Die Kehrseite des Fortschritts
Kritik an Zusatzsto≈en und „Veredelungsindustrie“ in der
Zwischenkriegszeit
Uwe Spiekermann
DOI 10.15501/978-3-86336-916-3_7
Abstract
Heutige Debatten über die gesundheitlichen Risiken von Zusatzsto≈en und
industrieller Lebensmittelproduktion sind Wiedergänger entsprechender
Auseinandersetzungen in der Zwischenkriegszeit. Das sich durch die Vitaminund Mineralsto≈forschung rasch erweiternde wissenschaftliche Wissen um
„richtige“ und „gesunde“ Ernährung rief damals zahllose Rückfragen hervor,
sowohl innerhalb der etablierten Wissenschaft als auch durch alternative
Außenseiter. Am Beispiel zeitgenössischer Publizistik behandelt der vorliegende Beitrag Debatten über Fehlernährung und „Gift“ in der Nahrung. Drei
Themenfelder – Brotherstellung und Karies, Milchbestrahlung und Rachitis,
Schönung von Lebensmitteln durch Farb- und Konservierungssto≈e – werden
exemplarisch untersucht. Die historische Analyse verdeutlicht, dass ohne
eine fundierte Rückfrage an Wissensproduktion und Debattenformationen
auch heutige Verbraucherschutzarbeit Stückwerk bleibt.
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Uwe Spiekermann
1 Einleitung
Die Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg war durch beträchtliche
Fortschritte im Wissen um die stoffliche Struktur der Lebensmittel und durch
eine wachsende Verfügbarkeit künstlicher Kost gekennzeichnet. Verarbeitete
Lebensmittel dominierten schon vor 1914 den Konsum, doch auf Grundlage der
Vitamin- und Mineralstofflehren und verbesserter Prozess- und Konservierungstechnologien nahm ihre Bedeutung quantitativ und qualitativ weiter zu (Spiekermann 2017). Für die Experten in Wissenschaft, Unternehmen und staatlichen
Kontrollinstanzen war dies Resultat ihrer Grundlagenforschung, ihrer Prozessoptimierung und ihrer Kontrollen. Gewerbliche Lebensmittelproduktion war für
sie einerseits alternativlos, anderseits Teil einer „Veredelung“ der Rohwaren zu
gesunden und schmackhaften Produkten (Ziegelmayer 1940, 322-323).
Doch diese von Expertensystemen vorangetriebene Zukunftsentwicklung war
umstritten. Kritik kam erst einmal aus den eigenen Reihen. Der Naturbezug
der Ernährungswissenschaftler verwies nicht nur auf Fragen des Könnens, also
Grenzen des technologisch Machbaren, sondern auch auf solche des Dürfens,
also die möglicherweise nicht absehbaren Folgen künstlicher Kost. Selbst hartgesottene Naturwissenschaftler wie etwa der Münsteraner Fettforscher HansPaul Kaufmann fragten: „Dürfen wir ohne Kenntnis dieser noch im Dunkel liegenden Zusammenhänge die naturgegebene Nahrung durch eine künstliche
ersetzen?“ (Kaufmann 1944, 219) Die Mitte der 1930er-Jahre vom Rostocker
Vitaminforscher Werner Kollath formulierte Parole „Laßt das Natürliche so
natürlich wie möglich“ (Kollath 1937, 274) drückte diese innere Ambivalenz
der Fachwissenschaftler aus: Sie verwies einerseits auf ein Ideal, schloss anderseits die Reihen gleich wieder mit dem strikten Hinweis auf die Realität.
Befördert durch die Vitamin- und Mineralstofflehren etablierten sich seit Mitte
der 1920er-Jahre nicht nur neue Teildisziplinen, sondern auch unterschiedliche
Risikobewertungen. Objektiviertes Wissen war schon in der Zwischenkriegszeit kaum mehr auf einen widerspruchsfreien Nenner zu bringen.
Während dieser Jahrzehnte veränderten sich parallel die Grundlagen der Lebensmittelproduktion in den sich ausweitenden Wertschöpfungsketten. Schälen, Polieren und Sortieren – das mochten akzeptable Techniken sein, die
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zeitaufwendige häusliche Mühsal verringerten. Doch galt dies auch für das
Bleichen, Paraffinieren und Etuvieren selbst vieler Grundnahrungsmittel? Wie
und wo waren die Grenzen zu ziehen? Die Zahl der Zusatzstoffe und Hilfsmittel
nahm rasch zu, Lebensmitteldesign war schon damals fest etabliert. Ende der
1920er-Jahre wurden auch feinere Käsesorten, wie Camembert, Brie, Gervais,
zunehmend aus Magermilch hergestellt. Bei Eierteigwaren schwand die Zahl
der Eier, Honig enthielt auch Rübenzucker oder Stärkesirup, und reine Gewürze waren angesichts zahlloser werthaltiger Abfallstoffe keineswegs üblich
(Beythien 1927, 392). Normierungen regelten und entschleunigten derartige
Veränderungen, doch Verbraucherinteressen bedurften der Chemiker als Sachwalter. Diese Experten konnten zugleich erklären, warum längere Versorgungsketten und erhöhte Bequemlichkeit mehr Konservierungs- und Farbstoffe,
Emulgatoren oder auch zusätzliche Vitamine erforderten.
Doch konnte man ihnen glauben? Den Verbrauchern wurde seit den 1920erJahren die Abhängigkeit von wissenschaftlicher Expertise zunehmend deutlich.
Subjektives Wissen zumal der Hausfrauen bot vielfach noch Entscheidungsgrundlagen, doch die Zahl der Lebensmittel, die nach Herkunft und Augenschein einfach zu prüfen waren, nahm ab.
2 Umstrittenes Wissen: „Natur“ und
„Chemie“ in der Publizistik
Mitte der 1920er-Jahre befand sich die tradierte Ernährungswissenschaft in der
Defensive. Der Siegeszug der bis heute geltenden „Neuen Ernährungslehre“
schien unaufhaltsam und bestimmte Forschungsalltag und Zeitungsschlagzeilen. So diffus das Wissen um Mineralstoffe und die „neuen“ Vitamine auch war,
andere Produkte und Ernährungsweisen schienen angeraten.
