Diskursfähigkeit oder Sachkompetenz als Ziel der Umweltbildung
Jan Dirk Imelman, Wilna A.J. Meijer, Jan Marten Praamsma
Utrecht 1994
Zusammenfassung
Im ersten Abschnitt dieses Beitrages wird die Umweltbildungstheorie von Albert
Ilien dargestellt. Ilien versteht die Umweltkrise als Gesellschaftskrise und als
Bewußtseinskrise. Demzufolge sollte sie auch als eine Schulkrise verstanden
werden. In Iliens Vorschlag zu einer radikalen Schulreform ist der herrschaftsfreie
Diskurs ein zentrales Moment. Dieser macht die Schule zu einer Freistatt für die
Schüler und zu einem Leitbild für den zukünftigen Gesellschaft.
Im zweiten Abschnitt charakterisieren wir Iliens Theorie der Umweltbildung als einen Form von kritisch-kommunikativer Pädagogik. Verschiedene
seiner Ausgangspunkte werden von uns unterschrieben. In kritischer Ergänzung
zu dem Ansatz von Ilien aber, werden wir die bildungstheoretische Relevanz von
den Inhalten der Umweltbildung (der Sachkompetenz) stärker hervorheben.
Im dritten Abschnitt erläutern wir unsere Akzentverschiebung mit
Beispielen.
In einer Schlußbemerkung weisen wir darauf hin, daß Iliens mehr auf
Diskursfähigkeit fokussierenden Reformvorschlag den deutschen Bildungslage
entspricht, während unser mehr auf Bildungsinhalten gerichteter Reformvorschlag
eine Antwort auf die niederländische Lage ist. Diese unterschiedliche Kontexte
relativieren die genannten Unterschiede in die Ideen über Umweltbildung.
1. Umweltkrise als Bildungskrise - Iliens Konzept der Umweltbildung.
"Eine Umweltkrise zu diagnostizieren, müßte eigentlich bedeuten, auf eine
Bildungskrise zu schließen", sagt Ilien (1991, S. 1). Er fügt aber hinzu, daß die
Umweltkrise sich bis heute kaum in der Unterrichtspraxis durchgesetzt hat.
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Ilien behauptet daß es notwendig ist eine solche Bildungs- oder Schulkrise
anzuerkennen. Zuerst macht er dazu klar, daß die Umweltkrise eine Gesellschaftskrise und Bewußtseinskrise ist. Nur dann kann es deutlich werden, welche
Konsequenzen die Umweltkrise für die Schule haben konnte. Dann untersucht er,
wie diese Konsequenzen schulpraktisch verwirklicht werden könnten und welche
Schwierigkeiten das mit sich bringt. Zum Schluß präsentiert er einen Vorschlag
zur Lösung der konstatierten Probleme schulischer Umweltbildung. Diese drei
Teile seiner Auseinandersetzung werden wir jetzt näher betrachten.
1.1. Umweltkrise als Gesellschaftskrise
"Je gravierender die Umweltkrise eingeschätzt wird, um so mehr muß sie als
Gesellschaftskrise betrachtet werden" (Ilien 1991, S. 1). Für diese Anfangsthese
bringt Ilien zwei Argumente vor. Erstens verweist er auf die "typisch neuzeitliche
rücksichtslose Grundhaltung gegenüber der `Natur'" (Ilien 1991, S. 1) die unser
Gesellschaft kennzeichnet, und macht diese verantwortlich für die Umweltkrise.
Diese rücksichtslose Grundhaltung kennzeichnet sich, durch das angeblich
neutrale, objektive Erkenntnisinteresse der modernen wissenschaftlichen Rationalität, in Zusammenhang mit der technologischen Verfügungspraxis und den
ökonomischen Interessen.
