Staatliche Ballettschule: Wie Denunziantinnen eine Berliner Institution beschädigten

Vor vier Jahren kündigt das Land Berlin dem Spitzenpersonal der Staatlichen Ballettschule aus nichtigen Gründen. Es zahlt die Gehälter bis heute. Bilanz eines Skandals.

Ein Bild aus besseren Zeiten der Staatlichen Ballettschule: Greta Jörgens tanzt heute am Hamburg Ballett bei John Neumeier.
Ein Bild aus besseren Zeiten der Staatlichen Ballettschule: Greta Jörgens tanzt heute am Hamburg Ballett bei John Neumeier.Sebastian Hänel

Folgende Liebesgeschichte landete vor Gericht. Sie beendete rabiat eine Karriere. Die Prozesskosten belasteten ab 2020 den Haushalt der Bildungsverwaltung, Ende 2023 sogar den der Berliner Zeitung. Ein Fall von Cancel Culture, der zugleich den Ruf einer Schule zerstörte.

Die Geschichte beginnt Ende 2012, als sich ein Ballettchef (45) und eine Studentin (19) bei Proben für eine Inszenierung verlieben. Sie senden einander entflammte Chat-Nachrichten – unschicklich, sicher. Doch nach dem Auftritt zu Silvester verlässt die Tänzerin die Schule, denn schon ab Januar 2013 ist sie beim Staatsballett engagiert. Erst dann werden die zwei ein intimes Paar und bleiben es über Jahre.

Die alte Liebe an der Staatlichen Ballettschule ist fast vergessen, die Tänzerin längst außer Landes, als der Vorgang 2020 zur fristlosen Kündigung des Choreografen, Tänzers und Ballettchefs Gregor Seyffert führt. Bis dahin hatte er 17 Jahre lang äußerst erfolgreich die künstlerischen Geschicke dieser Schule geleitet.

Der Rausschmiss

Man musste kein Kenner des deutschen Arbeitsrechts sein, um zu prophezeien: Dieser Rausschmiss wird vor Gericht scheitern. Kündigungsgründe lassen sich nicht Jahre später konstruieren. Aber die damalige Bildungssenatorin Sandra Scheeres und vor allem die mit dem Fall betraute Staatssekretärin Beate Stoffers, beide SPD, waren wild entschlossen, den Schulleiter und den künstlerischen Leiter der Ballettschule zu stürzen, koste es, was es wolle. Das Land Berlin verlor alle Prozesse. Zwei gegen Gregor Seyffert, fünf gegen den Schulleiter Ralf Stabel, beide im Rang von Professoren an der Schule.

Am Ende musste das Land die verweigerten Gehälter nachzahlen, mehr noch: Es zahlt sie bis heute, auch im Jahr vier nach der Kündigung. Nachfolger dürfen bislang nur amtieren. Der promovierte Tanzwissenschaftler Stabel und der Choreograf Seyffert betraten die Schule nie wieder. Sie gehen indessen wissenschaftlichen beziehungsweise künstlerischen Projekten nach.

Die Berliner Zeitung hat über die Vorgänge ausführlich berichtet, heute fragen Leser manchmal nach: Was ist eigentlich aus der Ballettschule geworden? Ist mein Kind dort gut aufgehoben? Das nämlich blieb im Gedächtnis, die Erinnerung an eine Skandalschule, der man nicht traut.

Guten Morgen, Berlin Newsletter
Vielen Dank für Ihre Anmeldung.
Sie erhalten eine Bestätigung per E-Mail.

In Wahrheit lieferte nicht die Ballettschule den Skandal, sondern die Politik. Nur warum wurde die von Scheeres bis dahin hochgelobte Schule plötzlich in ein ruinöses Licht gezerrt, obwohl sie auf dem Weg zu internationalem Ansehen war? Obwohl sie jahrelang das Ranking um das beste berufliche Gymnasium Berlins anführte? Ihre beiden Leiter hatten den Bachelorabschluss eingeführt, das Landesjugendballett gegründet, Stars wie Polina Semionova engagiert, dafür gesorgt, dass ihre Schüler in aller Welt auftreten konnten – auch nach dem Schulabschluss.