Mineralstoffe standen im Mittelpunkt alternativer Therapien und Ernährungslehren. Erstens drang die Biochemie vor, deren Präparate einer stets betonten
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Entmineralisierung der Alltagskost begegnen wollten und die zugleich dem
Ideal einer physiologisch determinierten stofflichen Harmonie im menschlichen Körper frönten (Hayn 1925). Zweitens ergaben Untersuchungen des
Kasseler Arztes Max Gerson, dass eine salzfreie pflanzliche Diät die Tuberkulosetherapie erweitern konnte (Gerson 1929). Seine diätetischen Erfahrungen
wurden durch die Mediziner Ferdinand Sauerbruch und Adolf Herrmannsdorfer
überprüft und im Grundsatz bestätigt. Auch wenn spätestens 1928 klar wurde,
dass die hochfliegenden Hoffnungen trogen, etablierten sich Diätetik und der
Mineralstoffhaushalt als medizinische Forschungsfelder. Drittens schließlich
gewann die sogenannte Säure-Basen-Therapie seit Mitte der 1920er-Jahre an
Gewicht. Der Physiologe Ragnar Berg kritisierte vehement den Glauben an das
tierische Eiweiß. Er verwies auf das dadurch geförderte Säureübergewicht im
Stoffwechsel, das unbedingt durch Basen abgesättigt werden müsse, um nicht
zur „Schlackenbildung“ im Körper zu führen (Berg 1931; Berg und Vogel, 1930).
Stattdessen plädierte er für eine dominant pflanzliche Ernährungsweise mit
viel Rohkost.
Herausfordernd war vor allem, dass die Vertreter der alternativen Therapien
zumeist eine ordentliche akademische Ausbildung genossen hatten. Fragen
nach der Position der Wissenschaft und verbindlichem Orientierungswissen für
den Alltag blieben unbeantwortet, denn das ahnende Wissen machte vor allem
bisher nicht bewusstes Unwissen transparent. Die Herausforderer spielten dabei geschickt mit den öffentlichen Medien – indirekte Folge ihrer Ausgrenzung
durch Fachorgane –, und fanden insbesondere in zahlreichen Illustrierten und
hauswirtschaftlichen Zeitschriften Resonanz. Stärker als für die Mineralstoffe
galt dies für eine andere scheinbar urtümliche und natürliche Ernährungsweise, für die vitamin- und mineralstoffreiche Rohkost.
Auch hier waren es nicht Lebensreformer, etwa die Vertreter der Jungbornernährung, sondern der etablierte Berliner Hygieniker Ernst Friedberger, dessen
Arbeiten zum sogenannten „Anschlagswert“ der Nahrung 1927/28 Schlagzeilen machten. Das Wachstum seiner Versuchsratten war scheinbar abhängig
von der Dauer und Intensität des Kochens ihrer Kost: „Uebergarfutter“ ergab
schwache Tiere, Rohnahrung dagegen kräftige Ratten. Friedbergers Arbeiten
wurden zwar unmittelbar fachlich überprüft, Ergebnisse und Konsequenzen
fundiert hinterfragt (Scheunert und Wagner 1927). Doch Begriffe und Deutungen etablierten sich.
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Rohkost wurde damals zum öffentlichen Thema, der vielfach beschworene
„Vitaminrummel“ um den später sogenannten „Rohkostfimmel“ (Schurian
1939/40, B44) erweitert. Auch wenn Lehren, wie die des Schweizer Arztes Maximilian Bircher-Benners, anfangs grundsätzlich infrage gestellt wurden, so belegten doch zahlreiche Studien die gesundheitliche Wirksamkeit von Rohkost.
Dies führte in den 1930er-Jahren zu einem, auch unter Autarkieaspekten, funktionalen Kompromiss. Rohkost schien als diätetische Kost durchaus sinnvoll,
nicht aber als Grundstock täglicher Kost (Spiekermann 2010). Alternative Lehren wurden aus dem von ihnen propagierten Lebenszusammenhang herausgerissen und auf die Bedeutung eines Segmentes reduziert. Rohkost wurde von
einer „Weltanschauungssache“ (Eimer 1931, 181) zu einem fachwissenschaftlich handhabbaren Problem. Auf diese Art integrierte man die akademischen
Außenseiter. Adaptionen alternativer Ansätze drangen derart isoliert auch in
offizielle nationalsozialistische Ernährungsratschläge, in denen Rohkost einen
festen, allerdings ergänzenden Platz hatte. In den HJ-Lagern war sie, ebenso wie
das Bircher-Müsli, Standard.
Während Fachmediziner somit Kritiker vielfach einbanden und schließlich erledigten, waren die Auseinandersetzungen zwischen den Fachchemikern und
ihren Kritikern unerbittlicher. „Chemisch“ erschien seit Mitte der 1920er-Jahre
nicht mehr als Ausdruck von Naturbeherrschung und menschlichem Geist, vielmehr wurden „chemische“ Stoffe zunehmend kritisch eingeschätzt. Die Veredelungsindustrie schien Lebensmittel nur „mit Hilfe manches schleichenden
Giftes“ (Veränderungen 1924, 183) herzustellen, wobei gerade Ärzte auf akkumulierende Wirkungen hinwiesen. Parallel zu den kontrovers und vielfach
ablehnend geführten Debatten über die betriebliche Rationalisierung wandelte sich auch das Bild der Technik: „Man hatte geglaubt, die Natur überlisten zu können und ihre Gesetze durch die Fortschritte einer sogen. ‚Kultur’
gegenstandslos zu machen“ (Schrickel 1934, Sp. 1). Künstliche Kost erschien
als Bedrohung, gefördert von einer menschenfeindlichen, allein am Profit ausgerichteten Ernährungsindustrie.
Es waren vor allem drei Bücher, die auf erbitterten Widerspruch des chemischen Establishments stießen. Das erste stammte von dem New Yorker
Nahrungsmittelchemiker Alfred W. McCann.1 Das ursprünglich „The Science of
1 Zur Einordnung in die US-Debatte vgl. Whorton 2000.
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Eating“ betitelte Buch mutierte allerdings zu „Kultursiechtum und Säuretod.
Vollernährung als Schicksalsfrage für die weiße Rasse“. Es war eine fulminante
Kampfschrift gegen die vermeintliche Zerstörung des Nahrungswertes durch
industrielle Fertigung einerseits, künstliche Zusätze anderseits. Ausgehend
von einer einseitigen Mineralsalztheorie addierte McCann Fehlentwicklung
zu Fehlentwicklung, sah eine vom Kommerz diktierte Industrie am Werke, die
von einer teils gekauften, teils starrköpfigen Wissenschaft geschützt wurde.
Entwertete Nahrung würde den „Rassenniedergang“ beschleunigen, wogegen nach McCann einzig eine „natürliche“ Lebensmittelproduktion und eine
an Mineralstoffen und Vitaminen reiche Auswahl helfen könne. Die erste Auflage von 1922 wurde abseits der Lebensreformbewegung kaum rezipiert, doch
das änderte sich 1927 mit der dritten Auflage (McCann 1927). McCann wurde
zum Stichwortgeber von Dekadenzvorstellungen, die kapitalistischen Geist,
technische Innovationen und chemische Zusatzstoffe als Entartungsprozess
verstanden: Verrottung überall.
