Ein Grund zum Feiern: 70 Jahre Grundgesetz. (Bild: imago images/Steinach)
Grundgesetz

„Beste Verfassung Deutschlands“ wird 70

Am 70. Geburtstag des Grundgesetzes würdigen Politiker die „beste Verfassung, die Deutschland je hatte“. Sie mahnen aber auch zu Engagement, ohne das die freiheitliche Demokratie ausbluten muss. Ein Rückblick auf 70 Jahre Verfassungsgeschichte.

Ein Leichtgewicht war sie, wie sie da lag, mit gerade mal 1396 Gramm Gewicht und 35 Zentimeter Länge. Dabei hatte sie einige Dutzend Mütter und Väter. Noch ungewöhnlicher als die Umstände ihrer Zeugung war aber sicher der erste Satz, den sie sprach: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die Rede ist von der Urschrift des Grundgesetzes – der deutschen Verfassung, die vor 70 Jahren in Kraft trat. Der Verfassungskonvent in Herrenchiemsee hatte 1948 einen Entwurf erarbeitet, der Parlamentarische Rat ihn im Mai 1949 vollendet. Nun lag das Gesetz am 23. Mai 1949 in der Bonner Pädagogischen Akademie auf dem Tisch, in Pergament gehüllt.

Europa hatte sich im Zweiten Weltkrieg „ausgekämpft“, wie es der Historiker Michael Stürmer formulierte. Was blieb, waren Trümmer, auf den Straßen und in den Köpfen. Worauf sollte man einen neuen Staat bauen können? Der erste Versuch einer deutschen Demokratie war ja blutig gescheitert. Aus Zuversicht und Pragmatismus zimmerten die Väter und Mütter des Grundgesetzes ein Provisorium. 146 Artikel sollten „dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung“ geben, hieß es in der Präambel.

Titel „Verfassung“ bewusst vermieden

Den Begriff „Verfassung“ als Titel vermieden die Autoren, es klang zu sehr nach Patina. Zudem stellte der Titel „Grundgesetz“ und dessen Präambel klar, dass die Bundesrepublik nur ein Teil Deutschlands ist und die Wiedervereinigung das zentrale Ziel des neuen westdeutschen Staates sein muss. Bis heute gilt der 23. Mai 1949 nicht als Tag einer Revolution in Deutschland. Dabei war er das durchaus.

Wir sollten nicht zulassen, dass unsere Ordnungen durch unseren Hang zur Perfektion so erstarren, dass wir sie nicht mehr reformieren können.

Wolfgang Schäuble, Bundestagspräsident

Denn die Verfassungen anderer Länder beginnen meist mit einer Art Organigramm: Der Präsident macht dies, das Parlament macht jenes, und dann und wann sind Wahlen. Nicht so das Grundgesetz. Es beginnt in Artikel 1 mit dem zitierten Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Das erste Hauptwort lautet „Würde“, das zweite „Mensch“.

Verfassungen sind eben auch Kinder ihrer Zeit, und wenn etwas fehlte im Deutschland der 1930er und 1940er Jahre, dann war es die Idee, dass jedem Menschen Würde zukommt – unabhängig von seiner Herkunft und seiner Religion, seinen politischen Ansichten, seinem Gesundheitszustand. Der erste Satz war Feststellung und Mahnung zugleich, ein spätes „Nein!“ gegenüber dem nationalsozialistischen Vernichtungsfuror.

Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat

Auch die meisten der folgenden 18 Artikel enthalten Grundrechte, mit denen Bürger sich gegen staatliche Eingriffe in ihr Leben wehren können. Erst der Einzelne, dann der Staat: Das ist – nicht nur vom Aufbau her – der Tenor des Grundgesetzes. „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“, so lautete der erste Entwurf für Artikel 1 des Grundgesetzes.

Die erste DDR-Verfassung, unter Stalins Ägide am 7. Oktober 1949 in der sowjetischen Besatzungszone in Kraft getreten, war in dieser Hinsicht hingegen konventionell gehalten. „Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik“, hieß es im ersten Artikel, und jeder Satz war eine Fanfare, eine Kampfansage, im Grunde gegen die persönlichen Freiheiten und Abwehrrechte gegen den Staat, wie sie das Grundgesetz prägen: Die Republik entscheide für „das deutsche Volk“, tönte die DDR-Verfassung. Die Worte „kommunistisch“ oder „sozialistisch“ waren noch nicht enthalten.

Auf uns kommt es an, wenn wir unsere Freiheit, unseren Rechtsstaat, unsere Demokratie erhalten wollen.

