Bettina Wilpert und die „Herumtreiberinnen“: Wie Frauen gemaßregelt werden

Ein wenig bekanntes Kapitel DDR-Geschichte beleuchtet die in Leipzig lebende Autorin mit der „Tripperburg“ in ihrem zweiten Roman.

Die Autorin Bettina Wilpert.
Die Autorin Bettina Wilpert.Verlag Verbrecherei/nanediehl

Das Ausziehen lief automatisch ab, schreibt Bettina Wilpert für ihre Figur Manja, 17 Jahre alt. „Da gab es kein Nachdenken, kein Reflektieren der Situation, was da passierte, warum ich mich auszuziehen hatte. Nur die Scham begleitete mich.“ Manja wurde von der Polizei in ein Gebäude gebracht, das schon beim ersten Blick wie Krankenhaus und Gefängnis zugleich wirkte. Krankenschwestern empfingen sie mit barschem Ton, die Fenster waren vergittert. Von der „Tripperburg“ sprach der eine Polizist.

Dieser Name aus dem Volksmund galt der Venerologischen Station, wo Geschlechtskrankheiten erkannt und behandelt wurden. Es war auch ein Ort der Maßregelung. An Bahnhöfen, auf Rummelplätzen und anderswo aufgegriffene Mädchen und Frauen wurde „häufig wechselnder Geschlechtsverkehr“ unterstellt, der angeblich eine Untersuchung erforderlich machte. So erklärt sich der Titel des zweiten Romans von Bettina Wilpert: „Herumtreiberinnen“. Das war eine abfällig gemeinte Kategorie in der DDR, ähnlich wie Halbstarke oder Gammler. Die Erlebnisse von Manja im Roman sind auf die Zeit vom 20. Juni bis 11. Juli 1983 datiert.

Ein junger Mann aus Mosambik hatte Manja mit ins Wohnheim für ausländische Arbeitskräfte genommen. „Frauenbesuch war nicht erlaubt“, schreibt Wilpert in aufmüpfigem Ton für sie: „Die Liste meiner illegalen Handlungen wurde immer länger, herrlich.“ Was sie auf der Station erlebte, wo täglich grob ihr Genitalbereich untersucht wurde, wo die Insassinnen in kargen Schlafsälen untergebracht waren, zu Arbeitsdiensten herangezogen wurden, sich gegenseitig mobbten und bespitzelten, ist nur ein Erzählstrang im Roman. Es ist der am detailliertesten ausgearbeitete. Die Rolle dieser Venerologischen Stationen, die es in mehreren Städten gab, auch in Berlin-Buch, wird noch nicht lange erforscht. Vermutlich hinderte die Scham viele Patientinnen, über ihre Verwahrung Auskunft zu geben.

Erst #MeToo, jetzt Geschichte aus Frauen-Sicht

Bettina Wilpert, 1989 geboren, debütierte 2018 mit dem MeToo-Roman „Nichts, was uns passiert“: Eine Studentin beschuldigte einen Freund, sie vergewaltigt zu haben, er jedoch sprach von Einvernehmlichkeit. Nüchtern, ohne eindeutige Parteinahme begleitete die Autorin ihre Figuren. Sie  bekam den Aspekte-Literaturpreis dafür. Wilperts neues Buch ist wieder von gesellschaftlicher Brisanz. Sie erwähnt in der Danksagung einen „Initiativkreis Riebeckstraße 63“. Wenn man, angeregt durch den Roman, weiter recherchieren will, erfährt man dort einiges über den Ort in verschiedenen Epochen.