In der Aussage ähnlich, im Ton aber gänzlich anders gehalten war das 1928
erschienene umfangreiche Werk des pazifistischen Schweizer Mediziners
Hans Balzli über „Kunst und Wissenschaft des Essens“ (Balzli 1928). Eine basische Ernährung bot auch hier den Heilsweg. Der Autor stellte systematisch
die bestehenden physiologischen Gewissheiten infrage und feierte die neue
Lehre als eine neue höhere Form von Wissenschaft. Das Buch bot durch seinen populären wissenschaftlichen Ton deutlich weniger Angriffspunkte als die
aggressiven Wortkaskaden McCanns und führte zugleich die Praxis gegen die
Wissenschaft ins Feld.
Den Reigen der Herausforderung komplettierte 1931 der Chemiker Curt Lenzner, der sich in den späten 1920er-Jahren intensiv mit der Vitaminforschung
auseinandergesetzt hatte (Lenzner 1931). Nun warf er „Gift in der Nahrung“
auf den Markt, ein furioses Pamphlet gegen Zusatzstoffe und künstliche Verarbeitung, als dessen Gegenbild Vegetarismus und Lebensreformwirtschaft
präsentiert wurden. Lenzner polemisierte gegen eine partielle Vernunft, die
nicht durch Gier und Täuschungsabsichten, sondern durch miteinander nicht
verbundene kleinteilige Veränderungen den „Weg zur allgemeinen Lebensmittel-Entwertung“ beschritt. Insbesondere Städter schienen kaum Alternativen zu besitzen: „Man hat sich so an diese Ernährung gewöhnt, daß einem
eine solche künstliche Bearbeitung gar nicht unnatürlich vorkommt“ (Lenzner
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1933, 195). Lenzner bot damit nicht nur eine Theorie unbeabsichtigter Entartung, sondern legte aufgrund seiner chemischen Expertise auch die Finger
in Problemfelder, die seitens der Experten sehr wohl kontrovers diskutiert
wurden.
Doch auch die Chemiker zogen nun das Schwert: Heinrich Finke, Laboratoriumsleiter von Stollwerck, hielt reichsweit Vorträge in wissenschaftlichen Gremien, in denen er vor der „Entartung“ der Debatte warnte: „Der Mahnruf ‚Gift
in der Nahrung’ ist völlig unberechtigt; er gefährdet eine volkswirtschaftlich
einwandfreie Ernährung, unterstützt asoziale und unsoziale Instinkte und ist
als Grundlage geschäftlicher Werbung besonders verwerflich.“ (Heinen 1931).
Schließlich koche auch die Reformwarenwirtschaft ihr naturreines Süppchen
auf lodernder Flamme, um auf Basis der neuen Sachbücher zu zeigen, wie man
sich „vor der völligen Vergiftung durch die Unheilmittel der chemischen Hexenküche“ (Fincke 1932, 249) retten könne. Während die Mediziner die Kritiker
vielfach erfolgreich teilintegrierten, lehnten die Chemiker derartige strikt ab,
da sie bei der Masse der Laien „Beunruhigung“ hervorrufen würden, ohne realistische Alternativen aufzuzeigen.
Es blieb nicht bei derartigen Verbalschlachten. Angesichts der wachsenden
Kritik an Zucker und Kakao gründete beispielsweise der Verband deutscher
Schokolade-Fabrikanten 1930 eine „Ernährungswissenschaftliche Zentralstelle“, deren Aufgabe es war, in Medien und Öffentlichkeit Informationen gegen
die „Pseudowissenschaftler“ zu verbreiten und zugleich auf die Vorzüge der
industriell produzierten Süßwaren hinzuweisen (Fincke 1934a, 27). Die Chemiker sahen sich in einem „Kampf, der ohne sachlichen Grund gegen ihre
Erzeugnisse geführt wird“ (Fincke 1931, 389). Für die wissensbasierte Wirtschaft begann zu dieser Zeit ein Kampf um die Öffentlichkeit, der bis heute
andauert.
Das NS-Regime schien Chemikern und Kritikern gleichermaßen neue Chancen
zu bieten. Seitens der Wirtschaft wurde 1933 der „Ausschuß gegen Irreführung
in Volksernährung und Publizistik“ gegründet, dessen Aufgabe nicht zuletzt
war, „Ernährungspfuscher“ gegenüber staatlichen Instanzen zu denunzieren.
Während pazifistische beziehungsweise sozialistische Lebensreformer verfolgt
und ihre Organisationen verboten wurden, hieß es in der Fachpresse über die
Kritiker: „Wir möchten empfehlen, sie einzusperren und die Presse nach dieser
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Richtung der Ernährungslehre unter Zensur zu stellen“ (Raunert 1934, 150).
Kritik galt als „falsch und blindes Muckertum, ohne Verständnis für menschliche Eigenschaften“ (Fincke 1933, 641), die Kritiker dagegen als „Fanatiker“,
getrieben vom „Haß gegen die ‚Lebensmittel-Industriellen’“ (Fincke 1934b,
100). Der Kampf um Wissen wurde hier zum Kampf auf Gedeih und Verderb.
Doch auch Teile der selbst gleichgeschalteten Lebensreformbewegung nutzten
die NS-Bewegung für ihre Zwecke. Der 1933 in Nürnberg gegründete und 1935
in der Deutschen Volksgesundheitsbewegung aufgegangene „Kampfbund für
Deutsche Gesundheits- und Rassenpflege“ agitierte gegen „jüdische Profitgier“, die für „deutsche“ Lebensmittelproduzenten ausgeschlossen wurde.
Biologistische Ansätze gewannen bis 1935 rasch an Bedeutung.2 Die Wissenskämpfe gingen auch und gerade innerhalb des polykratischen NS-Systems
weiter, und die Alternativbewegung kam während der NS-Zeit erstmals im
Massenmarkt an.
3 Schleichender Niedergang:
Zivilisationspessimismus und Karies
Gemäß der 1884 durch den Robert Koch-Schüler Willoughby Miller entwickelten bakteriologischen Säuretheorie, resultierte Karies aus der Interaktion von Stoffen und Lebewesen. Zu Säuren verstoffwechselte Kohlehydrate
greifen den Zahnschmelz an, entkalken ihn, Bakterien können dann in das
Zahninnere eindringen, um dort schließlich ihr Zerstörungswerk zu verrichten.
