Brutalismus inmitten der Natur: Dieser Beton-Bungalow scheint zu schweben

Das offene, lichtdurchflutete Wohnhaus aus Beton und Glas in Belgien lässt die Grenze zwischen Innen und Außen verschwimmen und ist im Inneren perfekt durchdacht.
Außenansicht Betonkamin reicht von Betonplatte aus durchs Betondach
Dank der riesigen Dachüberstände bietet dieses brutalistische Wohnhaus die Privatsphäre, die bei einer Glasfassade leicht verloren geht.Tim van de Velde

Dieser brutalistische Bungalow nahe Gent wurde von Innenarchitektin Peggy de Coninck so gut konzipiert, dass Architektur und Interieur leicht und fluide wirken.

Der Mensch ist ein Wesen voller Widersprüche: Unser Alltag ist auf immer vielfältigere, intensivere Reize ausgerichtet, und zugleich fasziniert uns vermehrt die Architektur des Brutalismus. Mit seinem Minimalismus, kargen Strukturen, schmucklosen Materialien und einer monochromen Farbpalette verkörpert dieser Architekturstil geradezu das Gegenteil der allgegenwärtigen Reizüberflutung. Aber vielleicht liegt ja genau darin die Logik? Vielleicht flüchten wir uns in den Brutalismus, um das Zu-viel-von-allem auszubalancieren?

Diese Ansicht vertritt zumindest die belgische Innenarchitektin Peggy de Coninck, die zusammen mit dem Bauunternehmen ABS Bouwteam dieses erstaunliche Haus nahe Gent entworfen hat. „Brutalismus bedeutet Authentizität, es ist ein Stil ohne Schnickschnack. Gerade in chaotischen, hektischen und unsicheren Zeiten brauchen wir diese Einfachheit“, erklärt sie.

Große Dachüberstände sorgen für Privatsphäre, die bei einer Glasfassade leicht abhandenkommt.

Tim van de Velde

Inspiriert vom Utopisten Juliaan Lampens

Nicht weit von hier steht die Kapelle Kerselare, ein Werk des bekannten belgischen Brutalisten Juliaan Lampens, die eine Inspiration für dieses Haus war; und vermutlich hätte ihm de Conincks Arbeit gefallen. Als Utopist plädierte Lampens für ein Leben ohne Begrenzungen, was die Freiheit des Blicks, die Grenze zwischen Innen und Außen oder die Privatsphäre betrifft. Dieser Ansatz wird in de Conincks Entwurf auf greifbare Weise umgesetzt: ein lichtdurchflutetes brutalistisches Wohnhaus im Einklang mit der Natur.

Die Glasfassade holt die Natur ins Haus, die Einrichtung hält sich daneben bewusst zurück.

Tim van de Velde

Durchdachte Architektur, die sich in die Natur einfügt

Wenn es eine Sache gibt, die dieses brutalistische Wohnhaus auszeichnet, ist es seine gut durchdachte Architektur, die bewirkt, dass die Räume so gut wie nichts weiter brauchen. Das Haus besticht weder durch bahnbrechende Innovation, noch durch die Farbpalette oder die Zusammenstellung der Möbel, sondern durch das Gefühl, dass alles genau dort ist, wo es hingehört. Alles passt einfach.

Die Eigentümer, die ebenfalls Innenarchitekt:innen sind, hatten vorab ganz klare Vorstellungen. „Das Haus sollte nicht allzu groß und eher unauffällig sein“, erzählt de Coninck, „ein kompaktes, geschütztes Volumen mit einem großen Außenbereich. Sie wollten inmitten der Natur leben, weitab vom Rummel. Ein Haus also, das seine Umgebung wenig beeinträchtigt.“

Strategisch platzierte runde Oberlichter erhellen das Interieur zusätzlich.

