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Restaurative, d.h. Wiedergutmachende Gerechtigkeit Dr. J. Jakob Fehr, Deutsches Mennonitisches Friedenskomitee Veröffentlicht in „Die Brücke. Täuferisch-Mennonitische Gemeindezeitschrift, März 2010 und April 2010 „Und ich will das Recht zur Richtschnur und die Gerechtigkeit zur Waage machen“, Jes 28,17. I. Gerechtigkeit im Strafverfahren? „Die Mühlen der Justiz mahlen langsam, aber sie mahlen gerecht.“ So äußerte sich neulich der Vorsitzende Richter Wolfgang Rothermel bei der Urteilsbegründung im Falle einer Entführung mit tödlichem Ausgang. September 1981 hat ein Mann das Mädchen Ursula entführt und sterben lassen, um die Familie zu erpressen. Er bekam eine Freiheitsstrafe. Der Bruder der kleinen Ursula, Michael Hermann, der den Prozess beobachtete, sah die Sache aus einem anderen Blickpunkt als der Richter. Hermann meinte: „Es wird Recht gesprochen, aber es geschieht keine Gerechtigkeit.“ Hermanns Äußerung ist gut nachvollziehbar. „Recht sprechen“ ist die Tätigkeit des Gerichts, gegen Beschuldigte zu ermitteln, Schuld zu- oder abzuweisen und gegebenenfalls eine Strafe „im Namen des Volkes“ zu verhängen. In diesem Verfahren bleiben die Opfer passiv und werden lediglich als Zeugen und Zeuginnen von Interesse für die Gerichte. Gerechtigkeit dagegen soll Menschen befreien … von Angst, Bedrohung, Verzweiflung. Gerechtigkeit gibt Zuversicht, Freude, Lebensmut und führt zu gesunden Beziehungen zwischen Personen. Das Strafverfahren wird mit einem Rechtsspruch abgeschlossen, und für die Gerichte ist der Fall somit erledigt. Aber was kommt nach dem Ende des Prozesses? Was ist mit den hinterbliebenen Menschen? Man sagt salopp: Das Leben geht weiter. Aber ist die Sache für sie wirklich ad acta gelegt? Manchmal äußern sich Opfer in diesem Sinne: „Nach dem Urteilsspruch kann ich ruhig schlafen.“ Doch meistens eher leiden die Opfer oder ihre Angehörigen jahrelang unter den Folgen der Geschehnisse. Auch die Verurteilung des Täters, der sie passiv zusehen, kann die Opfer nicht beruhigen. Wie Hermann erfahren sie keine Gerechtigkeit. Heißt das, unser Rechtssystem schafft keine Gerechtigkeit? Gibt es erst im Himmel Gerechtigkeit? Wenn wir dabei sind, die Folgen des gerichtlichen Prozesses abzuwägen, können wir auch die Lage des oder der Verurteilten berücksichtigen. Ist das, was mit Tätern geschieht, Gerechtigkeit? Das deutsche Rechtssystem sieht bei rechtswidrigem Verhalten eines schuldfähigen Menschen eine Strafe vor. Dafür gibt es einen ausgeklügelten, detaillierten Katalog (Verwarnung, Bußgeld, Freiheitsentzug, usw). Wenn der Täter Reue zeigt, kann das die Strafe mildern, aber für sein schlechtes Gewissen gibt es keine weitere Funktion. Es ist nicht vorgesehen, dass der Täter dem Opfer zeigt, dass es ihm leid tut. Nach der Ableistung der Bestrafung ist man wieder in die Gesellschaft „entlassen“. Angenommen ein Beschuldigter tatsächlich das getan hat, was ihm vorgeworfen wird: Wie soll man gegen ihn vorgehen? Soll man überhaupt „gegen ihn“ vorgehen oder soll man nicht eher für sein Wohl handeln? Damit auch er Gerechtigkeit erleben darf: die Hoffnung auf ein besseres Leben und gesunde zwischenmenschlichen Beziehungen. Aus der Kriminalstatistik wissen wir, dass ein signifikanter Prozentsatz der Verurteilten, die eine Freiheitsstrafe erhalten, rückfällig wird. (Beispielsweise werden gerade die Jugendlichen, die eine Freiheitsstrafe oder -arrest erhalten, viel eher rückfällig (45%) als diejenige, die eine bedingte Strafe oder ambulante Sanktionen erhalten. Wolfgang Heinz, Die neue Rückfallstatistik – Legalbewährung junger Straftäter, 2004, S. 45.) Das heißt, viele Menschen werden nicht durch Freiheitsentzug verbessert; vielmehr verrohen sie in dem dort herrschenden Klima. Das kann auch nicht als