Restaurant der Woche: Aerde im Test – noch ein Schlückchen Brackwasser gefällig?

Pilzkaffee und Gurkendessert – dieses Nova-Regio-Restaurant traut sich was. Schmeckt das? Unsere Kritikerin hat’s getestet.

Die unsäglichen Ikea-Papierlampen fügen sich im Aerde wundersamerweise zum schönen Anblick.
Die unsäglichen Ikea-Papierlampen fügen sich im Aerde wundersamerweise zum schönen Anblick.Oliver Helbig

Die Erde ist gar keine Kugel, sondern ein eingedellter Ball. Und das Logo eines der aktuell spannendsten Restaurants der Stadt: Welchen Stellenwert die Ästhetik im Aerde einnimmt, beweist dessen perfekt durchgestylte, gleichzeitig angenehm warme Location am südlichen Rand des Gleisdreieckparks, gegenüber des Lokdepots.

Auf einer Fläche, die kaum größer ist als zwei Durchschnittsküchen, finden 20 Gäste Platz – ohne dass es beengt wirkt. Über dem quadratischen Gemeinschaftstisch hängen drei dieser unsäglichen Ikea-Papierlampen in unterschiedlicher Größe und fügen sich mit dem darunterliegenden Riesenlauch-Arrangement wundersamerweise zu einem schönen Anblick. Decke und Wände des mehrere Meter hohen Raums sind ochsenblutfarben gestrichen, an der Frontseite hängt ein großformatiges Blumengemälde, dazu frische Blumensträuße und ein Regal mit Fermentationsgläsern. Super Playlist!

Zur Wahl stehen vier bis acht Gänge, die zwischen 69 und 121 Euro kosten. Auf eine komplexe Buchweizen-Tartelette mit Schwarzwurzel, Selleriepüree und laktofermentierter Erbse folgt eine Scheibe warmen Domberger-Brots mit über Wacholderholz geräucherter Heubutter. Der Empfehlung, großzügig damit umzugehen, kommt man gerne nach.

Der folgende Teller ist mir in ähnlicher Optik einige Tage zuvor bereits in einem anderen Nova-Regio-Restaurant begegnet – der Begriff meint die neue alte Regionalküche –, verschiedene Tomatensorten in einer semitransparenten Brühe. Während sie im anderen Restaurant mit Zwiebelsud und Leindotteröl verfeinert wurde, bekommt sie im Aerde durch Marillenchutney, Holunderkapern und einen Erdbeer-Chili-Sud ordentlich Wumms. Das passt gut, weil die Tomaten leider in beiden Fällen nicht von so grandioser Qualität sind, dass sie einen so puristischen Gang tragen könnten (liegt anscheinend am Brandenburger Wetter der vergangenen Monate).

Es folgt mein Lieblingsgang: große Scheiben vom rohen Müritzfischer-Flussbarsch, denen eine Auberginencreme, winzige Walnusswürfel, Frühlingslauch- und Chili-Öl sowie eine kalte Tomatenessenz beigestellt sind. Auf einem zweiten Teller kommen in bester Nose-to-Tail-Manier (beziehungsweise Nose-to-Fin, wie es beim Fisch heißen muss) die mit Saiblingsgarum marinierten, anschließend scharf gegrillten Flossen des Barschs, die man, ähnlich wie Chickenwings, am besten mit den Fingern isst. Gerne mache ich danach vom Oshibori-Tuch Gebrauch, was nach japanischer Tradition nicht nur die Hände, sondern auch die Seele reinigen soll.

Kaum ein Bissen schmeckt wie der andere

Nach einer so hocharomatischen Proteinbombe hat es ein Veggie-Gang nicht leicht, aber auch dieser gelingt bravourös. Knackig gegrillter Blumenkohl mit einer extra-säuerlichen Joghurtemulsion und der Brandenburger Variante der mexikanischen Salsa Macha, mit Sonnenblumenkernen und Haselnüssen statt Erdnüssen und Mandeln. Chilis aus Martin Rötzels Monk Garden verweisen zusätzlich gen Südamerika.

Nicht ganz so unvergesslich, aber ein gutes Zwischenspiel, ist der Fenchelgang, geschmort und als Salat mit Estragonöl, Fenchel-Beurre-blanc und Apfel-Zwiebel-Creme. Nach einem Klecks den Gaumen erfrischendem Quitten-Granité kommt der vegetarische Hauptgang, eine prall mit Aubergine, Lauch und Spitzkohl gefüllte Gyoza, dazu eine butterweich geschmorte Aubergine und eine dank schwarzem Knoblauch beeindruckend komplexe Gemüsejus. Im alkoholfreien Glas landet ein perfekt in Süße und Säure ausbalancierter Shrub aus Zwetschge und Rotem Shiso.

Für viele Gänge gilt, dass sie in ihrer Reduziertheit sehr komplex sind und kaum ein Bissen wie der andere schmeckt. Das Dessert ist mehr auf der gemüsigen Seite. Gurke wurde einmal süß, einmal sauer gepickelt und mit Senfsaat, Joghurt-Espuma, gepufftem Buchweizen und Kaffirlimettenöl zu einem unbedingt zu zerstörenden Arrangement gebaut. In Kombination funktioniert die frische Rahmigkeit des Joghurts mit den knackigen Gurken und dem zitruslastigen Öl erstaunlich gut. Dazu serviert der Gastgeber Hannes Meier einen Rosen-Minze-Shrub.

Gerade mal 25 Jahre alt ist der Aerde-Küchenchef Igor Kazakov. Statt eines Kühlraums oder Kellers schöpft der in Freiburg aufgewachsene Ukrainer aus dem, was ein unweit von Bad Saarow befindlicher Garten gibt. So machen es beispielsweise auch Vadim Otto Ursus, das Michelberger oder die Nanum-Betreiberin Jinok Kim-Eicken. Statt auf Selbstversorgertum setzt Aerde zudem auf Brandenburger Produzenten. Auch hier herrscht das aktuell inflationäre, mehr oder weniger radikale Regionalprinzip: weder Pfeffer noch Schokolade, Sauerklee statt Zitrone, und statt Kaffee gibt es einen Heilpilz-Sud, gewöhnungsbedürftig, aber nicht uninteressant.

Das gilt auch für die alkoholfreie Getränkebegleitung. Manches wie der ultrabittere Tomaten-Basilikum-Shrub schießt übers Ziel hinaus, anderes ist wohl nur was für Fortgeschrittene wie jener zum Fischgang servierte Nordseealgen-Shrub, dessen Geschmack der für die alkoholfreie Begleitung zuständige Hannes Meier selbstironisch mit Brackwasser vergleicht, das muss man sich erst mal trauen. Sauer, herb und meerig ist dieses Gebräu, mir schmeckt es. Die Weinauswahl ist, wenig überraschend, eine ausgesprochen naturnahe.

5/5 Punkte

Aerde. Am Lokdepot 6, 10965 Berlin, Apéro Mi–Sa 15–18 Uhr, Dinner 18–23 Uhr. www.aerde.de