir.“ Sie zweifelte vielleicht an ihren Zweifeln und schielte ein wenig. Betti war jetzt doch schwindelig. Christine ließ den Korken knallen, goss allen ein. Rien kam zurückgetanzt, ohne Musik. Sie hoben die Gläser. „Maseltov“, sagte Betti. Sie ging hinüber zur Hängematte und setzte sich quer hinein (ebd., 170). Mit diesem Wort markiert Betti das Ende ihrer intradiegetischen Erzählung. Betti überschreitet die Grenzen ihrer Identität und nimmt einen satirischen Blick auf ihr Leben in Warendorf ein. Als ‚September‘ sagt sie über Betti: Und ich stellte fest, dass ich genauso spontan wie in meinen Briefen lügen konnte, wenn ich einfach eine Erfindung in die nächste wickelte. Dabei dachte ich aber die ganze Zeit: Die stellt sich doch nur blöd, und sie tut’s ganz unverhohlen. Jedes Lächeln, jedes schwabbelnde Nicken und Kopfschütteln sah übertrieben echt aus. Dann war ich dran und fragte sie nach ihrem Leben aus. Plötzlich, schlagartig, 266 war ich überzeugt, dass Betti sich ihre ganze Durchschnittlichkeit von Anfang an auch nur ausgedacht hatte. Zum Beispiel ihren Dackel Hexchen. Das Tischtennis. Vor zwei Jahren ihren dritten Platz bei der Kreismeisterschaft im Doppel. Erst recht ihren ewigen Freund Markus und sein verficktes Blasorchester der freiwilligen Feuerwehr. Elisabeth … Lauban. Vielleicht sogar ihren Namen (ebd., 163). Gerade dieses parodiehafte Spiel erinnert stark an den Pikaroroman, dessen Helden typischerweise ihrer Umgebung einen Spiegel vorhalten. Ebenfalls pikaresk ist der Einsatz derber realistischer Elemente, die sich auch in Ein langer Brief an September Nowak finden. Als Beispiel sei hier ein Ereignis der Hinreise angeführt: Die Schilderung von Bettis Toilettengang ist zugleich unverblümt und poetisch – der Effekt nahezu grotesk (vgl. ebd., 12). Bettis Handlungen sind oft Reaktionen auf das, was ihr passiert, worin sich eine weitere Ähnlichkeit zum Pikaroroman findet. Graeber (2007, 683) definiert den Pikaro unter anderem als einen solchen ‚gemachten‘ Typus: Am Anfang steht oft die große Desillusion, die den zunächst naiven Helden mit der Schlechtigkeit der Welt bekannt und ihn so zum Pikaro macht. Bettis finale Lügenschichte wird von der Erzählinstanz folgendermaßen präsentiert: „Ich erzähl meine Geschichte lieber nicht“, machte Rien Betti piepsend nach, „so fangen alle guten Geschichten an. Welches Publikum sagt denn dann: ‚Einverstanden, okay, dann lass mal‘? Raus damit, Prinzessin! Beichte, September im scharlachroten Pullover!“ Sie ließen ihr keine Wahl (Berges 2010, 156f.). Komposition/Verschleierung der Erzähleridentität Anders als es im Pikaroroman üblich ist, lässt sich bei Ein langer Brief an September Nowak jedoch keine ausdrücklich autodiegetische Erzählinstanz ausmachen. Es wird nicht klar, wer überhaupt erzählt, ebensowenig deutlich ist die Stellung der Erzählinstanz zum Geschehen. Die Erzählung bleibt vage und widersprüchlich und lässt unterschiedliche Deutungen zu. Es gibt eine Ich-Erzählinstanz; die tritt allerdings selten in Erscheinung; ausgenommen im letzten Kapitel geschieht dies in den 208 Romanseiten nur dreizehn Mal (vgl. ebd., 8, 14, 59, 94, 96, 104, 105, 107, 110, 113, 132, 134, 189). Zu Beginn gesteht sie Wissenslücken bezüglich des Geschehens ein und lässt so eine externe Fokalisierung vermuten: Als der Regionalzug einfuhr, gaben sie sich die Hand, Dann zog die Mutter Betti an sich. Ich weiß nicht, ob Betti irgendetwas sagte in ihren Armen. Von ihrer Mutter, der Redseligen, kam nichts (ebd., 8). Noch an weiteren Stellen wird explizit auf Wissens- bzw. Wahrnehmungslücken hingewiesen (vgl. u.a. ebd., 14, 105, 107, 132), und es verdichtet sich der Eindruck, 267 die Schilderungen der Erzählinstanz geschähen aus der Außensicht: Betti schleppt ihren Rucksack in Richtung Tisch, lehnt ihn an den Stuhl, auf den sie sich setzt, als wäre sie auf dem Sprung. Sie könnte einfach gehen. Wohin? Bald wird sie abgeholt. Vielleicht denkt sie so was (ebd., 17). Hier mutmaßt die Erzählinstanz lediglich über Bettis Innenleben. An einer Stelle scheint die Erzählinstanz dann aber Bettis Gedanken zu kennen: Dreck!, dachte sie, zwang sich das zu denken: Dreck! Sie musste ihre Gefühle nicht auseinanderhalten (ebd., 23). Gelegentlich finden sich Erzähleraussagen, die sich nicht eindeutig zuordnen lassen, die den Charakter einer Doppelstimme haben. Als Betti am ersten Abend nach ihrer Enttäuschung durch ‚September’ schließlich alleine ist, kommentiert die Erzählinstanz: „Es ist Zeit, zu weinen“ (ebd., 19). Es lässt sich nicht ablesen, wer spricht, ob es sich um Bettis Gedanken oder um die Einschätzung einer distanzierten Erzählinstanz handelt. Insgesamt bleibt die Fokalisierung durch ambivalent gesetzte Signale weitgehend uneindeutig und verschwommen. Hinweise sind sehr spärlich gesetzt und könnten auch als Erinnerungslücken eines Erzähler interpretiert werden, der zu einem späteren Zeitpunkt seine Geschichte darbietet. In einem solchen Verständnis könnte man auch von einer internen Fokalisierung auf Betti ausgehen. In diesem Kontext ist ein kurzer Blick auf die komplexe zeitliche Konstruktion des Romans hilfreich: Die Haupthandlung von Ein langer Brief an September Nowak ist im Jahre 1995 angelegt. Zu Beginn des fünften Kapitels wird dann eine zweite zeitliche Ebene eingeführt. Nur kurz wird erzählt, wie Betti sieben Jahre später, also im Jahr 2002, nach Portbou zurückkehrt (vgl. ebd., 105f.). Am Ende des sechsten Kapitels findet sich ein zweiter, nur sehr kurzer Verweis auf diese zweite Reise Bettis: Erst auf den Fotos, die sie sieben Jahre später bei ihrem zweiten Besuch schoss – eine lange, öde Straßenwanderung hatte sie bis zur Grenze machen müssen –, fand Betti das Zollhäuschen endgültig leer. Es war von einem zufällig mitten auf der Straße vergessenen Kiosk nicht zu unterscheiden (ebd., 136). So rahmt die Erzählung dieser Zeitebene Bettis Aufenthalt in Portbou ein. Im letzten Kapitel wird dann mit der Erzählung des Besuchs der Gursky-Ausstellung eine dritte Zeitebene ergänzt. Beinahe durchweg wird dabei distanziert aus der 268 Rückschau erzählt86. Eine sehr bildhafte und poetische Sprache, ein eher distanzierter Ton sowie ein oft narrativer Modus befördern den Eindruck eines Schwelgens in Erinnerungen. Vereinzelte romantisch-sehnsüchtige Momente sowie punktuell gesetzte zukunftsgewisse Prolepsen weisen dabei auf einen weiten Rückblick der Erzählinstanz hin: Dass das ‚Vogel‘ hieß, lernte sie erst später. Jahrelang hatte sie bis dahin Oiseau für den schönen Namen dieses erbärmlichen Flusses gehalten (ebd., 21). Die Schilderung des Abschieds von Betti, Ingrid und Anders in Portbou funktioniert ähnlich, bietet aber wieder verschiedene Lesarten an: Ihres Lebewohls entsinne ich mich nicht, und ich sehe Betti auch nicht vor dem Hostal am nächsten Morgen Detlef [so nennen sie das Wohnmobil, N. W.] hinterherwinken. Als hielte die Erinnerung still, zugedeckt vom Vortag, dem letzten gemeinsamen Spazierweg zur rostigen Treppe ins Meer. Ich habe die drei nie wiedergesehen (ebd., 107f.). Wer mit „die drei“ (ebd., 108) gemeint ist, ist nicht klar: Einerseits kann von Ingrid, Anders und ‚Detlef’ die Rede sein. Anderseits könnte es sich auch um Ingrid, Anders und Betti handeln, die schließlich die drei anwesenden Figuren sind. In beiden Fällen gibt sich hier eine am Handlungsort befindliche Erzählinstanz zu erkennen. Auch an anderen Stellen wird eine Anwesenheit des Erzählers angedeutet. So wird über die Bucht von Portbou ausgeführt: Seither ist die Styroporinsel in der Rattenbucht täglich voller geworden, oder es ist mir zumindest so vorgekommen. Ich war immer weniger allein, mit den Jungen und ihren Arschbomben von einer zur nächsten dunkelblauen Minute (ebd., 104). Eine hohe Bedeutung kommt dem letzten Kapitel der Erzählung zu, in dem sich die Erzählstimme ändert. Es handelt sich, wie ich im Folgenden herausarbeiten werde, um eine als autodiegetisch markierte Ich-Erzählung Bettis. Aus dem Wechsel der Erzählstimme lassen sich zunächst (mindestens) zwei grundsätzlich verschiedene Lesarten ableiten: Zum einen könnte man die Erzählinstanz des Romans als vom Geschehen distanziert (unbeteiligt), gleichwohl homodiegetisch verstehen. In dieser Lesart fände sich im letzten Kapitel mit Betti eine nun ‚neue‘ Erzählerin. Andererseits könnte man – wie oben bereits angedeutet – sämtliche An wenigen Stellen geschieht ein Wechsel des Tempus, so zum Beispiel, als Betti der Betrug klar wird (vgl. Berges 2010, 14): Die Erzählung findet, obwohl es sich nach wie vor um späteres Erzählen handelt, plötzlich präsentisch statt (historisches Präsens). Nach der Erzählung des für Betti bedeutsamen Ereignisses wird zurück in die Vergangenheitsform gewechselt (vgl. ebd., 19; weitere Tempuswechsel jeweils an Schlüsselstellen; vgl. ebd., 107, 182). Eine Abweichung vom späteren Erzählen findet sich im zweiten Kapitel, in dem die Briefe versammelt werden; hier handelt es sich um eingeschobenes Erzählen bei einem Erzählzeitraum von sechs Jahren zwischen 1989 und 1995 (vgl. ebd., 40-54). 86 269 Ausführungen als Erzählungen Bettis verstehen. Im ersten Romanteil nähme sie sich in diesem Verständnis stark zurück und verschleierte ihre autobiographischen Ausführungen durch die nahezu konsequente Verwendung der dritten Person. Das abschließende Kapitel wäre in einem solchen Verständnis als Auflösung zu verstehen. Für beide Lesarten finden sich weitere, intertextuell begründete Hinweise. Betrachtet man die Erzählstimme in Ein langer Brief an September Nowak, ist ein Vergleich zur Konstruktion in Meister Floh aufschlussreich. Auch in Hoffmanns Werk findet sich ein als vage konstruierter Ich-Erzähler, der selten in Erscheinung tritt. Als fiktiver Herausgeber mischt er sich gelegentlich in den Text ein und scheint durchaus am Handlungsort anwesend zu sein. Dabei spricht er von sich mal in der Ich-Form, mal in der dritten Person, wie es im folgenden Beispiel der Fall ist: Der geneigte Leser weiß bereits, was es mit den zauberischen Reizen, mit der überirdischen Schönheit der kleinen Dörtje Elverdink für eine Bewandtnis hat. Der Herausgeber kann versichern, daß, nachdem er ebenfalls durch das Schlüsselloch gekuckt und die Kleine in ihrem fantastischen Kleidchen von Silberzindel erblickt hatte, er weiter nichts sagen konnte, als daß Dörtje Elverdink ein ganz liebenswürdiges, anmutiges Püppchen sei (Hoffmann 2006, 74). Die Erzählweisen in Meister Floh sind – entsprechend den romantischen Konventionen – verspielt, und es scheint kaum Grenzen zu geben. Petra Mayer schreibt über Meister Floh: Das ironische Spiel des Dichters mit seinem Werk und dem Rezipienten zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Erzählung. Immer wieder gelingt es Hoffmann, dem Rezipienten den vermeintlich sicheren Boden unter den Füßen wegzuziehen, wobei die Interventionen des fiktiven Herausgebers eine äußerst wichtige Rolle spielen. Eben noch scheint der Herausgeber den Leser – wie für das traditionelle Märchen typisch – überlegen durch das verwirrende Geschehen zu führen, bricht dann jedoch plötzlich als Autorität weg; überlässt es dem Leser, Leerstellen durch dessen eigene Phantasie zu füllen, oder räumt ihm sogar einen Wissensvorsprung ein (Mayer 2006, 33f.). Ähnliches trifft auf Ein langer Brief an September Nowak zu. Auf die extern fokalisiert anmutenden Textstellen wurde bereits hingewiesen. Man könnten nun annehmen, dass die Erzählinstanz in Ein langer Brief an September Nowak an die von Meister Floh angelehnt ist und entsprechend eine ähnliche (romantische) Konstruktion vermuten: einen in beiden Fällen an der Grenze von Homo- und Heterodiegese auftretenden, sehr vage konstruierten Ich-Erzähler. Zu einer durchaus unterschiedlichen Beurteilung der Erzähleridentität führt eine erneute Auseinandersetzung mit dem Pikaroroman. Auf dessen oftmals autodiegetische Erzählanlage wurde bereits hingewiesen; eng mit diesem Charakteristikum verknüpft ist die Konstruktion als fiktive Biographie: In der Regel 270 erzählt der pícaro (Teile) seine(r) Lebensgeschichte. Riggan sieht dies als eine für unzuverlässige Erzählweisen nahezu prädestinierte Konstruktion (s. Kap. 1.5). Er begründet dies folgendermaßen: The pícaro’s fictional autobiography, then, may take any one of several forms, but almost invariably it produces a situation of narrative unreliability. Whether the rogue narrates from a standpoint of religious or moral conversion, of penal servitude, of tainted success, of dismal failure, or of some combination of these four, his epic situation in every case clashes to some degree with the subject matter of his narrative, either in logical or in moral terms (Riggan 1981, 76). Gerade die Erzählung des letzten Kapitels weist auf eine entsprechende Konstruktion in Ein langer Brief an September Nowak: In dieser Lesart würde Betti ihre Geschichte in der Rückschau erzählen und sich abschließend als Erzählerin zu erkennen geben. In dem Moment, in dem sie sich selbst auf der Fotografie zu erkennen glaubt, ist sie zu Tränen gerührt, und der Roman endet mit den Worten: Allmählich bekam ich Abstand, als mein Blick auf die Schwimmerin im FünfzigMeter-Becken fiel. Sie zog durchs Wasser, allein mit ihrem Schatten. Meine dreizehn Jahre alten Tränen waren einfach lächerlich. Aber ich konnte mich nicht fassen und musste mit ihnen durch die Ausstellung nach draußen und hinunter zur Litfaßsäule (Berges 2010, 203f.). Unzuverlässigkeit und Intertextualität (3): Bezüge zu Vladimir Nabokov Für die Deutung, Betti sei eine autodiegetische Erzählerin, finden sich weitere, wenn auch versteckte Hinweise. Im Paratext, dem Romantext nachgestellt, ist ein Zitat aus dem Roman Das wahre Leben des Sebastian Knight von Vladimir Nabokov abgedruckt: Sie besaß Phantasie – den Muskel der Seele –, und zwar eine besonders kräftige, beinahe männliche Phantasie. Auch besaß sie jenen wahren Schönheitssinn, der viel weniger mit Kunst zu tun hat als mit der stetigen Bereitschaft, den Glorienschein um eine Bratpfanne und die Ähnlichkeit zwischen einer Trauerweide und einem schottischen Terrier wahrzunehmen (ebd., [206]). Auch in der Erzählung findet sich eine Anspielung auf diese Textstelle. Bei der Erzählung ihrer Lügengeschichte wird Betti von Rien unterbrochen: „[…] Aus Not fing ich wieder an zu reden. Und aus Phantasie.“ „Der Muskel der Seele“, unterbrach Rien. „Von wem ist das?“ Niemand reagierte (ebd., 167). Der Ich-Erzähler in Nabokovs Roman ist ein exilierter russischer Schriftsteller. Sein Halbbruder Sebastian Knight, den er kaum gekannt hat, ist verstorben, und der Erzähler bemüht sich darum, dessen Biographie nachzuvollziehen; letztlich scheitert sein Vorhaben jedoch. Ganz am Ende der Geschichte wird kurz die Identität des namenlosen Ich-Erzählers und seines Halbbruders suggeriert, wenn der Erzähler seine Geschichte mit den Worten schließt: 271 Denn das ist das Ende. Sie alle kehren in ihr Alltagsleben zurück […] – aber der Held bleibt, denn wie ich auch versuche, ich komme aus der Rolle nicht mehr heraus: Sebastians Maske haftet an meinem Gesicht, die Ähnlichkeit läßt sich nicht herunterwaschen. Ich bin Sebastian, oder Sebastian ist ich, oder vielleicht sind wir beide jemand, den keiner von uns kennt (Nabokov 1999, 262). Die Erzählkonstruktion von Ein langer Brief an September Nowak erinnert just an diese, im letzten Satz auf den Punkt gebrachte Situation. Die Verweise auf eine derartig unzuverlässige Konstruktion, in der ein Er-Erzähler rückwirkend als IchErzähler umdeutbar ist, könnten als Hinweise auf eine Ich-Erzählung Bettis interpretiert werden. So wie aber auch die Einheit von Erzähler und ‚Held‘ in Sebastian Knight erst angedeutet und dann sofort wieder relativiert wird („oder vielleicht sind wir beide jemand, den keiner von uns kennt“, ebd.), bleibt auch die Erzähleridentität in Ein langer Brief an September Nowak nicht greifbar und höchst unsicher. Metafiktionalität, Fiktionalität und Faktualität im Text und in den Fotografien Bereits der Titel Ein langer Brief an September Nowak suggeriert eine metafiktionale Erzählsituation: Es entsteht die Erwartungshaltung, beim gesamten Romantext handele es sich um einen an eine September Nowak gerichteten langen Brief. Diese Erwartungshaltung wird aber insofern nicht erfüllt, als dass im Folgenden weder klar wird, ob es überhaupt ein Brief ist, noch, wer diesen ‚Brief‘ verfasst, und auch nicht, wer ‚September Nowak‘ eigentlich ist. Im ersten Kapitel wird September Nowak als Figur eingeführt. Als Brieffreundin der Protagonistin ist sie durchaus eine potentielle Adressatin. An späterer Stelle gibt sich dann aber Betti ebenfalls als September Nowak aus, und so könnte sich das Geschriebene auch an sie richten. Eine dritte Deutungsmöglichkeit wäre, September Nowak in abstraktem Sinn als metafiktionale Figur zu verstehen, also als jemanden, der auch in der Fiktion nur fiktionalen Status erhält. Kombiniert man diese potentiellen Adressaten mit den verschiedenen potentiellen Erzählinstanzen, ergeben sich völlig unterschiedliche Lesarten: Es könnte sich beispielsweise um einen Brief Bettis an Nicole handeln, den sie Jahre später verfasst. Es könnte sich um einen ‚Selbstvergewisserungsbrief‘ von Betti an sich selbt handeln, in dem sie sich ihre eigene (potentielle) Geschichte vergegenwärtigt. Es könnte sich aber auch um einen romantisch-vagen, sich an der Grenze von Homo- und Heterodiegese bewegenden Ich-Erzähler handeln, der sein Geschriebenes an eine ‚September‘ richtet, die als Personifikation der Fiktion selbst zu verstehen ist. Die Erzählung selbst hat nur wenig Ähnlichkeiten mit einem Brief: Es finden sich beispielsweise an keiner Stelle direkte Leseranreden, und auch die Unterteilung in 272 viele Kapitel ähnelt nicht der Briefform. Im zweiten Kapitel finden sich, im direkten Kontrast zum Titel, viele kurze Briefe von (und nicht an) September Nowak. Das letzte Kapitel ist hingegen mit „PS“ (Berges 2010, 198) überschrieben, was doch die Lesart des Romans als eines