Sein zweites Argument betrifft die Verantwortlichkeit für diese Grundhaltung. Ilien nach hat "die Leistungsfähigkeit des Politischen Systems", das nicht
imstande ist die wissenschaftlichen Technologie und Ökonomie zu beherrschen,
die Schuld an der Umweltkrise. "Als zentrales Fazit ... zeigt sich daß die
Umweltkrise nicht einfach die Krise des Menschen im Umgang mit seiner
naturalen Umwelt ist. Die Umweltkrise entsteht vielmehr aus dem Gegensatz zwischen der universellen wissenschaftlich-technischen Kompetenz und der (noch)
unterentwickelten Fähigkeit des Menschen zu einem universalen menschlichen
Umgang miteinander" (Ilien u.a. 1992, S. 81). Die Umweltkrise wird von Ilien
also als eine Gesellschaftskrise verstanden. Dieses Verständnis bestimmt auch die
Richtung in der eine Lösung der Krise gesucht wird.
Ilien kritisiert zwei mögliche Lösungsrichtungen der Krise. Erstens eine
bestandskonservative, fortschrittsoptimistische Lösungsweise. Diese verläßt sich
darauf, daß die Probleme durch weiteren technischen und politischen Fortschritt
zu lösen seien. "Wichtig sei es, die Probleme den technologischen und politischen
Experten zu überlassen und die Bevölkerung nicht unnötig zu beunruhigen" (Ilien
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1991, S. 2). Die Alternative ist eine reformerische Lösungsweise, die die
Umweltkrise der modernen technologischen Rationalität und dem Versagen der
Demokratie zuschreibt: "Die moderne Rationalität [ist] nicht wirklich rational und
die neuzeitliche Demokratie nicht wirklich demokratisch" (Ilien 1991, S. 2).
Welche Konsequenzen hat dies alles für die Schulpraxis? Die beiden
Lösungsweisen erzeugen einen Unterricht nach ihren eigenen Art. Die
bestandskonservative Weise zufolge, sollten die Kinder zu technischen und politischen Experten gebildet werden. "Sie setzt auf Wissens- und Kompetenzförderung einerseits und Elitebildung andererseits, d.h. auf Qualifikation und Selektion" (Ilien 1991, S. 2). Die reformerische Lösungsweise verlangt dagegen "statt
einer engen fachlich-kognitiven Qualifikation eine kommunikative `ganzheitliche'
Bildung und statt Selektion die Einübung in demokratische Partizipation" (Ilien
1991, S. 4).
Beide Weisen erzeugen ihre eigene Probleme. Die konservative Weise
nimmt die Umweltkrise nicht wirklich ernst. "Das Umweltproblem taucht hier als
technisch zu beherrschendes, also als Wissens- und Kompetenzproblem auf, nicht
eigentlich als gesellschaftliches" (Ilien 1991, S. 2). Von wissenschaftlichem Fortschritt wird die Lösung erwartet.
Die reformerische Lösungsweise erzeugt aber auch Probleme. Man kann
die Notwendigkeit Kinder in der Schule auch beruflich auszubilden nicht
ignorieren. Und für solche Ausbildung sind wissenschaftliche Qualifikation und
elitebildende Selektion unumgänglich. So wird die Schule zu einem Kompromiß
gezwungen: "Keine Schule, wie `progressiv' auch immer, kommt das Qualifikations- und Selektionsproblem herum" (Ilien 1991, S. 4). Dieser Kompromißzwang macht aber die Schule für die Schüler unglaubwürdig.
Es ist der Kompromißzwang der den Fehler in der gegenwärtigen Umwelterziehung hervorruft. Ilien nennt drei typen Umweltdidaktik die, unter Druck des
Kompromisses, das Umweltproblem verkürzen.
Erstens erwähnt er die Umwelterlebnisdidaktik. "Dabei wird die
Entwicklung von Verständnis für ökologische Zusammenhänge und eines
verantwortlichen Umwelthandelns als Bildungsprozeß verstanden, der wesentlich
durch Begegnung und Erleben bestimmt ist: Naturbegegnung und Naturerleben"
(Ilien u.a. 1992, S. 86/87). Diese Didaktik leitet zu `ganzheitlicheren' Wahrneh-
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mungsfähigkeiten, aber beachtet nicht die gesellschaftlichen Kräfte hinter den
Umweltproblemen.
