Ein Überbleibsel des Mauerfalls

Wer hat noch einen Koffer in Prag?

Tausende DDR-Bürger suchten im Spätsommer 1989 in der Botschaft Zuflucht.

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Ausreisewillige DDR-Bürger versammeln sich im September 1989 vor der westdeutschen Botschaft in Prag.
Ausreisewillige DDR-Bürger versammeln sich im September 1989 vor der westdeutschen Botschaft in Prag.picture-alliance/ ZB

Garten an der Rückseite der Deutschen Botschaft in Prag führt, hat sich auch nach 30 Jahren kaum verändert: eine unbefestigte Straße, auf der große Pfützen stehen, obwohl es seit zwei Tagen in der Moldaustadt heiß und trocken ist. Auf den schattigen Weg unterhalb des Lobkovicz-Parks am Strahov-Hügel gelangt man nach wie vor ohne Probleme – so wie im September 1989, als Tausende DDR-Bürger hier entlangliefen und über den Zaun aus stählernen Streben in den Garten der Botschaft und damit in die Freiheit kletterten.
Heute käme man allerdings nicht mehr so einfach über den Zaun in den Garten, denn die alte Grundstücks-umgrenzung ist ausgewechselt worden. Der stählerne Staketenzaun reicht nun mehr als vier Meter in die Höhe; seine oberen Spitzen sind schwungvoll nach außen gebogen, sodass ein Überklettern unmöglich ist.

Die Geschichte des Koffers hat mit den Septembertagen 1989 in Prag zu tun

Botschaften sind heutzutage weniger Fluchtorte als vielmehr potenzielle Anschlagsziele für Terroristen. Das wird einem auch hier in Prag deutlich gemacht, wenn man das Palais Lobkovicz betritt, in dem der deutsche Botschafter residiert. Kameras am Eingang des Gebäudes in der Vlašská 19 scannen das Gesicht des Besuchers, zwei Türschleusen müssen passiert werden. Kurz hinter der zweiten Schleuse hängt ein Plakat für die Mitarbeiter. Es informiert, wie sie sich bei Terroranschlägen verhalten sollen.

Doch wenn man erst einmal bis in das riesige Arbeitszimmer von Botschafter Christoph Israng vorgedrungen ist, kann man sich dort so sicher fühlen wie in Abrahams Schoß. Und deshalb auch ganz entspannt auf den herrenlosen Koffer starren, der auf Bahnhöfen und Flughäfen einen Polizeieinsatz auslösen würde, hier aber unverdächtig auf dem edlen Glastisch in der Sitzecke liegt. Denn dieses auffällig rot karierte Stoffding mit Reißverschluss ist – glaubt man dem Botschafter – ein wahrhaft historischer Koffer und als solcher nicht mit TNT, sondern höchstens mit einer explosiven Geschichte behaftet und befüllt.

Die Geschichte des Gepäckstücks hat natürlich mit den chaotischen Septembertagen im vom Regen zermatschten Prager Botschaftsgarten vor 30 Jahren und Hans-Dietrich Genschers legendärem Balkonauftritt zu tun. Ende September, am letzten Sonnabend des Monats, werden diese Ereignisse noch einmal aufleben. Dann öffnet die Botschaft ihr Tor für ein „Fest der Freiheit“, bei dem es auch um den Koffer auf dem Glastisch gehen soll.

Der Deutsche Botschafter in Prag war zum Mauerfall noch in der Schule

Doch bevor wir in der Residenz darauf zu sprechen kommen, geht es erst einmal um den seit 2017 in Prag residierenden Botschafter und die bei historischen Ereignissen übliche „Wo waren Sie, als …“-Frage. Der schlanke, hochgewachsene Christoph Israng ist Jahrgang 1971 und somit wohl eher kein aktiv Beteiligter des damaligen Geschehens gewesen.
„Das stimmt, denn im Herbst 1989 bin ich noch zur Schule gegangen, in die 13. Klasse“, bestätigt Israng. „Wir wohnten im Berchtesgadener Land, bekamen dort, im Grenzgebiet zu Österreich, aber natürlich hautnah mit, dass sich etwas tut in der DDR. Jeden Tag kamen viele Flüchtlinge über Ungarn und Österreich zu uns. Das THW hatte Zelte aufgebaut, wo die Menschen betreut wurden vor ihrer Weiterfahrt. Und viele blieben auch in der Gegend, sodass wir in der Klasse neue Mitschüler aus dem Osten bekamen.“