Die Millersche Theorie ermöglichte prophylaktische Maßnahmen, in Deutschland stand dabei eine andere Ernährung im Mittelpunkt. Schon vor dem Ersten
2 An einem gesundheitspolitischen Strategietre≈en am 7. Dezember 1934, das als
Keimzelle eines späteren „Forschungsführerrates“ dienen sollte, nahmen mit
Ragnar Berg und Wilhelm Kraft Exponenten der wissenschaftlichen Lebensreformbewegung teil, die von Reichsärzteführer Gerhard Wagner sowie dem Reichshauptstellenleiter Franz Wirz nachhaltig unterstützt wurden.
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Weltkrieg wurde „Zahnfäule“ in ein kulturkritisches Niedergangsszenario eingebunden, getragen von der Alternativkultur der „Brotreformer“ oder aber
einer eugenisch geprägten Sozialhygiene (Spiekermann 2001, 94-95). Professionalisierungsbestrebungen der erst seit den 1880er-Jahren auch universitär verankerten Zahnheilkunde, eine intensivierte Gesundheitspflege nach
den Menschenverlusten des Ersten Weltkrieges sowie die mit ansteigenden
Rachitisziffern verbundenen Schädigungen des Gebisses machten derartige
Vorstellungen dann mehrheitsfähig. Der Physiologe Gustav von Bunge brachte es auf den Punkt: „Die Menschen verfaulen bei lebendigem Leibe“ (Bunge
1925, 3).
Ähnliche Entartungsszenarien finden sich auch im Alkohol- oder Tabakdiskurs.
Die Debatten über Karies unterschieden sich aber in zwei zentralen Punkten.
Auf der einen Seite erweiterten anthropologische Forschungen an Gebissen
aus Steinzeit und Mittelalter die kulturelle Optik bis zu den Anfängen der
Menschheit: Die Konsequenz schien klar: „Wir müssen uns wieder artgemäß
ernähren“ (Heine 1938, 53).
Auf der anderen Seite – und das macht den Fall so spannend – nahmen die
Experten hier nicht Stellung gegen neuartige Produkte, etwa Branntwein oder
Zigaretten. Karies, so ihre Aussage, hing vielmehr vorrangig mit der Veränderung des Grundnahrungsmittels Brot zusammen, wurde ferner durch erhöhten
Zuckerkonsum gefördert. Schleichend, so die in unzähligen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln wiedergekäute Aussage, variiere die moderne Müllerei und
die neuere Lebensmittelindustrie die Substanz der Nahrung. Ausländisches
Getreide, zumal Weizen, verändere die Konsistenz der Alltagskost. Während
die Wertschöpfung erhöht werde, sinke der Wert der angestammten Kost. Diese antikommerzielle Stoßrichtung findet sich insbesondere in mehreren breit
rezipierten klinischen Studien von Schweizer Bergtälern, die zwischen dem
Vordringen von Weißbrot und Zuckerwaren und dem Zahnverfall eine kausale
Beziehung knüpften (Roos 1937).
Der Kariesdiskurs war modern, zielte nicht auf die Rückkehr zur Steinzeit,
sondern in eine Zukunft, die aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hatte.
Es ging um eine neue Ordnung, um einen Ausgleich von Technik und Körper.
Zwei Strategien wurden dabei propagiert und in Politiken umgesetzt: Erstens
ging es um ein anderes, ein „natürliches“ Brot, das erst im hoch ausgemah-
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lenen Roggen-, dann im Vollkornbrot gesehen wurde. Parallel wandten sich
diese Experten – und mit ihnen zahlreiche populäre Schreiber – gegen die
sogenannte Bleichung des Brotes. Vor dem Krieg verboten, war nach der Öffnung der Importmärkte in den 1920er-Jahren ein Drittel der deutschen Mehlproduktion gebleicht, nicht zuletzt, um mit dem hochfeinen amerikanischen
Mehl konkurrieren zu können. Die Bleichstoffe wurden kontrovers debattiert:
Chemiker schätzten die Risiken als tendenziell gering ein, viele Mediziner
koppelten dagegen die nicht völlig zu beseitigenden Zusatzstoffe mit Krebs
und Karies. Mit „Rücksicht auf sogenannte wirtschaftliche Belange“ (Wirz
1939, 33) blieb Mehlbleichung allerdings erlaubt. Helleres Brot war zugleich
tendenziell weicheres Brot; auch dies galt Teilen der Zahnärzteschaft als Risikofaktor für Karies. Moderne Ernährung implizierte ein hastiges Verschlingen
von Nahrung, dieses wiederum schädige die Zähne und den Magen-DarmTrakt. Essen war Arbeit am eigenen Körper, richtiges Essen Verpflichtung
gegenüber der völkischen Gemeinschaft. Härte der Nahrung und Härte der
Gesinnung waren unmittelbar miteinander verbunden. Künstliche Kost wurde
abgelehnt, doch die Alternativen waren wissensbasierte und arbeitsintensive
Lebensmittel. Vollkornbrot und hochwertige Obst- und Gemüsesorten erforderten schlicht eine bessere Ausbildung und verfeinerte Technik.
Die Überprüfung der bestehenden Kost wurde zweitens ergänzt durch eine
systematische Prophylaxe. Sie erfolgte wagend, im klaren Bewusstsein nur
begrenzter kausaler Wirkungsmechanismen in der Mundhöhle und im Zahnschmelz. Sie diente der Erhaltung der körperlichen Substanz der Mitglieder der
Volksgemeinschaft, entsprechend verstand man die Zahnbürste als „Waffe im
Kampfe“ (Heine 1938, 45).
Selbst an Versuchen, „deutsches“ Kaugummi einzuführen, ohne Zucker und
hart, hat es nicht gefehlt. Gegen den vermeintlichen „Vernichtungsfeldzug
gegen das Gebiß“, durch „Unwissenheit und Mode“ (Bauer 1936/37, B654)
setzten Gesundheitsexperten Volksaufklärung mittels Vorträgen, Broschüren,
Filmen, Ausstellungen und mobiler Propaganda-Kraftzüge. Insbesondere durch
den Ausbau der Schulgesundheitszahnpflege beziehungsweise einschlägiger
Behandlungen im Rahmen der Hitlerjugend gelang es, die Kariesraten moderat
zu verringern. Verantwortungen schienen klar: „Der Zahnarzt der Wegweiser,
der Werbefachmann der Wegbereiter, das Volk der Wegbeschreiter“ (Heine
1938, 41). Die Erfolge blieben jedoch begrenzt.