Der zweite umweltdidaktische Ansatz richtet sich auf die Eigenverantwortung der Schüler und konzentriert sich auf das lokal Machbare, um die
Heranwachsenden nicht zu entmutigen. "Sie zielen auf die Lebensführung des
Einzelnen, auf eine umweltfreundliche Schule und auf unmittelbar erfahrbare Probleme der lokalen Umwelt; kurz: auf das Machbare" (Ilien u.a. 1992, S. 87). Auch
diese Didaktik geht aber vorbei an die gesellschaftlichen Strukturabhängigkeiten
(Ilien 1991, S. 5).
Ein drittes umweltdidaktisches Modell betrifft die politische Bildung.
Diese Didaktik richtet sich auf die politische Handlungsmöglichkeiten der
Heranwachsenden. Sie tendiert aber "zu einem theorielastigen Aufklärungsunterricht oder zu nur aktionistischen Handlungsformen, die letzlich Ohnmachtsgefühle verstärken" (Ilien u.a. 1992, S. 87). Auch dieses Modell unterschätzt also
die Strukturabhängigkeiten.
Ilien schreibt den drei Modellen einen gewissen Wert zu, er meint aber
auch, daß sie den Kern der Problematik umgehen: Nämlich daß die Umweltkrise
eine Gesellschaftskrise ist. "Der Kompromißdruck drängt sie sozusagen zur
unauffälligen Preisgabe von ihrem - sie eigentlich motivierenden - gesellschaftkritischen Bewußtseins" (Ilien 1991, S. 5). Ilien behauptet, daß Anerkennung der
Umweltkrise als Gesellschaftskrise, auch eine Schulkrise mit sich bringen wird.
Die Schule sollte sich radikal ändern (Ilien 1991, S. 5).
Weiter macht Iliens Ansicht, daß die Umweltkrise eine Bildungskrise sei, radikale
Schulreform ebenso unumgänglich.
1.2. Umweltkrise als Bewußtseinskrise
Ilien meint, daß die Umweltprobleme auf ein `sensibles Krisenbewußtsein' (Ilien
u.a. 1992, S. 80) treffen, da die moderne Gesellschaft die traditionelle Existenzund Sinndeutung der (religiösen) Gemeinschaft verloren hat. "Die Aufzehrungsprozesse traditionaler Existenz- und Sinndeutungen setzen den Menschen (...)
prinzipiell frei für eine universalistisch entgrenzte Selbst-Deutung des eigenen
Lebensentwurfs (...) Ein Bewußtsein, das auf Wiedergutmachung erlittenen
Unrechts und Kompensation ungelebten Lebens in einem Jenseits hofft, geht mit
Krisenphänomenen prinzipiell anders um als ein `säkulares'. Die Vernichtungs-
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gedanke und mit ihr die Verzweiflung über Sinnlosigkeit gewinnt in dieser Zeit
eine existentielle Relevanz" (Ilien u.a. 1992, S. 80). "Damit wird das Umweltproblem ein existentielles Problem, innerhalb dessen der Lebenssinn selbst
bezweifelt wird" (Ilien 1991, S. 6). Das Krisenbewußtsein wird zur Bewußtseinskrise und diese Bewußtseinskrise ergibt die Gefahr Umweltprobleme zu verdrängen und sich mit Scheinantworten, wie autoritäre Abhängigkeitswünsche oder
Fremdenhaß, zufriedenzugeben (Ilien u.a. 1992, S. 81).
Ilien nach ist die Umweltkrise deshalb ein notwendiges Thema in der
Schule. "`Umwelt' ist ein überlebensnotwendiges Thema für alle Heranwachsenden; die Schule muß es ernstnehmen, will sie die Heranwachsenden und will sie
sich selbst ernst nehmen" (Ilien 1989, S. 6). Die Schule kann sich nicht beschränken auf ein Kompromiß, das die Probleme reduziert. Es sollte eine richtige
Schulkrise geben.
1.3. Umweltkrise als Schulkrise
Die Schulkrise fordert eine Änderung der Schule. "Statt - wie bisher überwiegend
- Fakten und kognitive Kompetenz zu vermitteln, wobei sie sich immer mehr in
die scheinbar ethisch-politisch indifferenten erfahrungswissenschaftlichen
Bereiche zurückzog - wird sie auch unterschiedlichen Positionen in den ethischen
Fragen zum Zuge kommen lassen" (Ilien u.a. 1992, S. 84). Ilien fragt sich, wie die
Schule das verwirklichen kann. Seiner Meinung nach, muß die Schule in dieser
Schulkrise mit den folgenden Sachen rechnen (Ilien 1989, S. 6/7).