Gerechtigkeit bezeichnet werden. Die Schlussfolgerung: Ein vornehmlich auf Bestrafung zielendes Strafrecht ist nicht auf die spirituellen Bedürfnisse der Opfer oder der Täter zugeschnitten. Dafür ist es nicht da. Es mag der Vergeltung oder Abschreckung dienen, tut jedoch wenig für die Wiederherstellung gesunder menschlichen Beziehungen. II. Das Kitchener-Experiment Nach all diesen kritischen Fragen, die auf grundsätzliche Probleme in unserem auf der Ahndung von Straftaten beruhenden Rechtssystem hindeuten, möchte ich Ausschau halten nach einem Ansatz, der Recht und Gerechtigkeit zu verbinden vermag. Ein berühmtes Beispiel dafür ist das Kitchener-Experiment, das von Mennoniten in Kanada ausprobiert wurde. Dean Peachey, „The Kitchener Experiment“ in: Gerry Johnstone, A Restorative Justice Reader, 2003. An einem Samstagabend im Mai 1974 randalierten zwei Jugendliche in Elmira, nördlich der Stadt Kitchener-Waterloo. Das beschauliche Dorf ist eigentlich bekannt für seine Old Order-Mennoniten, die den Amischen sehr ähneln. Männer in Strohhut und Frauen in Stoffhaube fahren mit Pferd und Kutsche über die Strassen und führen ein ruhiges Leben, abgesondert von der „Welt“. Eben dort wurden die Jugendlichen aufgegriffen und vor Gericht in 22 geringfügigen Fällen von Vandalismus verurteilt. Der Bewährungshelfer Mark Yantzi, ein Mitarbeiter des Mennonite Central Committee (MCC), fragte sich in einem MCC-Beratungsgespräch: „Wäre es nicht klasse, wenn diese Täter sich mit ihren Opfern treffen könnten?“ So sehr diese Vorstellung aus seiner friedenstheologischen Haltung herrührte, schien ihm die Umsetzung dennoch unpraktisch, weil präzedenzlos. Schließlich überredete ihn sein Mitarbeiter, einen Versuch zu starten. So fügte Yantzi seinem Bericht an den Richter McConnell die Idee vor. Kurz vor dem Prozess traf sich Yantzi mit dem Richter in dessen Büro, doch äußerte sich McConnell skeptisch: „Das sei doch gar nicht praktisch möglich.“ Yantzi gingen hinüber in den Gerichtssaal und wartete. Als die Jugendlichen vor den Richter kamen, staunte Yantzi nicht schlecht, als McConnell einen einmonatigen Aufschub des Falls anordnete, „um den Verurteilten die Gelegenheit zu bieten, sich mit den Opfern zu treffen und ihre Verluste abzuschätzen, unter der Aufsicht von Mark Yantzi“ und seinem Mitarbeiter Dave Worth. Worth sagte später: „Wir alle kamen aus dem Staunen nicht heraus. Ich erinnere mich, dass der Staatsanwalt mit einem fragenden Blick zu uns hinüberschaute. … Die beiden Täter waren auch verdutzt. Mark und ich schaute einander an und fragten uns: Was machen wir jetzt?“ Begleitet von ihren Bewahrungshelfern besuchten die Jugendliche darauf Privathäuser, zwei Kirchen und einen Bierkiosk, stellten sich vor und erklärten ihren Wunsch, die Opfer entschädigen zu wollen. Bemerkenswert sind die unterschiedlichen Reaktionen der Opfer: „Ich habe keine Restitution erwartet. Ich glaube, ich werde das Geld ausgeben, um anderen Menschen zu helfen.“ – „Vielen Dank. Ich war auch einmal jung. Bloß sind manche von uns nicht erwischt worden.“ – „Ihr sollt euch schämen! Diese Summe wird nicht all meine Kosten decken. … Wer wird nun meine erhöhte Versicherungsprämie zahlen? Ich will nicht, dass ihr in den Knast geht. Aber ich hoffe, wir werden nie wieder Ärger mit euch kriegen.