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Ein Haus, das zu schweben scheint

Das Haus wurde als Bungalow mit einer Fläche von 176 Quadratmetern geplant und auf einer Art schwebendem Plateau errichtet, was ihm ein kraftvolles Aussehen verleiht. Das fast vollständige Fehlen einer herkömmlichen Fassade bricht die Grenze zwischen Innen und Außen auf. So gleicht dieses brutalistische Wohnhaus einem lichtdurchfluteten Glaskasten, der sich trotz seines markanten Aussehens diskret in die Umgebung einfügt. „Der größte Erfolg des Projekts“, erklärt de Coninck, „ist die Art und Weise, wie Standort und Architektur einander intensivieren. Nirgendwo sonst hätte dieses Haus die gleiche Kraft.“

Dank der großen Dachüberstände, die ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln, bietet das Innere trotz der Glasfassade Privatsphäre – ein raffinierter Balanceakt. Imposante runde Oberlichter schaffen in bestimmten Bereichen eine besondere Atmosphäre, wie etwa im Falle der Kücheninsel, die auf diese Weise die Anmutung eines Altars bekommt.

Ein Gegengewicht zum kalten Beton bilden die großen Türen aus honigfarbenem Teakholz, hinter denen sich die Zimmer oder großzügiger Stauraum verbergen.

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Das Oberlicht lässt die Kücheninsel aus Stahl ein wenig wie einen Altar wirken.

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Nur ganz wenige Bereiche weichen von der reduzierten Materialpalette aus Beton, Glas und Holz ab: Die Arbeitsplatte in der Küche etwa ist aus dem „Calacatta Viola“-Marmor gefertigt.

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Das Interieur? Radikal

Auch das Interieur ist weitgehend reduziert auf das Unverzichtbare. „Die größte Herausforderung bestand darin, ohne Putz und Farbe auszukommen“, erklärt Peggy de Coninck. „Das Ergebnis ist radikaler, als es auf den ersten Blick wirken mag. Die Räume sind kahl und es gibt keine Möglichkeit, bestimmte Dinge zu kaschieren.“ Die massiven, kahlen Betonwände wechseln sich ab mit raumhohen Türen aus Teakholz, die zu den einzelnen Zimmern führen oder großzügigen Stauraum verbergen. Ein überzeugendes Spiel mit Kalt und Warm.

Um den Esstisch mit Marmorplatte stehen Stühle von Vipp, die Pendelleuchte ist von Gubi. Schalen von When Objects Work.

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Der Rhythmus der bodentiefen Fensterrahmen aus hellem Teak lockert die Wucht des blanken Betons auf.

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Diese geradezu klösterliche Basis bildet den perfekten Rahmen für die wenigen, aber sorgfältig ausgewählten Ergänzungen. Ray und Charles Eames, Harry Bertoia, Michel Ducaroy, Hans Wegner – Arbeiten der besten Möbeldesigner:innen des 20. Jahrhunderts sind so in den Räumen platziert, als seien sie schon immer da gewesen. Somit ist dieses Wohnhaus ein Ausdruck dessen, was viele Architekt:innen immer wieder betonen: In einer Zeit voller Hektik und Oberflächlichkeit ist es wichtig, ein Projekt wirklich von Anfang bis Ende zu durchdenken. Nur so entsteht harmonische Kohärenz.

Zuerst erschienen bei AD España.

Aus einem der beiden Schlafzimmer geht der Blick auf die Außendusche, die inmitten des Grüns installiert wurde.

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Der Grillkamin befindet sich in einem der Außenpfeiler, die das überstehende Flachdach tragen.

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Das Haus steht auf einem schwebend erscheinenden Plateau, wodurch sein imposantes Gepräge etwas Leichtigkeit bekommt. Rechts ist der eingebaute Grill zu sehen.

Tim van de Velde

Der brutalistische Architekt Juliaan Lampens (1926–2019), dessen Arbeiten ins Utopische spielen, plädierte für ein Leben ohne Begrenzungen: was die Freiheit des Blicks, die Grenze zwischen Innen und Außen oder die Privatsphäre betrifft. Dieses Haus, das von Lampens’ Arbeit inspiriert ist, macht seinen Ansatz ziemlich gut greifbar.

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Zuerst erschienen bei AD España.