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Soziale Systeme 2015; 20(2): 453–458 Die Systemebenendifferenzierung als Forschungsprogramm? Bettina Heintz/Hartmann Tyrell (Hrsg.): Interaktion – Organisation – Gesellschaft revisited: Anwendungen, Erweiterungen, Alternativen (Sonderheft der Zeitschrift für Soziologie). Stuttgart: Lucius & Lucius, 2015. XVII + 444 Seiten Besprochen von Prof. Dr. Raf Vanderstraeten: Center for Social Theory, Faculty of Political and Social Sciences, Ghent University DOI 10.1515/sosys-2015-0022 Niklas Luhmann hat das Projekt einer Theorie der Gesellschaft, das 1997 mit Die Gesellschaft der Gesellschaft abgeschlossen wurde, bekanntlich über 30 Jahre erfolgreich verfolgt. Bekannt ist auch, dass Luhmann seit dem Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere die Gesellschaft als ein differenziertes Sozialsystem analysiert hat: Seit Grundrechte als Institution (1965) stellt insbesondere die Theorie funktionaler Differenzierung das Kernstück seiner Gesellschaftsanalysen (mit Blick auf die Moderne) dar. Neben allgemeinen systemtheoretischen und gesellschaftstheoretischen Publikationen ist dabei eine Reihe von vergleichenden Analysen der „wichtigsten“ Funktionssysteme der modernen Gesellschaft entstanden. Dazu zählen insbesondere die (teilweise posthum veröffentlichten) Monographien über Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Kunst, Politik, Religion und Erziehung. Luhmann hat aber zwei Möglichkeiten der Systemdifferenzierung unterschieden. In den frühen 1970er Jahren hat er auch eine Systemtypologie vorgeschlagen, die sich deutlich von dem Konzept der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft unterscheidet. Es betrifft hier die Unterscheidung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft als drei „gleichwertige“, aber auch „verschachtelte“ Typen von Sozialsystemen. Diese Idee ist in einigen kurzen Aufsätzen skizziert worden (siehe insbesondere den Band Soziologische Aufklärung 2 von 1975). Eine Ausarbeitung hat diese Skizze einer Systemtypenunterscheidung aber nicht erfahren, obwohl es später wiederholt Weiterführungen bzw. Wiederaufnahmen gegeben hat. In dem wissenschaftlichen Nachlass Luhmanns existiert aber eine Frühfassung der Gesellschaftstheorie,1 die ein einführendes Kapitel mit dem Titel „Ebenen der Systembildung – Ebenendifferenzierung“ enthält. In dem Sonder- 1 Dieses Manuskript wird im Herbst 2017 im Suhrkamp-Verlag veröffentlicht werden. 454 Raf Vanderstraeten heft der Zeitschrift für Soziologie wird dieser Teil, der vermutlich 1975 abgeschlossen wurde, erstmals publiziert und durch eine Reihe von an diese Typenunterscheidung anschließenden Beiträgen kommentiert. In dem Text fragt Luhmann „vor jeder Überlegung zur Systemdifferenzierung nach unterschiedlichen Ebenen der Systembildung“ (7; Hervorh. i.O.). Er spricht zuerst von einer „Mehrzahl“ solcher Typen, die sich deutlich von „gesellschaftlichen Teilsystemen“ unterscheiden. Luhmanns Ausführungen ziehen dann drei verschiedene Typen der Systembildung in Betracht. Interaktionssysteme sind gebaut auf körperliche Anwesenheit oder Kopräsenz, d. h. auf die wechselseitige Wahrnehmung der Beteiligten. „Konstitutionsbedingung [für Interaktionssysteme] ist das Erscheinen im wechselseitigen Wahrnehmungsfeld mit der Maßgabe, dass Ego wahrnimmt, dass Alter ihn wahrnimmt und umgekehrt“ (7). Die wechselseitige, reflexive Wahrnehmung macht es notwendig, Verhalten als soziales Verhalten, also als Kommunikation, zu kontrollieren. Gerade weil Interaktionen „Sozialsysteme par excellence“ sind, sind sie aber „weniger geeignet, auch zeitliche Ordnungsgarantien und sachliche Strukturierungsleistungen zu erbringen“ (8). Eine Spezialisierung in der Zeit- und Sachdimension ist möglich für organsierte Sozialsysteme. Organisierte Systeme entstehen, „wenn Verhaltenserwartungen und Mitgliedschaften als disponibel behandelt und zueinander in Beziehung gesetzt werden“ (11). Diese Struktur hat bestimmte Folgen: so wie in der Interaktion Verhalten als Kommunikation wird in der