“ Es sind diverse Reaktionen, die zeigen, wie unterschiedlich Menschen ihre Verluste wahrnehmen und verarbeiten können. Man spürt jedoch, dass diese versöhnenden Gesten in den meisten Fällen einen konkreten Beitrag zur erlebten Gerechtigkeit in Elmira beitrugen. Somit wurde das erste „restorative justice project“ (das heißt: ein Projekt zur Wiedergutmachung bzw. Wiederherstellung von Gerechtigkeit) geboren. Im Lauf der 70er und 80er Jahre entwickelte sich die wiedergutmachende Gerechtigkeit (so werde ich den Begriff übersetzen) von einigen Projekten zu einer breiten Bewegung in Nordamerika und darüber hinaus. Inzwischen laufen ähnliche Programme in vielen Teilen der Welt, u.a. in einigen europäischen Ländern. Das ausgezeichnete Beispiel einer institutionalisierten Form von wiedergutmachender Gerechtigkeit bietet Neuseeland, wo die Rechtsordnung für Jugendkriminalität vollständig umgestellt worden ist. Dort werden im Normalfall immer beratende Gespräche und Bemühungen um einen Dialog zwischen den Familien dem Gerichtsprozess vorgeschaltet. Inzwischen gibt es sehr viel Literatur über Praxis und Theorie der Wiedergutmachung. Eine Vorreiterrolle in der Bewegung spielte der Mennonit Howard Zehr, dem November 2010 die Michael Sattler Friedenspreis des Deutschen Mennonitischen Friedenskomitees verliehen wird. III. Deutschland und die wiedergutmachende Gerechtigkeit In Deutschland gibt es diese Form der wiedergutmachenden Gerechtigkeit nicht – das Naheliegendste, das wir haben ist der Täter-Opfer-Ausgleich (TOA), der auch vor allem im Jugendbereich praktiziert wird. Der TOA ging aus derselben Bewegung hervor, unterscheidet sich jedoch in wesentlichen Punkten von der „restorative justice“. Zunächst die Ähnlichkeiten: Im Strafgesetzbuch (StGB) sowie in der Strafprozessordnung (StPO) sind Änderungen eingefügt worden, um TOA-Gespräche zu ermöglichen. Laut § 155a StPO müssen Staatsanwälte und Richter in jeder Phase eines Strafverfahrens die Eignung eines TOA prüfen: also die Chancen für einen vorgerichtlichen Ausgleich prüfen, die beiden Parteien über diese Möglichkeit unterrichten und das Verfahren initiieren. Der TOA wird häufig bei Jugendlichen eingesetzt, kann aber auch für Erwachsene als Möglichkeit betrachtet werden. Das Verfahren kann nur stattfinden, wenn der Täter und das Opfer zustimmen und der Einsatz als sinnvoll angesehen wird. Der TOA wird durch Einrichtungen durchgeführt, die im Bereich der Mediation arbeiten. Sie sind bei Justiz/Gerichtshilfen, Freien Trägern und Jugendämtern organisiert. Leider wird berichtet, dass solche alternativen Schlichtungsverfahren in Deutschland eine rückläufige Entwicklung erfahren. Viele TOA-MediatorInnen seien desillusioniert. Der langjährige Teilnehmer am TOA und Professor der Rechtswissenschaft in Jena, Thomas Trenczek, stellt fest, dass TOA fast keine Chance eingeräumt wird, eine signifikante Rolle im deutschen Rechtswesen einzunehmen. Die Zahl der Verweise an Mediationsstellen stagniert und wird größtenteils bei geringfügigen Jugenddelikten eingesetzt, vor allem bei Lappalien und kleinen Übertretungen. Selbst diese Anwendung ist problematisch, denn Finanzmittel ist nach dem Jugendgerichtsgesetz ausschließlich für Erziehungsmaßnahmen anwendbar. Somit wird der TOA als pädagogisches Mittel eingesetzt, so daß die Vorstellung von freiwilliger Teilnahme an einem versöhnenden Ausgleich mit dem Opfer gänzlich verloren geht. Trenczek zitiert einen TOA-Mediator, der gestand: „Wenn der Jugendliche sich nicht entschuldigen will, dann zwinge ich ihn dazu.“ T. Trenczek, Within or outside the system? Restorative justice attempts and the penal system, in: Weitekamp/Kerner, Restorative Justice in Context, Cullompton 2003, S. 276. Aber man kann Jugendlichen nicht durch „jugendgerichtliche Weisung“ dazu verurteilen, sich mit einem Opfer zu versöhnen. Ohne die positiv verlaufene und zum guten Ende geführte Arbeit vieler TOA-MediatorInnen zu schmälern, darf man fragen: Was ist falsch gelaufen? Ein Problem ist, dass das gesamte Verfahren in der Kontrolle der Kriminaljustiz bleibt. Staatsanwälte betrachten sich als Verteidiger der strafenden Rechtsordnung. Da er nicht auf Bestrafung zielt, wird TOA von den Hauptakteuren des Rechtssystems als subversiv angesehen. TOA untergräbt das eigentliche Ziel einer Staatsanwaltschaft, eine