Brad Mehldau im Interview: "Der Einfluss der Beatles wirkt bis heute nach"
Der Jazzpianist Brad Mehldau hat sich auf seinem neuen Album der Musik der Beatles angenommen. Im Gespräch schildert er, warum die Band bis heute wichtig ist.
Angenommen, Brad Mehldau könnte mit einer Zeitmaschine zurück in die späten 1960er Jahre reisen und würde dort die Beatles treffen. Was würden Sie ihnen sagen?
Brad Mehldau: Lasst uns zusammen ins Studio gehen und versuchen, gemeinsam ein paar Songs aufzunehmen! (lacht) Natürlich wäre das vermessen, aber da Sie die Frage gestellt haben … Ich würde sehr, sehr gerne musikalisch mit ihnen interagieren.
Gibt es eine Erklärung dafür, warum die Beatles ab Mitte der 1960er Jahre quasi alle zwölf Monate richtungsweisende Platten herausbrachten?
Mehldau: Da ist dieses wunderbare deutsche Wort "Zeitgeist". Für mich bedeutet das: Irgendetwas liegt in der Luft, das die Dinge ins Rollen bringt. Keiner kann bewusst Musik für eine bestimmte Periode kreieren, weder in politischer Hinsicht noch sonst wie. Es gibt jedoch ein vages Empfinden für jenen Zeitabschnitt im Schaffen der Beatles, in dem sie eine Reihe unglaublicher Platten aufnahmen. Diese Phase begann mit "Rubber Soul" und zog sich über "Revolver", "Sgt. Pepper's Magical Mystery Tour", "Abbey Road", das "White Album" bis zu "Let It Be" hin. Zur gleichen Zeit veröffentlichten die Beach Boys "Pet Sounds". Keiner weiß genau, ob Brian Wilson die Songs von Paul McCartney hörte, als er "God Only Knows" oder "Til I Die" schrieb. Es gibt auf jeden Fall Ähnlichkeiten beim Klang der Keyboards, Pianos und der Komplexität der Harmonien. Und dann war da noch eine andere, enorm unterbewertete englische Band, die Zombies, mit ihrem Album "Odessey And Oracle", das ebenfalls sehr deutlich in dieser Welt beheimatet war. Heute fragt man sich: Warum ähneln sich die Platten aus dieser Zeit so sehr? Es kann nicht sein, dass sie sich plump gegenseitig nachahmten. So einfach lässt sich das nicht erklären.
Wie dann?
Mehldau: Ich bin mir nicht sicher. Die Beatles reagierten auf die Psychedelic-Kultur der 1960er Jahre, möglicherweise führten sie sie sogar an. Als "Sgt. Pepper's" herauskam, wurde die Platte zur Vorlage für viele andere Bands, auch in späteren Zeiten. Sogar Jimi Hendrix nahm drei Monate nach der Veröffentlichung eine Cover-Version von "Sgt. Pepper's" auf. Das Album hatte also einen gewaltigen Einfluss auf die Musikwelt.
Worauf kam es Ihnen bei ihrem eigenen Beatles-Album "Your Mother Should Know" an?
Mehldau: Ich wollte weniger beachtete Aspekte des Schaffens der Beatles hervorheben. Wir kennen sie als Band, deren Musik jedem Vergnügen bereitet. Wir können beim Autofahren oder während einer Party spontan in den Refrain von "Yesterday", "Michelle" oder "Hey Jude" einstimmen. Es gibt jedoch noch eine andere Seite der Beatles, wie in "I Am The Walrus", die sonderbar und verwirrend wirkt. Ich wollte mein Werk an diesem Punkt beginnen, um direkt danach das Titelstück "Your Mother Should Know" als Kontrapunkt folgen zu lassen. Mir ging es darum, Gegensätze aufzuzeigen. Sonderbarem sollte Bekanntes, Leichtes folgen, das den Zuhörer willkommen heißt. Natürlich speisen sich die Gegensätze oft durch das Zusammenspiel von John und Paul. Was die anspruchsvollen Harmonien angeht: Paul war in meiner Wahrnehmung der Harmoniegeber in der Band. Er brachte diese wunderschönen Harmonien ins Spiel, die sich von denen einer regulären, gitarrenbasierten Rock-'n'-Roll-Band völlig unterschieden. Seine Harmonielehre orientierte sich eher an der klassischen Musik. Auf sein Konto geht auch die Benutzung des Pianos. Für mich als Pianisten war das natürlich reizvoll.