langen Briefes zu unterstützen scheint. Insgesamt verstärkt diese unklare Erzählsituation weiter die Unentscheidbarkeit der Erzählung. In den Ausführungen zu den Verweisen von Ein langer Brief an September Nowak auf Meister Floh wurde bereits auf das Verschwimmen intertextueller Grenzen eingegangen. Mit dem Thema ‚Lügen‘ sowie der starken Betonung der verschiedenen Erzählsituationen zeigt sich ein Spiel mit Wahrheit und Fiktion, das sich auch in zahlreichen metafiktionalen Elementen manifestiert. In Bettis Lügengeschichte, in der sie intradiegetische Erzählerin ist, finden sich nun erneut Grenzüberschreitungen – in diesem Fall in Form von Metalepsen der Extra- und Intradiegese. Betti greift Elemente der Extradiegese auf und variiert sie in ihrer intradiegetischen Lügenerzählung. Wiederholt werden auch faktuale Elemente in die Handlung eingebunden, so zum Beispiel, indem auf einen Bahnhofsbrand in Warendorf hingewiesen wird oder auf die Gursky-Ausstellung in Darmstadt (2008). Beide Ereignisse haben tatsächlich stattgefunden, doch lassen sich Inkongruenzen zeigen: So hat sich der Warendorfer Bahnhofbrand am 13. Januar des Jahres 1995 ereignet, Bettis Reise datiert dagegen nach ihrem Abitur – also frühestens in den Mai desselben Jahres. Die Erzählinstanz kommentiert Bettis Abschied von ihrer Mutter aber folgendermaßen: Blind für die Heimat, Pfarrheim, Aldi, Wunderpferddenkmal und den verklinkerten Bahnhof, der später abbrannte, unterhielten sie sich auf dem ganzen Weg über Bettis Reise, aber so, als hätten sie sich gerade erst kennengelernt (ebd., 8). Da der Bahnhof zu diesem Zeitpunkt aber bereits hätte abgebrannt sein müssen, zeigt sich hier ein metafiktional-unzuverlässiges Spiel. Besonders deutlich wird dieses Spiel mit Authentizität in den im Roman enthaltenen Fotografien. Insgesamt acht Fotografien sind in den Romantext eingefügt, auf unterschiedliche Weise scheinen sie die Faktualität des Geschilderten zu untermauern. Bereits der Tatsache, dass es sich um Fotografien (im Unterschied zu z.B. Zeichnungen) handelt, kommt ein authentizitätsversicherndes, vermeintlich wirklichkeitsabbildendes Moment zu. Bettis Hobby ist die Lomografie, eine Art der Schnappschussfotografie, die die technische ‚Schwäche‘ einer Analog-Kleinbildkamera der russischen Firma LOMO 273 der digitalen ‚Perfektion‘ entgegenzusetzen sucht87. Lomografien sind typischerweise unscharf bzw. über- oder unterbelichtet. Auch auf ihrer Reise hat Betti ihre Kamera dabei, und oft entsteht bei den einmontierten Fotografien der Eindruck, Betti habe dieses Bild gemacht. Die ersten sieben Bildern in Ein langer Brief an September Nowak sind erkennbar Lomografien. Die sich bereits im Text manifestierenden Unschärfen finden hier eine Entsprechung auch auf visueller Ebene; mitunter ist kaum zu erkennen, was auf ihnen zu sehen ist. Als Beispiel soll hier ein Bild herangezogen werden, das im Kontext der Erzählung zunächst in einem Lokal in Portbou auftaucht: Sie packte zusammen und machte sich auf, den Abend zu beginnen wie jeden bislang in Portbou. Zum Bahnhof stieg sie hinauf, bestellte sich dort im Lokal an der überdimensionierten Theke ein Glas Weißwein und rauchte vor einem ungelenk gemalten Seestück. In dem Bild saß ein Mädchen im weißen Badeanzug an der Spitze eines Wellen schlagenden Schnellboots, ließ die Beine baumeln, die Hände fest an der Reling. Hinter einem Glasverdeck stand ein Steuermann, ins Heck lehnte sich eine Frau. Das Boot zog zwei Jungen auf Wasserskiern in Badehosen vor einer grünhügeligen Küste (ebd., 131). Dieses Bild findet sich in ihrer Lügengeschichte wieder: Irgendwann mussten wir umsteigen. Endlich. In Portbou. […] Wir gingen ins Bahnhofscafé, und als wir bestellt hatten, starrte Betti auf die Wand hinter mir. ‚Guck mal‘, sagte sie. Da hing ein seltsames Seestück. Ich habe es mir später noch oft angesehen.“ „Ein was?“, fragte Christine. „Ein Seestück. Einfach ein Meerbild, mit Schiff, Wellen, Himmel und so. Wir mussten in Kunst mal Seestücke aus der Phantasie malen. Das Ölbild da im Bahnhofscafé war auch nicht viel besser als das, was wir so hingekriegt haben. Es war ein Schnellboot mit Skifahrern und zugleich eine Familienszene: Papa, Mama, Tochter auf dem Boot und die Söhne auf den Wasserskiern (ebd., 168). Kurz nach dieser Passage findet sich dann ein Foto des besagten Bildes: Ihren Ursprung hatte die Bewegung in den 1990er Jahren in Wien (vgl. hierzu auch www.lomography.de) 87 274 Abbildung 26: Ein langer Brief an September Nowak (170) Die schräge Bildposition in Untersicht vermittelt den Eindruck, es handele sich tatsächlich um einen Urlaubsschnappschuss – und als sei das Erzählte wirklich passiert. Die Distanz zum Bild und der gewählte kleine Ausschnitt lassen die Elemente des Texts aber eben noch ahnen: Die abgebildeten Personen sind kaum zu unterscheiden. An einer weiteren, bereits zitierten Stelle der Erzählung wir darauf hingewiesen, dass Betti ein Foto eines Zollhäusschens macht („Es war von einem zufällig mitten auf der Straße vergessenen Kiosk nicht zu unterscheiden“ Berges 2010, 136). Auf der gegenüberliegenden Buchseite findet sich folgendes Bild: Abbildung 27: Ein langer Brief an September Nowak (137) 275 Auf einem weiteren Foto sieht man eine Postkarte, deren Motiv (Audrey Hepburn an einer Ballettstange) ebenfalls an mehreren Stellen des Romans in unterschiedlicher Weise wiederkehrt. Abbildung 28: Ein langer Brief an September Nowak (47) Die Fotografie findet sich im Roman vor einem Brief, den ‚September‘ Betti geschrieben hat: März 1991 Liebe Betti, ich bin böse gewesen. Wie oft hat sich Madame Bresobasova gerühmt, sie habe in London mit Audrey Hepburn geübt? Allein im Bureau entdeckte ich: Ihr Bild am Spiegel ist gar kein echtes Foto, sondern nur eine leere Postkarte. Da habe ich sie ihr einfach geraubt. Damit ich nicht überführt werde, schicke ich sie Dir! Madame Bresobasova ist eine alte Ziege, aber doch eine schreckliche Meisterin. Schreibe mir! Deine September PS: Im Gegensatz zu Audrey Hepburn: Ich werde Ballerine!!! (ebd., 47; Hervorhebg. im Orig.) Hier findet sich so eine gleich mehrfache Verzerrung: Auf textueller Ebene wird die Postkarte als ‚Lüge‘ identifiziert. Auf dem Bild ist ein Spiegelmotiv zu sehen, das sich auf der Postkarte findet. Bei der Illustration handelt es sich aber nicht um die Postkarte – sondern um eine Fotografie derselben; es ist so noch eine weitere Ebene ‚vorgeschaltet‘. Später erzählt Betti Jack und Josie von einer Dohle namens Audrey (vgl. ebd., 142), was sich später wiederum als Lüge herausstellt (vgl. ebd., 190). 276 Auf den ersten Blick ebenfalls authentizitätsversichernd ist folgende Fotografie: Abbildung 29: Ein langer Brief an September Nowak (77) Man sieht eine Buchseite, die im Romantext zuvor explizit erwähnt wird: Vorsichtig meisterte Ingrid das Gefälle, kam näher. „La maison du fada – Das Haus des Spinners.“ Sie setzte sich neben sie. „So nannten sie hier das Haus, als es gebaut wurde, und noch lange danach. Über uns ist der Kindergarten.“ Sie zeigte auf die Betondecke über ihren Köpfen. Dann zog sie einen Bildband aus ihrer Plastiktüte, schlug ihn auf und hielt Betti ein Schwarzweißfoto entgegen. „Habe ich heute Morgen gekauft.“ Eine Gruppe Kinder tanzte auf dem Dach im Kreis (ebd., 76). Vor der erwähnten Buchseite sieht man auf der Fotografie noch vier Finger mit lackierten Nägeln. Nur wenig später, als sie gemeinsam am Schwimmbecken sitzen, weist Betti Ingrid auf ihre lackierten Fußnägel hin („Auf Türkis sind deine Zehennägel unsichtbar“; ebd., 78), und es entsteht so der Eindruck, bei der abgebildeten Hand handele es sich um Ingrids Hand. Dieses Moment ist wiederum aufschlussreich in Bezug auf die Erzählinstanz, denn es legt nahe, Betti als Erzählerin zu identifizieren. Das letzte im Roman enthaltene Bild unterscheidet sich deutlich von den vorherigen – und es ist eindeutig nicht von Betti gemacht worden. Es handelt sich hier auch nicht um eine Lomografie. Stattdessen sieht man die extrem verkleinerte Schwarzweiß-Wiedergabe einer überdimensionierten Farbfotografie von Andreas Gursky: Monaco, 2006. In typischer Gursky-Manier zeigt das Bild eine wimmelbildartige, beinahe überladene Szene mit geometrischer Ästhetik. 277 Abbildung 30: Schwarzweißabbildung der Fotografie „Monaco, 2006“ von Andreas Gursky in Ein langer Brief an September Nowak [205] Der voranstehende Text suggeriert, bei der auf der Fotografie in der Bildmitte am linken Rand zu sehenden Schwimmerin handele es sich um Betti – was eine deutlich erkennbare ontologische Unmöglichkeit darstellt, da Gurskys Fotografie im Jahr 2006 entstanden ist. Obwohl sich das Bild im Original durch Schärfe und gute ‚Erkennbarkeit‘ auszeichnet, führt die Schwarzweiß-Konvertierung der Fotografie und ihre stark verkleinerte Abbildung im Roman zu einer Verfremdung. Wie die 278 anderen Bilder ist so auch dieses Bild kaum zu erkennen, und es wird damit nahezu ebenso unscharf wie die zuvor abgedruckten Lomografien. Es lässt sich zusammenfassen, dass Ein langer Brief an September Nowak auch auf metafiktionaler Ebene höchst unsicher ist. Die textuelle Unentscheidbarkeit korrespondiert dabei mit einer Unschärfe auf der bildlichen Ebene. Unzuverlässigkeit und Intermedialität: Die üblichen Verdächtigen Wie es auch bei Es war einmal Indianerland der Fall ist, lohnt sich ein intermedialer Blick auf den postmodernen US-amerikanischen Film der 1990er Jahre. Die üblichen Verdächtigen (OT: The Usual Suspects) ist ein höchst unzuverlässig erzählter Film aus dem Jahr 1995; Regie führte Bryan Singer, das Drehbuch stammt von Christopher McQuarrie, der dafür 1996 einen Oscar erhielt. Ausgangspunkt des Films ist der Tatort eines Verbrechens: Am New Yorker Hafen liegt ein brennendes Schiff voller Leichen, es gibt lediglich zwei Überlebende: einen Schwerverletzen sowie den körperlich behinderten Trickbetrüger Roger ‚Verbal‘ Kint. In Rückblenden erzählt Kint dem Ermittler Kujan im Verhör das zuvor Geschehene, wobei die Geschichte immer wieder um den mysteriösen Gangster Keyzer Söze kreist, der für seine Unverfrorenheit selbst unter Kriminellen berüchtigt ist. Immer deutlicher wird, dass ein Komplize Kints, der Gangster Dean Keaton, für das Verbrechen verantwortlich ist – und dass es sich bei Dean Keaton in Wirklichkeit um den ominösen Keyser Söze handelt; mit dem Blutbad am Hafen wollte er den einzigen Mann töten, der sein Gesicht kennt. Schließlich bestätigt Kint Kujans Theorie, obwohl er sich vehement gegen diesen Gedanken sträubt. Nachdem Kujan Kint entlassen hat und der sich auf dem Weg aus dem Polizeiquartier befindet, kommt es dann zu einer völligen Umkehrung: In der letzten Sequenz des Film betrachtet Kujan die Pinnwand, der Kint beim Verhör gegenüber gesessen hat. Auf zahlreichen Ausschnitten und Fotos findet sich eine Vielzahl von Elementen aus Kints Geschichte wieder, es wird klar, dass Kint sich die gesamte Geschichte ausgedacht hat – und dass in Wirklichkeit er Keyser Söze ist. Hier ist eine deutliche Ähnlichkeit von Ein langer Brief an September Nowak zu Die üblichen Verdächtigen auszumachen. In beiden Fällen wird eine Vielzahl von Elementen in kunstvoller Weise zu einer neuen Version der Geschichte umarrangiert: In Berges Roman durch die intradiegetische Erzählerin Betti, in Die üblichen Verdächtigen durch Verbal Kint. Im Film stellt sich die gesamte Geschichte im Nachhinein als Lügenkonstrukt 279 heraus, wobei nicht zu erschließen ist, welche Elemente wahr sind und welche hinzugedichtet wurden. Maurice Lahde (2005) formuliert: Beim zweiten Sehen wird man, abgesehen davon, dass man Verbals wahre Identität kennt, lediglich wissen, dass zwei wichtige Figuren seiner Erzählung nicht die richtigen Namen tragen – dass einige Ereignisse aber so oder ähnlich ‚wirklich‘ stattgefunden haben müssen. Welche Teile seiner Geschichte nur ausgedacht waren und was dem Zuschauer davon wie unzuverlässig gezeigt wurde: unmöglich, es herauszufinden (ebd., 204). Lahde weist weiter auf die metafiktionale Komponente der Konstruktion in Die üblichen Verdächtigen hin: Nicht nur Verbal wird als unzuverlässige Erzählerfigur enttarnt, die filmische Narration selbst entzieht sich einer endgültigen Haftbarkeit. Doch für das Funktionieren der Fabel ist der ‚Wahrheits-Status‘ ihrer einzelnen Segmente offenbar wenig relevant. Sie lassen sich nur in einer Horizontalen anordnen – alle sind gleichermaßen ‚nur gezeigt‘ –, nicht jedoch in einer ‚Wahrheits- oder Falschheits-Hierarchie‘, zumindest nicht von einem Punkt aus, der nicht selber vom Plot definiert würde. Indem der Erzähler den Zuschauer auf der Suche nach diesem Punkt auflaufen lässt, führt er ihm die Müßigkeit dieser Suche vor. […] Verbal, dessen Fabuliertalent schon in seinem Namen anklingt, hat während des Verhörs die Freiheit des Geschichtenerzählers im Umgang mit der Wahrheit erprobt und bewiesen – und damit die Methodik des Films vorgeführt (ebd., 304). Zu einem ähnlichen Schluss kann man auch für Ein langer Brief an September Nowak kommen. Unzuverlässigkeit manifestiert sich hier auf mehreren Ebenen: Die Identität der extradiegetischen Erzählinstanz ist nicht eindeutig bestimmbar, obwohl es viele Hinweise dafür gibt, dass es sich um die Protagonistin Betti handeln könnte. Als intradiegetische Erzählerin verstrickt sich Betti zunehmend in Lügengeschichten, variiert und kombiniert bereits erzählte Elemente in neuer Form. Die Illustrationen suggerieren eine vermeintliche Authentizität; diese ist aber bei genauerer Betrachtung nicht gegeben, sogar unmöglich, wie im Fall der Gursky-Metalepse besonders deutlich wird. Ähnlich wie bei Die üblichen Verdächtigen wird so die gesamte Konstruktion des Romans infrage gestellt. Was denn nun tatsächlich die ‚wahre‘ Geschichte ist, und wer sie erzählt, kann nicht beantwortet werden. Betrachtet man nun erneut die Illustrationen, stellt sich die Frage, ob die dem Roman enthaltenen Fotografien sich auf Elemente der Erzählung beziehen – oder ob vielmehr der Roman ‚um‘ diese Fotografien geschrieben wurde, so wie sich auch Betti in der intradiegetischen Erzählung an den verschiedenen Elementen orientiert. Festzuhalten bleibt, dass auch diese Möglichkeit schlussendlich unentscheidbar bleibt. 280 Einordnung In Bezug auf die entwickelten Untersuchungsparameter lässt sich für Ein langer Brief an September Nowak zusammenfassend festhalten: Themen und Motive Auch in diesem Roman fällt das zentrale Thema ‚Identität‘ besonders auf. Immer wieder geht es zudem um das Lügen und das Erzählen von Geschichten, und durchweg wird so das Verhältnis von Realität und Fiktion behandelt. Weitere Motive wie ‚Träumen und Schlafen‘ und ein sehnsuchtsvoller Blick auf Kindheit können als romantische Entlehnungen verstanden werde; sie sind ebenfalls bedeutungsvoll im Kontext unzuverlässiges Erzählen. Mit der titelgebenden Kunstfigur September Nowak findet sich auch in Berges‘ Werk eine Doppelgängerfigur. Erzählsituation Senderin der Unzuverlässigkeit ist eine nicht bestimmbare Ich-Erzählinstanz, die nur punktuell in Erscheinung tritt. Es ist allerdings nicht klar, wer erzählt: Es könnte sich um die Protagonistin handeln, die ihre Identität verschleiert. Gegenläufig gesetzte Signale sprechen für eine am Geschehen nicht beteiligten Erzählinstanz. Im letzten Kapitel fällt ein Wechsel in der Stimme auf: Zumindest in dieses Kapitel wird sicher von der Protagonistin Betti erzählt. Je nach Lesart kann die Erzählsituation damit als autodiegetisch oder als heterodiegetisch verstanden werden. Extraund intradiegetische Elemente werden mitunter metaleptisch vermischt, der Modus ist variabel und enthält sowohl intern als auch extern fokalisierte Anteile. Die Modellierung der Erzählerfigur Mit Betti findet sich erneut eine Protagonistin, die ein Trauma verarbeiten muss. Sie tut dies in Form des Ausprobierens: Auf ihrer Reise schlüpft sie in verschiedene Rollen, und sie übernimmt als September Nowak die von der Brieffreundin erschaffene Doppelgängeridentität. Markierung der erzählerischen Unzuverlässigkeit Es finden sich nur sehr wenige von Nünning (1998, 27f.) formulierte textuelle Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit. Lediglich explizite Widersprüche des Erzählers, Erinnerungslücken sowie Hinweise im (bildlichen) Paratext lassen sich, wie gezeigt, feststellen. Dass die textuellen Hinweise im Vergleich zu den zuvor untersuchten Texten so spärlich ausfallen, liegt vor allem an der Verschleierung der Erzähleridentität sowie der Tatsache, dass die Beteiligung der Erzählinstanz am Geschehen unklar bleibt. Signale, die auf Korrektivfiguren zurückgreifen, kommen 281 entsprechend nicht vor. Aufgrund der Tatsache, dass die Ich-Erzählinstanz nur punktuell in Erscheinung tritt sind textuelle Signale, die auf Involviertheit oder Subjektivität abzielen, daher im Roman (abgesehen vom letzten Kapitel) ebenfalls absent. Eine Markierung der erzählerischen Unzuverlässigkeit findet insbesondere durch zahlreiche Einzel- und Systemreferenzen zur romantischen Werken und romantischen sowie pikaresken Schreibweisen statt (vgl. Intermedialität/Intertextualität). Weitere Beschaffenheit der erzählerischen Unzuverlässigkeit Die inkongruente Konstruktion des Romans bewirkt ein Infragestellen der gesamten ontologischen Struktur der Erzählung: Welche Erzählanteile innerhalb der Diegese ‚wahr‘ sind und welche ‚erfunden‘, bleibt bis zum Schluss nicht entscheidbar. Die erzählerische Unzuverlässigkeit in Ein langer Brief an September Nowak ist als deutlich und durchgängig qualifizierbar. Intermedialität/Intertextualität Die hohe Bedeutung der Intertextualität/Intermedialität für die erzählerische Unzuverlässigkeit ist besonders hervorzuheben. Wie gezeigt wurde, liefern gerade die vielen romantischen sowie pikaresken Verweise die unzuverlässige Grundsituation in Ein langer Brief an September Nowak. Mit Die üblichen Verdächtigen wird auch in Ein langer Brief an September Nowak ein Musterbeispiel unzuverlässigen Erzählens im Film abgerufen. Die Erzählung ist insgesamt als postmodernes Spiel mit romantischen, pikaresken aber auch filmischen Elementen charakterisierbar. Die Verweise sind zum Teil explizit markiert, zum Teil aber auch nicht. Funktionen Die erzählerische Unzuverlässigkeit in Ein langer Brief an September Nowak erfüllt sowohl interne als auch externe literarische Funktionen. Innerhalb des Werks dient sie in besonderem Maße der Gestaltung der erzählten Welt sowie der Illusionsbildung bzw. -brechung. Sie variiert den Modus, ihre romantische ‚Qualität‘ hebt weiterhin die ‚Gemachtheit‘ der Geschichte hervor (interne metafiktionale Funktion). In besonderem Maße kommt ihr, damit verbunden, auch eine ästhetische Funktion zu. Weiterhin hat die Unzuverlässigkeit externe literarische Funktionen: Die Protagonistin und (zumindest teilweise auch) Erzählerin begibt sich auf eine Reise, auf der 282 alles ‚egal‘ ist. Sie spielt mit verschiedenen Identitäten, lange, ohne in Schwierigkeiten zu geraten. Dieser postmoderne thematische Zugang wird auf der Ebene des discours (auch) als erzählerische Unzuverlässigkeit aufgegriffen, und es wird so eine epistemologische Verunsicherung abgebildet – gerade, indem immer wieder Identitäten ontologisch infrage gestellt werden. In ‚Septembers‘ Lügengeschichte, in der sie in pikaresker Manier auf ihr eigenes, also Bettis, Leben zurückblickt, trägt dies durchaus parodistische Züge. Abbildung und Kritik gesellschaftlicher Phänomene können als externe literarische Funktionen der erzählerischen Unzuverlässigkeit in Ein langer Brief an September Nowak festgehalten werden. 