Zwei Frauen mit ihren Kindern kampieren vor der Deutschen Botschaft in Prag. Mehrere Tausend DDR-Bürger dürfen Ende September und Anfang Oktober 1989 in den Westen ausreisen.
Zwei Frauen mit ihren Kindern kampieren vor der Deutschen Botschaft in Prag. Mehrere Tausend DDR-Bürger dürfen Ende September und Anfang Oktober 1989 in den Westen ausreisen.picture-alliance/ ZB

Noch gut kann sich Israng daran erinnern, dass es in seiner Schule eine Arbeitsgemeinschaft Russisch gab, für die er sich eingeschrieben hatte. „Wir glaubten natürlich, dass der eher spärlich besetzte Kurs nun aufgefüllt wird, aber die ostdeutschen Schüler, die die Sprache in der DDR von früh an lernen mussten, hatten nun keine Lust mehr auf Russisch“, sagt er und lacht.

Der Koffer ist ein Überbleibsel der Flüchtlingswelle 1989

Und dann erzählt er noch, wie er im Dezember 89 mit ein paar Freunden im VW Käfer nach Berlin gefahren ist, um bei der Öffnung des Brandenburger Tores dabei zu sein. Eine abenteuerliche Tour sei das für die 18-Jährigen gewesen, auch weil das Auto zwischendrin kaputt ging. Aber toll war es eben doch, in Berlin dabei gewesen zu sein. „Geschichte“, sagt Israng, „muss man auch erleben.“

So wie auch der Koffer auf dem Tisch Geschichte erlebt hat, bei dem wir in unserem Gespräch nun endlich angekommen sind. Er ist ein Überbleibsel der damaligen Flüchtlingswelle und gehörte einem DDR-Bürger, der in der Prager Botschaft Zuflucht gefunden hatte. Der Mann oder die Frau war in den Westen ausgereist, ohne das Gepäckstück mitnehmen zu können. Erst jetzt, 30 Jahre später, ist es wieder aufgetaucht. Und jetzt sucht die Botschaft den einstigen Besitzer, um ihm den Koffer beim „Fest der Freiheit“ am 28. September zurückgeben zu können.

Der Koffer ist ein typisches DDR-Massenprodukt

Einfach dürfte die Fahndung nicht werden. Auch Botschafter Israng ist eher skeptisch, was den Erfolg der über Twitter ausgelösten Suche nach dem Eigentümer anbelangt. „Dieser Koffertyp, so viel wissen wir inzwischen, war in der DDR doch eher weit verbreitet“, sagt er. „Das macht die Suche nicht eben leichter.“

Tatsächlich ist das karierte Gepäckstück ein typisches DDR-Massenprodukt, schlicht und funktionell gestaltet, solide verarbeitet und mit einer durchaus kühn zu nennenden Farbgestaltung. Der 54 mal 33 Zentimeter große Koffer aus sehr fest gewebtem Stoff ist an den Innenwänden mit Pappe verstärkt, der dunkle Kunstledergriff wurde mit messingfarbenen Beschlägen am Koffer befestigt. 

Und was war drin?

Zeitweise hielten sich 4000 Menschen in der Botschaft in Prag auf

Botschafter Israng wiegt lächelnd den Kopf. „Na ja, das macht es ja so schwierig“, sagt er dann. „Der Koffer war leer, als wir ihn im Frühjahr bekamen.“

Um die Geschichte dieses Gepäckstücks zu verstehen, ist ein Zeitsprung zurück in das Jahr 1989 nötig. Ab August hatten sich damals immer mehr fluchtwillige DDR-Bürger nach Ungarn und in die CSSR aufgemacht, um dort die Grenze in den Westen zu überwinden. In Prag wurde der Garten der westdeutschen Botschaft zum Asyl. Die Menschen gelangten anfangs noch durch das Tor in das Innere der Vertretung, später kletterten sie über den Zaun an der Rückseite des Grundstücks. Zeitweise hielten sich mindestens 4000 Menschen gleichzeitig dort auf.