Winfried Bausback, MdL

Spätestens vier Jahre nach ihrer Gründung zeigte die Bevölkerung der DDR jedoch deutlich, dass die Republik eben nicht in ihrem Sinne entscheidet: Beim Volksaufstand am 17. Juni 1953 protestierten über eine Million Menschen an mehr als 700 Orten, forderten freie Wahlen, höhere Löhne und ein vereintes Deutschland. Um sie niederzuhalten, walzten sowjetische Panzer den Arbeiteraufstand blutig nieder. Nur mit Mühe gewann der Staat wieder die Kontrolle. Zum Gedenken an die Opfer war fortan der 17. Juni Nationalfeiertag der Bundesrepublik – bis zur Wiedervereinigung 1990.

Wehrhafte Demokratie verbietet zwei extreme Parteien

Die Bundesrepublik musste sich unterdessen gegen ganz andere Feinde verteidigen. Zwei Mal – und seither nie wieder – verbot das Bundesverfassungsgericht eine Partei. 1952 traf es die rechtsextreme Sozialistische Reichspartei (SRP), 1956 die linksextreme Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Die Richter in Karlsruhe beriefen sich dabei auf Artikel 21 des Grundgesetzes: Wer die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ zu beeinträchtigen oder zu beseitigen versucht, handelt verfassungswidrig.

Das Bundesverfassungsgericht sah darin eine Lehre aus der Vergangenheit: „Der Vorgang einer Unterwühlung und schließlichen Beseitigung der Demokratie durch die Nationalsozialisten soll sich nicht in dieser oder ähnlicher Form wiederholen.“

Das einstige Provisorium hat sich zum denkbar besten Stabilitätsfaktor unseres Staates entwickelt.

Alex Dorow, MdL

Schon in den 1950ern hatten die alliierten Siegermächte Deutschland aufgefordert, Gesetze für einen Notstand zu erlassen. Doch erst die große Koalition aus Union und SPD bekam eine Zwei-Drittel-Mehrheit zusammen, um das Grundgesetz 1968 entsprechend anzupassen. 28 Artikel wurden geändert, gestrichen oder neu eingefügt, so viele wie nie zuvor oder danach. Im Krisenfall könnten Behörden leichter abhören, Länderkompetenzen beschneiden. Ein Notparlament aus Bundestags- und Bundesratsmitgliedern müsste das Nötigste regeln. Auch ein Einsatz der Bundeswehr im Inneren sollte fortan möglich sein – nicht nur bei Naturkatastrophen, sondern auch bei einem Aufstand.

Die Protestler der 68er-Bewegung konstruierten darauf die haltlose Kritik, die Bundesrepublik sei auf dem Weg zu einem autoritären Staat. Dabei schrieb der Gesetzgeber als Gegengewicht das Recht aller Deutscher auf Widerstand in die Verfassung, gegen jeden, „der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen“ (Artikel 20). Mehr als 50 Jahre sind die Notstandsgesetze nun alt. Angewendet wurden sie nie.

Bayerns Verfassungsklage hielt Tür zur Wiedervereinigung offen

Auch in der DDR wurde 1968 die Verfassung erneuert – allerdings von Grund auf. In der neuen Version war die DDR nun ein „sozialistischer Staat deutscher Nation“, und damit das auch jeder verstand, kam das Wort „sozialistisch“ mehr als 90 Mal im Text vor.

Die CSU-geführte bayerische Staatsregierung zog 1972 gegen den Grundlagenvertrag über die „gutnachbarlichen“ Beziehungen zur DDR und die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft nach Karlsruhe vors Verfassungsgericht – und erntete formal eine Niederlage, im Endeffekt aber einen wichtigen Sieg für die Wiedervereinigung. Denn die Richter urteilten: Der Vertrag sei legal, aber die deutsche Einheit müsse das Fernziel politischen Handelns bleiben. Die DDR-Staatsbürgerschaft wurde nicht anerkannt: Ein entscheidender rechtlicher Faktor, als die bundesdeutschen Botschaften in Prag und Budapest 1989 tausenden Ex-DDR-Bürgern bundesdeutsche Pässe ausstellte.

1989 nämlich, als SPD und Grüne die Wiedervereinigung bereits als „Lebenslüge der zweiten deutschen Republik“ diskreditierten, da öffnete sich das Fenster der Geschichte einen Spalt weit – gerade genug, um eine Hand hindurchzureichen. Es war die Hand, die in der Prager Botschaft anderen über den Zaun half, die Hand, die Michail Gorbatschow Helmut Kohl am Ufer des Selentschuk reichte, es war die Hand eines SED-Bonzen, die in eine Jackett-Tasche griff und einen Zettel hervorzog, der beinahe „sofort, unverzüglich“ Deutschland veränderte.