283 4. Ergebnisse Im Folgenden werden die erarbeiteten Ergebnisse zusammengetragen: 4.1 Die Gestaltung der erzählerischen Unzuverlässigkeit in den untersuchten kinderliterarischen Werken Mit Helden, Anton taucht ab, Außerirdisch ist woanders, Iwein Löwenritter und Die Kurzhosengang wurden in Kapitel 3.1 fünf Kinderromane analysiert, in denen unzuverlässige Erzählverfahren enthalten sind. Die Werke richten sich nach Verlagsangaben an Kinder ab einem Alter von acht (Helden), neun (Anton taucht ab) bzw. zehn Jahren (Die Kurzhosengang, Iwein Löwenritter, Außerirdisch ist woanders). 4.1.1 ‚Unzuverlässige‘ Themen und Motive In den verschiedenen Werken wird ein breites Themenspektrum bedient: Neben typisch kinderliterarischen Themen wie ‚Freundschaft‘, ‚Familienleben‘ oder dem Bestehen von Abenteuern, die in fast allen analysierten Werken Gegenstand sind, geht es auch um Mut (Die Kurzhosengang), das Verhalten in Konfliktsituationen (Anton taucht ab), den Umgang mit Ängsten (Anton taucht ab), Schuld und Gerüchte (Helden), Kinderarmut (Außerirdisch ist woanders), Liebe und Sehnsucht (Iwein Löwenritter) oder auch um ganz konkrete Themen wie z.B. Kanada (Die Kurzhosengang). Im Kontext unzuverlässigen Erzählens fallen solche Themen und Motive, denen bereits ein unzuverlässiges Moment innewohnt, besonders auf: ‚Lügen‘, ‚Erzählen‘, ‚Träumen‘ und ‚Fantasieren‘. In jedem der analysierten Werke findet sich mindestens eines dieser Themen, oft sind sie eng miteinander verwoben. Lügen und Erzählen Das Thema ‚Lügen‘ ist im gegebenen Kontext naheliegend und wird in den untersuchten Werken unterschiedlich behandelt. In Helden geschieht dies in Form eines Nicht-Sagens. Das Vorenthalten von Informationen stellt die Grundlage für den Konflikt der Ich-Erzählerin Mia dar: Das Nichtgesagte, das „Unheimliche“ (Richter 2013, 23) belastet sie nicht nur bezüglich ihrer eigenen Schuld, sondern es manifestiert sich auch in den Gerüchten, denen sie tagtäglich ausgesetzt ist. Eben dieses „Unheimliche“ (ebd.) bereitet den Nährboden für die erzählerische Unzuverlässigkeit in Helden. In Anton taucht ab stellt sich das Thema ‚Lügen‘ beinahe komplementär dar – hier wird nicht weggelassen, sondern hemmungslos hinzu- und umgedichtet. Hofmann (2010) spricht von einer potentiellen „Freude am Fabulieren, am Ausmalen fantastischer Welten und Erfinden von Geschichten, an Über284 treibungen und dem Spiel mit Lüge und Wahrheit“ (Hofmann 2010, 182) unzuverlässiger kindlicher Ich-Erzählinstanzen. Dies ist bei Anton charakterbestimmend – gerade wenn er seine Schwächen als Stärken darstellt. Die enge Verknüpfung zum Thema ‚Erzählen‘ wird hier deutlich; Antons angeberische Art und sein Hang zur Übertreibung tragen entscheidend zur mündlich angelegten Erzählsituation bei, die bereits in den ersten Zeilen von Anton klargestellt wird: „Jetzt erzähle ich die Geschichte. Eine Abenteuerheldengeschichte, in der es um mich geht, Anton unter Wasser“ (Baisch 2010, 5). Das Thema ‚Erzählen‘ ist insgesamt in den analysierten kinderliterarischen Werken sehr prominent, auch in Außerirdisch ist woanders, Iwein Löwenritter und Die Kurzhosengang spielt das Erfinden und Erzählen von Geschichten eine zentrale Rolle. In Außerirdisch ist woanders thematisiert der IchErzähler wiederholt den vermeintlichen Forschungsbericht seines ‚außerirdischen‘ Freundes und reflektiert dabei schließlich auch das Verhältnis von Fiktion und Realität: Ich hielt mich an unsere Gliederung, und ich füllte sie mit allem, was ich in meinem Jahr mit Henry erlebt, gedacht und gespürt hatte. […] Außerirdisch ist woanders wäre auch ein schöner Titel für mein Buch, aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass es irgendwann veröffentlicht wird, denn wer will sich denn schon meine Vorstellungen kaufen? (Opel-Götz 2012, 300f.) Auch durch die hier angedeutete Konstruktion eines Romans im Roman entsteht ein illusionsbrechendes metafiktionales Moment, durch das die Gemachtheit der Erzählung hervorgehoben wird. Ähnlich verhält es sich in Die Kurzhosengang, wenn Snickers kommentiert: Rudolpho hat toll erzählt. Kein bisschen nervös, dafür dass er den Anfang machen musste. Und das mit der Schule war eine prima Geschichte. Eine Schule, die verschwindet, ist ja wohl der Traum der Träume. Spannend finde ich aber auch, was Island so zu sagen hat. Mal sehen, wie seine Geschichte endet. Ich wusste nicht, dass meine Freunde so tolle Ideen haben (Drvenkar 2004, 110). Abgesehen von Helden, wird das Thema ‚Lügen‘ damit in den ausgewählten kinderliterarischen Werken in einer insgesamt positiven Konnotation als Fabulieren/als Erfinden von Geschichten behandelt. Träumen und Fantasieren Neben dem Lügen und dem Erzählen sind das Träumen bzw. das Fantasieren als wiederkehrende Motive zu nennen. Zu Beginn des ersten Kapitels von Iwein Löwenritter offenbart der Erzähler: „Ich liebe die Träume“ (Hoppe 2008, 9) und liefert damit einen Hinweis auf die Unzuverlässigkeit der folgenden Erzählung, in der ‚Schlaf‘ und ‚Traum‘ dominante Motive bleiben. Auch in Außerirdisch ist woanders 285 kommt dem Traum eine Rolle zu – allerdings eher in seiner Bedeutung als Tagtraum oder Fantasie. Der Erzähler Jona liefert mit dem von ihm so benannten „inneren Kino“ (Opel-Götz 2012, 12) einen Hinweis auf seine Unzuverlässigkeit. Diese Themen sind damit eng verknüpft mit den zuvor genannten Themen ‚Lügen‘ und ‚Erzählen‘. 4.1.2 Erzählsituationen In den untersuchten Kinderromanen finden sich sowohl kindliche als auch nichtkindliche Erzählinstanzen. In immerhin drei Werken (Helden, Anton taucht ab, Außerirdisch ist woanders) kann man ein nahezu identisches erzählerisches Grundgerüst identifizieren: Es handelt sich jeweils um kindliche Instanzen, die auf einer extradiegetischen Ebene autodiegetisch erzählen. Hinzu kommt in allen drei Fällen eine jeweils an die Erzählerin bzw. den Erzähler gebundene fixierte interne Fokalisierung. In Die Kurzhosengang gestaltet sich die Erzählsituation komplexer: Hier finden sich zwar auch kindliche autodiegetische Erzähler, durch eine multiperspektivische Auffächerung der verschiedenen Varianten der Geschichte ergibt sich aber eine variable interne Fokalisierung. Punktuell wird dann auch von der internen Fokalisierung abgewichen, sodass sich eine insgesamt dominant-interne Fokalisierung ergibt, die nacheinander (variabel) an die verschiedenen Erzähler gebunden ist. Ein weiterer Unterschied zu den zuvor genannten Erzählern ist, dass die kindlichen Erzähler in Die Kurzhosengang auf der intradiegetischen Ebene anzusiedeln sind und in eine extradiegetische Erzählung eines erwachsenen Erzählers eingebunden sind. Die folgende Tabelle fasst die Ergebnisse der Analysen für die kindlichen Ich-Instanzen zusammen: 286 Tabelle 16: Erzählsituationen der analysierten Kinderromane mit kindlichen Ich-Erzählinstanzen Helden Anton taucht ab Außerirdisch ist woanders Die Kurzhosengang (Intradiegese) Sender/in der Unzuverlässigkeit Kindliche Erzählerin (Mia Besler) Kindlicher Erzähler (Anton) Kindlicher Erzähler (Jona Klinger) Kindliche Erzähler Erzählerischer Ort der Unzuverlässigkeit Extradiegese Extradiegese Extradiegese Intradiegese Stellung der Erzählinstanz zum Geschehen autodiegetisch Fokalisierung fixiert interne Foka- fixiert interne Folisierung auf die Er- kalisierung auf die zählerfigur Erzählerfigur fixiert interne Fokali- multiperspektivische sierung auf die ErAuffächerung: zählerfigur variable interne Fokalisierung auf die jeweilige Erzählerfigur Multiperspektive nein nein (Rudolpho, Island, Snickers und Zement) (Einbindung in die extradiegetische Erzählung eines (wiederum unzuverlässig erzählenden) erwachsenen Erzählers) autodiegetisch nein autodiegetisch autodiegetisch ja Trotz der Variation in Die Kurzhosengang lässt sich festhalten, dass allen untersuchten kindlichen Instanzen eine autodiegetische Erzählsituation sowie eine fast durchweg streng an die Erzählerin bzw. den Erzähler gebundene interne Fokalisierung zugeschrieben werden können. Bei den nicht-kindlichen Erzählinstanzen der untersuchten Werke muss zunächst angemerkt werden, dass es sich bei ihnen nicht zwangsläufig um Erwachsene handeln muss – fällt doch auch ein Löwe (Iwein Löwenritter) in diese Kategorie. Bemerkenswert ist aber vor allem die Tatsache, dass die Unzuverlässigkeit der untersuchten nicht-kindlichen Instanzen in irgendeiner Form auch ihre Identität betrifft. Anders gesagt: Die nicht-kindlichen Erzähler verschleiern ihre ‚wahre‘ Identität. In Iwein Löwenritter ist die Stellung des Erzählers zum Geschehen durchweg unklar; erst auf der letzten Seite erfährt man, dass es sich bei dem Löwen auch um den Erzähler handelt, und das gesamte zuvor Gelesene muss umgedeutet werden. Die Verschleierung der Erzähleridentität geschieht dabei durchaus bewusst, was durch die Tatsache belegt werden kann, dass der Löwe durchweg von sich selbst in der dritten Person spricht. In Die Kurzhosengang wird das Verwirrspiel dann auf die Spitze getrieben: In einem vermeintlichen Paratext kommt ein 287 angeblich realer Übersetzer zu Wort. Dieser ‚berichtet‘ über die Entstehungsgeschichte des Romans sowie über eigene Erfahrungen mit den Figuren und fügt dem Text zahlreiche Kommentare in Fußnoten hinzu. Tatsächlich ist der gesamte angebliche Paratext bereits als Teil der Geschichte und damit als extradiegetische Ebene einzuordnen. Dies wird jedoch an keiner Stelle explizit kenntlich gemacht; der extradiegetische Erzähler ‚versteckt‘ sich, indem er sich als Übersetzer ausgibt. Auch in den Erzählungen der untersuchten nicht-kindlichen Erzähler finden sich hauptsächlich interne Fokalisierungen. Vereinzelt wird dies durch nullfokalisierte Passagen ergänzt. Bei Iwein Löwenritter begründen sich diese Verschiebungen in dem Hang des Erzählers zur Hinzudichtung und verstärken dabei die Verschleierung der Erzähleridentität: Durch sein stellenweise auktoriales Auftreten nimmt man den Löwen nicht in den Verdacht, der Erzähler zu sein – schließlich gehört er in den relevanten Szenen auch nicht zum anwesenden Figureninventar. Die anschließende Tabelle bildet die Ergebnisse der Analysen für die nicht-kindlichen Ich-Instanzen ab: Tabelle 17: Erzählsituationen der analysierten Kinderromane mit nicht-kindlichen Ich-Erzählinstanzen Iwein Löwenritter Die Kurzhosengang Sender/in der Unzuverlässigkeit Löwe Erzähler, der sich als Übersetzer ausgibt Erzählerischer Ort der Unzuverlässigkeit Extradiegese Extradiegese Stellung des Erzählinstanz zum Geschehen verschleiert verschleiert erst retrospektiv wird klar, dass es sich im ersten Romanteil um einen heterodiegetischen, im zweiten Romanteil um einen homodiegetischen Erzähler handelt. Im zweiten Romanteil ist der Erzähler eine der Hauptfiguren, aber nicht der Protagonist. (s.o.) Fokalisierung fixierte interne Fokalisierung, vereinzelt (vermeintlich) nullfokalisiert In der Extradiegese: interne Fokalisierung 4.1.3 Die Modellierungen der Erzählerfiguren Abgesehen von Iwein Löwenritter, wo ein Löwe erzählt, finden sich in allen übrigen Romanen auch kindliche Erzählerfiguren. In Die Kurzhosengang ist zudem ein erwachsener Erzähler auf der extradiegetischen Erzählebene enthalten. 288 Betrachtet man die (kindlichen) Erzählerfiguren hinsichtlich der Positiv-negativSkala der Motivation unzuverlässigen Erzählens von Regina Hofmann (s. Kap. 2.1.2), fallen im Hinblick auf die untersuchten Werke unterschiedliche Konstruktionen auf: So resultiert die Unzuverlässigkeit in Helden, Anton taucht ab und Außerirdisch ist woanders aus einer kindlichen kognitiven Überforderung, einem Unvermögen, eine Situation zu verstehen oder mit ihr umzugehen. In Anton taucht ab und Außerirdisch ist woanders macht diese Überforderung allerdings nur einen Teil der Motivation aus – den beiden kindlichen Erzähler dieser Werke ist auch eine positive Motivation im Sinne einer Fabulierlust bzw. eines fantasievollen Umgangs mit dem Thema ‚Erzählen‘ entgegengestellt. Diese positive Motivation ist in Iwein Löwenritter und Die Kurzhosengang hervorstechendes Merkmal. Eine kindliche bzw. naive Überforderung ist diesen Romanen nicht eingeschrieben. Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Tabelle 18: Die Modellierungen der Erzählerfiguren in den untersuchten kinderliterarischen Werken Helden Anton taucht ab Außerirdisch ist woanders Iwein Löwenritter Die Kurzhosengang kindlich/erwachsen kindlich kindlich kindlich nicht menschsowohl als auch lich, aber stellenweise naiv Kognitive Überforderung und/oder Fabulierlust? Überforderung beides beides Fabulierlust Fabulierlust Defizitäre Erzählerfigur (nach Lexe 2017)? nein nein nein nein nein Intentionalität nicht gegeben gegeben gegeben gegeben gegeben Lexes These, dass „die Kinderliteratur defizitäre Figuren als Erzähler_innen etabliert“ (Lexe 2017, 7) kann anhand der untersuchten Werke nicht bestätigt werden. Eine „deutliche […] Diskrepanz zwischen dem eigenen Weltwissen respektive den eigenen körperlichen und sprachlichen Fähigkeiten und jenen der Leserinnen und Leser“ (ebd., 23), wie Lexe formuliert, kann für keine der untersuchten kinderliterarischen Erzählinstanzen festgehalten werden. 289 4.1.4 Die Markierung der Unzuverlässigkeit In Bezug auf die Markierungen der erzählerischen Unzuverlässigkeit im Bereich der kinderliterarischen Werke wurde in den Ausführungen zu den Untersuchungsparametern in Kapitel 2.3 das Anliegen einer genauen Betrachtung der textuellen Signale hervorgehoben. Die folgende Tabelle versammelt die Ergebnisse der Einzelanalysen bezüglich der in den Texten enthaltenen Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit: Die Kurzhosengang Iwein Löwenritter Außerirdisch ist woanders Anton taucht ab Helden Tabelle 19: Textuelle Signale der erzählerischen Unzuverlässigkeit in den untersuchten kinderliterarischen Werken (nach Nünning 1998, 27f.) (1) Explizite Widersprüche des Erzählers und andere interne Unstimmigkeiten innerhalb des narrativen Diskurses - + - + + (2) Diskrepanzen zwischen den Aussagen und den Handlungen eines Erzählers - + - - + (3) Divergenzen zwischen der Selbstcharakterisierung des Erzählers und der Fremdcharakterisierung durch andere Figuren - + + - + (4) Unstimmigkeiten zwischen den expliziten Fremdkommentaren des Erzählers über andere und seiner impliziten Selbstcharakterisierung bzw. unfreiwilligen Selbstentlarvung - + + - + (5) Diskrepanzen zwischen der Wiedergabe der Ereignisse durch den Erzähler und seinen Erklärungen und Interpretationen des Geschehens sowie weitere Unstimmigkeiten zwischen story und discourse + + + + + (6) Verbale Äußerungen und Körpersprache anderer Figuren als Korrektiv + + + - + (7) Multiperspektivische Auffächerung des Geschehens und Kontrastierung unterschiedlicher Versionen desselben Geschehens + - - - + (8) Häufung von sprecherzentrierten Äußerungen sowie linguistische Signale für Expressivität und Subjektivität - + + + - (9) Syntaktische Anzeichen für einen hohen Grad an emotionaler Involviertheit (z.B. Ausrufe, Ellipsen, Wiederholungen) - + + + - (10) Explizite, autoreferentielle, metanarrative Thematisierung der eigenen Glaubwürdigkeit (z.B. emphatische Bekräftigung) - - + - + (11) Eingestandene Unglaubwürdigkeiten, Erinnerungslücken und Hinweise auf kognitive Einschränkungen + + + + + (12) Eingestandene oder situativ bedingte Parteilichkeit - - + + + (13) Paratextuelle Signale (z.B. Titel, Untertitel, Vorwort) - + + + + Die einzelnen Spalten dokumentieren einen durchaus variationsreichen Umgang der untersuchten kinderliterarischen Werke mit den verschiedenen textuellen Signalen. Die größte Bandbreite textueller Signale findet sich in Die Kurzhosengang 290 (elf verschiedene textuelle Signale), Anton taucht ab (zehn verschiedene textuelle Signale) und Außerirdisch ist woanders (neun verschiedene textuelle Signale). Diese Varianz stellt eine wichtige Komponente bei der Beschreibung der spezifischen Unzuverlässigkeit dar. Es fällt auf, dass insgesamt alle von Nünning vorgestellten textuellen Signale in den untersuchten Werken vorkommen. In allen Texten ist dabei das Signal (5) („Diskrepanzen zwischen der Wiedergabe der Ereignisse durch den Erzähler und seinen Erklärungen und Interpretationen des Geschehens sowie weitere Unstimmigkeiten zwischen story und discourse“; Nünning 1998, 28) enthalten. Auch das elfte Signal kommt in allen untersuchten Romanen vor: In irgendeiner Form liefern in allen Werken Erzählinstanzen Signale in Form von „Unglaubwürdigkeiten, Erinnerungslücken und Hinweise[n] auf kognitive Einschränkungen“ (ebd.). Fünf der sechs Romane enthalten zudem paratextuelle Signale. Es lohnt sich allerdings, einen genauen Blick auf kindliche bzw. nicht-kindliche Erzähler zu werfen – und entsprechend auch bei Die Kurzhosengang zwischen den in Extradiegese und Intradiegese unterschiedlichen Sendern der Unzuverlässigkeit zu unterscheiden. Eine entsprechende Modifizierung der Tabelle 19 nach kindlichen und nicht-kindlichen Erzählinstanzen liefert folgendes Ergebnis: 291 Erzählinstanz kindlich Die Kurzhosengang: Extradiegese Iwein Löwenritter Die Kurzhosengang: Intradiegese Außerirdisch ist woanders Anton taucht ab Helden Tabelle 20: Signale der Unzuverlässigkeit in den untersuchten kinderliterarischen Werken unter Berücksichtigung der verschiedenen Erzählinstanzen nicht-kindlich (1) Explizite Widersprüche des Erzählers und andere interne Unstimmigkeiten innerhalb des narrativen Diskurses - + - + + + (2) Diskrepanzen zwischen den Aussagen und den Handlungen eines Erzählers - + - + - - (3) Divergenzen zwischen der Selbstcharakterisierung des Erzählers und der Fremdcharakterisierung durch andere Figuren - + + + - - Unstimmigkeiten zwischen den expliziten Fremdkommentaren des Erzählers über andere und seiner impliziten Selbstcharakterisierung bzw. unfreiwilligen Selbstentlarvung - + + + - - Diskrepanzen zwischen der Wiedergabe der Ereignisse durch den Erzähler und seinen Erklärungen und Interpretationen des Geschehens sowie weitere Unstimmigkeiten zwischen story und discourse + + + + + - (6) Verbale Äußerungen und Körpersprache anderer Figuren als Korrektiv + + + + - - (7) Multiperspektivische Auffächerung des Geschehens und Kontrastierung unterschiedlicher Versionen desselben Geschehens + - - + - - (8) Häufung von sprecherzentrierten Äußerungen sowie linguistische Signale für Expressivität und Subjektivität - + + + + - (9) Syntaktische Anzeichen für einen hohen Grad an emotionaler Involviertheit (z.B. Ausrufe, Ellipsen, Wiederholungen) - + + + + - (10) Explizite, autoreferentielle, metanarrative Thematisierung der eigenen Glaubwürdigkeit (z.B. emphatische Bekräftigung) - - + + - - (11) Eingestandene Unglaubwürdigkeiten, Erinnerungslücken und Hinweise auf kognitive Einschränkungen + + + + + - (12) Eingestandene oder situativ bedingte Parteilichkeit - - + + + - (13) Paratextuelle Signale (z.B. Titel, Untertitel, Vorwort)88 -. + - n.b. + n.b. (4) (5) 88 Paratextuelle Signale wurden in dieser Tabelle nur zum Teil berücksichtigt, da dies aufgrund der Differenzierung bzgl. Die Kurzhosengang zu einer Verzerrung des Bildes führen würde. 