Erstens ist - wie gesagt - `Umwelt' ein notwendiges Thema. Im Krisenbewußtsein steht der Lebenssinn selbst im Frage. Die Schüler bringen solche
existentielle Fragen mit sich in der Schule hinein. Eine Schule die sich selbst und
ihre Schüler ernst nimmt, kann nicht um das Thema `Umwelt' herum.
Zweitens ist `Umwelt' ein schwieriges Thema weil es einerseits die
Thematisierung der Unfähigkeit der Erwachsenen ist und andererseits die
Thematisierung der Übermacht der gesellschaftlichen, insbesondere ökonomischen, Sachzwänge (Ilien 1989, S. 6). Die Schule kann nicht das Unmögliche
von den Schülern fordern: "Ein schonender Umgang mit den natürlichen Quellen.
Lehrer, die solches von den Schülern verlangen, machen sich lächerlich" (Ilien
1991, S. 7).
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Es gibt also zwei Dilemmas: "Schule in der Gesellschaft und
Heranwachsende in der Schule" (Ilien e.a 1992, S. 84). Die Schule sollte deshalb
auch zwei Lösungen bieten.
- Schule in der Gesellschaft: Die Schule sollte sich abgrenzen von der
gesellschaftlichen Kräften. Sie sollte eine Freistatt für die Heranwachsenden sein.
"Als Anwalt der Zukunft ihrer Schüler müßte sich die Schule nach außen
politisieren, nach innen zum Ort werden, an dem sich Schüler ernstgenommen
fühlen können" (Ilien 1991, S. 7). In dieser Freistatt geht es um "die Einbindung
der naturwissenschaftlich-technologischen Intelligenz in eine Grundhaltung zur
naturalen Umwelt, die sich als `verständig' bezeichnen läßt" (Ilien 1989, S. 7).
- Heranwachsende in der Schule: Solche Einbindung ereignet sich in einem
herrschaftsfreien Diskurs von Lehrer und Schüler (Ilien 1989, S. 7). Dazu sollten,
innerhalb der Schule, die Schüler selbst das, was sie bewegt, interessiert und bedrückt, zur Sprache bringen können (Ilien 1991 S. 7). "Dabei wird die Rolle der
Lehrer sein, tolerant mit Meinungsäußerungen umzugehen, ein faires
Austragungsfeld sinnrelevanter Fragen zu eröffnen, Argumente selber sprechen zu
lassen, ihre Dignität prüfbar zu machen und die klärbaren Aspekte zu klären"
(Ilien u.a. 1992, S. 84). In dieser Weise wird in der Schule die Pluralität der gesellschaftlich vorhandenen Einstellungen zur Sprache gebracht, und allerdings
allesamt unter das, von ihr selbst repräsentierte Postulat des prinzipiell herrschaftsfreien Diskurses (Habermas) gestellt (Ilien u.a. 1992, S. 85). Die Umweltkrise wäre prinzipiell indirekt zu thematisieren: Die gesellschaftspolitische
Aufklärung müßte als kooperativ-diskursive Erfahrung stattfinden. Deshalb wird
neben sächlicher Kompetenz der Lehrer die Diskursfähigkeit wichtig sein.
In dieser Weise wird die Schule zum Leitbild für die Gesellschaft. Sie
kann "der Erwachsenengesellschaft ihre eigene Erfahrung mit einem
diskursorientierten, auf Verständnis beruhenden und auf Verständigung zielenden
Umgang mit dem Heranwachsenden als politische Modellvorstellung anbieten ...