Vom Provisorium zur gesamtdeutschen Verfassung

Mit einem Schlag war die DDR Geschichte. Doch die Wiedervereinigung stellte auch das Grundgesetz teilweise in Frage. War es jetzt an der Zeit, gemäß Artikel 146 eine neue Verfassung zu verabschieden? Die Politik entschied sich für eine andere Option, beruhend auf Artikel 23: Die deutsche Einheit sollte als Beitritt der ostdeutschen Bundesländer zum Geltungsbereich des Grundgesetzes vollzogen werden.

Das neue Deutschland war mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 komplett, Artikel 23 wurde gestrichen, das Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung. An Stelle des Artikel 23 trat 1992 der Europa-Artikel: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas“ solle Deutschland seinen Beitrag zur Entwicklung der Europäischen Union leisten. Deutschland kann der EU von nun an leichter Hoheitsrechte übertragen.

70 Jahre Grundgesetz sind die glücklichsten Jahre in der deutschen Geschichte.

Peter Müller, Bundesverfassungsrichter

Heute, eine Generation nach der Wiedervereinigung, ist aus dem schlanken Brevier ein properes Gesetzeswerk, aus dem Provisorium die langlebigste deutsche Verfassung geworden. 63 Mal wurde das Grundgesetz geändert, die Zahl der Wörter hat sich dabei verdoppelt. Längst gilt das Grundgesetz als ein Vorbild für andere Verfassungen, gerade was die Stellung der Grundrechte angeht. Dass am Anfang von allem die Würde derjenigen steht, die sich die Verfassung geben – dieser Gedanke ist auch nach 70 Jahren nicht veraltet.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) forderte zum 70. Jubiläum des Grundgesetzes, die Verfassung nicht zu überfrachten und der Politik Spielraum zu lassen. Er fügte hinzu: „Wir sollten nicht zulassen, dass unsere Ordnungen durch unseren Hang zur Perfektion so erstarren, dass wir sie nicht mehr reformieren können.“

Grundgesetz benötigt dauerhaftes Engagement der Demokraten

Der frühere bayerische Justizminister Winfried Bausback (CSU) schrieb auf Facebook: „Das Grundgesetz ist die beste Verfassung, die Deutschland je hatte. Mit dem bewussten Provisorium ist 1949 eine Musterverfassung entstanden, die auch für andere beispielgebend war.“ Weiter betont der Aschaffenburger Landtagsabgeordnete: „Auf uns kommt es an, wenn wir unsere Freiheit, unseren Rechtsstaat, unsere Demokratie erhalten wollen – gerade in einer Zeit, für die viele erst rückblickend erkennen werden, was für einen Umbruch wir gerade in der Welt erleben.“

Ähnlich sieht es der Landsberger CSU-Landtagsabgeordnete Alex Dorow: „Das einstige Provisorium hat sich zum denkbar besten Stabilitätsfaktor unseres Staates entwickelt.“ Und weiter: „Dennoch muss es immer wieder geschützt und verteidigt werden gegen Angriffe aus allen möglichen Richtungen. Vor unbedachter und beliebiger Erweiterung durch tagesaktuelle Modalitäten ebenso wie vor Verengungen. Am allerwichtigsten derzeit womöglich tatsächlich vor einer immer weitergehenden Einschränkung der Meinungsfreiheit unter dem Deckmantel von politischer Korrektheit und vermeintlicher Moral.“

Glücksfall für Deutschland

Der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, bezeichnete das Grundgesetz als „Schutzschild gegen verfassungsfeindliche Strömungen.“ Zugleich mahnte er bürgerschaftliches Engagement für die Demokratie an. „Auch die beste Verfassung ist ohne den engagierten Einsatz der Bürger für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gegenüber den Feinden letztlich wehrlos.“

Sein Kollege Peter Müller nannte im Saarländischen Rundfunk das Grundgesetz „eine nüchterne Verfassung“, die sich in den Stürmen der Zeit bewährt habe. „70 Jahre Grundgesetz sind die glücklichsten Jahre in der deutschen Geschichte. Auf der Basis des Grundgesetzes haben sich Freiheit, Wohlstand und Frieden entwickelt. Das ist ein Glücksfall und diesen Glücksfall darf man auch mal feiern.“