Pflanzen sind stocktaub

Es existiert ein Berliner Kindervers, der geht so: "In Friedenau/ wohnt keine Sau./ Nur meine Oma/ liegt da im Koma." - Völlig haltlos und aus der Luft gegriffen, aber das ist ja bei Lyrik nichts Ungewöhnliches. Der Innsbrucker Platz ist jedenfalls sehr belebt an diesem Nachmittag. Ob die Innsbrucker Straße zuerst da war, oder der Innsbrucker Platz, ist unwichtig. Die Innsbrucker Straße führt genauso wenig in die österreichische Metropole wie die Bielefelder Straße nach Ostwestfalen, sondern zum Bayerischen Platz. Ebenso unklar bleibt der Bezug des Innsbrucker Platzes zum bekannten Eldorado der Skispringer am Inn. Noch nicht einmal eine kleine Sprungschanze als Tribut an die namensgebende Stadt ist aufgebaut worden. Dabei würden sich die paar jugendlichen Skateboardfahrer, die auf den Steinplatten gefährliche Übungen versuchen, sicher darüber freuen. Der anliegende Kreisverkehr und die Hauptstraße mit dem Autobahnzubringer, dazu die regelmäßig vorbeiratternden S-Bahnen verursachen den stadtbekannten Lärm, dem sich ein Erholungssuchender gern entziehen würde. Aber dies ist schließlich kein Park, sondern ein Platz. - "Erholen kann ich mich auch zu Hause", denken sich die drei Rentnerinnen vielleicht, setzen sich auf eine Bank und betrachten den Feierabendverkehr. Ab und zu sagt eine etwas - sehr laut, aber obwohl ich nur drei Meter daneben sitze, kann ich kein Wort verstehen. Dies ist eindeutig kein Ort der Kommunikation. "Immer noch besser als mit einem Kissen im Fenster zu liegen", haben sie sich vielleicht gesagt. Aber welchen ursprünglichen Sinn haben solche Plätze? Doch wohl eine räumliche Barriere zwischen lärmender Haupt- und ruhiger Wohnstraße zu schaffen. Eigentlich sind sie Niemandsland. Trotzdem meinen immer einige Menschen, sich dort aufhalten zu müssen, egal wie unwirtlich es ist. "Platz" bedeutet: "Da ist Platz". Platznamen haben darüber hinaus den Sinn, eines Menschen (John F. Kennedy-Platz) oder Ereignisses (Platz der Luftbrücke) zu gedenken. Welches Bild muss man von Innsbruck haben, wenn man auf diesem trostlosen Flecken steht!Ein wenig abgemildert wird die Tristesse des Ortes durch einige halbhohe Bäume, die das Grünflächenamt hat anpflanzen lassen. Sie müssen sehr widerstandsfähig sein, sonst hätten die Abgase sie schon getötet. Auf jeden Fall steht damit der Beweis, dass Pflanzen, so sehr sie auch zu den Lebewesen gehören, stocktaub sind. Sonst wären sie schon verrückt geworden. Für Menschen, die sich hier eine Kohlenmonoxidvergiftung oder einen Tinnitus einfangen, ist ein paar Meter um die Ecke die "Apotheke am Innsbrucker Platz" zur Stelle. Der kleine Brunnen, der zur Kühlung der Nerven dienen könnte, ist gerade nicht in Betrieb. Knutschende junge Menschen auf dem Brunnenrand, denen Krach als solches nichts ausmacht, sind hier offenbar nicht erwünscht. Eine anständige Gastronomie ist nicht vorhanden. Logisch, wie soll man um einen Kreisverkehr herum auch eine Eckkneipe anbringen? Dem willigen und genügsamen Konsumenten böte sich allenfalls eine Stehbäckerei und eine italienische Eisdiele mit Tischen draußen, die erstaunlich gut in Anspruch genommen werden, obwohl die Wespen in der Überzahl sind. Eine Frau haut beim Versuch, solch ein Insekt zu vertreiben, ihr Eis aus der Tüte. Niemand lacht. Wenig weiter gibt es eine Lotto-Annahmestelle mit Bier- und Spirituosenverkauf. Für manche die letzte Zuflucht. Eine City Toilette befindet sich jenseits der Hauptstraße. Diese Wegstrecke könnte gefährlich werden.Mit einem Mal erregt ein Paar, das von der S-Bahn zum Platz herüberkommt, meine Aufmerksamkeit. Sie tragen Sonnenbrillen, Rucksäcke und Skihosen. Skihosen! Ich weiß nicht, ob mir der Teufel oder ein Schalk im Nacken sitzt, gehe auf sie zu und frage, ob sie aus Österreich seien. - "Wieso?" - "Na ja, das hier ist der Innsbrucker Platz, und Sie tragen Skihosen." - "Nein, wir sind nicht aus Österreich. Wir kommen aus Bottrop." - "Und warum tragen Sie dann Skihosen? Würden Sie auf dem Bayerischen Platz Lederhosen tragen und auf dem Kaiser Wilhelm-Platz eine Pickelhaube?" Sie antworten nicht, sehen mich an, als wäre ich bekloppt und gehen schnell weiter. Vielleicht haben sie recht. Andreas Scheffler ist regelmäßig zu Gast beim "Blauen Montag" im Tempodrom - und Friedenau dort der "Bezirk des Monats".