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4 Bestrahlte Milch: Rachitisbekämpfung
im Widerstreit
Rachitis ist eine durch Vitaminmangel verursachte Störung im Kalzium- und
Phosphorstoffwechsel. Das ins Auge springende Resultat sind: Knochendeformationen, meist der Extremitäten oder des Brustkorbes, sowie allgemeine
Entwicklungsrückstände. Die Mangelernährung im Ersten Weltkrieg ließ die
Rachitisstatistik nochmals steigen, fast die Hälfte aller Säuglinge und Kleinkinder war davon betroffen. Als „natürliches“ Heilmittel wurde Lebertran genutzt, das die Symptome allerdings nur lindern konnte. Rachitis galt rasch
als Avitaminose, als Vitamin-D-Mangelkrankheit. Doch solange der wirkende
Stoff nicht präzise benannt und isoliert werden konnte, war an Therapien und
Heilung nicht zu denken. Konkurrierende Milieu- und Vererbungs-, Kalk- und
Lichtmangeltheorien blieben entsprechend weiterhin relevant.
Genau auf einem solchen Seitenpfad gelang ein erster therapeutischer Durchbruch: Rachitis war nicht zuletzt eine saisonale Krankheit der Unterschichten.
1919 experimentierte ein Außenseiter, der Berliner Kinderarzt Kurt Huldschinsky, mit Quarzlampen. Er stellte fest, dass eine solche Lichttherapie Rachitis
heilte, wenn die Kinder über vier bis sechs Wochen regelmäßig einer Höhensonne mit ultraviolettem Licht ausgesetzt waren. Der Nachteil dieser sogenannten direkten Therapie waren ihre Kosten. Nur bürgerliche Haushalte
konnten sich die teuren Apparate leisten, die Krankenkassen zahlten nur bei
schweren Fällen. Forderungen einer allgemeinen Pflichtbestrahlung der Kinder
scheiterten aber auch an der hohen Erkältungsgefahr, den über Sonnenbrand
vielfach hinausgehenden Hautschädigungen sowie möglichen Veränderungen
des Erbgutes. Dies galt nicht zuletzt, weil auch noch um 1930 keine standardisierte Therapie bestand, Lampen und Lichtspektren also nicht normiert waren
(Adam 1930).
Hauptprobleme bildeten die direkte Exposition der Kinder und die individuelle, also dezentrale Anwendung der Heilungstechnik. Amerikanische Forschungen boten scheinbar einen Ausweg. Rattenversuche zur Lichttherapie
ergaben 1924, dass es ausreichte, Futter zu bestrahlen, um dadurch ähnliche
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Effekte zu erzielen. Die Folge war eine kurzfristige Strahlungseuphorie: Höhensonnen wurden auf alles gerichtet, was essbar war – und wie von Zauberhand
verwandelten sich einfache Lebensmittel in Heilmittel gegen die Rachitis, vorausgesetzt sie enthielten Cholesterin: Butter, Eier, Mehl, Bananen, Gemüse,
vor allem aber die Milch, wurden so zu Therapeutika. Doch zum einen lagen
die wirksamen Mengen sehr hoch, überschritten vielfach die möglichen Verzehrmengen von Kleinkindern. Zum anderen aber fanden Oxidationsprozesse
statt, sodass sie „unangenehm kratzend, brandig, geradezu ranzig“ (Rohr und
Schultz 1926, 848) schmeckten, kurzum kaum genießbar waren.
Eine Breitenprophylaxe, eine „Sanierung“ (Adam 1930, 206) des „Volkskörpers“, stand damit vor beträchtlichen Hürden, denen sich nun aber eine national und international schnell wachsende Mehrzahl von Forschergruppen
widmete. Es galt, Lebensmittelinhaltsstoffe mit Wirkpotenzial zu finden und
diese in anwendbare therapeutische Konzepte zu überführen. Eine Alternative bot seit 1926 jedoch ein neues Verfahren, das Sauerstoff ausschloss. Für
die Milchwirtschaft eröffnete „Höhensonnenmilch“ anscheinend einen lukrativen Gesundheitsmarkt (Scholl 1928). Milch schien aktivierbar und aufladbar
zu sein. Die Maschinenbauindustrie bot ab 1927 erste Apparaturen für einen
„Großbetrieb“ mit mehreren tausend Litern täglich. Doch schon Ende 1926 diagnostizierten einzelne Forscher Vitamin-C-Schäden in der bestrahlten Milch,
die Euphorie erhielt einen ersten Dämpfer (Reyher 1926; Hottinger 1927). Die
Apparate erschienen ambivalent, mussten genau eingestellt werden, um nicht
andere Krankheiten hervorzurufen – dieses forderte auch ein erster Ministerialerlass 1928.
In der Öffentlichkeit wurde das Image bestrahlter Milch damit beträchtlich
geschädigt. In sich auch in die Tages- und Wochenzeitschriften ergießenden
Fachdebatten wurde über „Todesstrahlen“ lamentiert und über die „Giftigkeit der bestrahlten Produkte“ gestritten (Rheinländer 1929, 132). Die Molkereien stoppten vielfach ihre Produktion, während Agrarwissenschaftler
trotzig betonten: „Bestrahlte Milch ist nicht giftig“ (Trendtel 1929, 10). Das
bestätigten zahlreiche Folgeuntersuchungen: Milchbestrahlung galt demnach als „gleichzeitig zuverlässig, bequem und ohne Gefahr“ (Wieland 1929,
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Rachitisprophylaxe beraten wurde, bewertete man sie positiv. Die Mehrzahl
aber setzte auf das neueste Ergebnis chemischer Forschung, dem seit 1928
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verfügbaren Vigantol. Es galt als Provitamin, das der Körper dann zu Vitamin D weiter umbaute. Die Kur kostete circa drei Mark, der Heileffekt war
klinisch erprobt.
Lebertran, Höhensonne, bestrahlte Milch und Vigantol – die Tage der Rachitis
schienen gezählt. Doch auch beim Vigantol ergab die Laboratoriumsforschung
schnell ernüchternde Ergebnisse. Die Verfütterung hoher Dosen verursachte nämlich Sklerose, starke Abmagerung und Tod binnen weniger Wochen
(Richardt 1936).
Die Vitaminforschung, die ihren rasanten Aufstieg auch neuen Visualisierungstechniken verdankte, sah sich nun mit Bildern offenkundiger Toxizität
des Vitamin D konfrontiert. Das galt umso mehr, als das Vitaminpräparat frei
verkäuflich war, sodass die Einhaltung von Dosierungsvorschriften nicht garantiert werden konnte. Dragee- oder Bonbonpackungen mit Vigantol wurden von
Kindern vielfach vollständig verspeist, und dringlich forderten Mediziner, die
Präparate „narrenfest“ (Trowitzsch 1932, 5) zu machen.