292 Wie im ersten Kapitel dieser Arbeit genauer ausgeführt wurde, lassen sich die von Nünning aufgeführten textuellen Signale unzuverlässigen Erzählens in drei Kategorien sortieren: Signale, die auf verschiedenen textuellen Inkongruenzen beruhen (Signale 1 bis 7); Signale, die auf eine erhöhte Subjektivität bzw. Involviertheit der Erzählinstanz hinzielen (Signale 8 bis 12) und Signale, die im Paratext geliefert werden (13). Betrachtet man nun die erste Gruppe in Tabelle 20, fällt auf, dass vor allem textuelle Inkongruenzen in den untersuchten kinderliterarischen Werken bei kindlichen Erzählern in großer Bandbreite vorkommen, nicht-kindliche Erzählinstanzen zeigen hier deutlich weniger Variation. Der Stellenwert der Illustrationen Die oben angestellte Beobachtung, dass dem Paratext in den untersuchten kinderliterarischen Werken eine hohe Bedeutung für die textuellen Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit zukommt, begründet sich vor allem in dem diesem Medium inhärenten hohen Stellenwert von Illustrationen. Von den untersuchten Werken verzichtet allein Helden auf die Verwendung von Bildern. In Anton taucht ab und Außerirdisch ist woanders unterstützen die Illustrationen die erzählerische Unzuverlässigkeit insofern, als dass das im Text getriebene Spiel mit Authentizität in den Bildern aufgegriffen wird und so das oben bereits erwähnte metafiktionale Element noch stärker in den Vordergrund tritt. In beiden Fällen sind die visuellen Signale damit als unzuverlässigkeitsfördernd zu verstehen – und in beiden Fällen geschieht dies symmetrisch zu den textuellen Signalen. In Iwein Löwenritter werden in den Illustrationen unterschiedliche Perspektiven geliefert, was die Verschleierung der Erzähleridentität unterstützt. Auch in diesem Fall liegt ein symmetrisches Text-Bild-Verhältnis vor, zudem lässt sich ein change in point of view nach Kümmerling-Meibauer diagnostizieren. Beinahe überraschenderweise kommt den von Ole Könnecke beigesteuerten Illustrationen des kompositorisch komplexesten kinderliterarischen Werks Die Kurzhosengang keine weitere Bedeutung im Hinblick auf die erzählerische Unzuverlässigkeit zu – und das obwohl der gesamte übrige Paratext durchweg als hochgradig unzuverlässig einzuschätzen ist (s. Kap. 3.1.5). Das Text-Bild-Verhältnis ist bzgl. der Illustrationen von Ole Könnecke als symmetrisch zu den Geschehnissen der Intradiese einzuschätzen, hier sind keine Unzuverlässigkeitssignale zu finden. Anders verhält es sich mit der dem Text nachgestellten Abbildung einer Fotokarte, die 293 laut Beschriftung die beiden Autoren Caspak und Lanois darstellen soll. Diese Illustration sendet, so wurde argumentiert, eine ambivalente Botschaft. Die Kurzhosengang Iwein Löwenritter Helden Anton taucht ab Außerirdisch ist woanders Tabelle 21: Text-Bild-Verhältnisse der untersuchten kinderliterarischen Werke Art des TextBild-verhältnisses nach Nikolajeva/Scott (2001) keine Illustrationen enthalten symmetrisch, teilweise sylleptisch (Daumenkino) symmetrisch symmetrisch weitestgehend symmetrisch Ironisches Text-Bild-Verhältnis nach KümmerlingMeibauer (1999) keine Illustrationen enthalten nein nein change in point of view nein Bedeutung für die erzählerische Unzuverlässigkeit keine Illustrationen enthalten gegeben gegeben gegeben gegeben Es lässt sich festhalten, dass durch den Einsatz von Illustrationen die erzählerische Unzuverlässigkeit der textuellen Ebene in den untersuchten kinderliterarischen Werken an vielen Stellen visuell unterstützt wird; dies geschieht in der Regel mittels symmetrischer Text-Bild-Beziehungen. Lediglich in einem Werk (Iwein Löwenritter) lässt sich ein ironisches Text-Bild-Verhältnis zeigen. 4.1.5 Die weitere Beschaffenheit der Unzuverlässigkeit In den Analysen von Helden, Anton taucht ab, Außerirdisch ist woanders sowie Iwein Löwenritter wurde gezeigt, dass in jeder dieser Erzählungen ein gesicherter ontologischer Status feststellbar ist – auch wenn die Unzuverlässigkeit nicht in allen Fällen aufgelöst wird, sind die Signale dennoch eindeutig. In Die Kurzhosengang wird die Verschleierung der Unzuverlässigkeit derart gründlich betrieben, dass man zwar zu einer Auflösung und damit zu einer ‚richtigen‘ ontologischen Einschätzung kommen kann – es ist aber kaum wahrscheinlich, dass dies allen (kindlichen) Lesern auch gelingen wird. In allen Fällen handelt es sich um mimetische Unzuverlässigkeit (nach Martínez/Scheffel), die in drei Werken (Helden, Anton taucht ab und Außerirdisch 294 ist woanders) offen konstruiert ist (vgl. Köppe/Kindt 2014). In Iwein Löwenritter handelt es sich um täuschende Unzuverlässigkeit (vgl. ebd.). Die Kurzhosengang fällt erneut durch eine komplexere Konstruktion auf: Als offen unzuverlässig sind die multiperspektivisch präsentierten Geschichten der kindlichen Ich-Erzähler der Intradiegese zu charakterisieren, als täuschend hingegen die gesamte extradiegetische Situation. Bis auf in Helden ist die Unzuverlässigkeit aller untersuchten kinderliterarischer Werke als durchgängig einzuschätzen – nur in Außerirdisch ist woanders nimmt sie zum Ende hin ab. Die folgende Tabelle fasst die Beschaffenheit der erzählerischen Unzuverlässigkeit der untersuchten kinderliterarischen Werke zusammen: Die Kurzhosengang Außerirdisch ist woanders Anton taucht ab Helden Iwein Löwenritter Tabelle 22: Ontologischer Status, Auflösung und Frequenz der Unzuverlässigkeit in den untersuchten kinderliterarischen Werken Determinierbarkeit ja ja ja ja ja, aber schwierig Frequenz/ Entwicklung im Lauf der Erzählung Einzelsituationen durchgängig unzuverlässig durchgängig, aber zum Ende hin nachlassend durchgängig unzuverlässig durchgängig unzuverlässig nein ja gegen Ende der Erzählung ja unmittelbar am Erzählende nein offen offen täuschend sowohl als auch Auflösung Täuschende/ offene Unzuverlässigkeit nach Köppe und Kindt (2014) offen 4.1.6 Intermedialität/Intertextualität Abschließend ist noch auf das auffällig hohe Vorkommen inter- bzw. intratextueller Referenzen hinzuweisen. In allen untersuchten kinderliterarischen Werken finden sich solche Verweise, lediglich in Helden handelt es sich dabei um intratextuelle 295 Referenzen, die für die erzählerische Unzuverlässigkeit ohne Bedeutung bleiben. In den übrigen Werken stehen die intertextuellen Verweise, so wurde gezeigt, in enger Beziehung zur Unzuverlässigkeit. Die folgende Tabelle zeigt die Ergebnisse der Analysen für die Werke, in denen intermediale/intertextuelle Verweise eine Rolle in Bezug auf die Unzuverlässigkeit der Erzählung spielen: Prätexte Gattung: Abenteuerroman Gattung: Superheldencomics Die Kurzhosengang Iwein Löwenritter Anton taucht ab Außerirdisch ist woanders Tabelle 23: Intermedialität/Intertextualität in den untersuchten kinderliterarischen Werken Hartmann von Aue: Iwein (um 1200) Gattungen: Aventiure, Höfischer Roman, Artusroman Wissenschaftliche Fachliteratur Computerspiele Robert Louis Stevenson: Die Schatzinsel (1881/1882) Gattung: Abenteuerliteratur, Erich von Däniken: Tomy und der Planet der Lüge (2006) Kinder- und Jugendliteratur (KJL)/‚ Erwachsenenliteratur‘, (EL)/ Pseudoliteratur? KJL KJL, EL, EL, EL/ Pseudoliteratur KJL-Adaptionen Pseudoliteratur Einzel- und/oder Systemreferenzen Systemreferenzen Einzel- und Systemreferenzen Einzel- und Systemreferenzen Einzel- und Systemreferenzen Erzählerischer Ort der Intermedialität/Intertextualität (nach Broich 1985, 31ff.) Extradiegese Extradiegese Extradiegese Extradiegese Markierung (nach Kümmerling-Meibauer 2001, 50ff.) z.T. explizit, z.T. nicht deutlich z.T. explizit, z.T. quasi-explizit, z.T. nicht deutlich explizit explizit Bedeutung für die erzählerische Unzuverlässigkeit hoch mittelhoch mittelhoch hoch Der Tabelle lässt sich entnehmen, dass in den untersuchten Werken eine Bandbreite verschiedener Prätexte abgerufen wird, die allesamt auf der extradiegetischen Ebene lokalisiert sind; sie sind sowohl in Form von Einzel- als auch Systemreferenzen in die Texte eingearbeitet. In zwei Werken (Anton taucht ab und Außerirdisch ist woanders) wird auf Abenteuergeschichten rekurriert, insbesondere bei 296 Anton taucht ab ist dies von hoher Bedeutung für die erzählerische Unzuverlässigkeit. In Anton taucht ab und Die Kurzhosengang sind zudem systemreferenzielle Verweise auf verschiedene Schreibweisen von sehr hoher Bedeutung für die Unzuverlässigkeit: Wenn Anton seine banalen Urlaubserlebnisse in abenteuerlicher Manier erzählt, entstehen Diskrepanzen zwischen histoire und discours, ebenso passen Inhalt und Form der vermeintlich wissenschaftlichen Anmerkungen des ‚Übersetzers‘ in Die Kurzhosengang nicht zusammen. Die Markierung der Intertextualität ist insgesamt oft explizit, allerdings finden sich auch quasi-explizite sowie nicht deutliche Markierungen (vgl. Kümmerling-Meibauer 2001, 50ff.). 4.1.7 Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit Auch die Funktionen der erzählerischen Unzuverlässigkeit in den untersuchten kinderliterarischen Werken bilden ein breites Spektrum ab. Erwartungsgemäß ist im Falle der kindlichen Erzählinstanzen deren Charakterisierung als naiv eine wichtige Funktion. Mit Ausnahme von Helden geht mit ihr auch stets eine Betonung der Subjektivität der jeweiligen Erzählerin bzw. des jeweiligen Erzählers einher. Die Unzuverlässigkeit des menschlichen erwachsenen Erzählers aus Die Kurzhosengang erfüllt diese Funktionen nicht, dem Löwen aus Iwein Löwenritter kommt eine Sonderstellung zu – schließlich ist er weder Kind noch Erwachsener. Auch in seinem Fall trägt die Unzuverlässigkeit zu einer naiven Charakterisierung (und auch der Betonung seiner Subjektivität) bei – und ist damit auch ein Mittel, seine Identität zu verschleiern. Bei allen nicht-kindlichen Erzählern ist eben diese Verschleierung der Identität zentrale Funktion der Unzuverlässigkeit. In vier Werken dient die Unzuverlässigkeit auch der Gestaltung der erzählten Welt: In Helden geschieht dies in Form einer diffusen Unsicherheit, der die Erzählerin ausgesetzt wird und auf der ihre Unzuverlässigkeit beruht. Anders verhält es sich in Anton taucht ab. Durch Antons Art, seine eigentlich banalen Erlebnisse in abenteuerlicher Manier zu erzählen, erhält die ihn umgebende Welt auch einen entsprechenden Anstrich. In Iwein Löwenritter finden sich ähnliche Konstruktionen. In Die Kurzhosengang kommt es zu dem oben beschriebenen Phänomen, dass die Unzuverlässigkeit des extradiegetischen Erzählers anders ausgestaltet wird als die Unzuverlässigkeit der intradiegetischen Erzählinstanzen. Dem extradiegetischen Erzähler wird durch diesen Kontrast auch eine vermeintliche Seriosität verliehen und die Extradiegese wird so als angebliche Realität dargestellt. Die Funktion der Unzuverlässigkeit ist damit auch eine Gestaltung der erzählten Welt – in diesem Fall allerdings im Kontext der kommunikativen Verhältnisse. 297 Es lassen sich des Weiteren eine Reihe von Funktionen der erzählerischen Unzuverlässigkeit benennen, die die Ebene des discours betreffen. Auch hier fällt eine Funktion auf, die allein den kindlichen Erzählern vorbehalten ist: Erzählerische Unzuverlässigkeit hat nur in den Erzählungen der kindlichen Instanzen eine spannungsaufbauende Funktion, bei den nicht-kindlichen Instanzen lässt sich dies nicht feststellen. In sämtlichen untersuchten kinderliterarischen Werken kommt der Unzuverlässigkeit dagegen eine ästhetische Funktion zu; eine komische Funktion wird in immerhin vier der sechs Werke erfüllt. Ebenfalls in vier kinderliterarischen Werken spielen die Illusionsbrechung und damit verbunden eine metafiktionale Funktion eine große Rolle. Externe literarische Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit lassen sich zwei der untersuchten kinderliterarischen Werken zuschreiben: Wird in Helden eine gesellschaftliche (epistemologische) Unsicherheit porträtiert, stellt sich die erzählerische Unzuverlässigkeit in Außerirdisch ist woanders als Manko des Erzählers dar, das auf seine Überbehütung zurückzuführen ist. Jonas Unzuverlässigkeit ist damit eine gesellschaftskritische Funktion inhärent. Insgesamt fällt auf, dass tatsächlich alle zuvor benannten literarischen Funktionen in den untersuchten kinderliterarischen Werken wiederzufinden sind – hinzu kommt nun noch die Verschleierung der Erzähleridentität. 298 Tabelle 24: literarische Funktionen der erzählerischen Unzuverlässigkeit in den untersuchten kinderliterarischen Werken Histoire Helden Charakterisierung der Erzählerfigur als naiv Anton taucht ab Außerirdisch ist woanders Iwein Löwenritter Die Kurzhosengang Verschleierung der Erzähleridentität Verschleierung der Erzähleridentität (Extradiegese) Charakterisierung der Erzählerfigur als naiv Charakterisierung der Erzählerfigur als naiv Charakterisierung der Erzählerfigur als naiv Charakterisierung der Erzählerfigur als naiv (Intradiegese) Betonung von Subjektivität Betonung von Subjektivität Betonung von Subjektivität Betonung von Subjektivität Interne literarische Funktionen (Intradiegese) Gestaltung der erzählten Welt (unsicher) Gestaltung der erzählten Welt (abenteuerlich – Zusammenhang zur Intertextualität) Spannungsaufbau Spannungsaufbau Spannungsaufbau ästhetische Funktion Externe literarische Funktionen Discours ästhetische Funktion Darstellung und Kritik von Nachbarschaftstratsch Gestaltung der erzählten Welt (Zusammenhang zur Intertextualität) Gestaltung der erzählten Welt: Variation der Kommunikations-struktur ästhetische Funktion ästhetische Funktion ästhetische Funktion komische Funktion komische Funktion komische Funktion komische Funktion illusionsbrechende Funktion illusionsbrechende Funktion illusionsbrechende Funktion illusionsbrechende Funktion interne metafiktionale Funktion interne metafiktionale Funktion interne metafiktionale Funktion interne metafiktionale Funktion externe metafiktionale Funktion (Intertextualität) externe metafiktionale Funktion (Intertextualität) externe metafiktionale Funktion (Intertextualität) externe metafiktionale Funktion (Intertextualität) Kritik an ‚Kindheit heute‘ 299 4.2 Die Gestaltung der erzählerischen Unzuverlässigkeit in den untersuchten jugendliterarischen Werken Mit Der Schatten meines Bruders, Mütter mit Messern sind gefährlich, Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe, Es war einmal Indianerland, Marienbilder und Ein langer Brief an September Nowak sind in Kapitel 3.2 sechs Jugendromane analysiert worden, in denen unzuverlässige Erzählweisen enthalten sind. Die verschiedenen Werke richten sich an ein breites Altersspektrum: Der Schatten meines Bruders richtet sich laut Verlagsempfehlung an Leser ab zwölf Jahren, Mütter mit Messern sind gefährlich, Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe sowie Marienbilder an Jugendliche ab vierzehn Jahren. Es war einmal Indianerland wird ab sechzehn Jahren empfohlen, und für Ein langer Brief an September Nowak findet sich keine Altersangaben des Verlags (s. hierzu auch Kap. 2.4.2). 