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Notenverteiler in der Krise

Geschützt durch die Meinungsäusserungsfreiheit: Rating-Agentur Standard & Poor's.

Die grossen Ratingagenturen unterspielen ihre Karten gern. Was den Investoren geboten werde, seien nicht nachprüfbare Bewertungen von Schuldpapieren, sondern «nur Meinungen», und zwar Meinungen unter einer Fülle anderer, die man sorgfältig abwägen und kritisch verwenden sollte. So lautet die offizielle Darstellung dieses seit über 80 Jahren hochlukrativen Geschäftsmodells, eine Darstellung, die mit der realen Marktmacht dieser Unternehmen nichts zu tun hat.

Die zwei grössten dieser Agenturen, Moody's und Standard & Poor's (S&P), bilden ein Marktduopol. Zwar gibt es einige Dutzend kleinere Ratingfirmen, doch schon die drittgrösste, die in französischem Besitz befindliche Fitch, hat sehr geringen Einfluss auf den Markt. Als die chinesische Ratingagentur die US-Staatsanleihen herunterstufte (und damit nicht nur drohte wie die beiden amerikanischen Riesen), reagierten die Investoren nur mit Achselzucken. «Die neuen Meister des Kapitals«, so beschreibt der englische Ökonom Timothy Sinclair die beiden US-Firmen Moody's und S&P.

Einen Milliardenmarkt im Griff

Die beiden Giganten halten mit ihrem Notensystem heute einen Markt im Wert von 30 Billionen Dollar, also 30'000 Milliarden, in eisernem Griff. Die Herabstufung einer Obligation kann einen Schuldner mehrere Hundert Millionen Dollar an Zinszahlungen kosten. Und diese Bewertung der Ratingfirmen entscheidet auch darüber, ob Pensionskassen in die Papiere von Körperschaften und Unternehmen investieren können – oder nicht. Ihre Arbeit hat so gravierende Folgen, dass Experten schon die Frage aufgeworfen haben, ob die Ratingagenturen oder die Regierungen mehr Macht besitzen.

Die Geschichte der Agenturen ist gezeichnet von Versäumnissen, Fehlurteilen und krassem Versagen. Ratingfirmen verschärfen eine Krise, wenn sie wie 1997 in Asien und nun in Griechenland oder Portugal die Noten erst dann senken, wenn ein Schuldner kurz vor dem Kollaps steht. Im besten Fall sind sie damit überflüssig; im schlimmsten Fall sind sie Mittäter, wie ihr Verhalten im Fall Enron und in der US-Hypothekenkrise zeigte. Zunehmend kritisch gesehen wird, dass die Ratingagenturen von den Auftraggebern, deren Finanzprodukte sie bewerten sollen, bezahlt werden. Die Untersuchungskommission des US-Kongresses urteilte nach der Finanzkrise 2007: Die Ratingfirmen sind «Getriebe im Räderwerk der finanziellen Zerstörung».

Und dennoch bestehen die Agenturen darauf, keine handfesten Werturteile, sondern «nur Meinungen» abzugeben. Der Grund ist simpel: Wenn sie wie die Banken quantitative und nachprüfbare Analysen der Schuldpapiere verkaufen würden, könnten sie wie die Banken auch wegen Irreführung der Anleger belangt und des Betrugs angeklagt werden. Es war einer der grössten Erfolge der Agenturen, als das höchste US-Berufungsgericht letztes Jahr eine Betrugsklage im Nachgang zum Hypothekardebakel abwies und bestätigte, dass die irreführend optimistischen Bewertungen von Moody's in der Tat nur «Meinungen» waren und somit geschützt durch die Meinungsäusserungsfreiheit.

Mit Samthandschuhen angefasst

Die ausserordentlich lockere Regulierung der Ratingfirmen geht auf die Dreissigerjahre zurück. Die US-Regierung delegierte damals die Bewertung der Obligationen von Staaten, Städten und Unternehmen explizit an Moody's, S&P und Fitch. Sie machte die drei Agenturen zu halbstaatlichen Prüfinstanzen, ohne ihnen klare Kriterien zu geben oder sie einer Aufsicht zu unterstellen. Die Agenturen nützten den Freiraum und machten sich unentbehrlich. Je globaler die Märkte, desto mehr Schuldner und umso grösser der Einfluss der Agenturen, meint Wirtschaftsprofessor Sinclair.

Die Firmen weckten den Anschein, unabhängig zu sein und neutrale Urteile abzugeben, tatsächlich aber seien sie weder wissenschaftlich noch objektiv, sondern gewinngetriebene PR-Maschinen, kritisiert Michael Lewis, einer der besten Kenner der Wallstreet-Unternehmen: «Keine Frage, die Welt ist schlechter dran wegen Unternehmen wie Moody's oder Standard & Poor's.» Bill Gross, der Gründer der mächtigen Kapitalanlage-Gesellschaft Pimco, rät dazu, die Noten der Firmen zu ignorieren. Er sieht sie als «gelehrte Idioten, die alles über die Mathematik wissen, aber keine Ahnung haben, wie sie anzuwenden ist».

Mangelndes Vertrauen

Noch jede Krise haben die US-Firmen aber bisher unbehelligt überstanden. Und dies, obwohl die US-Börsenaufsicht (Securities and Exchange Commission, SEC) auch beim Finanzdebakel 2007 klare Hinweise auf betrügerische Machenschaften fand. Eine erste Klage gegen Moody's wies die SEC im August 2010 ab, weil die dubiosen Tatbestände im Ausland festgestellt worden waren – ausserhalb des Zugriffs der US-Behörden. Doch unter dem Eindruck der Ereignisse in Europa scheint sich die Börsenaufsicht nun doch noch zu besinnen.

Sie bereitet dem «Wall Street Journal» zufolge inzwischen eine Betrugsklage auf zivilrechtlichem Weg vor; wahrscheinlich in der Absicht, die Ratingfirmen ähnlich wie die Banken zu finanziellen Wiedergutmachungen zu zwingen. Bussen schrecken jedoch niemanden in der Finanzindustrie. Solange keine Klagen gegen Personen angestrengt würden, machten die Ratingfirmen weiter wie bisher, ist Timothy Sinclair überzeugt. Das Vertrauen in die Banken sei noch geringer als in die Ratingfirmen. Deshalb sei anzunehmen, dass ihr Einfluss in einem globalen Markt noch zunehmen werde.