Organisation Verhalten als Entscheidung thematisiert. Organisationsstrukturen funktionieren als „Entscheidungsprämissen“. Bezüglich des Organisationstypus fällt zudem die deutliche Betonung der evolutionären Nachträglichkeit auf. „Der Anteil variiert von Gesellschaft zu Gesellschaft; sein Ausmaß in der modernen Gesellschaft ist ohne historische Parallele“ (11). Der Organisationstypus, so ergänzt Luhmann noch, „weicht also in systemtheoretisch zentralen Hinsichten ab von dem, was in der Interaktion sinnvoll und möglich ist – und dies, obwohl Organisationen aus Interaktionen bestehen“ (13). Die Gesellschaftsebene schließlich betrifft die Bedingungen der Möglichkeit von Sozialität. Sie ist „der stets apperzipierte Sozialhorizont aller Kommunikation, der die aktuellen und die möglichen Teilnehmer zusammenschließt“ (15). Gesellschaft ermöglicht eine „Komplexitätsreduktion“ für Interaktionen und Organisationen, eine „Vorwegkoordination […], die vorausgesetzt werden muss, wenn man sich zu Interaktionen oder Organisationen zusammenfindet“ (17). Gesellschaft, soweit sie die anderen Typen oder Ebenen mitbeinhaltet, ist aber kein intern einheitlich bestimmtes Ganzes; die Makrostrukturen greifen nicht unmittelbar und determinierend durch auf die Ebenen der Organisation und Interaktion. Die unterschiedlichen Systembildungen setzen sich zwar wechselseitig voraus, sind aber nicht aufeinander zurückführbar. Vor diesem Die Systemebenendifferenzierung als Forschungsprogramm? 455 Hintergrund findet man in dem Text eine Reihe von sehr interessanten Ausführungen zu den Abhängigkeitsverhältnissen dieser Systemtypen, die in den späteren Arbeiten Luhmanns nicht wieder aufgenommen werden. Hier ist eine Forschungsperspektive angedeutet, die sich z. B. interessiert für die Art und Weise wie konkrete Interaktionsbedingungen das organisatorisch Mögliche in einzelnen Funktionssystemen limitieren können (und umgekehrt). Hier geht es um die Abhängigkeiten zwischen sozialer und funktionaler Differenzierung; hier sind Analysemöglichkeiten angedeutet, die heute noch immer anschlussfähig sind. Vor diesem Hintergrund fragen die Herausgeber dieses Bandes sich, was mit der Vernachlässigung der Ebenendifferenz im Œuvre Luhmanns verloren gegangen ist. Vierzig Jahre nach dem Erscheinen von Luhmanns ersten Texten fragen sie, „wie es die (deutsche) Soziologie heute mit der Systemtypologie hält: Interaktion – Organisation – Gesellschaft revisited“ (XI). Im Anschluss an Luhmanns Text enthält dieses Sonderheft deshalb eine Reihe von „Anwendungen, Erweiterungen, Alternativen“. Diese Beiträge sind in vier Abteilungen geordnet. Im ersten Teil „Ebenenunterscheidung in der (kritischen) Diskussion“, der fünf Beiträge umfasst, geht es um eine „theoretische Prüfung“ der Systemtypologie. Hier sind Beiträge versammelt, die die Systemtypenunterscheidung auf ihre theoretische Überzeugungskraft insbesondere mit Blick auf die Mikro-Makro-Unterscheidung, ihre etwaige Ergänzungsnotwendigkeit hinsichtlich weiterer Systemtypen oder ihr Verhältnis zu anderen Theorien hin befragen. Im Unterschied dazu sind die im zweiten, mit „Historische Perspektiven“ überschriebenen und vergleichsweise knappen Teil versammelten Beiträge stärker empirisch orientiert. Es geht hier um historische Analysen der Entwicklung der Systemtypendifferenzierung bzw. von Interaktion. Im dritten Teil „Interaktion, Organisation – und Weltgesellschaft“ wird in vier Beiträgen die Brücke zur neuerdings prominenten, und letztlich auch von Luhmann und seinem Gesellschaftsverständnis angestoßenen Debatte zur Weltgesellschaft geschlagen. Die Aufsätze versuchen darzustellen, wie sich das Ineinandergreifen von funktionaler und sozialer Differenzierung auf der globalen Ebene (also der Ebene der Weltgesellschaft) konzeptualisieren lässt. Im vierten Teil „Die Ebenenunterscheidung im empirischen Test“ finden sich abschließend sechs Beiträge, die eine durch die Systemtypenunterscheidung angeleitete empirische Analyse insbesondere von Interaktionsphänomenen in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen unternehmen. Die Vielfalt der Beiträge beeindruckt, allerdings erscheinen die Beiträge letztlich zu heterogen. Vielleicht war die Leitfrage des Bandes ja zu allgemein formuliert. Obwohl die Herausgeber vor allem unter den „usual suspects“ rekrutiert haben, gehen die Beiträge in (zu) viele Richtungen. Manchmal werden sie präsentiert als Absage an Luhmanns Grundbegrifflichkeit und seine Ebenenunterschei- 456 Raf Vanderstraeten dung generell; manchmal beziehen sie sich vor allem auf andere Theorieperspektiven (wie Bruno Latours Akteur-Netzwerktheorie); manchmal bleibt unklar, wie genau Luhmanns Ebenenunterscheidung eigentlich empirisch oder theoretisch „geprüft“ wird. Es fällt bei der Lektüre dieser Reihe von Beiträgen zudem auf, wie stark die Opposition zwischen Anhängern und Gegnern Luhmanns dominierend bleibt: Für die (deutsche) Soziologie ist eine undogmatische Beziehung zum Erbe Luhmanns anscheinend immer noch sehr schwierig. Einige Beiträge versuchen aber auch, an Luhmanns Fragestellungen fruchtbar und produktiv anzuschließen. Exemplarisch möchte ich zwei davon kurz erwähnen. André Krischer untersucht in seinem Aufsatz „Der »erlaubte Konflikt« im Gerichtsverfahren“ am Beispiel englischer Gerichtsprozesse wegen Hochverrat die Ausdifferenzierung und Formalisierung einer Interaktionsepisode des „erlaubten Konflikts“ im modernen Rechtssystem. Er beleuchtet einerseits auf der Basis einer knappen historischen Darstellung die unwahrscheinliche Transformation vom Schwertkampf über das Wortgefecht der unmittelbar Betroffenen bis zum Kreuzverhör durch Anwälte. Er hebt dabei hervor, wie organisatorische und gesellschaftliche Vorgaben die Interaktion unter Anwesenden entlasten können und müssen: Ohne stark formalisierte Situationsdefinitionen kann keine rechtliche Instrumentalisierung dieser Interaktionsepisode geleistet werden; ohne Institutionalisierung ist eine sachliche und zeitliche Begrenzung dieser Interaktion auch nicht zu leisten. Die historische Darstellung führt andererseits auch zur Frage, wieso man im Rechtssystem angesichts der Komplexität der Entscheidungsaufgaben nicht auf ein rein organisatorisches Vorgehen ausgewichen ist und stattdessen Interaktion auch in der Moderne als zentraler Modus gerichtlicher Entscheidungsherstellung fungiert. Krischer beantwortet diese Frage nicht, diskutiert aber am Ende die chronische Überbelastung des Rechtssystems, die sich seit dem 18. Jahrhundert aus der „künstlichen“ Festschreibung des Gerichtsverfahrens auf der Interaktionsebene ergeben haben. Die Diskussion zeigt nicht nur die analytische Leistungsfähigkeit der Systemtypenunterscheidung; vielmehr kann man sehen, dass auch sie die für die Luhmannsche Theorie typischen Vergleichsperspektiven eröffnet. Eine ähnliche Analyse könnte man z. B. für das Erziehungssystem vornehmen (s. Luhmann/ Schorr 1982): Erziehung ist heutzutage weitgehend organisierte Interaktion; sie findet typisch innerhalb von Unterrichtsstunden statt. Auch die Unterrichtsstunde ist ein zeitlich begrenztes, nach spezifischen sachlichen Prämissen ausdifferenziertes Interaktionssystem unter Anwesenden. Was in der Erziehung möglich ist, hängt – funktionsbedingt – aber vor allem davon ab, was in Interaktion möglich ist, zum Beispiel in relativ großen Schulklassen mit thematisch konzentrierter Interaktion. Erziehung in Schulklassen ist einerseits auf ein Mindestmaß an „commitment“ von Seiten der Schüler angewiesen; andererseits gilt Die Systemebenendifferenzierung als Forschungsprogramm? 