Die Leipziger Einrichtung (im Buch an einen anderen Platz verlegt) wurde in der Endphase der Nazizeit genutzt, um Zwangsarbeiter, Häftlinge, Juden, Sinti und Roma vor dem Transport in andere Lager oder Gefängnisse zu registrieren und zu sortieren. Und in jüngster Zeit brachte die Stadt im Gebäudekomplex Flüchtlinge unter. In versetzten und mit der Geschichte von Manja verschränkten Handlungssträngen erzählt Bettina Wilpert von Lilo, der Tochter eines Kommunisten, die im Jahr 1944 für ihn Aufgaben übernahm, und von Robin, die 2015/16 Geflüchtete betreut. Das heißt: Entgegen der üblichen Geschichtsschreibung anhand männlicher Helden nimmt diese Autorin über die Jahrzehnte stets den weiblichen Blick ein, auch wenn die Passagen von Robin und Lilo anders als Manjas Part in der dritten Person erzählt sind.

Verbrecher Verlag

Alle drei jungen Frauen sehen sich in Verhaltensmuster gedrängt, aus denen sie sich lösen wollen. Bei Lilo geht es um das Aufwachsen in einer Familie mit – wegen Haftzeiten oder Verstecken – häufig abwesendem Vater, in der ihr einerseits früh Aufgaben zugeteilt werden, ihre Meinung aber nicht zählt. Manja orientiert sich lieber an ihrer besten Freundin Maxie als an ihrer ehrgeizigen Mutter, die sie eine Herumtreiberin nennt und droht, sie bei den Lehrern anzuschwärzen. „Dass mir Unrecht angetan werden könnte, daran hatte ich nie gedacht“, reflektiert sie am Abend des ersten Tages in der Tripperburg. Robin schließlich zweifelt am Sinn einiger Maßnahmen für die Asylbewerber und deckt deren Regelverstöße. Neu in Leipzig, lernt sie Männer per Smartphone kennen. „Sie hatte die App schon oft gelöscht, wieder installiert, sich doch wieder verabredet, auch wenn sie wusste, dass es ihr nicht gefallen würde, war es besser, als abends allein zuhause zu hocken.“

Zwischen den Erzählpassagen um die drei Hauptfiguren des Romans gibt es zusätzlich einige Auftritte eines Chors, überschrieben: „Wir, in der Lerchenstraße“. Auch wenn es nicht leicht ist, die Sprecherinnen zuzuordnen – offenbar sind es Frauen in dem Gebäude im Wandel der Zeiten –, haben diese kurzen Texte eine hohe Intensität. Aus ihnen spricht die Not der Abgeurteilten, Abgeschobenen: „Sie lieben diese Wörter: isolieren, disziplinieren, internieren, sanktionieren, korrigieren. Manche Wörter verändern sich über die Jahre, mal heißt es Arrest, dann Zucht, später Gefängnis.“

Den West-Begriff „Vopo“ nutzten Ostler nicht

Als die Geflüchtetenunterkunft renoviert wird, etwa in der Mitte des Buches, begleitet Robin einen Handwerker in den Keller und findet ungeordnete alte Akten. Das ist ein schönes Bild für den Roman selbst, wie Bettina Wilpert immer wieder in die Geschichte hinabsteigt und ihren Figuren folgt. Die Autorin ist zwar in Niederbayern geboren und aufgewachsen, lebt aber seit einiger Zeit in Leipzig. Dass man den West-Begriff „Vopo“ für die (Volks-)Polizei in der DDR nicht nutzte, hätte ihr vielleicht jemand sagen sollen. Auch irritiert beim Lesen, dass sie die Perioden erzählter Zeit für ihre drei Heldinnen so sehr unterschiedlich lang gewählt hat, von Wochen über Monate bis zu mehreren Jahren. Dennoch: Mit diesem Buch erkundet Bettina Wilpert die Stadt auf besondere Weise, zwischen Fakten und Erfundenem wechselnd, im Stil den Zeitebenen angepasst, im Ton zwischen emotional bedrückenden und leichten, sogar lustigen Momenten wechselnd. Sie setzt Frauen ins Licht, für die in den jeweiligen Verhältnissen nur Schatten übrig war, und erhellt auch deutsche Geschichte.

Bettina Wilpert: Herumtreiberinnen. Roman. Verbrecher Verlag, Berlin 2022. 266 Seiten, 25 Euro