Botschafter Christoph Israng sucht den Besitzer dieses Koffers.
Botschafter Christoph Israng sucht den Besitzer dieses Koffers.Andreas Förster

Die Bedingungen waren trotz aller Bemühungen der deutschen Helfer katastrophal. Auf den Gängen und im Treppenhaus des Palais Lobkowicz waren Feldbetten aufgestellt und einfache Schlafdecken auf die Fußböden gelegt worden.

Die DDR-Führung war längst nicht mehr Herr der Lage

In dem durch Dauerregen in eine Schlammwüste verwandelten Garten drängelten sich Männer, Frauen und Kinder und schliefen abwechselnd in den wenigen dort aufgestellten Großraumzelten. Es war kalt und nass. Überall im Garten lagen Schmutz und Müll. Es stank nach ungewaschenen Leibern und Fäkalien, da die Toiletten und Sanitäreinrichtungen dem Ansturm nicht gewachsen waren.
Im September schickte Ost-Berlin Rechtsanwalt Wolfgang Vogel nach Prag. Er versprach den Flüchtlingen die baldige Ausreise, wenn sie in die DDR zurückkehren. Doch nur wenige ließen sich darauf ein.

Auch im fernen New York am Rande der UN-Vollversammlung wurden die Botschaftsflüchtlinge ein Thema. Bundesaußenminister Genscher traf seinen DDR-Kollegen Fischer, der aber an der Forderung nach freiwilliger Rückkehr festhielt.

Doch die DDR-Führung war längst nicht mehr Herr des Verfahrens. Genscher hatte in New York auch mit den Außenministern der CSSR und der Sowjetunion verhandelt. Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus New York ließ sich der Minister zusammen mit Kanzleramtschef Rudolf Seiters in die Prager Botschaft bringen. In dem Haus hörten die Politiker die „Freiheit, Freiheit!“-Sprechchöre der Menschen im Garten, unter denen es sich herumgesprochen hatte, dass eine Entscheidung bevorsteht.

Die DDR-Führung wollte den Zustrom nach Prag stoppen - vergeblich

Dann trat Genscher am Abend des 30. September, kurz vor 19 Uhr, auf den Balkon des Botschaftsgebäudes. Als er die erlösende Nachricht verkündete, ging seine Botschaft im grenzenlosen Jubel der Flüchtlinge unter. Filmaufnahmen jenes Tages haben den berühmtesten unvollendeten Satz der deutsch-deutschen Geschichte festgehalten, und wohl keiner, der die Szene sieht, kann sich der Ergriffenheit erwehren, die sie auch 30 Jahre später noch auslöst: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“

In den Wochen zuvor hatte die DDR-Führung die Regierung in Prag – vergeblich – darum ersucht, den Zustrom der Ostdeutschen zur Botschaft durch Polizeiabsperrungen zu stoppen. Die Flüchtlinge ihrerseits waren umsichtig – viele deponierten, um auf dem Weg zur deutschen Vertretung nicht aufzufallen, ihre Koffer mit den Habseligkeiten nach ihrer Ankunft in Prag in Schließfächern am Hauptbahnhof.
Prager Bürger, die in den Septembertagen oft an den Zaun des Botschaftsgeländes kamen, um den dort kampierenden Menschen Kuchen und Obst durch die Gitterstäbe zu reichen, erklärten sich dabei auch zu Kuriergängen bereit. Sie ließen sich die Schließfachschlüssel geben, holten die Koffer aus dem Versteck und schafften sie zur Botschaft.

Die Lösung in der Prager Botschaft führte auch das Ende der DDR herbei

So hatte es auch Anna H. mehrfach gemacht, eine in Prag lebende Deutsche, die anonym bleiben möchte. Sie gab den Koffer, dessen Besitzer nun gesucht wird, vor einigen Monaten im Palais Lobkowicz ab. Dabei erzählte sie den deutschen Diplomaten, dass sie am Abend des 30. September just in dem Moment an den Zaun gekommen war, als Genscher seine Balkonrede hielt. In dem Durcheinander, das daraufhin einsetzte, habe sie ihren Auftraggeber, für den sie den rot karierten Koffer aus dem Schließfach geholt hatte, nicht mehr gefunden.