457 aber gerade, dass dieses „commitment“ nicht organisatorisch erzwungen werden kann. Organisationen mit Erziehungszweck fehlt es auch deswegen an einer verlässlichen „Technologie“ (Luhmann). Wir können hinzufügen, dass die strukturellen Beschränkungen der schulischen Interaktion daher die Möglichkeiten der Variation gesellschaftlicher Funktionserfüllung limitieren. Oder anders gesagt: Die Probleme, mit denen das Rechtsystem und das Erziehungssystem heutzutage konfrontiert werden, sind verschieden, aber nicht ganz unterschiedlich. Vergleiche zwischen Funktionssystemen können also fruchtbar ausfallen, wenn sie theoretisch informiert sind. Der Beitrag „Gleichzeitigkeit unter Abwesenden“ von Tobias Werron analysiert ebenfalls auf der Basis einer historischen und vergleichenden Reflexion die Globalisierungseffekte elektrischer Telekommunikationstechnologien, die eine „Quasi-Interaktion“ unter Abwesenden ermöglichen. Diese Telekommunikationstechnologien reichen von der elektromagnetischen Telegraphie im Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu den heutigen Digitaltechnologien. Sie machen eine „enträumlichte“ Gleichzeitigkeit möglich; sie vermehren die Möglichkeiten quasi-gleichzeitiger globaler Beobachtung. Diese Technologien setzen damit, so Werron, auch neuartigen Globalisierungsdynamiken in Gang, die unter Anwesenden gerade nicht möglich wären. Der Beitrag enthält einige kurze Beispiele aus verschiedenen Funktionssystemen; auch hier wird der Wert einer vergleichenden Herangehensweise deutlich. Insgesamt bestätigen die Beispiele Luhmanns These einer zunehmenden Trennung von Interaktion und Gesellschaft in der Moderne. Der Beitrag macht aber auf neue Fragen aufmerksam, die die Globalisierungsdynamiken, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Gang gesetzt sind, betreffen. Werrons Beitrag regt dazu an, die Wirkungen dieser technologischen Infrastruktur in einzelnen Funktionssystemen im Detail zu untersuchen. Ich möchte zum Schluss noch darauf hinweisen, dass es (mittlerweile) einige andere interessante Beiträge zur Genese der Idee der Ebenendifferenzierung bei Luhmann gibt – eine Frage, die in dem Sonderheft weitgehend ausgespart geblieben ist.2 Diese Beiträge zeigen, dass es sich nicht nur lohnt, die Karriere der Ebenen- oder Typendifferenzierung im Œuvre Luhmanns nachzuzeichnen. Es lohnt sich auch zu fragen, auf welche Befunde aus der soziologischen Literatur Luhmann mit dieser Typendifferenzierung versucht hat zu reagieren. An seinem Frühwerk fällt immer wieder auf, wie stark Luhmann sich bemüht hat, Neuentwicklungen in der internationalen (vor allem amerikanischen) soziolo- 2 Siehe den Aufsatz „Zweierlei Differenzierung“, den Hartmann Tyrell 2006 in dieser Zeitschrift veröffentlicht hat, sowie die beiden Aufsätze von Hartmann Tyrell und Johannes Schmidt, die in diesem Heft abgedruckt sind. 458 Raf Vanderstraeten gischen Literatur theoretisch einzuarbeiten. Mehr als vierzig Jahre später kann man sich mit Blick auf aktuelle soziologische Debatten fragen, wie eine Theorie funktionaler Differenzierung auszuarbeiten und zu ergänzen ist. Man kann sich auch fragen, wie an aktuelle Befunde aus der internationalen Literatur jetzt anzuschließen ist und wie bestimmte Fragen zu formulieren und Probleme zu bearbeiten sind. Wenn man so fragt, dann muss es nicht um eine Art Glaubensbekenntnis gehen: für oder gegen Luhmann. Der jetzt veröffentlichte programmatische Text reißt alternative Möglichkeiten an. Er eröffnet eine Reihe von systemtheoretischen Fragestellungen und Analysemöglichkeiten, die bisher kaum systematisch aufgearbeitet wurden. Literatur Luhmann, Niklas (1965): Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie. Berlin: Duncker & Humblot. Luhmann, Niklas (1975): Soziologische Aufklärung 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag. Luhmann, Niklas/Schorr, Karl Eberhard (1982): Das Technologiedefizit der Erziehung und die Pädagogik. In Dies. (Hrsg.), Zwischen Technologie und Selbstreferenz. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 11–40. Schmidt, Johannes F.K. (2017): Differenz oder Interdependenz? Das Verhältnis von sozial- und gesellschaftstheoretischer Differenzierung in Luhmanns Theorie der Gesellschaft, in: Soziale Systeme 20/2 (in diesem Heft). Tyrell, Hartmann (2006): Zweierlei Differenzierung: Funktionale und Ebenendifferenzierung im Frühwerk Niklas Luhmanns, in: Soziale Systeme 12, 294–310. Tyrell, Hartmann (2017): Interaktion, Organisation, Gesellschaft – Niklas Luhmann und die Soziologie der Nachkriegszeit, in: Soziale Systeme 20/2 (in diesem Heft).