Präparate und Apparate wurden gewählt, statt in helle Wohnungen, effiziente
Daseinsfürsorge sowie preiswerte, frische und durchweg verfügbare Lebensmittel zu investieren. Höhensonnen wurden stärker standardisiert, preiswerter und wurden vornehmlich in Waisenhäusern und Kliniken eingesetzt.
Lebertran wurde ebenfalls chemisch standardisiert. Gerade im Gefolge von
Erzeugungsschlacht und Vierjahresplan präsentierte die Werbung Lebertran
als „natürliches“ Wirkpräparat, dessen Geschmack durch Zuckerung und
Fruchtsirup gewann. Die Beratung war jedoch nicht flächendeckend. Das änderte sich erst 1938, als Ärzteverbände und Reichsgesundheitsführung begannen, die Rachitis aus dem Volkskörper „auszumerzen“ (Heimburg 1941,
5). Seit 1939 wurde eine allgemeine Rachitisprophylaxe, vorrangig mit Vitaminpräparaten, institutionalisiert, der alle deutschen Säuglinge im dritten
Monat unterworfen werden sollten. Das Beispiel verdeutlicht nicht nur eine
immer wieder zwischen Triumph und Skepsis, zwischen Hoffnung und Enttäuschung oszillierende fachliche und öffentliche Debatte, sondern auch eine
klare Verengung der Diskussion von Lebensumständen auf Lebensmittel hin
zu Lebensmittelbestandteilen. Der Konsument war lediglich funktionierendes
Endglied einer Heilungsinfrastruktur, für deren Aufbau und Ablauf Experten
zuständig waren.
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5 Farb- und Konservierungssto≈e: Debatten über selbst gescha≈ene Risiken
Die Debatten über Farb- und Konservierungsstoffe in der Zwischenkriegszeit
handeln nicht von direkt sichtbaren Krankheiten, sondern vom Umgang mit
selbst geschaffenen Risiken (Ullrich 1998). Während die Nahrungsmittelchemiker vor 1914 strikt gegen Farb- und Konservierungsstoffe agierten, akzeptierten sie in der Zwischenkriegszeit diese sich wandelnde Gruppe von
Zusatzstoffen. Nicht mehr Verbots- und Zulassungsdiskussionen standen im
Mittelpunkt der Auseinandersetzungen, sondern ein Ringen um Grenzwerte
und Risikokalküle. Arbeitsteilige Fremdversorgung war schließlich unverzichtbar. Eine sich peu à peu von räumlichen und zeitlichen Parametern emanzipierende Lebensmittelinfrastruktur bedeutete längere Verweilzeiten der Produkte
in der Versorgungskette und andere Präsentationsformen. Angesichts der noch
in den Anfängen steckenden Trocknungs- und Gefriertechnologie und den nach
wie vor beträchtlichen verfahrenstechnischen Problemen der Hitzesterilisierung schien der Einsatz „chemischer“ Konservierungsmittel unvermeidbar.
Stärkere Absatzorientierung und internationale Konkurrenz erforderten zugleich Produkte mit ästhetisiertem Erscheinungsbild.
Was den Experten als handhabbares und auszugestaltendes Risiko galt, erschien vielen Verbrauchern als Gefahr, zumal in den späten 1920er-Jahren. Diskutiert wurde über „Gift“. Salpeter und Schwefel erschienen als täuschende und
gesundheitsgefährdende Stoffe, deren Resultat vorrangig „eine schleichende
Vergiftung mit chemisch bearbeiteten Lebensmitteln“ (Strahlmann 1929, 178)
zu sein schien. Schleichend war hierbei ein wichtiger Begriff. Zusatzstoffe wirkten nicht unmittelbar, sondern kumulativ. Langsam und unmerklich entzogen
sie die Lebenskraft, zersetzten Körper und Geist unerbittlich. Dies galt analog
für die eindeutig toxischen Pflanzenschutzmittel in der Landwirtschaft und die
Blausäurepräparate beziehungsweise technischen Gase in den Lagerhallen.
Wichtig war, dass der regelmäßige Zusatz- und Reststoffkonsum damals immer
stärker mit Krebs verbunden wurde. Die Ursachen dieser Geschwulstkrankheit
waren kaum bekannt, wurden im Rahmen der Lebensreformbewegung aber
Die Kehrseite des Fortschritts
schon früh mit den Gefahren der „Zivilisation“ und falscher Ernährung verbunden. Die hohe Sensibilisierung der Öffentlichkeit spiegelt sich in den Reaktionen auf den 1931 nach Rattenversuchen im Genfer Krebsforschungsinstitut
aufkommenden Verdacht, Tomaten würden Krebs erzeugen (Bircher-Benner
1931/32). Führende Fachgremien wiesen dies zurück, doch in der Öffentlichkeit
setzte sich der Eindruck fest, „daß der Krebs eine Zivilisationskrankheit ist,
die […] namentlich durch falsche Ernährung und Mangel an lebenswichtigen
Stoffen in den raffinierten, präparierten und konservierten Nahrungsmitteln
des Kulturmenschen bedingt ist“ (Strahlmann 1929, 179). Dies konnten die
meisten Experten nicht nachvollziehen. Gefahrendiskurse erschienen ihnen
als „Irreführungen des Volkes vonseiten fanatischer Vertreter einseitiger Ernährungsrichtungen“ (Jahrzehnt 1927/28, Nr. 27, II). Gefahren entsprangen
demnach aus fehlendem objektiviertem Wissen, Laien waren nicht urteilsfähig
(vgl. Bechmann und Stehr 2000).
Gleichwohl, Farb- und Konservierungsstoffe bildeten ein Risikopotenzial, mit
dem umgegangen werden musste. Die Färbung von Lebensmitteln veränderte
sich seit den 1860er-Jahren, denn neben die „natürlichen“ Färbestoffe traten
einerseits anorganische Mineralfarben, anderseits die synthetischen Teerfarben. Das 1887 erlassene sogenannte Farbengesetz war lediglich ein „reines
Abwehrgesetz zur Bekämpfung aufgetretener Mißstände“ (Wurzschmitt 1949,
148). Es schloss die wichtigsten Mineralfarben sowie bestimmte chemische
Stoffe für die Färbung aus. Diese Realdefinitionen ließen Gewerbe und Handel
relativ freie Hand und waren durch neue Färbestoffe leicht zu umgehen. Die
Nahrungsmittelchemie begann um 1900 ihren Kampf gegen die sich ausweitenden Praktiken, zielte dabei aber stets auf die mit Färbung einhergehende
Täuschung des Verbrauchers. An die Stelle von Verboten traten jedoch mehr
und mehr Deklarationen und Grenzwerte, da die verarbeitende Industrie ihre
Interessen zu wahren wusste. Die trotz reichsgesetzlichem Verbot nach wie vor
praktizierte Kupfergrünung war dafür nur ein Beispiel. Eine Novelle des Farbengesetzes schien sinnvoll, um dieses Feld neu zu ordnen und die offenkundig
gesundheitsgefährdenden Teerfarben in die Verbotsdiskussion mit einzubeziehen (Weyl 1911). Gleichwohl setzten sie sich in der gewerblichen Praxis durch,
waren sie doch farbstark, preiswerter, und in viel mehr Farbrichtungen verfügbar als die vornehmlich auf rot, gelb, grün, braun und schwarz beschränkten
„natürlichen“ Färbestoffe. Produktorientierung war eine potenzielle Gefahr für
die Konsumenten.