In ihren Schulen findet die Gesellschaft eine neue Möglichkeit, sich selbst
kennenzulernen und sich zu fragen, in welcher Zukunft sie aufbrechen will und nicht zuletzt - im Rahmen welcher Umwelt dies geschehen soll" (Ilien u.a. 1992,
S. 85).
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2. Diskursfähigkeit und Sachkompetenz
Iliens Analyse der Umweltkrise als Gesellschaftskrise, Bewußtseinskrise und
Bildungskrise erinnert uns an der sogenannten gesellschaftkritischen Pädagogik
der sechziger und siebziger Jahren, die heute wohl kein Konjunktur mehr hat oder
sogar vergessen zu sein scheint. Mollenhauer zum Beispiel, der in 1968 sein Buch
Erziehung und Emanzipation veröffentlichte, scheint seit seinem Buch von 1983,
Vergessene Zusammenhänge, Über Kultur und Erziehung, jede Gedanke an
Emanzipation und Diskursfähigkeit hinter sich gelassen zu haben. Gerade das
kulturkritische Potential seiner ehemaligen Pädagogik ist ihm seitdem entglitten
(vgl. Meijer 1985). Vielleicht hängt das damit zusammen, daß er vornehmlich
dem ästhetisch-künstlerischen Teil der Kultur seine Aufmerksamkeit zuwendet.
Wer aber, wie zum Beispiel Ilien, eher auf Erziehung in Zusammenhang mit
einem gesellschaftlichen Problem wie die Umweltkrise fokussiert, muß sich
bestimmt auch Gedanken machen über Kulturkritik.
Deshalb ist es sicher nicht unverständlich, und unseres Erachtens auch
nicht unvernünftig, daß Ilien c.s. am kritischen Programm der Fortsetzung der
Aufklärung festhalten wollen. Wir möchten ihm in den folgenden Ausgangspunkten beistimmen:
1. Rationalität ist mehr als eine nur naturwissenschaftlich-technisch-ökonomische
Kompetenz. Eine derartig begrenzte Zweckrationalität schlägt sogar in Irrationalität um, wenn nämlich ethische Fragen der persönlichen oder weltanschaulichen
oder politischen Willkür überlassen werden;
2. Erziehung sei Einführung in Rationalität in ihrer verschiedenen Formen. Wir
möchten Ilien ganz und gar zustimmen, wo er sagt: "Nach wie vor steht die
Schule unter dem bildungstheoretischen Anspruch der Verbreitung von Vernunft.
Dieses aufklärerische Postulat ist heute, nach dem Legitimitätszerfall traditionaler
partikularer, z.B. nationalistischer, rassistischer, konfessionalistischer
Verengungen, gesellschaftlich angemessener denn je" (1991, S. 3);
3. Und damit ist auch einen dritten Annäherungspunkt schon angesprochen
worden: Eine uneingeengte Rationalität bzw. Diskursfähigkeit entspricht die
postkonventionellen offene Gesellschaften.
Wir meinen aber daß der sozialisationstheoretische Ansatz der kritischen
Pädagogik eine richtige bildungstheoretische Ergänzung braucht (vgl. Meijer
1983, 3. Kapitel). Diskursfähigkeit ist eine formale Kompetenz die, der kritisch-
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kommunikativen Pädagogik zufolge, nur durch Teilnahme an Diskursen erworben
werden kann. (Das Prinzip der kontrafaktischen Antizipation hat dabei eine
'pädagogische' beziehungsweise 'sozialisierende' Wirkung; vgl. u.a. Habermas
1973, Mollenhauer 1972, Schäfer & Schaller 1971). Wir wollen nicht bestreiten,
daß solche Teilnahme an Diskurse eine notwendige Voraussetzung für die
Erwerbung der Diskursfähigkeit ist, aber ausreichend ist es unseres Erachtens
nicht. Diskurse werden nie in einem luftleeren Raum geführt. Wie diskursfähig
einer auch immer sein mag, nicht über jedes Thema wird er gleich gut mitdenken
und mitreden können. Wer gut über Kernenergie diskutieren kann, kann noch
nicht deshalb auch über Shakespeare oder Säuglingspflege oder Computerspiele
gut diskutieren. Diskurse können nur gelingen, wenn die Teilnehmer vom Gesprächsgegenstand Bescheid wissen. Der Inhalt des Diskurses ist eine wichtige
Variable, und damit sind Bildungsinhalte pädagogisch genau so wichtig wie die
diskursive Weise in dem sie vermittelt werden. Die Wahl der Bildungsinhalte ist
somit eine pädagogische Hauptsache, auch wenn es um ein gesellschaftlich
heikles und kontroverses Gebiet wie Umweltbildung geht.