4.2.1 ‚Unzuverlässige‘ Themen und Motive Erwartungsgemäß werden in den untersuchten Jugendromanen Themengebiete behandelt, die allgemein mit der Jugendphase verbunden werden. Auffällig ist dabei das in allen Romanen wesentliche Thema der Identität; dieses Thema steht in allen untersuchten Werken in engem Zusammenhang mit den unzuverlässigen Erzählverfahren. Auch ist das Thema ‚Erzählen‘ in diesem Kontext hervorzuheben, das ebenfalls in allen untersuchten Romanen behandelt wird. Das Themenspektrum umfasst zudem in allen Publikationen verschiedene Prozesse des Erwachsenwerdens der jeweiligen Protagonistinnen und Protagonisten; so geht es in den Romanen beispielsweise um die Ablösung von den Eltern (wie z.B. in Mütter mit Messern sind gefährlich und Es war einmal Indianerland), um das Ausprobieren von Möglichkeiten (Ein langer Brief an September Nowak und Marienbilder) und um Liebe und Sexualität (z.B. in Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe und Marienbilder). Weiterhin finden sich die Themen Mobbing, Rivalitäten unter Jugendlichen (wie in Der Schatten meines Bruders bzw. Mütter mit Messern sind gefährlich oder Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe) sowie unterschiedliche Privilegierungen von Jugendlichen (Es war einmal Indianerland). Es kommen auch Themen vor, die nicht allein der Jugendphase vorbehalten sind, darunter beispielsweise Sehnsucht (Der Schatten meines Bruders, Mütter mit Messern sind gefährlich, Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe und Marienbilder), der Umgang mit Trauer (Der Schatten meines Bruders) oder Freundschaft (Der Schatten meines Bruders und Mütter mit Messern sind gefährlich), aber auch konkrete Themen wie das Leben in Italien (Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe). 300 Identität In allen untersuchten jugendliterarischen Werken ist ‚Identität‘ ein handlungsbestimmendes Thema, wobei jeweils ähnliche Ausgangssituationen für Ich-Findungsprozesse zugrunde liegen: In allen untersuchten Romanen finden sich psychisch instabile Jugendliche, die sich in traumatisiertem Zustand mit ihren IchIdentitäten beschäftigen (müssen). In fast allen Romanen setzen sich die Figuren mit dem Verlust einer nahestehenden Bezugsperson auseinander; diese Verluste wirken als Auslöser bzw. als Katalysatoren der jeweiligen Krise (s. hierzu auch Kap.4.2.3). Für die erzählerische Unzuverlässigkeit sind diese Verlustprozesse von jeweils hoher Bedeutung: Alle Unzuverlässigkeitskonstruktionen der untersuchten jugendliterarischen Werke sind mit dem zentralen Thema ‚Identität‘ bzw. der jeweiligen jugendlichen Identitätsfindungsprozesse verknüpft. Erzählen Neben dem zentralen Thema ‚Identität‘ fällt im Kontext erzählerischer Unzuverlässigkeit zudem das in allen untersuchten Romanen ebenfalls enthaltene Thema ‚Erzählen‘ auf, das sich auf durchaus unterschiedliche Weise präsentiert: So wird in Der Schatten meines Bruders immer wieder das Schreiben in den Vordergrund gestellt. Poesie ist für Kaia ein Weg, um mit ihrer Trauer umzugehen. Die stellenweise tagebuchähnliche Konstruktion ist zudem stark metafiktional. In Mütter mit Messern sind gefährlich manifestiert sich das Thema ‚Erzählen‘ besonders in Form der wiederholt auftretenden Geschichte des Gattenmords; das Erzählen von Geschichten wird hier explizit behandelt. In Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe zeigt sich das Thema wiederum in einer stark an das Mündliche angelehnten Sprache des Erzählers sowie in seiner Angeberei und dem Hang zum Fabulieren. In Es war einmal Indianerland ist das Thema ‚Erzählen‘ mit dem Thema ‚Film‘ verknüpft: Zahlreiche Westernmotive durchziehen den Roman, wiederholt erinnern Beschreibungen an Kameraeinstellungen, der Erzähler selbst gibt sich als Filmkenner zu erkennen. In Marienbilder wiederum ist das Imaginieren von Geschichten zentral. In Ein langer Brief an September Nowak wird eine Lektüre der Protagonistin explizit in die Erzählung eingebunden. Weiterhin zeichnet sich der Roman – ebenso wie Marienbilder – durch eine sehr poetische Sprache aus, die ebenfalls das Thema ‚Erzählen‘ unterstreicht. Allen untersuchten Jugendromanen ist somit eine Auseinandersetzung mit diesem Thema wesentlich, hier zeigt sich eine ähnliche Situation, wie sie auch für die untersuchten kinderliterarischen Werke festgehalten worden ist (s. Kap. 4.1.1). 301 Reisen In drei der untersuchten Jugendromane ist ein Reisemotiv enthalten. Dies ist der Fall in Es war einmal Indianerland, Marienbilder und Ein langer Brief an September Nowak, also den Werken mit etwas älteren Protagonistinnen bzw. Protagonisten. In allen Fällen ist diese Motivik eng mit dem Thema ‚Identität‘ verbunden, was nicht weiter verwundert, handelt es sich bei diesem Motiv doch um ein typisches Motiv des Adoleszenzromans. Die verschiedenen Umsetzungen des Reisemotivs haben gemeinsam, dass alle Protagonistinnen und Protagonisten bekannte Situationen verlassen, in unterschiedlicher Weise wird so jeweils ein Ausprobieren ermöglicht. Die Bedeutung für die erzählerische Unzuverlässigkeit liegt in der engen Verknüpfung des Reisemotivs mit der Identitätssuche als zentralem Thema. In Es war einmal Indianerland macht sich der Erzähler auf einen Weg, dessen Ziel ein Festival ist, das, so wird wiederholt hervorgehoben, an der „Grenze“ (u.a. Mohl 2011, [8], 16, 31) liegt. Es zeigt sich eine enge Verbindung der Identitätssuche des Erzählers mit dem Reisemotiv, das in besonderem Maße zudem mit einem Grenzmotiv verknüpft ist. Zahlreiche intermediale und intertextuelle Verweise unterstützen dieses Motiv. Sie realisieren sich insbesondere in Form von Bezügen zum Abenteuer- und Reiseroman (s. Kap. 4.2.6). In Marienbilder begibt sich die Erzählerin zum Bahnhof, wo sie, am Gleis wartend, die verschiedenen Fortführungen ihrer Geschichte ersinnt. Ein Reisemotiv wird hier völlig unterschiedlich umgesetzt: Sämtliche Reisewege, die von der Erzählerin geschildert werden, sind mögliche Routen unterschiedlicher ontologischer Status, auf die sich die Protagonistin begeben könnte. Auch in Ein langer Brief an September Nowak ist das Reisemotiv zentral: Die Protagonistin reist von Warendorf zunächst nach Monaco, dann nach Spanien und weiter nach Frankreich. Ihre Reise kann als zielloses ‚Sich-TreibenLassen‘ zusammengefasst werden. Wieder findet sich eine enge Verbindung zu intertextuellen Ressourcen – diesmal zum Pikaroroman. Doppelgänger/Disembodiment Die verschiedenen Figuren gehen auf unterschiedliche Weise mit ihren spezifischen Identitätskrisen um. In vier Romanen fällt dabei ein variationsreiches Spiel mit Identitätskonzepten auf, das sich auch in einem Doppelgängermotiv realisiert. Besonders deutlich stellt sich dies in Der Schatten meines Bruders sowie Es war einmal Indianerland dar: Beide Erzählinstanzen imaginieren scheinbar autonome Figuren, denen sie bestimmte Eigenschaften zuschreiben und die ihnen zur Seite stehen. Sowohl Mauser (Es war einmal Indianerland) als auch dem wilden Jungen 302 aus Der Schatten meines Bruders kommen dabei Helferfunktionen zu: Beide Erzählinstanzen können sich dank dieser imaginierten Freunde in ihrer Ich-Identität positiv entwickeln; beide ‚Freunde‘ sind an den entsprechenden Romanenden nicht mehr da: In beiden Romanen ist das Doppelgängermotiv stellenweise mit einem Spiegelmotiv verknüpft. In Ein langer Brief an September Nowak und Marienbilder probieren die Protagonistinnen und Protagonisten unterschiedliche Möglichkeiten aus. Die Doppelgängermotive manifestieren sich in den beiden Romanen jedoch auf unterschiedliche Weise. Die titelgebende September Nowak stellt sich in Berges‘ Roman schnell als ein fiktionales Konzept heraus: Sie ist keine reale Person – vielmehr ist sie eine Hülse, die Bettis Brieffreundin Nicole mit sie ansprechenden Attributen ausgestattet hat. Im Laufe ihrer Reise übernimmt Betti diese fiktionale Identität; auch sie wird, wie zuvor Nicole, zur September Nowak, der so eine Doppelgängerfunktion zukommt: September ist nicht nur eine verbesserte Nicole, sie ist auch eine befreite Betti. Auch die intertextuelle Ebene ist in Ein langer Brief an September Nowak eng mit dem Doppelgängermotiv verknüpft. Die Protagonistin identifiziert sich mit der Prinzessin aus Meister Floh von E.T.A. Hoffmann (1822/1908), einem Prätext, der das Doppelgängermotiv in romantischer Weise bearbeitet. Auch in Meister Floh ist die Prinzessin die Doppelgängerin einer anderen Figur des Werks (s. Kap. 4.2.6). In Marienbilder sucht die Protagonistin Mareike nach Antworten, indem sie Fragmente ihrer Familiengeschichte in ihren Imaginationen verarbeitet. Doppelgängerfiguren kommen auch hier mehrfach vor: Zunächst schafft Mareike intradiegetische Doubles ihrer selbst sowie ihrer weiblichen Verwandten. Weiterhin tauchen auffallend viele rothaarige Männer auf, die als Doppelgänger die Sehnsucht der Mutter personifizieren. Ähnliches gilt für die fiktionale Figur Robin, die wiederum als eine Personifikation von Mareikes eigenen Sehnsüchten gelesen werden kann. Verknüpft mit dem Doppelgängermotiv findet sich in einigen Werken aber auch das Motiv des disembodiment. In Der Schatten meines Bruders führt Kaia wiederholt an, sie sei „erstarrt“ (z.B. Avery 2014, 11, 38), und sie erzählt: „Normalerweise sieht mich keiner, nicht mal die Lehrer“ (ebd., 20). Kaia spricht nicht, und mit ihrer Stimme, so lässt sich argumentieren, hat sie auch ein Teil ihrer Körperlichkeit verlassen. Auch in Marienbilder wird mit diesem Motiv gespielt: In der letzten Möglichkeit erzählt Mareike, wie ihre Mutter sie abtreibt. Damit löst sich die Erzählerin in einem Paradox selbst auf, von ihr bleibt nichts übrig, mehr noch: Sie hat niemals existiert. Die Doppelgängerfiguren in Der Schatten meines Bruders und Es war 303 einmal Indianerland können, so wurde bereits angeführt, als Alter Egos ihrer Kreateure verstanden werden: Die beiden Erzählinstanzen greifen auf robustere Teile ihrer Persönlichkeit zurück und statten ihre vermeintlichen Freunde mit diesen aus. Dieser Vorgang der Ich-Spaltung inkludiert auch – zumindest zum Teil – ein disembodiment: Verletzte und zu schützende Persönlichkeitsanteile rücken in den Hintergrund. In Ein langer Brief an September Nowak ist in diesem Kontext die Hypnose-Passage zu nennen, in der die Protagonistin sich scheinbar auflöst und in einen Apfelbaum verwandelt. Das Doppelgängermotiv sowie das Motiv des disembodiment sind so in den untersuchten Werken oft essenziell mit der jeweiligen Unzuverlässigkeit verknüpft. Diese Tatsache verwundert nicht, handelt es sich hierbei um ein Motiv, das literarisch oft mit einer Identitätsproblematik verknüpft ist (vgl. z.B. Frenzel 1980, 94ff.). Bewusstseinsveränderungen: Schlafen und Träumen, Rausch, Hypnose, Out-ofbody-experiences Schlaf- und Traummotive kommen – mit Ausnahme von Frascellas Roman, in dem sie keine relevante Rolle haben – in allen untersuchten Jugendromanen vor, und ihre Bedeutung für die erzählerische Unzuverlässigkeit ist signifikant. In Der Schatten meines Bruders träumt Kaia wiederholt von ihrem verstorbenen Bruder; ihre Trauer und ihre Sehnsucht zeigen sich in diesen Passagen deutlich. Die Verknüpfung des Traummotivs mit der erzählerischen Unzuverlässigkeit zeigt sich besonders, wenn die Erzählerin auf das Verschwimmen der Grenzen von „Traumwelt und Wachwelt“ (Avery 2014, 18) hinweist – oder wenn sie mithilfe dieses Motivs ihre Erinnerung als unzuverlässig qualifiziert: Die Erinnerung daran ist wie ein Traum, man weiß, dass es so war, aber wenn man sich die Einzelheiten ins Gedächtnis rufen will, rinnen sie einem durch die Finger wie Sand in einer Sanduhr (ebd., 31f.). Der Erzähler in Mütter mit Messern sind gefährlich schildert wiederholt Tagträume, in denen er Gespräche mit seiner behinderten Schwester imaginiert. Auch in van Ransts Roman dient das Traummotiv damit dazu, eine Sehnsucht des Erzählers hervorzuheben: Jef ist zutiefst unglücklich mit seiner aktuellen Situation; sein regressiver Wunsch nach Normalität und Geborgenheit zeigt sich in seinen Träumen. Gleichzeitig wird die Diskrepanz zwischen seiner Traumwelt und seiner tatsächlichen Umgebung deutlich gemacht, Jefs erzählerische Unzuverlässigkeit kann als (aussichtloser) Versuch interpretiert werden, dieses Ungleichgewicht aufzufangen. In Mohls Es war einmal Indianerland ist das Schlafmotiv von sehr hoher Bedeutung 304 für die erzählerische Unzuverlässigkeit: Der Ich-Erzähler leidet unter Schlafmangel, immer wieder erzählt er von (Alb-)Träumen (vgl. z.B. Mohl 2011, 92, 131) bzw. von traumartigen Zuständen (vgl. z.B. ebd., 145). Die erzählerische Unzuverlässigkeit wird weiterhin besonders deutlich, wenn das Traummotiv mit einem Rauschmotiv verquickt wird und die erzählerische Unzuverlässigkeit analog zum Sinnestaumel des Erzählers steigt. Am Romanende, so wurde gezeigt, wird gar nahegelegt, dass die gesamte Handlung der zweiten Romanhälfte als geträumt zu verstehen sein könnte. Insgesamt trägt das Schlaf- bzw. Traummotiv zu dem oft ontologisch sehr unsicheren Status des Erzählten in Es war einmal Indianerland bei. Die Hervorhebung des Schlafmangels des Erzählers kann weiterhin als intermedialer Bezug zu David Finchers unzuverlässig erzähltem Film Fight Club gelesen werden. Auf diese intertextuelle Komponente des Traummotivs sowie dessen Bedeutung für die erzählerische Unzuverlässigkeit wird an späterer Stelle, bei der Betrachtung der Intermedialität bzw. Intertextualität (Kap. 4.2.6), weiter eingegangen. Schlaf- und Traummotive kommen auch in Ein langer Brief an September Nowak vor. Wie es auch in Der Schatten meines Bruders sowie Mütter mit Messern sind gefährlich der Fall ist, zeigt sich auch hier im Traummotiv die Sehnsucht der Erzählerin nach der Kindheit (vgl. Berges 2010, 105). Weiterhin wird die dem Roman zugrundeliegende ontologische Unsicherheit auch durch ein wiederholtes scheinbares Verschmelzen von Traum und Wirklichkeit auf der Erzähloberfläche generiert. Eingearbeitete intertextuelle Rekurrenzen auf die fantastische Blumenwelt des romantischen Kunstmärchens Meister Floh von E.T.A. Hoffmann verstärken den transzendenten Charakter von Ein langer Brief an September Nowak (vgl. z.B. Berges 2010, 93ff.; s. Kap. 4.2.6). Insgesamt, so lässt sich zusammenfassen, zeigt sich das Traummotiv bei Berges in romantischer Modulation, und es manifestiert sich an vielen Stellen des Romans (s. Kap. 3.2.6). In Marienbilder zeigt sich das Traummotiv besonders in der zweiten und der vierten ‚Parallelwelt‘, in denen die Erzählung einen diffusen Traumcharakter hat. Sämtliche Geschehnisse scheinen nahezu vernebelt, und sie werden im Wechsel albtraumhaft oder wunschtraumartig präsentiert. Die verschiedenen präsentierten Möglichkeiten des Fortgangs der Geschichte sind zwar alle rein spekulativ, sie unterscheiden sich aber durchaus in ihrer Wahrscheinlichkeit. Gerade die Markierung dieser beiden Sequenzen als Träume liefert ein irreales Moment. 305 4.2.2 Erzählsituationen In allen Romanen treten die Protagonisten auch erzählend in Erscheinung: In Der Schatten meines Bruders, Mütter mit Messern sind gefährlich, Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe, Es war einmal Indianerland und Marienbilder sind die Protagonisten die Ich-Erzähler der gesamten Erzählung, in Ein langer Brief an September Nowak kommen ihr Erzählanteile zu, deren Umfang abhängig ist von der jeweiligen Lesart des Romans. Erzählerische Unzuverlässigkeit ist dabei in vier Romanen (Der Schatten meines Bruders, Mütter mit Messern sind gefährlich, Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe sowie Es war einmal Indianerland) als direktes Resultat einer autodiegetischen Erzählsituation identifizierbar: Leser sind den Schilderungen und Urteilen der erzählenden Jugendlichen in diesen Romanen nahezu ausgeliefert (s. Kap. 4.2.4). Die Erzählsituationen in Marienbilder und Ein langer Brief an September Nowak sind komplexer und vor allem unklarer gestaltet. In Marienbilder ist die Protagonistin Mareike zwar auch Erzählerin – allerdings finden sich Erzählanteile, in denen sie nicht ihre eigene, sondern die Geschichten ihrer Mutter bzw. ihrer Großmutter erzählt. Hier kann somit nur in Teilen von einer Autodiegese gesprochen werden. Hinzu kommt, dass nicht klar wird, ob diese Passagen auf wahren Gegebenheiten beruhen, oder ob es sich um Imaginationen handelt, wie es gewesen sein könnte – in zahlreichen Passagen weicht die Fokalisierung von Mareike ab. Es handelt sich damit zwar um eine interne Fokalisierung, diese ist jedoch variabel, und gerade diese Variationen der Fokalisierung tragen deutlich zu dem ontologisch unsicheren Status des Erzählten bei. Insgesamt findet sich eine sehr hohe Variation des Modus; die verschiedenen Fokalisierungen gehen zudem einher mit Abwandlungen der Mittelbarkeit. Immer wieder wird zwischen narrativem und dramatischem Modus gewechselt. In Ein langer Brief an September Nowak ist nicht klar, ob die Protagonistin Betti auch die Erzählerin ist. Dies könnte zwar sein, ist aber nur eine von verschiedenen Deutungsmöglichkeiten. Ebenso gut könnte es sich um einen unbeteiligten Erzähler oder eine unbeteiligte Erzählerin handeln. Im letzten Kapitel ist es dann allerdings doch Betti, die als Erzählerin in Erscheinung tritt. Immerhin in diesem Kapitel findet sich auch in Ein langer Brief an September Nowak eine erkennbare (autodiegetische) Erzählerin. 