Strafe herbeizuführen (Trenczek, 278-280). Es herrscht die Überzeugung, dass das auf Bestrafung zielende System der Gerechtigkeit dient. Weil TOA im System integriert ist, kann er diese Denkweise nicht überwinden. Wenn man außerdem berücksichtigt, dass im deutschen Rechtswesen die TOA-MediatorInnen auch professionelle MitarbeiterInnen sind, ist nicht schwer nachzuvollziehen, dass eine Rivalität zwischen den sehr andersgearteten Berufszweigen entsteht. Letzteres weist auf einen Wesensunterschied zwischen TOA und wiedergutmachender Gerechtigkeit hin. Bei den erfolgreichen Modellen der „restorative justice“ im englischsprachigen Raum sind die Schlichtungsinstanzen von Ehrenamtlichen besetzt. Dies erfolgt mit Absicht, damit Leute aus der „community“, also aus der Nachbarschaft, in jedem Ermittlungsfall mit einbezogen werden. Denn die Gemeinde ist auch betroffen, wenn es zu Kriminalität kommt. Manchmal ist sie sogar selbst ein sekundäres Opfer. So bald der Staat die Verantwortung für Mediation übernimmt, setzt Passivität in der Lokalbevölkerung ein. Wie Howard Zehr schreibt, „wenn der Staat in unserem Namen den Fall übernimmt, untergräbt er unseren Gemeinschaftssinn“. H. Zehr, The Little Book of Restorative Justice, Intercourse 2002, S. 17. Genau so wichtig aber ist die Notwendigkeit eines Umdenkens bei der Vorstellung von Gerechtigkeit. Wenn das „Staatsrecht auf Bestrafung“ das unverzichtbare Herzstück der Gerechtigkeitsempfindung bleibt, ist kein Platz für ein alternatives Konzept, das auf Heilung der zwischenmenschlichen Beziehungen zielt. Wenn alle solche Bemühungen auf Kriminalitätsbekämpfung hinauslaufen, ist kein Raum für Konflikttransformation und Versöhnung frei. „Ich, der Herr, habe dich gerufen in Gerechtigkeit … um Gefangene aus dem Gefängnis zu führen, heraus aus dem Kerker jene, die in Finsternis sitzen.“, Jes 4,6-7. IV. Eine christliche Reform des Gefängniswesens? 2009 verkündete eine in England ansässige christliche Hilfsorganisation das Vorhaben, bis 2012 ein christliches Gefängnis in Cornwall errichten zu wollen. Vorgesehen ist unter anderem, den Insassen freiwillige Kurse anzubieten, die auf der Bibel und den Zehn Geboten gründen. Sie versprechen sich davon eine deutliche Senkung der Rückfallquote. Christliche Wächter mit einem offenen Ohr für die Sorgen der Häftlinge sollen eingesetzt werden, um eine liebevolle und sorgsame Umgebung zu schaffen. Oben ist erwähnt worden, dass die Stimmung in den üblichen Haftanstalten oft zur Verrohung der Insassen führt. Man sagt, das Gefängnis sei die eigentliche Ausbildungsstätte der professionellen Kriminalität. Dort wird das Handwerk für ein Leben als Verbrecher angelernt. Dort gibt es die negativen Vorbilder, die vorführen, wie das Gewissen ausgeschaltet werden kann. Zwar liegt es nahe, den dort sitzenden Kriminellen die Botschaft Jesu mitteilen zu wollen. Nicht alle Gefangenen müssen verrohen; manche gehen kritisch mit sich selbst ins Gericht und fragen sich, wie sie ihr Leben geraderücken können. Solche Personen können sich für die Liebe und Gnade Gottes öffnen. Wenn sie von Jesus hören, erfahren sie, dass es möglich ist, sich zu verändern und einen neuen Lebensweg einzuschlagen. Wäre es daher nicht gut, weitere christliche Gefängnisse zu gründen? Es gibt gute theologische Gründe, diesen Ansatz mit großer Skepsis zu betrachten. Erstens ist es unrealistisch zu denken, dass Verbrecher eine wahre Bekehrung erleben werden, in einer Umgebung, die von ihrer normalen Lebenswelt völlig losgelöst ist. Ein Beispiel: Im Gefängnis mag der Vergewaltiger zwar Reue und eine emotionale Verwandlung erleben. Doch darf man misstrauisch fragen, ob der „bekehrte“ Vergewaltiger plötzlich anders mit Frauen umgehen wird, wenn er aus der Haft entlassen wird. Denn die Bekehrung eines Vergewaltigers gelingt