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Nach dem Ersten Weltkrieg veränderte sich die Szenerie. Auf der einen Seite
fokussierten insbesondere die Marktführer der späteren IG Farben ihre Palette angebotener Teerfarbstoffe, während auf der anderen Seite die Nahrungsmittelchemiker zunehmend Abstand von Verbotsforderungen nahmen. Das
Lebensmittelgesetz von 1927 enthielt daher keine Verbotsklausel, auch wenn
im Rahmen der Folgeverordnungen für eine begrenzte Zahl von Lebensmitteln Färbeverbote erfolgten (Beythien 1940). Die primäre Verantwortung für
gesundheitliche Unschädlichkeit lag jedoch immer noch bei den Produzenten
und Verarbeitern der Färbestoffe.
Der Gesundheitsdiskurs wurde durch die sogenannte Reformbewegung wesentlich vorangetrieben, denn ihre Vertreter kommunizierten Untersuchungen
mit den circa 60 verwandten Teerfarbstoffen. Das Gefährdungspotenzial war
auch den Experten des ,,Eisernen Dreiecks“ von Wissenschaft, Wirtschaft und
Staat bekannt, wurde von ihnen aber geringer gewichtet. Im Reichsgesundheitsamt forderte man die neue „nationale“ Regierung 1933 allerdings auf, in
einem novellierten Farbengesetz nur gesundheitlich unbedenkliche Stoffe zuzulassen. Dies unterblieb aus Rücksichtnahme auf das verarbeitende Gewerbe.
Das dennoch erfolgte endgültige Verbot der Färbung von Eier-Teigwaren von
1934 stand noch in der Tradition der Verordnungen zum Lebensmittelgesetz. Zu
dieser Zeit erschienen die mit Teerfarbstoffen verbundenen Risiken jedoch immer größer, sodass auch der NS-Staat moderat intervenierte. Der 1936 dann in
Japan erfolgte Nachweis, dass Dimethylaminozubenzol, das „Buttergelb“, bei
Ratten Krebs erregte, wurde auch im Deutschen Reich rezipiert und führte nach
fast dreijähriger Prüfung im Reichsgesundheitsamt zum Verbot dieses Azofarbstoffes. Dies erfolgte aber nur in Form einer Mitteilung an die Produzenten.
Bis in die Nachkriegszeit galt trotz offenkundiger Gesundheitsgefährdungen:
„Die Färbung ist ein unentbehrliches Hilfsmittel des Lebensmittelgewerbes.
Sie muß zwar innerhalb solcher Grenzen gehalten werden, daß dadurch keine
Täuschung der Abnehmer erfolgt, sollte aber darüber hinaus nicht unnötig erschwert werden“ (Beythien 1940, 18).
Ein ähnliches Bild finden wir beim Risikodiskurs über Konservierungsmittel –
wenngleich hier die Frage möglicher Gesundheitsgefährdungen schon wesentlich früher behandelt und ernst genommen wurde. Die antibakterielle Wirkung
verschiedener Säuren wurde Anfang der 1870er-Jahre entdeckt, ihre Synthetisierung erfolgte unmittelbar danach. Im Rahmen des Nahrungsmittelgesetzes
Die Kehrseite des Fortschritts
wurden Salizylsäure und Borpräparate thematisiert und im Reichsgesundheitsamt physiologisch überprüft. Die kurzfristig angelegten Untersuchungen
ergaben keine unmittelbaren Gefahren. Das ändert sich auf Grundlage weiterer Versuche Ende des 19. Jahrhunderts – neue Tiermodelle waren hierfür
wesentlich. Die wichtigste Auseinandersetzung wurde um die Konservierung
von Fleisch und Fleischwaren geschlagen. Schon 1902 wurde der Umgang mit
den risikobehafteten Konservierungsmitteln im Sinne modernen Risikomanagements bewertet (Abel 1911; Begründung 1902). Ausgangspunkt sollten
im Haushalt bewährte Techniken sein, während alle „chemischen“ Konservierungsstoffe misstrauisch zu beurteilen seien. Ihre langfristige Unschädlichkeit
sei nicht vorauszusetzen und auch die Rechte von Kindern, Kranken und Alten
seien zu berücksichtigen. Doch analoge Einschränkungen gab es später nur bei
wenigen Produkten, etwa bei Wein oder Bier.
Das Argument gewerblicher Anbieter, ohne leistungsfähige Konservierungsmittel in einer arbeitsteiligen Verkehrsgesellschaft nicht wettbewerbsfähig zu
sein, wurde staatlicherseits gestützt und hatte Vorrang vor einem fundierten
Risikomanagement (Buchka 1914). Die Folge war ein beträchtlich erweitertes
Arsenal leistungsfähiger Zusatzstoffe. Zu dieser Zeit wurde eine fehlende gesetzliche Regulierung zunehmend moniert, auch viele Hersteller drangen auf
ein normiertes und kontrolliertes Angebot. Die Nahrungsmittelchemiker akzeptierten derweil zwar den Anspruch des Gewerbes, chemische Konservierungsmittel einsetzen zu müssen, doch im Rahmen der Novelle des Lebensmittelrechtes optierten sie für ein grundsätzliches Verbot und eine begrenzte
Zulassung „unschädlicher“ Mittel. Die Sprache der sogenannten Reformbewegung verurteilten sie zwar, in der Sache aber standen beide Gruppen vielfach
Seit an Seit.