306 Die folgende Tabelle bildet Merkmale der unterschiedlichen Erzählsituationen ab: Mütter mit Messern sind gefährlich Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe Es war einmal Indianerland Marienbilder Ein langer Brief an September Nowak Erzählinstanz Der Schatten meines Bruders Tabelle 25: Erzählsituationen in den untersuchten Jugendromanen kindlichjugendliche Ich-Erzählerin (Kaia) kindlichjugendlicher Ich-Erzähler (Jef) namenloser jugendlicher Ich-Erzähler namenloser jugendlicher Ich-Erzähler jugendliche Ich-Erzählerin (Mareike) Kap. 1-8: unklar, evtl. Protagonistin; letztes Kap.: Protagonistin (Betti) Fokalisierung fixiert intern fixiert intern fixiert intern fixiert intern variabel intern unterschiedl.: intern, extern Ort der Erzählung Extradiegese Extradiegese Extradiegese Extradiegese Vermischung von Extraund Intradiegese, Vermischung von Extraund Intradiegese, Metalepsen Metalepsen variabel: in weiten Teilen unklar: Stellung des Erzählers zum Geschehen Autodiegese Autodiegese Autodiegese Autodiegese z.T. Autodiegese, z.T. außenstehende Reflektorfigur Es könnte sich um die Protagonistin, aber auch um einen unbeteiligten Beobachter handeln; letztes Kap.: Autodiegese Multiperspektive nein nein nein nein nein je nach Lesart In der Tabelle wird sichtbar, dass grundsätzlich verschiedene Erzählsituationen in den untersuchten jugendliterarischen Werken vorliegen: In vier Romanen (Der Schatten meines Bruders, Mütter mit Messern sind gefährlich, Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe und Es war einmal Indianerland) fällt eine autodiegetischextradiegetische Erzählsituation mit fixierter interner Fokalisierung auf. Dem entgegen finden sich aber auch Erzählsituationen von höherer Komplexität (Ein langer Brief an September Nowak und Marienbilder). Diese Komplexität manifestiert sich als Verschleierung der Erzähleridentität (allerdings nicht in Marienbilder), als metaleptische Verknüpfung von Extra- und Intradiegese, als Spiel mit Modus und Perspektive – der Variationsreichtum der Romane von Berges und Bach ist diesbezüglich erheblich. Nils Mohls Roman (Es war einmal Indianerland) wiederum ist 307 zwar deutlich als autodiegetisch-extradiegetisch mit fixierter interner Fokalisierung markiert, dennoch findet durch die Variation der zeitlichen Konstruktion auch hier eine Verschleierung der Erzählsituation statt – diese betrifft aber nicht die Identität der Erzählinstanz, wie es in Ein langer Brief an September Nowak der Fall ist. Man weiß bei der Lektüre von Es war einmal Indianerland immer, wer erzählt, man weiß nur nicht, zu welchem Zeitpunkt die Erzählung stattfindet und damit auch nicht, ob das Erzählte im Rahmen der Diegese real oder imaginiert ist. 4.2.3 Die Modellierungen der Erzählerfiguren Die Erzählerfiguren der untersuchten jugendliterarischen Werke befinden sich auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen. So sind die beiden jüngeren Erzählinstanzen Kaia und Jef (Der Schatten meines Bruders und Mütter mit Messern sind gefährlich), obwohl altersmäßig bereits Teenager, noch weitestgehend kindlich und befassen sich noch nicht oder nur in Ansätzen mit adoleszenten Themen. Die beiden namenlosen jugendlichen Erzähler aus Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe und Es war einmal Indianerland hingegen befinden sich altersmäßig und auch emotional in der Jugendphase. Die Erzählinstanz in Ein langer Brief an September Nowak ist wiederum kaum greifbar. Geht man davon aus, dass es sich bei ihr um Betti handelt, ist auch sie in der Jugendphase anzusiedeln. Die auffälligste Gemeinsamkeit der jugendliterarischen Werke ist allerdings, dass die Erzählungen allesamt auf grundlegenden Traumata der jeweiligen Erzählinstanz (bzw. bei Berges der Protagonistin) aufbauen: Die Erzählerin Kaia in Der Schatten meines Bruders muss sich mit dem Suizid ihres Bruders befassen. Sie spricht davon „festgefroren“ und „erstarrt“ (Avery 2014, 11) zu sein. Langsam findet sie im Laufe des Romans wieder zu sich, dies gelingt ihr, indem sie den wilden Jungen (vgl. ebd., z.B. 18) als Helferfigur imaginiert. Schließlich geht es Kaia deutlich besser: Sie hat zu sich gefunden und braucht den Jungen nicht mehr. Jef, der Erzähler in Mütter mit Messern sind gefährlich, kommt nicht mit der Tatsache zurecht, dass seine Mutter einen neuen Freund hat. Für Jef stellt dies eine durchaus traumatisierende Situation dar: Er hat große Verlustängste bezüglich der Mutter, und er hat Sehnsucht nach seinem Vater, über den er nichts weiß. Jefs Verhalten ist regressiv, und es nimmt durchaus bedenklich aggressive Züge an; seine (unzuverlässigen) Wahrnehmungsdeutungen werden immer abwegiger. Nach einer Katharsis am Romanende wird schließlich doch eine beginnende IchFindung des Protagonisten angedeutet. 308 In Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe vermisst der Erzähler seine Mutter, die die Familie für einen jungen Mann verlassen hat. Für den namenlosen Erzähler ist nicht verständlich, dass sein Vater und seine Schwester inzwischen ihre Leben weiterleben. Er hält an der Schmach fest, der er sich ausgesetzt fühlt und teilt in alle Richtungen aus. Seine zugrundeliegende Unsicherheit versucht der Jugendliche durch überhebliches Gehabe zu übertönen. Erst als der Vater erkrankt, korrigiert der Erzähler seinen Kurs, und auch in Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe wird abschließend eine Ich-Findung des Protagonisten lediglich in Aussicht gestellt. Der Vater des Erzählers in Es war einmal Indianerland tötet dessen Stiefmutter und flieht daraufhin vor der Polizei. Mehr noch als der Tod der Stiefmutter bedeutet die Tat des Vaters für den Erzähler einen Schock – insbesondere, da er sich ohnehin von dem Einfluss des ehrgeizigen und übermächtigen Vaters zu befreien versucht. Der Erzähler muss so unter widrigen Bedingungen einen Vaterkomplex lösen, damit er zu einer eigenen Identität finden kann. Zu Beginn der Handlung ist der Erzähler völlig erschüttert. Er schafft mit Mauser ein vermeintlich autonom agierendes Alter Ego, und mit der Hilfe seines love interest Edda findet er langsam zu einer Ich-Identität. In der ersten Romanhälfte gelingt es dem Erzähler, seine Ich-Störung zu lösen und den Mauser-Teil in sich zu integrieren. In der zweiten Romanhälfte geht er dann deutliche Schritte in Richtung Ich-Findung: Er spricht sich mit seinem Vater aus, und er entscheidet sich für Edda. In Marienbilder verlässt die Mutter der Erzählerin unangekündigt die Familie. Die jugendliche Protagonistin Mareike ist darüber bestürzt, und sie fühlt sich völlig haltlos. Nach sexuellen Erlebnissen auf einer Party bleibt ihre Periode aus, und Mareike scheint in ein Vakuum zu geraten. Ihre Erzählung ändert sich grundlegend: Sie imaginiert im Folgenden unterschiedliche Möglichkeiten, wie ihre Geschichte weitergehen könnte. Schlussendlich führt sie ihre gesamte Erzählung ad absurdum, und es kommt zu keiner Lösung der Ausgangssituation. Das Thema ‚Identität‘ ist zentral, fokussiert werden aber in Marienbilder keine Ich-Findungsprozesse im herkömmlichen Sinne, sondern vielmehr werden unterschiedliche Entscheidungsmomente und -möglichkeiten in den Blick genommen. September Nowak, die langjährige Brieffreundin der Protagonistin Betti in Berges‘ Ein langer Brief an September Nowak, entpuppt sich als erfundene Figur. Auch hier findet sich damit ein Verlust, dieser betrifft im Unterschied zu den zuvor genannten Konstellationen aber kein Familienmitglied. Betti ist dennoch am Boden zerstört, hat sie doch bislang September als enge Vertraute betrachtet. Sie fühlt 309 sich im Stich gelassen und begibt sich auf eine Reise, in der sie in verschiedene Identitäten schlüpft und sich immer wieder neu ausprobiert. In Ein langer Brief an September Nowak kommt es im Laufe des erzählten Geschehens zunächst zu keiner erkennbaren Ich-Findung der Protagonistin. In einem letzten kurzen Kapitel tritt dann allerdings eine deutlich ältere und gereifte Protagonistin in Erscheinung – womit wiederum impliziert wird, dass die Ereignisse der Romanhandlung einen Anstoß zu Bettis Ich-Findung gegeben haben. In allen untersuchten Werken handelt es sich bei dem Trauma um den Verlust einer nahestehenden Bezugsperson der jeweiligen Protagonistin oder des jeweiligen Protagonisten. Bezüglich der Ich-Findung lässt sich festhalten, dass fünf der sechs Protagonistinnen und Protagonisten eine positive Entwicklung im Sinne einer Ich-Findung durchmachen: Im Fall von Der Schatten meines Bruders sowie Es war einmal Indianerland ist am Ende eine Reifung deutlich erkennbar. Bei Mütter mit Messern sind gefährlich sowie Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe wird eine positive Entwicklung in unmittelbare Aussicht gestellt, die Protagonisten haben zwar noch Probleme, der Weg scheint aber bei beiden in Richtung Ich-Findung geebnet. Bei Ein langer Brief an September Nowak wird auf eine dem Geschehen folgende, positive Entwicklung hingewiesen. Lediglich in Marienbilder ist keine erfolgreiche Ich-Findung eingeschrieben: Wie gezeigt wurde ist zwar eine Entwicklung innerhalb der verschiedenen Imaginationen bemerkbar, das paradox gestaltete Ende lässt aber keine Rückschlüsse auf die Ich-Entwicklung der Protagonistin zu. Die Bewältigungsstrategien der Jugendlichen sind damit durchaus verschieden gestaltet: Sie reagieren mit Rückzug (Der Schatten meines Bruders), Regression oder Aggression (Mütter mit Messern sind gefährlich), Wut und Angeberei (Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe), aber auch mit Ich-Störung (Es war einmal Indianerland), Haltlosigkeit (Marienbilder) oder Lügen und Realitätsflucht (Ein langer Brief an September Nowak). Schwierig, so lässt sich zusammenfassen, verlaufen damit alle diese Prozesse. Die Frage, ob bzw. inwieweit sich die jeweiligen Erzählinstanzen dabei über die Unzuverlässigkeit ihrer Reden im Klaren sind, kann ebenfalls nicht in allen Fällen eindeutig beantwortet werden – gleiches gilt für die Frage nach der Intentionalität. Es ist anzunehmen, dass sich Kaia (Der Schatten meines Bruders) der Tatsache bewusst ist, dass ihr Freund imaginär ist – der Roman lässt hier aber durchaus die Lesart offen, dass dem nicht so sei. Ähnlich verhält es sich in Mütter mit Messern 310 sind gefährlich, wobei hier davon auszugehen ist, dass sich der Erzähler zumindest am Romanende seiner Unzuverlässigkeit gewahr ist. In Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe kann man vermuten, dass sich der Erzähler der Unzuverlässigkeit bewusst ist, da es sich um eine Erzählung aus der weiten Rückschau handelt. Die Tatsache aber, dass sich das erzählende Ich weit zurücknimmt und hinter dem erlebenden Ich in den Hintergrund tritt, bewirkt, dass auch die Selbsterkenntnis des Erzählers als unzuverlässig ebenfalls unter der Oberfläche, bzw. zwischen den Zeilen im Verborgenen bleibt. In Es war einmal Indianerland, Marienbilder sowie Ein langer Brief an September Nowak kann davon ausgegangen werden, dass sich die Erzähler ihrer Unzuverlässigkeit – zumindest in Teilen – bewusst sind. In Es war einmal Indianerland löst der Erzähler die Tatsache, dass es sich bei Mauser um sein Alter Ego handelt, explizit auf, Mausers ontologischer Status ist ihm von Anfang an klar. Weiterhin kann die ungewöhnliche und sehr komplexe Erzählweise als Hinweis darauf gelesen werden, dass der Erzähler sich seiner Unzuverlässigkeit durchaus bewusst ist: Er verpackt seine Erlebnisse derart kunstvoll, dass die Unzuverlässigkeit als Teil eines bewussten Spiels des Erzählers mit ihm bekannten Erzähltraditionen gelesen werden kann. Dieses Spiel zeichnet sich weiterhin durch zahlreiche intermediale und intertextuelle Verweise (s. Kap. 4.2.6) sowie eine nahezu achronische Romankonstruktion aus. Die Situation in Ein langer Brief an September Nowak ist durchaus mit der in Es war einmal Indianerland vergleichbar: Auch in Berges‘ Roman findet sich ein intertextuelles Spiel des Erzählers, in diesem Fall in Form einer insgesamt sehr hohen Anlehnung an romantische Erzähltraditionen. Die erzählerische Unzuverlässigkeit ist eine Komponente der postmodernen Erzählkonstruktion, in der die Erzählinstanz (bewusst) in den Hintergrund tritt und ihre Identität durch widersprüchliche Signale verschleiert. Auch in Marienbilder kann davon ausgegangen werden, dass sich die Erzählerin ihrer Unzuverlässigkeit bewusst ist. Die Ausgangssituation ist bereits derart angelegt: Eine verunsicherte Erzählerin entwickelt verschiedene Erzählfortgänge, die sie mal übersteigert, mal umkehrt (s. Kap. 3.2.5). Der unsichere ontologische Status des Erzählten ist dabei durchweg zentral, Unzuverlässigkeit wird in Marienbilder auch auf der Histoire-Ebene verhandelt: Fast nichts in Mareikes Leben ist sicher. In allen untersuchten Romanen betrifft die erzählerische Unzuverlässigkeit Elemente des Erzählerberichts: In den autodiegetischen Anteilen hängt dies zusammen mit der eingeschränkten Wahrnehmung der Erzählerfiguren. Gerade in dieser Hinsicht sind einige Erzählerfiguren durchaus defizitär und einiges bleibt außerhalb 311 ihres Wahrnehmungshorizonts. In Mütter mit Messern sind gefährlich und Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe betrifft die Unzuverlässigkeit mitunter auch ethisch/moralische Sachverhalte: Die Erzähler kommen wiederholt zu zumindest fragwürdigen Schlüssen. Besonders deutlich ist dies in Mütter mit Messern sind gefährlich (s. Kap. 3.2.2). Die folgende Tabelle fasst die Ergebnisse zusammen: Ein langer Brief an September Nowak Marienbilder Es war einmal Indianerland Der Schatten meines Bruders Mütter mit Messern sind gefährlich Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe Tabelle 26: Die Modellierungen der Erzählerfiguren in den untersuchten kinderliterarischen Werken kindlich/ jugendlich/ erwachsen noch kindlich noch kindlich, regressiv jugendlich jugendlich jugendlich Überforderung und/ oder Fabulierlust kognitive Überforderung beides beides beides Überforderung unklar aufgrund der Erzählsituation ethische Bewertungen fragwürdig nein ja ja nein nein unklar aufgrund der Erzählsituation (psychische) Konstitution der Erzählinstanz beschädigt: Trauma nach Suizid des Bruders beschädigt: Der Erzähler reagiert frustriert und aggressiv auf den neuen Freund der Mutter, schafft es nicht, sich von ihr zu lösen. beschädigt: Trauma nachdem die Mutter die Familie verlassen hat beschädigt: Trauma aufgrund des Mordes der Stiefmutter durch den Vater beschädigt: Trauma nachdem die Mutter die Familie verlassen hat und die Erzählerin zudem eine Schwangerschaft vermutet beschädigt: Trauma, da sich die vermeintliche Brieffreundin als Hochstaplerin entpuppt zuerst nicht bewusst, am Ende schon bewusst (versteckt) bewusst fließend zwischen bewusst und unbewusst bewusst Die Erzählerin ist passiv, beschreibt sich als ‚erstarrt‘. bewusst/ unbewusst unklar – vermutlich bewusst jugendlich Betrachtet man abschließend die Figurentypen nach Riggan (s. Kap. 1.5), fällt auf, dass der Figurentyp naïf kaum oder nicht vorkommt: Figuren, die als ‚durch und durch gut‘ (vgl. Riggan 1981, 169) beschrieben werden könnten gibt es in keiner der Erzählinstanzen. In zwei Romanen finden sich allerdings Typenmerkmale des pícaro, dies ist in Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe und Ein langer Brief an September Nowak der Fall (s. Kap. 4.2.6). 312 4.2.4 Die Markierung der Unzuverlässigkeit In ähnlicher Vorgehensweise wie bei den Ergebnissen der kinderliterarischen Werke (s. Kap. 4.1.4) versammelt die folgende Tabelle die in den untersuchten Jugendromanen enthaltenen textuellen Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit: Der Schatten meines Bruders Mütter mit Messern sind gefährlich Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe Es war einmal Indianerland Marienbilder Ein langer Brief an September Nowak Tabelle 27: Textuelle Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit (nach Nünning) in den untersuchten Jugendromanen Explizite Widersprüche des Erzählers und andere interne Unstimmigkeiten innerhalb des narrativen Diskurses + + + + + + Diskrepanzen zwischen den Aussagen und den Handlungen eines Erzählers + + + + - - - + + + - - - + + + + - + + + + - - + + + + - - - - - - (+) (+) + + + + + - - + + + + - + + + + + - + + + + + + (12) Eingestandene oder situativ bedingte Parteilichkeit - + + + + - (13) Paratextuelle Signale (z.B. Titel, Untertitel, Vorwort)? - + + + + + (1) (2) Divergenzen zwischen der Selbstcharakterisierung des Erzählers und der Fremdcharakterisierung durch andere Figuren (4) Unstimmigkeiten zwischen den expliziten Fremdkommentaren des Erzählers über andere und seiner impliziten Selbstcharakterisierung bzw. unfreiwilligen Selbstentlarvung (5) Diskrepanzen zwischen der Wiedergabe der Ereignisse durch den Erzähler und seinen Erklärungen und Interpretationen des Geschehens sowie weitere Unstimmigkeiten zwischen story und discourse (6) Verbale Äußerungen und Körpersprache anderer Figuren als Korrektiv (7) Multiperspektivische Auffächerung des Geschehens und Kontrastierung unterschiedlicher Versionen desselben Geschehens (8) Häufung von sprecherzentrierten Äußerungen sowie linguistische Signale für Expressivität und Subjektivität (9) Syntaktische Anzeichen für einen hohen Grad an emotionaler Involviertheit (z.B. Ausrufe, Ellipsen, Wiederholungen) (10) Explizite, autoreferentielle, metanarrative Thematisierung der eigenen Glaubwürdigkeit (z.B. emphatische Bekräftigung) (11) Eingestandene Unglaubwürdigkeit, Erinnerungslücken und Hinweise auf kognitive Einschränkungen (3) 313 Hervorstechendste Auffälligkeit ist, dass drei der untersuchten Romane eine identische Konstruktion bzgl. der enthaltenen Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit aufweisen: In Mütter mit Messern sind gefährlich, Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe und Es war einmal Indianerland wird nahezu die gesamte Palette textueller Signale abgerufen, lediglich eine multiperspektivische Auffächerung ist in ihnen nicht feststellbar. Erzählerische Unzuverlässigkeit ist in ihnen deutlich und auf vielfältige Weise markiert, sowohl in Form von textuellen Diskrepanzen, als Hervorhebung von Subjektivität und Involviertheit sowie mittels paratextueller Hinweise. Der Roman Der Schatten meines Bruders zeichnet sich im Vergleich zu diesen Werken durch ein geringeres Spektrum textueller Markierungen aus. Es finden sich darin zwar sowohl Diskrepanzen als auch Anzeichen erhöhter Subjektivität, diese werden aber weniger variiert. Auch in Marienbilder sowie Ein langer Brief an September Nowak sind entsprechende Markierungen enthalten, doch sie tauchen auch in diesen beiden Werken in teils deutlich geringerer Bandbreite auf; dies ist, so lässt sich in der Tabelle ablesen, insbesondere in Ein langer Brief an September Nowak der Fall. Es lässt sich zusammenfassend festhalten, dass zwar alle Romane textuelle Signale enthalten, diese jedoch in völlig unterschiedlicher Bandbreite auftreten: Die Hälfte der untersuchten Romane fällt durch eine sehr hohe Varianz auf, die andere Hälfte ist diesbezüglich z.T. deutlich weniger variationsreich. Eine Besonderheit, die sich aus den Analysen der jugendliterarischen Werke ableiten lässt und die nur indirekt in der Tabelle abgebildet wird, muss ergänzt werden: In allen untersuchten Jugendromanen werden Kontrastfiguren zur Markierung unzuverlässiger Erzählweisen eingesetzt. Gleichzeitig wird dabei aber in allen Fällen die Glaubwürdigkeit dieser Figuren eingeschränkt; dies geschieht durch unterschiedliche Verfahren. So dienen ihre Aussagen bzw. Handlungen zwar als textuelle Marker von Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz, jedoch wird gleichzeitig eine ontologische Verunsicherung der Kontrastfiguren selbst herbeigeführt. Erzählerische Unzuverlässigkeit wird so einerseits generiert, andererseits sind die Möglichkeiten für den Leser, eine ‚Wahrheit‘ zu erschließen, begrenzt; schlussendlich kann diesbezüglich nur gemutmaßt werden. Solche ‚unzuverlässigen‘ Korrektivfiguren sind, so wurde gezeigt, in Mütter mit Messern sind gefährlich, in Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe sowie in Ein langer Brief an September Nowak enthalten. In Der Schatten meines Bruders, Es war einmal Indianerland und Marienbilder lässt sich eine ähnliche Beobachtung machen. In diesen Romanen finden sich Korrektivfiguren, die sich als Imaginationen der jeweiligen (unzuverlässigen) Erzählinstanzen herausstellen. In Der Schatten meines Bruders ist dies der wilde Junge, 314 in Es war einmal Indianerland Mauser und in Marienbilder unter anderem IdealNadine, die (imaginierten Anteile der) Schwester der Erzählerin. Diese nur vermeintlichen Korrektivfiguren büßen nach Auflösung ihres ontologischen Status ebenfalls an Glaubwürdigkeit ein. Dieses Phänomen des Aufzeigens von Unzuverlässigkeit anhand von Kontrastfiguren zusammen mit dem Infragestellen derer Glaubwürdigkeit findet sich damit in allen untersuchten Jugendromanen. 