nicht, ohne dass er eine intensive und jahrelange Arbeit an sich selbst vornimmt, bis er Frauen nicht mehr als Gegenstand seiner Gelüste missbraucht. Biblisch betrachtet ist die Bekehrung weitaus mehr als eine versöhnte persönliche Beziehung zu Gott. Notwendig ist auch der gleichzeitige Lebenswandel. Ohne diese weitere Dimension zu berücksichtigen gibt es keine Versöhnung mit Gott. Das ist die Botschaft der Begegnung Jesu mit dem reichen Jüngling (Lk 18,18f). Kurz gesagt: Man kann nicht zuerst mit Gott im Reinen sein, und erwarten, dass eine direkte Folge davon ein Lebenswandel sein wird. Die Bekehrung ist sozusagen ein ‚Learning by Doing’ in der Gemeinschaft mit anderen Menschen – die schrittweise Umstellung auf die Nachfolge Jesu. Ein zweites Problem mit dem ‚christlichen Gefängnis’ ist, dass man zu der Auffassung neigt, Insassen können die Zeit hinter Gittern benutzen, um intensiv über ihr inneres Seelenleben nachzudenken. Die Verkettung des Leibes befreit die Seele von irdischen Belangen und lässt den Menschen erst richtig auf seinem innersten und dürftigen Wesen konzentrieren. Befreit von den Ablenkungen der Lebenswelt bahnt sich sein Weg zu Gott hin. – Diese Vorstellung setzt eine alte Irrlehre über die Natur der Seele fort. Lange Zeit haben christliche Theologen das biblische Verständnis der Seele außer Acht gelassen. Das biblische Menschenbild kennt keine Unterscheidung zwischen Körper einerseits und Seele oder Geist andererseits. „Seele“ (hebr. nefesh) bezeichnet das Ganze des Menschen in all seinen Gedanken, Gefühlen und leiblichen Verlangen. Der Mensch ist eine Seele, und der gefangene Mensch ist in Leib und Seele gefangen. Eine Bekehrung zu Jesus geschieht nicht bloß „im Geist“ und ohne Rücksicht auf die leibliche Existenz, sondern verändert alles im Leben. Angesichts dieser beiden Gedanken, dass Bekehrung die Verwandlung unserer Beziehung nicht nur zu Gott, sondern auch zu den Menschen in unserer Umwelt umfasst und dass wahre Bekehrung alle Facetten des menschlichen Wesens berücksichtigt, muss man kritisch mit dem Gedanken eines „christlichen Gefängnisses“ umgehen. Das Gefängnis an sich reißt den Menschen aus seinem normalen Lebenskreis und setzt seinem Leib und seiner Seele erhebliche Verletzungen aus. Ein emotionales Bekehrungserlebnis hinter Gittern lässt noch nicht erahnen, wie diese Person sich nachher verhalten wird. Solche Einrichtungen werden noch kritischer betrachtet werden müssen, wenn wir das neutestamentliche Zeugnis Revue passieren lassen. Was sagt das NT über Kriminellen, Gerichte, die Polizei und das Gefängnis? V. Das Justizwesen in der Bibel Ein Überblick der neutestamentlichen Zeugnisse zu Themen der Justiz offenbart eine Divergenz zwischen modernen und biblischen Ansichten. Zunächst gilt: In den Evangelien werden Kriminellen nicht annähernd so negativ geschildert wie in unseren Zeitungen. Wenn Jesus die Jesaja-Stelle in der Synagoge vorliest, kündigt er an, dass er seine Aufgabe darin sieht, die Verurteilten aus den Gefängnissen freizulassen (Lk 4,18). Wo wir Menschen wegsperren wollen, will Jesus sie befreien. Die Evangelien beschreiben Jesus immer wieder in der Gesellschaft von Menschen, die damals als zwielichtig galten, und ebensolche Menschen bevölkern seine Gleichnisse: Zöllner, Steuereinnehmer, Ausländer u.s.w. Lukas nennt Jesus sogar selbst ein Verbrecher, denn es heißt wortwörtlich, er wurde gekreuzigt und „die zwei anderen Verbrecher mit ihm zusammen“ (Lk 23,32). Mit einem Wort: Wo wir Kriminelle an den Rand unserer Gesellschaft drängen, rücken sie die Evangelien in den Vordergrund. Einen weiteren Kontrast bilden die unterschiedlichen Ansichten auf die Gerichtsbarkeit. Das Gerichtsverfahren, das wir als positives Mittel zur Durchsetzung des Rechts erachten, wird im NT mit skeptischem Blick