Wie alle Bücher von John Berger, so ist auch dieses letzte, tatsächlich Abschied nehmende ein wunderbares Buch. Durch die unsägliche Corona-Krise mit nur wenig deutscher Lektüre im Ausland festsitzend, trage ich das Bändchen nun schon seit zwei Wochen mit mir herum und lese immer wieder darin - mit nicht nachlassender Liebe. Ich wünsche ihm von Herzen viele Leser und - für die hier dankenswerter Weise auch einmal abgedruckten Bilder von John Bergers Hand - Betrachter.
Da sich der inhaltliche Bogen dieser kleinen Textsammlung meiner Meinung nach vom Verlag hier ordentlich skizziert findet, möchte ich dreimal John Berger selbst zu Wort kommen lassen - mit Passagen, die mich besonders beeindruckt haben und vielleicht auch andere Leser zur weiteren Lektüre anregen können.
"All die Jahre über hat mich eine Ahnung zum Schreiben getrieben, dass etwas erzählt werden muss, das, falls ich es nicht versuche, unerzählt bleiben wird. Folglich sehe ich mich nicht so sehr als professioneller Schriftsteller, sondern eher als Mittler, als ein Lückenbüßer.
Nachdem ich ein paar Zeilen niedergeschrieben habe, lasse ich die Worte zu diesem Geschöpf zurückschlüpfen. Dort werden sie augenblicklich von einer Schar anderer Worte begrüßt und erkannt, zu denen sie in Hinsicht auf Bedeutung, Metaphorik, Alliteration und Rhythmus eine Affinität besitzen. Ich lausche auf ihr Konferieren. Sie stellen den Gebrauch, den ich von ihnen mache, auf die Probe und stellen die Rollen, die ich ihnen zuschreibe, infrage.
Und so überarbeite ich die Zeilen, tausche ein Wort oder zwei und lege alles wieder vor. Und wieder wird beratschlagt.
Und so geht es weiter und weiter, bis sich mit leisem Murmeln eine vorläufige Zustimmung andeutet. Dann gehe ich zum nächsten Absatz weiter.
Und erneut wird konferiert...
Die anderen mögen mich als Schriftsteller hierhin oder dorthin stellen, aber du weißt schon, wessen Mutter Kind ich bin. This son of a bitch."
"Ich schlage eine Verschwörung von Waisen vor. Wir tauschen versteckte Zeichen. Wir weisen Hierarchien zurück. Jede Form von Herrschaft. Wir finden uns mit der Scheißwelt ab und tauschen Geschichten darüber aus, wie man trotz allem überlebt. Wir sind unverschämt. Mehr als die Hälfte aller Sterne im Universum sind Waisen, die zu keinem Sternbild gehören. Und sie streuen mehr Licht als alle Sternbilder zusammen.
Ja, wir sind frech. Und ich glaube, ich lauere Lesern in der gleichen unverschämten Art auf und quatsche sie an. Als ob ihr ebenfalls Waisenkinder wärt."
"In der totalitären globalen Weltordnung des spekulierenden Finanzkapitalismus, unter der wir leben, bombardieren uns die Medien unentwegt mit Informationen, die meistens eine absichtliche Ablenkung und geplante Zerstreuung unserer Aufmerksamkeit von dem bedeuten, was dringlich und wichtig ist.
Viele dieser Informationen behandeln etwas, was früher einmal Politik hieß, aber diese wurden von der globalen Diktatur des Finanzkapitalismus mit seinen Händlern und Bankenlobbyisten verdrängt.
Die Politiker, ob links oder rechts, debattieren weiter, stimmen ab und beschließen Resolutionen, als sei nichts geschehen. Das führt dazu, dass sich ihr Diskurs auf gar nichts mehr bezieht und ohne Konsequenzen bleibt. Die Worte und Begriffe, die die Politiker wieder und wieder benutzen - etwa Terrorismus, Demokratie, Flexibilität -, sind aller Bedeutung entblößt. Überall auf der Welt folgt die Politik ihren mechanisch plappernden Mündern, als ob sie in der Schule einer unergründlichen Lektion im Fach Rhetorik beiwohnte! So ein Mist!
Ein anderes Kapitel der Informationen, mit denen wir bombardiert werden, stellt das Spektakuläre in den Mittelpunkt, den Schock, die Gewalt, wo immer auf der Welt sie sich auch ereignet. Raubüberfälle, Erdbeben, Schiffsunglücke, Aufstände, Massaker. Einmal vorgezeigt, wird ein Spektakel durch das nächste ersetzt, ohne Zusammenhang und in betäubender Folge. Es geht um den Schock, nicht um die Geschichte. Es sind Mahnungen an die Unvorhersehbarkeit von allem, was eintreten kann. Sie demonstrieren die Risikofaktoren des Lebens selbst.
Hinzu kommt der Sprachgebrauch, mit dem die Medien die Welt beschreiben und darstellen. Dieser ist kaum noch vom Jargon oder der Logik der Management-Experten zu unterscheiden. Alles wird quantifiziert, der Bezug auf Substanz und Qualität ist rar. Man spricht von Prozenten, sich verschiebenden Umfragewerten, Arbeitslosenzahlen, Wachstumsraten, Schuldenbergen, dem geschätzten Ausstoß an Kohlendioxid und so weiter, und so weiter. Es ist eine Stimme, die mit Ziffern vertraut ist, aber nicht mit dem Leben oder dem leidenden Körper. Sie spricht weder von Reue noch von Hoffnung.
Und so fördert das, was in der Öffentlichkeit gesagt und wie es verlautbart wird, eine Art bürgerliche oder historische Amnesie. Die Erfahrung wird ausradiert. Die Zeithorizonte von Vergangenheit und Zukunft werden verwischt. Wir werden daran gewöhnt, in einer endlosen und unsicheren Gegenwart zu leben, und sind alle darauf reduziert, zu Bewohnern eines Zustands der Vergesslichkeit zu werden.
Unterdessen erwärmt sich die Erde um uns immer mehr. Der Reichtum auf der Welt häuft sich in immer weniger Händen, während die Mehrheit unterernährt ist, mit Junkfood abgespeist wird oder schlichtweg verhungert. In wachsender Zahl sind Millionen Menschen gezwungen auszuwandern, und nur mit geringsten Aussichten auf ein Überleben..."
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