Wie stark war und ist der Einfluss der Beatles auf Sie, auf die gesamte Musik?
Mehldau: Grundlegend! Und er wirkt bis heute nach. Ich selbst kam ein wenig zu spät auf die Welt, 1970, direkt, nachdem sich die Beatles aufgelöst hatten. Die erste Popmusik, die ich hörte, erklang im Radio, die Sender spielten damals immer noch ein paar Beatles-Stücke, zumeist lauschte ich jedoch den großartigen Songs der 1970er-Jahre-Pop-Ära und Bands wie dem Electric Light Orchestra, Supertramp oder Piano-Rockern wie Elton John oder Billy Joel. Im Rückblick ist mir klar, dass alle von den Beatles beeinflusst wurden. Als ich ab 1995 in Los Angeles lebte, coverten die Singer-Songwriter samt und sonders Beatles-Stücke, so wie wir Jazzer in den Jazzclubs Themen von Charlie Parker, John Coltrane oder Miles Davis nachspielten. Damals wurde mir erst so richtig bewusst, wie reich das Beatles-Werk für moderne Musiker ist, und wie sie daraus bis in die Gegenwart ihre Lehren ziehen.
War Ihre Herangehensweise bei der Beatles-Hommage die eines Jazzmusikers oder die eines musikalisch versierten Fans?
Mehldau: Gute Frage. Im Gegensatz zu all meinen bisherigen Veröffentlichungen handelt es sich tatsächlich nicht so sehr um eine Jazz-Platte. Sie enthält vergleichsweise wenig Improvisation. Bei "She Said She Said" und der George-Harrison-Nummer "If I Needed Someone" spiele ich einfach das jeweilige Lied mit ein paar Arrangement-Ausschmückungen. Der Jazz-Touch taucht beispielsweise in meiner Version von "Maxwell's Silver Hammer" auf. Es steckt etwas von Thelonious Monk in diesem sehr einfachen, beinahe schmalzigen Stück, da ich den Harmonien Dissonanzen beimenge, mit denen ich den Song herumwirbele und aufrüttele. Monk tat das in seiner Solo-Piano-Version von "Just A Gigolo", womit er diesen albernen Wegwerfsong spürbar aufwertete. Anderes Beispiel: Mit "Here, There And Everywhere" bewege ich mich ganz in Herbie Hancocks Welt, indem ich ein einfaches Liedchen nehme und es neu harmonisiere. Der Jazz ist also da, er ist jedoch mehr Teil der Struktur. Die Beatles und deren Songs bleiben auf jeden Fall die Hauptattraktionen.
In diesen Tagen erscheint der erste Teil Ihrer Memoiren "Formation: Building A Personal Canon." Was bezwecken Sie ausgerechnet jetzt damit, denn Sie sind ja erst 52 Jahre alt?
Mehldau: Sie werden lachen, aber das Buch endet mit dem Erreichen meines 26. Lebensjahrs. Es umfasst also die Bildung meines Charakters von der Kindheit über die Pubertät bis hin zum Erwachsenwerden. Dann hört die Geschichte auf. Dazwischen liegt eine Story, die nicht allzu oft erzählt wird, nämlich eine Jazz-Geschichte, die in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren spielt. Eine Reihe meiner Kollegen und natürlich ich tauchen darin auf. Und es geht um mein Leben im Allgemeinen, einige schmerzhafte Erfahrungen – heute würde man den Terminus "Trauma" dafür benutzen. Ich finde, dass es eine interessante Geschichte geworden ist, die es lohnt, erzählt zu werden. Es geht mir weniger nur darum, Traumata aufzudecken, sondern zu zeigen, wie man sie als Künstler in etwas Schöneres, etwas Wertvolles umwandeln kann. In meinem Fall bestehen diese Traumata aus sexuellem Missbrauch, Drogenabhängigkeit, Depressionen – alles schwierige Themen. Niemand möchte derlei Erfahrungen freiwillig machen, aber mithilfe der Musik kann man ihnen eine andere Bedeutung verleihen.
Zur Person: Brad Mehldau, geboren am 23. August 1970 in Jacksonville (Florida), gilt als einer der führenden Pianisten im Grenzbereich von Jazz, Klassik und Pop. Auf seinem aktuellen Soloalbum "Your Mother Should Know" (Nonesuch/Warner) widmet er sich der Musik der Beatles.
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