Ilien suggeriert ein Generationsproblem. Die Erwachsenen haben Fehler gemacht
und haben deswegen die Kinder keinen Inhalt mehr zu übertragen. "`Umwelt' ist
ein notwendig schwieriges Thema weil es die Thematisierung der Unfähigkeiten
der Erwachsenengeneration durch diese selbst darstellt und damit den eigenen,
mit besonderem Nachdruck vertretenen Bildungsanspruch zu desavouieren droht"
(Ilien 1989, S. 6).
Er übersieht aber, daß auch diese Konstatierung eine Konstatierung der
Erwachsenen ist. Die vielen Lösungsversuche für Umweltprobleme (Naturschutz
und Umweltpolitik der Regierungen, Aktivitäten Aktionsgemeinschaften wie
Greanpeace u.a.) zeigen ständig, daß auch die Kulturkritik Teil unserer Kultur ist.
Es ist nicht Kritik der Kinder an den Erwachsenen, vielmehr ist es Kritik der
Erwachsenen an sich selbst. Die Erwachsenen haben die Kinder nicht nur
Probleme, sondern auch Lösungsversuche zu bieten.
Selbstverständlich ist dabei eine Diskussion über die Frage, ob Lösungen
genügen, wertvoll und notwendig. Entmutigung und Unglaubwürdigkeit entstehen
nur wenn die Lösungen als endgültige Lösungen präsentiert werden.
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Diskursfähigkeit oder Sachkompetenz
3. Beispiele der Niederländischen Umwelterziehungspraxis
Zwei Beispiele aus der Niederländischen Umwelterziehungspraxis können das
klar machen. Erstens erwähnen wir ein Beispiel einer diskursorientierten Praxis
und zweitens ein Beispiel einer inhaltsorientierten Praxis.
3.1 Ein Zeitungsbericht über Quecksilberabfall
Drei Groninger Umwelterziehungsforscher beschreiben verschiedene Leitbilder
für die Umwelterziehung (Delhaas, Koekkoek und Akkerman, 1990). Einer, eine
Klassediskussion über ein Zeitungsbericht, erwähnen wir hier (id. S. 335-343).
Die Lektion betrifft ein Zeitungsbericht über den Export von Quecksilberabfall.
Es handelt um die Aktion der `Stichting Natuur en Milieu' (Stiftung Natur und
Umwelt) die verhindern will, daß Philips Nederland quecksilberbehaltendes
Abfall nach der (ehemalige) DDR exportiert.
Ausgangspunkt der Klassendiskussion ist die existentielle Betroffenheit
der Schüler. "Berichte die uns emotionell treffen, gehen uns oft an einen Wert
(oder ein Wertgebiet). Fragen nach eine erste Reaktion ist eine gute Weise bei die
Werte zu verweilen um die es sich handelt. Wir sind keine gefühllosen Berichtenaufsäuger" (Delhaas, Koekkoek und Akkerman 1990, S. 336).
Die Schüler lesen das Bericht und inventarisieren ihre eigenen Reaktionen und die
Reaktionen ihrer Mitschüler. Danach bewerten sie die Reaktionen mit Noten. Zum
Schluß werden die verschiedenen Meinungen und Bewertungen diskutiert. Jeder
Schüler sollte aus der Diskussion seine eigene Schlußfolgerung ziehen. Der
Lehrer sollte die Schüler dabei helfen ihre Gefühle aufzuklären und einander
zuzuhören.
Die Beschreibung dieser Stunde zeigt eine Umwelterziehung in der alles sich
dreht um Argumente und weiter weist sie aus, daß gute Argumente Kenntnisse der
diskutierten Sache voraussetzen.