als Instrument der Mächte angesehen, die die Herrschaft Christi nicht anerkennen. So warnt Jesus vor dem Gang zum Gericht und Paulus tadelt die Korinther, weil sie vor ungerechten Richtern mit ihren Streitsachen gehen (1. Kor 6, 1f). Paulus wusste sehr wohl, dass römische Richter sich gern von den „ehrenhaften“ Gesellschaftsschichten (honestiores) bestechen ließen und für Menschen aus den niedrigen Schichten (humiliores) wenig Geduld aufbrachten. Er selbst berief sich in seinem Prozess auf den Kaiser, nicht weil er meinte, ihm würde in Rom endlich Gerechtigkeit widerfahren (mitnichten!), sondern um das Evangelium dort zu predigen. Wie in seinem Fall waren die Ergebnisse der meisten Gerichtshandlungen im NT korrupt – Jesus, Johannes der Täufer und die Aposteln werden ungerecht verurteilt. Die Polizei wird noch negativer beäugt. Sie erledigen die Drecksarbeit der Könige und Gouverneure: der Kindermord in Mt 2, die Hinrichtung Johannes des Täufers, die Ermordung der Galiläer in Lk 13, die Misshandlung, Folter und Hinrichtung Jesu, die Enthauptung Jakobs in Apg 12, die Geißelung des Paulus ohne Gerichtshandlung in Apg 16. Die Polizei ist im NT ein Behörde für Unordnung, nicht Ordnung (Jean Lasserre). Schließlich erwähnen wir das Gefängnis, das in römischer Zeit ein dunkles, überfülltes Haltebecken war, das man als schlimmer als den Tod bewertete. „Der Bibel zufolge ist die Gefangennahme die Verkörperung des Geistes und der Macht des Todes“ (Griffith). Das Gefängnis ist in der Intention identisch mit der Gewalt und Tötung, die überwunden werden sollen. Menschen in Käfigen zu halten zerstört die Seele und zerbricht die Persönlichkeit, und führt somit zur Häufung des Bösen. – Das Ziel Gottes dagegen ist die Öffnung aller Gefängnistüre und die Befreiung der Gefangenen. Dazu eine begrenzte Auswahl von Bibelstellen: Deut 7,8, Klag 3,34-36, Jes 42,7, Sech 9,11, Lk 4,18, Apg 5,19, Eph 4,8, Kol 2,15, 1 Pet 3,19, Ofb 2,10 usw. - Ist es daher verwunderlich, dass die Apostelgeschichte immer wieder von der Befreiung aus Gefängnissen erzählt? Die Urkirche wurde von Knastbrüdern geleitet und Gott war ihr Komplize! VI. Biblische Gerechtigkeit Diese außergewöhnliche Zusammenstellung von kritischen Ansichten aus dem NT regt zu der Frage an: Wo kommt diese ganz andere Sicht auf Justiz und Gerechtigkeit her? Spiegelt die Skepsis nur die schlechten Erfahrungen der frühen Christen, bis die Kirche sich als Teil der gesellschaftlichen Normalität durchsetzen konnte? Ist sie lediglich die aus Enttäuschung hervorgehende Kehrseite des ebenso von Paulus vertretenen Respekts vor Staatsgewalt und polizeiliche Ordnung (Röm 12)? Oder kann es vielleicht sein, dass das biblische Bild von Gerechtigkeit größere Solidarität mit Gefangenen und die Zurückweisung des Strafgericht-Modells ermöglicht? Es ist eben letztere Lesart der Bibel, die zur Entwicklung der „Restorative Justice“ unter den nordamerikanischen Mennoniten führte. Als Denkanstoß zu einem anderen Umgang mit Fragen der Justiz und als Plädoyer für die Teilnahme der Kirchen in Programmen der „restaurativen“ Gerechtigkeit, möchte ich nun über das biblische Verständnis der Gerechtigkeit nachdenken. „Es wird Recht gesprochen, aber es geschieht keine Gerechtigkeit“, sagte der weiterhin 30 Jahre nach der Tat trauernde Bruder der kleinen Ursula, nachdem der Mörder verurteilt wurde. Einerseits gesprochenes Recht – andererseits keine Gerechtigkeit: Wie kann es das eine ohne das andere geben? Dass man gesprochenes Recht anerkennen und trotzdem fehlende Gerechtigkeit beklagen kann, ist irritierend für alle, die mit der Bibel vertraut sind. In den Schriften werden wir aufgefordert, beides – und zwar zusammen – zu tun, Hez 18,5-9. Das Ideal wird sehr schön bildhaft vom Propheten Amos geschildert: „Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“ (Am 5,24, vgl. Jes 56,1). Der Grund, warum sie zusammenfließen, ist, dass Gott selbst auf diese Weise handelt: „Der Herr schafft Gerechtigkeit und Recht allen, die Unrecht leiden“, Ps 103,6. So handelt Gott. „Ach! Wenn nur der Mensch auch so handeln würde!