4.2.5 Die weitere Beschaffenheit der erzählerischen Unzuverlässigkeit Lediglich in Mütter mit Messern sind gefährlich kann der ontologische Status des Geschehens klar determiniert werden. In Der Schatten meines Bruders ist dies in der Regel, aber nicht durchweg möglich. In Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe sowie Ein langer Brief an September Nowak ist eine solche ontologische Determinierbarkeit ebenfalls nur teilweise gegeben, in Marienbilder ist sie nahezu unmöglich. Unter Rückbezug auf die Ausführungen zum Zusammenhang von erzählerischer Unzuverlässigkeit und den Ich-Findungsprozessen der jeweiligen Protagonistinnen und Protagonisten lässt sich für die autodiegetischen Erzählerinnen und Erzähler mit positiver Ich-Entwicklung auch eine Zunahme ihrer Zuverlässigkeit zum Erzählende hin festhalten. Dies ist der Fall in Der Schatten meines Bruders, in Mütter mit Messern sind gefährlich, in Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe sowie in Es war einmal Indianerland. Für Ein langer Brief an September Nowak und Marienbilder gilt dies hingegen nicht. Nicht eindeutig beantwortet wird die Frage nach der Einschätzung von Erzähleraussagen als völlig falsch oder als lückenhaft. Hier ist die Situation in den untersuchten Jugendromanen keinesfalls klar: In Der Schatten meines Bruders, Mütter mit Messern sind gefährlich, Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe sowie Es war einmal Indianerland lassen sich jedoch einzelne Momente ausmachen, in denen Erzähleraussagen als klar falsch zu beurteilen sind. Dass diese Beurteilung teilweise schwierig ausfällt, hängt zuweilen mit dem bereits erwähnten Phänomen zusammen, dass sich vermeintliche Korrektivfiguren in einigen Romanen ebenfalls als unzuverlässig herausstellen: Es gibt mitunter schlicht keine Möglichkeit, eine ontologische Wahrheit zu identifizieren und damit den Wahrheitsgehalt der jeweiligen Erzähleraussagen zu überprüfen. Weiterhin finden sich in Der Schatten meines Bruders sowie Es war einmal Indianerland Doppelsinnigkeiten: Erzähleraussagen sind irreführend, und sie können, folgt man der Fährte, als Falschaussagen gewertet werden; strenggenommen wird aber nichts Falsches gesagt. Beide Unzuverlässigkeitskonstruktionen nach Köppe und Kindt (s. Kap. 1.4.4) kommen in 315 den Romanen vor: In Der Schatten meines Bruders, Mütter mit Messern sind gefährlich und Es war einmal Indianerland fallen täuschende Verfahren auf, in Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe, Marienbilder und Ein langer Brief an September Nowak offene Konstruktionen. Die folgende Tabelle fasst die Ausführungen zur weiteren Beschaffenheit der erzählerischen Unzuverlässigkeit zusammen: ja/teilweise nein/teilweise ja/teilweise Frequenz/ Entwicklung im Lauf der Erzählung durchgehend, zunehmend zuverlässig durchgehend, zunehmend zuverlässig durchgehend, zunehmend zuverlässig durchgehend, zunehmend zuverlässig durchgehend unzuverlässig durchgehend unzuverlässig implizit am Romanende implizit am Romanende implizit am Romanende teilweise am Ende des ersten Romanteils keine Auflösung keine Auflösung Auflösung Täuschende/ offene Unzuverlässigkeit nach Köppe und Kindt (2014) täuschend täuschend offen täuschend offen offen Ein langer Brief an September Nowak Es war einmal Indianerland ja/teilweise Marienbilder Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe ja meines Bruders ja/teilweise Der Schatten Determinierbarkeit Mütter mit Messern sind gefährlich Tabelle 28: Weitere Beschaffenheit der erzählerischen Unzuverlässigkeit in den untersuchten Jugendromanen 4.2.6 Intermedialität/Intertextualität In Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe, Es war einmal Indianerland, Ein langer Brief an September Nowak und Marienbilder fallen zahlreiche intertextuelle und intermediale Referenzen auf, die, wie in den Analysen gezeigt wurde, jeweils im Zusammenhang mit erzählerischer Unzuverlässigkeit stehen. Eine insgesamt relativ große Bandbreite von unterschiedlichen Prätexten wird abgerufen (s. Tab. 29). Neben zahlreichen Einzelreferenzen stehen dabei auch Systemreferenzen: zur Romantik, zum Pikaroroman, zur Abenteuerliteratur (insbesondere der Reiseerzählung), zur Robinsonade, zum Western und zum (postmodernen) Film. 316 Auf die Bedeutung pikaresker Verweise für die erzählerische Unzuverlässigkeit wurde bereits kurz bei der Zusammenschau der Ergebnisse bzgl. der Modellierung der Erzählerfiguren (s. Kap. 4.2.3) hingewiesen: Sie begründet sich in der unzuverlässigen Disposition des aus der (weiten) Rückschau erzählenden pícaro (s. Kap. 1.5). In Ein langer Brief an September Nowak fallen weiterhin zahlreiche intertextuelle Bezüge zur Romantik auf – sowohl als Einzel, als auch als Systemreferenzen, und auch sie haben Einfluss auf die Unzuverlässigkeit des Werks, das auf diese Weise mit einer romantisch-unzuverlässigen Grundstimmung unterlegt wird. Es war einmal Indianerland und Ein langer Brief an September Nowak enthalten zudem zahlreiche intermediale Verweise; insbesondere fallen Bezüge zu unzuverlässig erzählten US-amerikanischen Filmen der 1990er Jahre auf: In Mohls Werk sind dies Pulp Fiction sowie Fight Club (s. Kap. 3.2.4), in Berges‘ Werk Die üblichen Verdächtigen (s. Kap. 3.2.6). Gerade mit den beiden letztgenannten Filmen werden dabei Musterbeispiele unzuverlässigen Erzählens in den Jugendromanen zitiert. Intertextualität und Intermedialität finden sich vor allem in den komplexeren der untersuchten Werke, die sich an ältere Jugendliche bzw. an junge Erwachsene richten. Dies verwundert insofern nicht, da die Kenntnis der Referenzwerke Voraussetzung zur Entschlüsselung der Intertextualität, und damit, allerdings in unterschiedlichem Maße, auch der erzählerischen Unzuverlässigkeit ist. Aus unterschiedlichen Gründen kann dies aber erst ab einem gewissen Alter vorausgesetzt werden: Im Falle der romantischen bzw. pikaresken Anleihen verlangt dies eine gewisse literarische Vorbildung, im Falle der genannten Filme kommt noch die Tatsache hinzu, dass die Filme an ein älteres Publikum gerichtet sind (z.B. ist Fight Club mit einer FSK-Freigabe ab achtzehn Jahren versehen). Anders als dies bei den kinderliterarischen Werken der Fall ist, kann bei den jugendliterarischen Werken auch nicht von einer Doppeladressierung ausgegangen werden. Eine versteckte intermediale oder intertextuelle Ebene bliebe hier sonst im Zweifel schlicht unentdeckt und liefe ins Leere. 317 Musik: Pretenders: Thin line between love and hate (1984) Literatur: Karl May: Winnetou I (Jahr) Gattung: Abenteuerund Reiseroman Film: C’era una volta il West (1968) Fight Club (1996) Pulp Fiction (1994) The Big Lebowski (1998) Gattung: Western Ein langer Brief an September Nowak Literatur: Gattung: Pikaroroman Marienbilder Es war einmal Indianerland Prätexte Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe Mütter mit Messern sind gefährlich Tabelle 29: Intermedialität/Intertextualität in den untersuchten jugendliterarischen Werken Literatur: Die Bibel Kurt Vonnegut: Cat’s Cradle (1963) Gattung: Pikaroroman Malerei: René Magritte: La trahison des images (1929) Literatur: E.T.A. Hoffmann: Meister Floh Vladimir Nabokov: The Real Life of Sebastian Knight (1941) Ludwig Bechstein: Der kleine Däumling (DM 39 [34]) Brüder Grimm: Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich (KHM 1) Gattung: Pikaroroman Epoche: Romantik Film: Die üblichen Verdächtigen (1995) Musik: Schubert: Nacht und Träume (D 827) Kinder- und Jugendliteratur (KJL)/‚ Erwachsenenliteratur‘, (EL)/ Pseudoliteratur EL EL KJL und EL EL EL Einzel- und/ oder Systemreferenzen Einzelreferenz Systemreferenzen Einzel- und Systemreferenzen Einzel- und Systemreferenzen Einzel- und Systemreferenzen Erzählerischer Ort der Intermedialität/ Intertextualität (nach Broich 1985, 31ff.) Paratext Paratext, Extradiegese Extradiegese Paratext, Extradiegese Paratext, Extradiegese Markierung (nach KümmerlingMeibauer 2001, 50ff.) quasi-explizit unterschiedlich: quasiexplizit, nicht explizit unterschiedlich: explizit, quasi explizit, nicht explizit Bedeutung für die erzählerische Unzuverlässigkeit niedrig mittelhoch sehr hoch unterschiedlich: explizit, quasi explizit, nicht explizit mittelhoch sehr hoch 318 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass gerade in den an eine ältere Leserschaft gerichteten untersuchten Jugendromanen intermediale und intertextuelle Referenzen in signifikantem Maße enthalten sind. Diese Bezüge sind von oft durchaus hoher Bedeutung für die erzählerische Unzuverlässigkeit. Im Kontext erzählerischer Unzuverlässigkeit fallen zudem pikareske und romantische Anleihen besonders auf, und die Fülle intertextueller und intermedialer Verweise steht in Zusammenhang mit der postmodernen Natur der untersuchten Jugendromane: Collagenartig, so wurde gezeigt, werden unterschiedliche intertextuelle Versatzstücke in die Erzählungen einbezogen und neu arrangiert. 4.2.7 Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit In allen Romanen, in denen autodiegetische Erzählinstanzen bzw. autodiegetische Erzählanteile feststellbar sind, dienen die unzuverlässigen Erzählweisen der Charakterisierung der Erzählerfigur. Dies ist der Fall in Der Schatten meines Bruders, Mütter mit Messern sind gefährlich, Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe, Es war einmal Indianerland sowie Marienbilder. Liest man Ein langer Brief an September Nowak derart, dass es sich um eine retrospektive Erzählung der Protagonistin handelt, trifft dies auch hier zu. Diese interne literarische Funktion erzählerischer Unzuverlässigkeit ist damit die präsenteste Funktion in den untersuchten jugendliterarischen Werken. Weiterhin lässt sich der erzählerischen Unzuverlässigkeit in allen untersuchten Romanen eine ästhetische Funktion. Als signifikant kann sie in Es war einmal Indianerland, Marienbilder sowie in Ein langer Brief an September Nowak eingeschätzt werden – eben in jenen Werken, die oben als ‚komplexer‘ beschrieben wurden. Weitere interne literarische Funktionen sind: die Gestaltung der erzählten Welt (Marienbilder und Ein langer Brief an September Nowak), Spannungsaufbau (Der Schatten meines Bruders, Mütter mit Messern sind gefährlich, Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe und Es war einmal Indianerland), Illusionsbildung, und Illusionsbrechung (Der Schatten meines Bruders, Es war einmal Indianerland und Ein langer Brief an September Nowak), eine komische Funktion (Mütter mit Messern sind gefährlich und Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe) sowie eine metafiktionale Funktion (Marienbilder und Ein langer Brief an September Nowak). Neben der Charakterisierung der Erzählerfiguren wird damit in den untersuchten Jugendromanen eine Bandbreite verschiedener literarischer Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit abgerufen. 319 Auffallend ist, dass der erzählerischen Unzuverlässigkeit in (nahezu) allen untersuchten Jugendromanen eine externe literarische Funktion zugeordnet werden kann. In unterschiedlicher Schwerpunktsetzung kann allen Romanen eine gesellschaftskritische Komponente zugeschrieben werden, für die die unzuverlässige Erzählweise von Bedeutung ist. In Mütter mit Messern sind gefährlich beispielsweise wird nahegelegt, eine gesellschaftskritische Perspektive auf Fremdenfeindlichkeit einzunehmen (s. Kap. 3.2.2). In Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe werden mit den unzuverlässigen Erzähleräußerungen und der falschen Selbsteinschätzung des jugendlichen Antihelden auch Verhaltensweisen von Heranwachsenden persifliert. Hinzu kommt eine deutlich gesellschaftskritische Komponente: Dem Erzähler entgehen die ungerechten gesellschaftlichen Zustände, denen er im Italien der 1980er Jahren ausgesetzt ist – für den Leser sind sie aber zu entschlüsseln (s. Kap. 3.2.3). Auch in Marienbilder sowie in Ein langer Brief an September Nowak, so wurde in den Analysen gezeigt, ist die erzählerische Unzuverlässigkeit von Bedeutung, wenn es um die Abbildung bzw. Kritik gesellschaftlicher Phänomene geht. In Bachs Werk, betrifft dies gesellschaftliche Frauen- und Mutterbilder (s. Kap. 3.2.5). In Ein langer Brief an September Nowak wird die epistemologische Unsicherheit einer postmodernen Jugendkultur gezeigt; die Protagonistin setzt sich zwar durchweg mit Identitätskonzepten auseinander, es kommt aber zu keiner Ich-Findung ihrerseits. Vielmehr sucht Betti stets nach dem nächsten ‚Kick‘ und lässt sich treiben. In Der Schatten meines Bruders sowie in Es war einmal Indianerland kommt gesellschaftskritischen Elemente eine Randbedeutung zu, sie bleiben als optionale Lesart, als shadow narratives, unter der eigentlichen Erzähloberfläche. In Der Schatten meines Bruders könnte der Tatsache, dass die autodiegetische unzuverlässige Erzählerin die Todesursache ihres Bruders zwar andeutet, aber nicht auflöst, eine gesellschaftskritische Komponente zugeschrieben werden: Man erfährt lediglich, dass der Bruder in Bandenkriminalität verstrickt gewesen sein muss. Wie es zu seinem Tod gekommen ist, bleibt sowohl der Erzählerin als auch dem Leser unklar. In Es war einmal Indianerland wird auch die unterschiedliche Privilegierung Jugendlicher in Deutschland immerhin mitverhandelt. In diesen beiden Romanen sind potentielle gesellschaftskritische Funktionen allerdings, wenn überhaupt, nur von geringer Bedeutung. Die folgende Tabelle fasst die beschriebenen, in den untersuchten Jugendromanen enthaltenen literarischen Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit zusammen: 320 interne literarische Funktionen Ein langer Brief an September Nowak Marienbilder Es war einmal Indianerland Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe Mütter mit Messern sind gefährlich Der Schatten meines Bruders Tabelle 30: Literarische Funktionen der erzählerischen Unzuverlässigkeit in den untersuchten Jugendromanen - Gestaltung - Gestaltung der erzählten der erzählten Welt Welt Charakterisierung der Erzählerfigur Charakterisierung der Erzählerfigur Charakterisierung der Erzählerfigur Spannungs- - Spannungsaufbau aufbau Charakterisierung der Erzählerfigur Charakterisierung der Erzählerfigur - Spannungsaufbau Illusionsbildung - - - Illusionsbildung bzw. Illusionsbildung - -brechung komische Funktion komische Funktion - ästhetische Funktion ästhetische Funktion - ästhetische Funktion - metafiktio- - metafiktionale Funktion nale Funktion externe literarische Funktionen (bedingt: gesellschafts-kritische Funktion) gesellschaftskritische Funktion gesellschaftskritische Funktion, Persiflage jugendlicher Verhaltensweisen (bedingt: gesellschafts-kritische Funktion) Abbildung gesellschaftlicher Phänomene Abbildung und Kritik gesellschaftlicher Phänomene (epistemologische Verunsicherung) 321 5. Fazit Das Anliegen der vorliegenden Untersuchung war eine umfassende Auseinandersetzung mit unzuverlässigem Erzählen in kinderliterarischen und jugendliterarischen Werken seit der Jahrtausendwende. Dazu wurden verschiedene ausgewählte Werke hinsichtlich verwendeter unzuverlässiger Erzählverfahren untersucht. Auf eine Einteilung bestimmter ‚Arten‘ oder ‚Typen‘ unzuverlässigen Erzählens bzw. Erzähler wurde bei der Zusammenschau verzichtet; der Fokus lag auf einer möglichst genauen Bestandsaufnahme erzählerischer Unzuverlässigkeit. Mit ‚Lügen‘, ‚Erzählen‘, ‚Träumen‘ und ‚Fantasieren‘ kommen in den untersuchten kinderliterarischen Werken ‚unzuverlässige‘ Themen und Motive vor, sie stellen aber, so muss betont werden, nicht die in den Werken vorherrschenden Themen dar: Dies sind in der Regel typisch kinderliterarische Themen wie ‚Freundschaft‘ oder das Bestehen von Abenteuern. Hervorgehoben werden müssen die Unterschiede zwischen den kindlichen und nicht-kindlichen Erzählinstanzen in kinderliterarischen Werken. Alle untersuchten kindlichen Erzählungen sind autodiegetisch und fast durchweg intern fokalisiert. Markierungen fallen deutlich aus, wobei ein jeweils großer