Und am nächsten Tag lag der Garten der Botschaft, der eben noch völlig überfüllt gewesen war, verlassen da. Denn sehr rasch nach Genschers Ankündigung waren die Flüchtlinge in mehreren Sonderzügen über das Gebiet der DDR – wo ihnen Stasi-Mitarbeiter im Zug die Pässe abnahmen, um sie offiziell auszubürgern und dem Staat damit den Zugriff auf ihr zurückgelassenes Eigentum zu ermöglichen – nach Hof in Bayern gebracht worden. Anna H. gab an, dass sie den Koffer dann mit nach Hause genommen und ihn seitdem aufbewahrt habe. Was mit seinem Inhalt geschah, wollte die Frau nicht sagen.

Mit den ersten sechs Sonderzügen gelangten zwischen dem 30. September und 1. Oktober mehr als 5200 Menschen aus Prag in die Freiheit. Für die verknöcherte SED-Führung erwies sich die Bedingung, dass die Sonderzüge über das Territorium der DDR in den Westen rollen müssen, als Bumerang. Denn an der Strecke und vor allem am Hauptbahnhof in Dresden spielten sich unglaubliche Szenen ab, als DDR-Bürger versuchten, die Fluchtzüge zu entern. Mit großer Brutalität und Rücksichtslosigkeit, wie man sie in der DDR bis dahin seit dem Volksaufstand von 1953 nicht mehr erlebt hatte, gingen die Sicherheitskräfte gegen die Bahnhofsbelagerer vor. Es gab Verletzte, aber wie durch ein Wunder keine Toten. Die scheinbar gesichtswahrende Lösung der Prager Botschaftsbesetzung beschleunigte letztlich den raschen Niedergang des Regimes.

Sängerin Jeanette Biedermann erlebte im alter von neun Jahren die Septembertage in Prag mit

Denn auch nach dem 1. Oktober riss der Ansturm auf den Garten des Palais Lobkowicz nicht ab. Am 4. und 5. Oktober wurden erneut Tausende Botschaftsflüchtlingen aus Prag mit insgesamt acht Sonderzügen in den Westen gebracht – bis zu 8000 sollen es gewesen sein. Die DDR schloss danach faktisch ihre Grenzen zur CSSR und hob die eingeführte strenge Visumspflicht erst am 1. November wieder auf. Als sich danach erneut ein Flüchtlingsstrom in die CSSR aufmachte, öffnete Prag die Grenzen zur Bundesrepublik für DDR-Bürger.
Am Abend des 9. November 1989 ließ die DDR-Führung verlauten, dass eine direkte Ausreise nun auch von der DDR möglich sei – mit den bekannten Folgen des nächtlichen Mauerfalls.

Um diese und andere Geschichten wird es beim „Fest der Freiheit“ am Nachmittag des 28. September im Palais Lobkowicz gehen. Es soll gefeiert und getanzt werden. In einer Ausstellung kann man Fotos sehen, die damals von Fotografen und Flüchtlingen gemacht wurden. Es wird Interviews und Gespräche geben. Politiker und Zeitzeugen kommen dabei zu Wort, wie der seinerzeitige Kanzleramtsminister Seiters und die aus der DDR stammende Sängerin Jeanette Biedermann, die im Alter von neun Jahren mit ihrer Familie jene Septembertage im Botschaftsgarten miterlebte.

Bis jetzt hat sich der rechtmäßige Besitzer des Koffers noch nicht gefunden

Ob aber auch der verlorene Koffer nach drei Jahrzehnten seinen Besitzer wiederfinden wird?

„Wir werden sehen“, antwortet Botschafter Israng diplomatisch. Bislang habe sich auf den Fahndungsaufruf bei Twitter jedenfalls erst eine Person gemeldet, die man jedoch schnell als Eigentümer ausschließen konnte. „Doch wir geben die Hoffnung nicht auf“, sagt er. „Das haben die Flüchtlinge damals schließlich auch nicht getan.“ 

Potenzielle Besitzer des Koffers können sich melden unter:
pr-100@prag.auswaertiges-amt.d