Schon in ihrer ersten Reaktion zeigen die Schüler mehr oder weniger zu
wissen wovon sie reden: "Dumm, daß Philips nicht selber den Abfall verbrennt"
oder "Jetzt hat man in der DDR ein Problem, es ist nur verschiebung des
Problems". Diese Aussagen können nur auf Grunde von Erkenntnis der Umweltproblematik gemacht werden. Und es ergibt sich auch in der Fortsetzung der
Diskussion: "Der Lehrer fragt einem Schüler: Warum hat die Aussage (eines
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anderen Schülers) `20 Kilo Quecksilber ist doch nicht soviel', dir am meisten betroffen? Der Schüler antwortet: `20 Kilo ist ja ganz viel'. Der Lehrer: `Wann
würde etwas viel sein, wovon würde das abhängig sein?' Schüler: Von der Art des
Materials. Wenn es 20 kilo Wasser wäre ..." (Delhaas, Koekkoek und Akkerman,
1990, S. 342).
Es kann nur eine Diskussion geben, wo es Kenntnis der Sache gibt. Und mehr
noch: Die Qualität der Diskussion ist abhängig von der Qualität der Erkenntnis.
Was der Schüler von der Schädlichkeit des Quecksilbers weiß, was er von den
ökonomische Gründe der Export weiß, was er von den Abfallverarbeitungsmöglichkeiten in der DDR und in der Niederlanden weiß usw. Solche
Sachkompetenz ist entscheidend dafür, ob argumentativ-diskursive Gespräche
erfolgen. Eine formale Diskursfähigkeit reicht dazu nicht aus.
3.2 Geographie und Biologie eines Sumpfgebietes
Im Projekt Natur- und Umwelterziehung in weiterführenden Schulen (MNE-VO),
fanden wir eine Lektion über ein Sumpfgebiet. Die Lektion umfaßt vier Teilen.
Erstens gibt es eine erste Kenntnisnahme, mittels einer Exkursion oder einer
Reihe Dias. Zweitens wird das Sumpfgebiet geographisch analysiert: Was
bedeutet das Sumpfgebiet für die Menschen; wie ändern sie das Sumpfgebiet und
warum; welche Folge hat das? Dann folgt eine biologische Analyse: Wie haben
Pflanzen und Tiere sich am Leben im Sumpfgebiet angepaßt; was bedeutet das
Sumpfgebiet für Pflanzen, Tiere und Menschen und was gescheht wenn
Menschen das Sumpfgebiet ändern; wäre dagegen etwas zu tun? Zum Schluß
machen die Schüler selber einen Flächennutzungsplan für das Wattenmeer. Dazu
sollten sie den Eigenwert der Natur, die Sauberkeit der Umwelt und die
Bedeutung des Gebietes für Fischerei, Landwirtschaft, Erholung und Industrie
diskutieren.
Es ist bemerkenswert, daß dieses Projekt drei Arten von Kenntnissen
unterscheidet und vermitteln will. Erstens eine alltägliche (d.h. `ganzheitliche',
nicht technologisch verkürzte) Vertrautheit mit dem Sumpfgebiet (Dias oder
Exkursion); zweitens eine Analyse der gesellschaftlichen Funktionen des Sumpfgebietes (die geographische Analyse) und drittens eine Analyse der Eigenart des
Sumpfgebietes (die biologisch-ökologische Analyse).
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Diskursfähigkeit oder Sachkompetenz
Auch die Diskussion zur Vorbereitung des Flächennutzungsplans sollte die
verschiedenartigen alltäglichen (ganzheitlichen), gesellschaftlichen und ökologischen Kenntnisse berücksichtigen. Diese drei qualitativ unterschiedlichen
Kenntnisse sind unerläßlich für eine sinnreiche Diskussion über die Umweltkrise
(vgl. auch Ilien 1991 S. 5 oder Ilien u.a. 1992 S. 87). Die Schüler bringen vielleicht schon ein Krisenbewußtsein in die Schule. Die Kenntnissen sollten sie aber
in der Schule erwerben. Daß die Diskussion ein wichtiges Medium ist, in dem
Lehrer und Schüler ihre Kenntnisse aushandeln und vermehren, möchten wir
übrigens gerne zustimmen.