“, möchte man meinen. Die gute Nachricht ist, dass Gottes rechtschaffendes Handeln auch von Menschen praktiziert werden kann. Dafür verwendet die Bibel das Bild eines Bündnisses. Ein Bündnis stellt Erwartungen an beiden Partnern, entsprechend zu agieren. Jesaja sieht die Möglichkeit für ein Bündnis für Gerechtigkeit: „So spricht der Herr: Bewahrt Recht und tut Gerechtigkeit, denn die Rettung, die ich bringe, ist nahe und meine Gerechtigkeit offenbart sich“ (Jes 56,1). Ja, Gottes Gerechtigkeit offenbart sich mitunter durch das gerechte Handeln aller, die mit ihm im Bündnis stehen. Die Schaffung von Heil und heilvollen Beziehungen (Schalom) erfordert von uns Taten. Im Folgenden skizziere ich kurz drei Aspekte eines biblischen Modells der Gerechtigkeit, die wir umsetzen können. Und das heißt, sie lassen sich auch auf die deutsche Justiz anwenden. Die erste Differenz zwischen unserem Justizsystem und der biblischen Gerechtigkeit betrifft das Prinzip, nach dem gerichtet wird. In unserem Justizwesen müssen alle Menschen vor dem Recht gleich behandelt werden. Niemand darf vor Gericht Vor- oder Nachteile vor anderen Menschen haben. Das ist auch gut so, denn auf diese Weise werden wir vor richterlicher Willkür geschützt. Dennoch ist das bei Gott anders. Der Gott der Bibel handelt nicht nach objektiven Normen der Gerechtigkeit. Gott ist nicht unparteiisch und objektiv, sondern greift energisch für die Schwachen und Bedürftigen Partei, auch wenn kein Rechtsbruch gegen sie vorliegt. Ist das Willkür? Nein, er handelt nach dem Verfahren: Was braucht dieser Mensch? Wie kann ihm geholfen werden, ob er nun ein Opfer oder Täter ist? Die zweite Unterscheidung betrifft die Frage, wie reagiert wird, wenn Unrecht vorliegt. Vor dem Richter gilt die Feststellung von Schuld. Liegt schuldhaftes Verhalten vor? Wenn ja, haben wir mit einem „Täter“ oder einer „Täterin“ zu tun, dessen oder deren Verhalten vorwerfbar ist. Schuld ist natürlich auch ein biblisches Wort. Doch frage ich, ob der Schwerpunkt für Gott nicht anders gewichtet ist. Ist Gott wirklich stets auf der Suche nach dem oder der Schuldigen? Ich habe einen Freund, der das glaubt. Sein Gottesbild ist geprägt von der Vorstellung eines Richtergottes, der ihn auf die Finger schaut. Wenn ich von Gottes Liebe und Zuneigung spreche, sagt er „ja aber“. Er möge denjenigen wohlgesonnen sein, die fromm und lieb sind, aber mir? Wenn es einen Gott gibt, wird er mich wegen meiner Verfehlungen sicherlich bestrafen. Der Freund denkt, dass Gott uns nach unserem Verhalten einsortiert. Ich habe ihn (noch) nicht überzeugen können, dass Gott durch Jesus Christus unsere Sünde vergibt und mit uns den Weg des Heils gehen möchte. Wenn es zu menschlichem Fehlverhalten kommt, schaut Gott nicht nach hinten, sondern nach vorne. Er denkt sich: Was kann aus diesem Menschen gemacht werden, wenn er befähigt wird, einen neuen Weg einzuschlagen? Das ist eine ganz andere Einstellung als die des Richters, der dem Menschen nach dem be- oder verurteilt, was gewesen ist. Schließlich gibt es die Frage, was zu tun ist, wenn Unrecht festgestellt wird. Vor Gericht steht die Auseinandersetzung zwischen Staatsgewalt und Täter im Zentrum. Das Gesetz sieht für den Täter eine Strafe vor: Vergeltung. Das biblische Gerechtigkeitsempfinden ist anders gewichtet. Hier liegt der Schwerpunkt bei der Heilung von verletzten Beziehungen. Das gilt genauso für Täter wie für Opfer. Und doch gibt es immer mal wieder diese Vorstellung, dass der Gott insbes. des Alten Testaments ein strafender