Variationsreichtum zu beobachten ist. Unstimmigkeiten im Erzählerbericht sind auf die kindlichen Weltsichten ihrer Erzähler einerseits und auf ihre (zum Teil sehr große) Fabulierlust anderseits zurückzuführen. Bei den nicht-kindlichen Erzählern der untersuchten kinderliterarischen Werke wird hingegen verschleiert, wer erzählt, und es wird auch nicht deutlich, wie die Stellung der jeweiligen Erzählinstanz zum Geschehen ist. Markierungen der Unzuverlässigkeit sind in diesen Fällen spärlicher gesetzt: Nicht-kindliche Erzählinstanzen zeigen im Bereich textueller, auf Inkongruenzen beruhender Signale deutlich weniger Variation als die kindlichen. Dennoch gilt: Für alle untersuchten kinderliterarischen Werke lässt sich eine insgesamt sehr hohe Bandbreite textueller Markierungen unzuverlässigen Erzählens festhalten. In fast allen Kinderbüchern sind zudem Illustrationen enthalten, die die jeweilige Erzählanlage unterstützen. Die Unzuverlässigkeit ist in der Regel durchgängig und determinierbar, allerdings nicht immer aufgelöst. Auffallend vielen intermedialen/intertextuellen Referenzen kommt ebenfalls ein oftmals sehr hoher Stellenwert im Kontext der erzählerischen Unzuverlässigkeit zu: Die Verweise sind in der Regel explizit gestaltet, und sie zielen nicht immer auf Prätexte der Kinder- und Jugendliteratur – ebenso oft sind es auch an Erwachsene adressierte Werke bzw. auch Pseudoliteratur. Nahezu das gesamte Spektrum literarischer Funktionen unzuverlässigen Erzählens tritt in den untersuchten Romanen für Kinder auf; sie sind 322 damit in dieser Hinsicht ebenso komplex ausgestaltet wie vergleichbare, an Erwachsene adressierte Texte. Im Unterschied zu den kinderliterarischen Werken, fällt mit ‚Identität‘ bei den jugendliterarischen Werken ein zentrales, mit der Unzuverlässigkeit verknüpftes Thema auf; der Ebene der histoire kommt damit im jugendliterarischen Feld eine deutlich höhere Bedeutung für die erzählerische Unzuverlässigkeit zu. Nahezu alle Erzählerfiguren erzählen in traumatisiertem, mitunter ich-gestörtem Zustand eine oftmals höchst subjektiv gefärbte Version ihrer Geschichte. In der Regel entspringt das jeweilige Ausgangstraumata dabei aus einer Verlustsituation, die meist am Erzählanfang stattfindet, diesem jedoch auch gelegentlich vorangeht. Der spezifische Umgang der verschiedenen Protagonisten mit ihren Traumata ist grundlegend für die Konstitution der Unzuverlässigkeit in den Werken. Die Entwicklung – in einigen Fällen auch die Auflösung – der Unzuverlässigkeit ist dabei verknüpft mit den resultierenden Ich-Findungsprozessen der Erzählerfiguren. Teilweise unterstützen Doppelgängermotive dabei die Charakterisierung der Erzählerfigur (und auch die Unzuverlässigkeit), ebenso auffällig sind Motive des disembodiment. Die Erzählsituationen der jugendliterarischen Werke sind in der Regel autodiegetisch und fixiert-intern fokalisiert und höchst subjektiv gestaltet. Gelegentlich wird diese Anlage durch weitere narratologische Besonderheiten in ihrer Komplexität noch gesteigert. Die Naturalisierung textueller Diskrepanzen wird manchmal dadurch erschwert, dass Konstrastfiguren geboten werden, die zwar eine alternative Sichtweise auf das Erzählte liefern – dabei aber selbst als unzuverlässig eingeschätzt werden können und daher nur eingeschränkt bei der Auflösung der Unzuverlässigkeit ‚helfen‘. Determinierbarkeit ist damit oft nur teilweise gegeben. In Einzelfällen, die völlig von der beschriebenen intern fokalisierten Erzählsituation abweichen, ist eine Festlegung der Erzähleridentität gar nicht möglich, und es bieten sich unterschiedliche Deutungen bezüglich der Erzählanlage an. Die erzählerische Konstruktion der an Jugendliche gerichteten Werke reicht so bis zu höchst komplexen, auch unentscheidbaren Ausprägungen. Wie es auch bei den kinderliterarischen Werken der Fall ist, kommt intermedialen/intertextuellen Rekurrenzen eine hohe Bedeutung für die erzählerische Unzuverlässigkeit im Bereich der Jugendliteratur zu. Verweise manifestieren sich mannigfaltig: als Einzel- und Systemreferenzen auf hauptsächlich erwachsenliterarische Prätexte. Die literarischen Funktionen in den untersuchten jugendliterarischen Werken sind weniger variationsreich als die der kinderliterarischen; hohen Stellenwert hat vor allem die Funktion der Charakterisierung der Erzählerfigur. 323 Sowohl im kinderliterarischen als auch im jugendliterarischen Kontext gibt es Erzählerfiguren, deren Unzuverlässigkeit aus einer Situation der Überforderung resultiert. Gleichsam ist die Unzuverlässigkeit keineswegs stets als ein Defizit der jeweiligen Figur zu betrachten. Gerade ein Wechselspiel positiver und negativer Motivationen fällt auf. Die (traumatisierten) jugendlichen Figuren der untersuchten Werke gehen mitunter kreativ und produktiv mit ihren Situationen um, ihre Unzuverlässigkeit ist oft mehr ein Spiel mit Lesererwartungen als Ausdruck eines ‚wahren‘ Defizits. Es lassen sich insgesamt deutliche Unterschiede zwischen den Unzuverlässigkeitskonstruktionen der untersuchten Kinder- und der Jugendliteratur feststellen: insbesondere hinsichtlich der Bedeutung der histoire für die Unzuverlässigkeit aber auch bezüglich der Modellierung der Erzählerfiguren sowie der Funktionen. Die vorgenommene gesonderte Betrachtung der Verfahren hat sich daher als sinnvoll erwiesen. Sowohl im Bereich der Kinderliteratur als auch im Bereich der Jugendliteratur tritt erzählerische Unzuverlässigkeit aber als multifaktorielles Phänomen mit vielfältigen Erscheinungsformen und einem breiten Funktionsspektrum auf. Unzuverlässiges Erzählen ist ein Sammelbegriff für höchst komplexe Erzählverfahren, die (auch) in der Kinder- und Jugendliteratur in unterschiedlichen Spielarten auftreten. Es ist nie eindeutig, es bietet verschiedene, oft ambivalente Lesarten und manchmal tritt es auch als Unentscheidbarkeit in Erscheinung. In allen diesen Ausprägungen ist es sowohl in der Vermittlerliteratur als auch im Mainstream angekommen. 324 6. Literatur 6.1 Primärliteratur Asher, Jay: Tote Mädchen lügen nicht. Aus dem amerik. Engl. von Knut Krüger. München: cbt 2009. Orig.-Ausg. u.d.T.: Thirteen Reasons Why. New York: Razorbill/Penguin Young Readers Group 2007. Aue, Hartmann von: Iwein. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg. und übers. von Rüdiger Krohn. Kommentiert von Mireille Schnyder. Stuttgart: Reclam 2012. Avery, Tom: Der Schatten meines Bruders. Roman. Aus dem Engl. von Wieland Freund und Andrea Wandel. 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Hg. vom Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft (ISEK) der Universität Zürich. 343 Tabellen Tabelle 1: Textuelle Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit (Nünning 1998, 27f.) ....................... 20 Tabelle 2 „textexterne frames of reference, an denen die Textwelt und die Glaubwürdigkeit von Erzählinstanzen gemessen wird“ (Nünning 1998 29f.) .................................................................... 22 Tabelle 3: literarische frames of reference (Nünning 1998, 31) ....................................................... 23 Tabelle 4: Arten der Unzuverlässigkeit nach Phelan ........................................................................ 34 Tabelle 5: Literarische Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit............................................... 53 Tabelle 6: Mögliche pragmatische Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit ............................ 54 Tabelle 7: Mögliche Interdependenzen literarischer und pragmatischer Funktionen unzuverlässigen Erzählens (Auswahl) ........................................................................................................................ 55 Tabelle 8: Fragenkatalog zu Themen und Motiven der untersuchten Werke ................................... 80 Tabelle 9: Fragenkatalog zum kommunikativen Ort der Unzuverlässigkeit in kinder- und jugendliterarischen Werken.............................................................................................................. 80 Tabelle 10: Fragenkatalog zur Modellierung der Erzählinstanz in kinder- und jugendliterarischen Werken ............................................................................................................................................. 81 Tabelle 11: Fragenkatalog zur Untersuchung der Markierung erzählerischer Unzuverlässigkeit in kinder- und jugendliterarischen Werke............................................................................................. 81 Tabelle 12: (Zusätzlicher) Fragenkatalog zur Untersuchung der Markierung der Unzuverlässigkeit in kinderliterarischen Werken, die Illustrationen enthalten................................................................... 82 Tabelle 13: Fragenkatalog zur Untersuchung der weiteren Beschaffenheit der Unzuverlässigkeit in kinderliterarischen Werken............................................................................................................... 83 Tabelle 14: Fragenkatalog zur Untersuchung der Intermedialität/Intertextualität in unzuverlässig erzählten kinder- und jugendliterarischen Werken ........................................................................... 83 Tabelle 15: Fragenkatalog zur Untersuchung der Funktionen in unzuverlässig erzählten kinder- und jugendliterarischen Werken.............................................................................................................. 84 Tabelle 16: Erzählsituationen der analysierten Kinderromane mit kindlichen Ich-Erzählinstanzen 286 Tabelle 17: Erzählsituationen der analysierten Kinderromane mit nicht-kindlichen IchErzählinstanzen.............................................................................................................................. 288 Tabelle 18: Die Modellierungen der Erzählerfiguren in den untersuchten kinderliter. Werken ....... 289 Tabelle 19: Textuelle Signale der erzählerischen Unzuverlässigkeit in den untersuchten kinderliterarischen Werken (nach Nünning 1998, 27f.) .................................................................. 290 Tabelle 20: Signale der Unzuverlässigkeit in den untersuchten kinderliterarischen Werken unter Berücksichtigung der verschiedenen Erzählinstanzen................................................................... 292 Tabelle 21: Text-Bild-Verhältnisse der untersuchten kinderliterarischen Werke ............................. 294 Tabelle 22: Ontologischer Status, Auflösung und Frequenz der Unzuverlässigkeit in den untersuchten kinderliterarischen Werken ....................................................................................... 295 Tabelle 23: Intermedialität/Intertextualität in den untersuchten kinderliterarischen Werken .......... 296 Tabelle 24: literarische Funktionen der erzählerischen Unzuverlässigkeit in den untersuchten kinderliterarischen Werken............................................................................................................. 299 Tabelle 25: Erzählsituationen in den untersuchten Jugendromanen ............................................. 307 Tabelle 26: Die Modellierungen der Erzählerfiguren in den untersuchten kinderlit. Werken .......... 312 Tabelle 27: Textuelle Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit (nach Nünning) in den untersuchten Jugendromanen ............................................................................................................................. 313 Tabelle 28: Weitere Beschaffenheit der erzählerischen Unzuverlässigkeit in den untersuchten Jugendromanen ............................................................................................................................. 316 Tabelle 29: Intermedialität/Intertextualität in den untersuchten jugendliterarischen Werken ......... 317 Tabelle 30: Literarische Funktionen der erzählerischen Unzuverlässigkeit in den untersuchten Jugendromanen ............................................................................................................................. 320 344 Abbildungen Abbildung 1: „Graduelle Abstufungen von (Un-)Zuverlässigkeit“ ..................................................... 32 Abbildung 2: Funktionen literarischer Unzuverlässigkeit nach Bläß ................................................ 48 Abbildung 3: Anton taucht ab, Vorsatz ........................................................................................... 107 Abbildung 4: Außerirdisch ist woanders, [5] .................................................................................... 116 Abbildung 5: Außerirdisch ist woanders, 67 .................................................................................... 117 Abbildung 6: Außerirdisch ist woanders, 203 .................................................................................. 118 Abbildung 7: Iwein Löwenritter, Umschlagaufkleber ...................................................................... 136 Abbildung 8: Iwein Löwenritter, 13 ................................................................................................. 137 Abbildung 9: Iwein Löwenritter, 77 ................................................................................................. 138 Abbildung 10: Iwein Löwenritter, 149 ............................................................................................. 139 Abbildung 11: Iwein Löwenritter, 205 ............................................................................................. 140 Abbildung 12: Senderseite der spezifischen Kommunikationssituation in Die Kurzhosengang im Falle des Nichterkennens der Unzuverlässigkeit der Erzählanlage ............................................... 148 Abbildung 13: Senderseite der spezifischen Kommunikationssituation in Die Kurzhosengang nach einer Neubewertung im Falle des Erkennens der Unzuverlässigkeit der Erzählanlage ................ 149 Abbildung 14: Die spezifische Kommunikationssituation in Die Kurzhosengang unter Berücksichtigung der Adressaten................................................................................................... 153 Abbildung 15: Die Kurzhosengang (2004), bibliografische Angaben– weder Verlag noch Originaltitel existieren wirklich. .......................................................................................................................... 154 Abbildung 16: Vermeintliche Postkarte von Caspak und Lanois, 206 ............................................ 156 Abbildung 17: Vignette in Es war einmal Indianerland (Mohl 2011, [2], 184, [346]) ....................... 214 Abbildung 18: Zeitkonstruktion in Es war einmal Indianerland, erster Romanteil .......................... 217 Abbildung 19: Zeitkonstruktion in Es war einmal Indianerland, zweiter Romanteil ........................ 217 Abbildung 20: Claudia Cardinale in C’era una volta il West (1968, 2:26:03) ................................. 226 Abbildung 21: Kampf des Ich-Erzählers mit Tyler Durden in Fight Club ........................................ 233 Abbildung 22: Kampfszene nach Auflösung der Unzuverlässigkeit in Fight Club .......................... 234 Abbildung 23: Der Cowboy als Erzähler ........................................................................................ 235 Abbildung 24: Der Dude ................................................................................................................. 235 Abbildung 25: Tumbleweed ............................................................................................................ 235 Abbildung 26: Ein langer Brief an September Nowak (170) .......................................................... 275 Abbildung 27: Ein langer Brief an September Nowak (137) .......................................................... 275 Abbildung 28: Ein langer Brief an September Nowak (47) ............................................................ 276 Abbildung 29: Ein langer Brief an September Nowak (77) ............................................................ 277 Abbildung 30: Schwarzweißabbildung der Fotografie „Monaco, 2006“ von Andreas Gursky in Ein langer Brief an September Nowak [205] ........................................................................................ 278 345 Danksagungen Vor vier Jahren starb mein Doktorvater Prof. Dr. Otto Brunken und hinterließ eine Lücke, die ich oft nicht zu füllen wusste. Ihm habe ich die Arbeit gewidmet, und ich bin zutiefst dankbar, dass ich ihn habe kennenlernen und mit ihm zusammenarbeiten dürfen. Er war ein ganz besonderer Mensch, und er wird mir ein Vorbild bleiben. Seinen Einsatz für mich und diese Arbeit werde ich nicht vergessen. Mein herzlicher Dank gilt weiterhin meiner Doktormutter Prof‘in Dr. Gabriele von Glasenapp, die mich ohne zu zögern ‚adoptiert‘ hat. Mit ihr habe ich die Arbeit zu ihrem Ende geführt. Bei den Herren Prof. Dr. Michael Staiger und Prof. Dr. Christof Hamann bedanke ich mich für die Übernahme des Zweit- und des Drittgutachtens. Frau Maria Michels-Kohlhage unterstützte mich mit großem Fachwissen bei der Redaktion des Literaturverzeichnisses – hierfür möchte ich ihr meinen herzlichen Dank aussprechen. Mein Doktorbruder und Büronachbar Dr. Felix Giesa stand mir während der gesamten Zeit meiner Dissertation mit Rat und Tat zur Seite. Für seine Unterstützung insbesondere nach dem Tod von Herrn Brunken bedanke ich mich ganz besonders. Das war nicht selbstverständlich! Weiterhin gilt mein Dank Johanna Gehring, Katharina Axmann, Gianna Dicke und Dr. Oxane Leingang für ihren unermüdlichen Einsatz beim Korrekturlesen. Ein Dankeschön geht auch an Nils Mohl: Er veröffentlichte vor zehn Jahren seinen tollen Jugendroman Es war einmal Indianerland – und brachte mich auf meine Forschungsidee. Abschließend bedanke ich mich von ganzem Herzen bei meiner Familie: Ohne den Halt und die Unterstützung meines Mannes Tim Wallraff und unserer Kinder Leia, Mia und Joscha hätte ich das niemals geschafft! Zons, am 30. März 2021 346