Die Folgeverordnungen des Lebensmittelgesetzes von 1927 enthielten zahlreiche einschränkende Grenzwerte, doch eine Deklarierung unterblieb zumeist
(Lenz 1932). Angesichts vielfach noch ungeklärter Wirkungen der meisten Konservierungsmittel nahm die essende Bevölkerung ohne fundiertes Wissen an
einem Großversuch teil, dessen Teilnehmer sie selbst bildeten. Zahlreiche im
Deutschen Reich zugelassene Mittel waren im Ausland schon längst verboten
worden (Waser 1932). 1931 und 1932 wurde dann den interessierten Kreisen
ein im Reichsgesundheitsamt ausgearbeiteter Entwurf einer Verordnung über
Konservierungsmittel zugeleitet, der den deutschen Regulierungsrückstand
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beseitigen sollte. Er verursachte allgemeine Empörung der Industrie, sah er
doch eine allgemeine Deklaration vor: Die Bezeichnung „chemisch konserviert“ sollte künftig alle Lebensmittelverpackungen mit entsprechendem Inhalt zieren. Für die Industrie war dies eine Morgengabe an die „Reformbewegung“, die nur zur allgemeinen Beunruhigung beitragen und den Niedergang
der deutschen Lebensmittelindustrie beschleunigen würde. Eine Deklaration
müsse immer die Mehrzahl im Blick behalten (Eingabe 1933). Allergiker, Alte
und Kinder sollten vielmehr Produkte kaufen, die positiv als „rein“ oder „naturrein“ gekennzeichnet waren. Derart gewappnet begannen im Mai 1933
Verhandlungen zwischen Industrie, Reichsgesundheitsamt und Reichsinnenministerium, die zu Kompromissen führten. Gesetzeskraft aber erhielt sie
nicht, letztlich setzten sich die Bedenkenträger der Industrie durch. Parallel
scheiterten Brancheninitiativen, etwa in der Fischindustrie, „chemische“ Konservierungsmittel möglichst zu minimieren. An ihre Stelle traten informelle Regelungen zwischen Industrie und staatlichen Instanzen, bis 1942 auf dem Anordnungsweg die Leipziger Versuchsstelle für Hauswirtschaft des Deutschen
Frauenwerks für Unbedenklichkeitsprüfungen chemischer Konservierungsmittel zuständig wurde (Ziegelmayer 1940, 319-320). Die damals ebenfalls eingeführte Deklarationspflicht galt jedoch nur für den Verkehr zwischen Produzent
und Verarbeiter.
Die Experten des Eisernen Dreiecks zielten nicht nur auf eine wachsende
Verfügbarkeit künstlicher Kost durch optimierte Stoffzusammensetzung,
wachsenden Conveniencegrad, verbesserte Verpackung und leistungsfähiger
Konservierungstechnik, sondern auch auf die Regelung selbst geschaffener
Probleme. Auch wenn dabei keineswegs immer an einem Strang gezogen
wurde und die Stellung der Nahrungsmittelchemiker als Sachwalter des Konsumenten lange Zeit über durchaus substanziell war, wurde das von der Reformbewegung zumindest artikulierte Unbehagen an bestehenden Gefahren
im Lebensmittelsektor vielfach negiert. Die hierarchische Art der in der Zwischenkriegszeit etablierten Risikodiskurse setzte sich auch nach dem Zweiten
Weltkrieg fort. Gefahren wurden innerhalb des Eisernen Dreiecks zu Risiken
und nach der Logik der scheinbar Wissenden behandelt. Die Folge war eine
wachsende Kluft zwischen Experten- und Alltagswelt, die in einer pluralistischen Öffentlichkeit allerdings andere Ausprägungen annehmen musste als
in einer polykratischen Diktatur. Festzuhalten ist ein langsamer Übergang
von einem Fälschungs- und Täuschungs- zu einem Gesundheitsdiskurs. Die
Die Kehrseite des Fortschritts
eigentliche Sensibilisierung der Experten erfolgte vielfach durch Außenseiter.
Wissenschaft, Wirtschaft und Politik nahmen innerhalb der selbst geschaffenen Institutionen nach wie vor wissenschaftlich, wirtschaftlich und politisch
relevante Risikobewertungen vor. Durch Reformer, Gegenexperten und große
Teile der Öffentlichkeit herausgefordert, befanden sich die Experten seit den
1950er-Jahren in der kommunikativen Defensive.
6 Schlussthesen
Die Auseinandersetzungen um den zunehmenden Einsatz von Zusatzstoffen
und die wachsende Bedeutung von Verarbeitungs- und Konservierungstechnologien bei der „Lebensmittelveredelung“ waren breit gefächert. Mit Blick
auf unsere heutige Situation erscheinen sie jedoch keineswegs antiquiert, im
Gegenteil:
1. Die Zwischenkriegszeit wies intensive Debatten um den Stellenwert gewerblicher Lebensmittelproduktion auf – diese lassen sich aber auch bis
weit ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Unsere kurzatmigen Gegenwartsdebatten sind nur Wiedergänger schon vielfach geführter Auseinandersetzungen.
2. Neu in der Zwischenkriegszeit war, dass die bestehenden Expertenkulturen
und ihre Art der Wissens- und Güterproduktion nicht mehr allein durch
Alternative, sondern zunehmend durch Fachwissenschaftler selbst in Frage
gestellt wurden. Risikodebatten unterminierten die Einheit der „Wissenschaft“, Experten trafen auf Gegenexperten.
3. Die Medien reproduzierten dieses heterogene Wissen, doch die Konsumenten setzten dieses ihnen vielfach fremde objektivierte Wissen kaum
um: Ernährungsbezogene Praktiken emanzipieren sich, teils unwissentlich,
teils aber auch bewusst von wissenschaftlichen Vorgaben, da deren Handlungs- und Alltagsrelevanz letztlich gegrenzt blieb.
4. Vorstellungen grundsätzlich neuartiger Risikodebatten in der Gegenwart,
der späten 1960er-Jahre oder aber Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ab-
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strahieren von der langen Vorgeschichte. Ihre Konturen entwickelten sich
in der Zwischenkriegszeit. Nochmals: Ernährungsbezogene Risikodiskurse
sind fast durchweg Wiedergänger. Historische Kenntnisse sind entsprechend unverzichtbar, will man nicht wieder und wieder altbekannte Debatten scheinbar neu führen.
5. Die Verbraucherschutzbewegung der 1920er-Jahre, die sich vor allem an
den Mainstream der Expertensysteme andockte, forderte zwar verschärfte
Grenzwerte und Kontrollen, war aber nicht in der Lage relevante innovative Beiträge zur öffentlichen Debatte zu liefern. Sie reproduzierte letztlich
die Wissensformen der etablierten Expertensysteme in ihren real bestehenden Widersprüchen. Eine eigenständige Verbraucherschutzbewegung
bedarf immer auch einer Emanzipation von der Sprache, den Denkformen
und den Praxisvorstellungen der Expertensysteme in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik.
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