Gott sei. Er ist schließlich Richter! Der Alttestamentler Klaus Bieberstein meint dazu, dass die europäische Rechtsgeschichte unseren Gottesbegriff „vergiftet“ hat. In der abendländischen Tradition verurteilt und bestraft der Richter eine Person, die gegen Gebote und Verbote verstoßen hat. Richten heißt oft Vergelten. In der Hebräischen Bibel dagegen ist „safat“, das Richten, nur selten als eine Bestrafung zu verstehen. Meistens beschreibt es, wie der Richter-Gott auf die Menschen zugeht: Er schlichtet zwischen Konfliktparteien, weist Bedränger in Schranken und rettet Bedrängte. Das Wort, das wir als „Gesetz“ übersetzen, soll eher als „Schlichtspruch“ verstanden werden. Das hebräische Verständnis von Gerechtigkeit gründet nicht auf Strafe, sondern auf Gemeinschaftstreue, auf ein gegenseitig verbindendes Verhalten zwischen Gott und Mensch sowie unter den Menschen. In biblischer Sicht kann auch der Mensch als „gerecht“ bezeichnet werden, wenn er in einem guten Verhältnis zu Gott und Mitmenschen steht (Röm 3,28). Gott als Richter ist nicht ein strafender Gott! Gott als Richter – das heißt, er versöhnt und heilt. In der biblischen Erzählung finden wir Ansätze für ein anderes Modell gesellschaftlichen Umgangs mit Unrechtstätern (ich vermeide nun ganz bewusst das Wort ‚Straftäter’). Gleichzeitig betont dieses Modell den immer wiederkehrenden Ruf der Schriften nach der Rettung derer, die zu Opfern von Gewalt und Ungerechtigkeit geworden sind. Gott handelt gnädig und nicht nach Verdienst. Er gibt uns nicht, was wir ‚verdient’ haben. Gott schenkt uns viel mehr und viel reichlicher, als wir je verdienen könnten. Denn Gott hat uns geliebt, „als wir noch Sünder waren … Um wie viel mehr werden wir nun durch ihn bewahrt werden vor dem Zorn“ des Gerichts (Röm 5,8-9). V. Was tun? Das Deutsche Mennonitische Friedenskomitee lädt 26.-28. November zu einer Tagung ein, bei der wir uns die Frage stellt: Wie können Ansätze des biblischen Verständnisses von Recht, Opferschutz und Heilung in unserem Land umgesetzt werden? Können wir im Bündnis mit Gott für mehr Gerechtigkeit wirken? Unser Referent, Prof. Howard Zehr, ist Mitbegründer der vielen Initiativen für „restaurativen Gerechtigkeit“ in Nordamerika. Mit ihm wollen wir über Möglichkeiten reden, wie die Kirchen eine aktivere Rolle einnehmen können. Dabei muß das Augenmerk nicht ausschließlich auf das Justizwesen gerichtet sein; der Ansatz der restaurativen Gerechtigkeit läßt sich auch auf andere Lebensbereiche anwenden, wo Konflikte entstehen. Doch gerade in Bereich von Rechtsverfahren ist viel Bedarf. 1995 landeten etwa eine Million Fälle vor den deutschen Gerichten; im gleichen Jahr wurden 9.000 Täter-Opfer-Ausgleich-Verfahren angemeldet (Trenczek, 275). Es gibt keinen Grund zu glauben, dass die Zahlen im Jahre 2010 erheblich anders wären. Aus diesen Zahlen lässt sich leicht ausrechnen, dass eine Umstellung des deutschen Rechtsverfahrens auf Mittel der restaurativen Gerechtigkeit erheblich mehr MediatorInnen verlangen würde. Ohne den Einsatz Ehrenamtlicher würde es nicht gehen. Wie übersetzt man „restorative justice“? Der englische Begriff „restorative justice“ hat mit der Wiederherstellung von Beziehungen zu tun. Oder mit Heilung oder Versöhnung oder Aufrichten oder manchmal auch mit Wiedergutmachung. Wegen der Vielschichtigkeit des Begriffs und weil das Wort „restaurativ“ einen anderen Bedeutungshorizont hat, wollen manche das Wort lieber nicht übersetzen, sondern als englische Lehnwort ins Deutsch übernehem. Bei der Vorbereitung einer Übersetzung des Howard Zehr-Buchs, „Little Book of Restorative Justice“, fühlen wir uns jedoch verpflichtet, eine adäquate deutsche Übersetzung zu suchen. Eine mögliche Lösung wäre, „restaurative Gerechtigkeit“ zu sagen, wie dies in einigen neueren Schriften geschieht.