Schlußbemerkung
Reformvorschläge sollten immer in ihrem Kontext verstanden werden. Im zweiten
Abschnitt haben wir versucht, neben einigen Annäherungspunkten, auch einen
wichtigen Unterschied zwischen unserem bildungstheoretischen Konzept von
Umweltbildung und dem mehr sozialisationstheoretischen Konzept Iliens
hervorzuheben. (Im dritten Abschnitt haben wir versucht, das mit Beispielen zu
versehen). Es ist aber wahrscheinlich, daß diesen Unterschied unmittelbar mit
Unterschieden in den Bildungslagen in Deutschland einerseits und den
Niederlanden andererseits zusammenhängt.
Ilien versteht die - mit dem gesellschaftlichen Tendenz zur Zweckrationalität verbundenen - Reduktion der Bildungsidee als eine Verkürzung auf
Inhaltsvermittlung. Er betont dagegen z.B. die Notwendigkeit einer offenen
Schul- und Unterrichtsorganisation und der pädagogischen Diskursfähigkeit der
Lehrer. Sein Reformbestreben ist also mehr auf das Wie als auf das Was des
pädagogisch-didaktischen Problems gerichtet. Das entspricht - als
Reformbestreben - der deutschen Situation, in der Forderungen hinsichtlich
Bildungsinhalte zentral vorgegeben sind und den Unterricht weitgehend festlegen.
In der niederländischen Situation besteht dagegen seit den sechziger
Jahren ziemlich große Freiheit für individuellen Schulen und Lehrer in bezug auf
die Bildungsinhalte. Hier scheint man im Allgemeinen, wenn es um Fragen von
pädagogisch-didaktischen Qualität handelt, eher an Unterrichtsorganisation und
Arbeits- und Kommunikationsformen zu referieren als an dem Inhalt des
Unterrichts. In dieser Lage versteht sich die Hervorhebung von dem Was des
bildungstheoretischen Problems in unserem Forschungsprojekt.
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J.M. Praamsma
Übrigens mag es klar und unbestritten sein, daß jede Schulreform so wohl
Form als Inhalt, und zwar in richtiger Zusammenhang, zu durchdenken hat.
Literatur
M. Daems, A.M.H. Brunsting & K. Kortland, Waterland. Den Haag, 1989
R.J. Delhaas, H.H.M. Koekkoek & T.N. Akkerman, Kijk, de caleidoscoop
beweegt, Keuzemogelijkheden voor waardenvormende natuur- en milieu-educatie.
Enschede, 1990
J. Habermas, Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze. Frankfurt a.M., 1973,
1977(2) (besonders die Artikel: Stichworte zu einer Theorie der Sozialisation,
1968; Notizen zum Begriff der Rollenkompetenz, 1972)
A. Ilien, Umweltkrise als Bildungskrise, Vorläufiges Papier. Hannover, 1991
A. Ilien, Praxis der Umweltunterrichts als Verständigungs- und Selbstverständnisproblem von Lehrerinnen / Lehrern, Entwurf eines Forschungsprojekts. Hannover, 1989
A. Ilien, Gecks, Reißmann, Müller und Willmer, Umweltkrise als
Herausforderung der Schule. In Umwelterziehung, 'Im Spannungsfeld zwischen
Umweltpolitik, Naturschutz und Schulwirklichkeit', ein Gedankenaustausch
zwischen Deutschland und den Niederlanden. Bremen, 1992
W.A.J. Meijer, Leren in opvoeding en communicatie. Nijkerk, 1983
W.A.J. Meijer, De pedagogiek en de communicatietheorie van Habermas. In:
Nederlands Tijdschrift voor Opvoeding, Vorming en Onderwijs 1985/1, nr. 5
K. Mollenhauer, Erziehung und Emanzipation. München, 1968, 1973(6)
K. Mollenhauer, Theorien zum Erziehungsprozess. Zur Einführung in erziehungswissenschaftliche Fragestellungen. München, 1972, 1976(3)
K. Mollenhauer, Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung.
München, 1983
K.-H. Schäfer & K. Schaller, Kritische Erziehungswissenschaft und kommunikative Pädagogik. Heidelberg, 1971, 1976(3)
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