Welches Delikt also kommt infrage für einen öffentlich zelebrierten Rausschmiss? Natürlich denkt jeder an Missbrauch, wenn zwei Chefs über Nacht Hausverbote erteilt, ihre Namen von Büros und Websites getilgt werden. Und tatsächlich ließ die Bildungsverwaltung monatelang nach entsprechenden Hinweisen fahnden, bildete Kommissionen, die alles ans Licht fördern sollten. Schüler und Lehrer, auch ehemalige, waren aufgerufen, über schlechte Erfahrungen zu berichten, gern anonym. In welcher Schule käme da nichts zusammen?

Es fand sich trotz intensiver Suche – nichts, keine Tat, kein Täter, kein Opfer. Vor der Presse aber wurde verbreitet: „Es gab alles außer Vergewaltigung“. Eine ungeheuerliche Behauptung – nichts davon wurde überprüft, gar geahndet. Im Gegenteil, die Unterlagen sind indessen vernichtet.

Die Denunziation

Wie konnte so ein Skandal mit Missbrauchsraunen überhaupt entstehen und die Medien auf Trab halten? Man will nicht glauben, wie einfach es ging, denn Auslöser war eine Intrige, ein privater Rachefeldzug.

Vier mit der Schule verbandelte Frauen, darunter ein Presseprofi, verfassten ein anonymes Dossier, das die beiden Professoren belasten sollte. Das ging Anfang Januar 2020 an die Bildungssenatorin und diverse Presseleute. Noch im selben Monat stellte sich der RBB an die Spitze der Verdachtsberichterstattung. In der „Abendschau“ berichtete er Hunderttausenden Zuschauern, dass in der Ballettschule ein „Klima der Angst“ mit Drill und Magersucht herrsche, Kinder „Arbeitstagen von über 13 Stunden“ ausgesetzt seien. Als Hauptzeugin diente ihm eine frühere alkoholkranke Ballettlehrerin, offenbar eine der Dossier-Urheberinnen.

Das Landesjugendballett, indessen aufgelöst
Das Landesjugendballett, indessen aufgelöstSebastian Hänel

Die Politik geriet unter Druck. Vorwürfe verwiesen schließlich auf ein Versagen der Schulaufsicht, auch gegen verbal übergriffige Tanzlehrer nicht vorgegangen zu sein. Anstatt sauber zu prüfen, nahm sich die Politik aus der Schusslinie, indem sie Hausverbote für die zwei Leiter der Schule aussprach. Sie seien Fällen von Essstörungen, Depressionen und Bodyshaming „nicht ausreichend“ nachgegangen.

Die Gerichtsspektakel

Der Rest würde sich finden, dachte man wohl. Aber vor Gericht reichen keine anonymen Unterstellungen, es braucht Fakten. Die Juristen der Verwaltung gaben in den Prozessen alles, Missstände anzuprangern. Einer etwa lautete, der Schulleiter habe Dienstreisen falsch beantragt. Nicht fehlerhaft abgerechnet oder zu seinen Gunsten, nein, auf kurzem Dienstweg beantragt. Zwölf Jahre lang akzeptierte die Schulaufsicht diese Praxis, dann wird sie zum Kündigungsgrund – nicht für die Aufsicht, sondern den Antragsteller.

Auch andere Vorwürfe wie das Überschreiten von Ruhezeiten für Schüler ließen sich leicht widerlegen. Eine Richterin bezeichnete sie in einem der Prozesse als Luftblasen, sprach zu den Juristen der Verwaltung streng: „Sie zerstören Karrieren und können nicht mal Vorwürfe benennen? Wo sind die Fakten? ... Warum haben Sie mit dem Mann nicht geredet, bevor Sie ihn ruinieren?“

Nun zu den Gerichtsspektakeln um den künstlerischen Leiter Gregor Seyffert, angesehener Choreograf, einst Tänzer von Weltrang. Der Vorwurf „fehlender Distanz“ zu einer Studentin über ein paar Wochen 2012 trifft natürlich zu. Andererseits war die Frau 19. Bevor sie die Schule verließ, hatten die zwei nicht mal Sex, bestätigen beide.

Wer dieses Verhalten sieben Jahre später mit Rausschmiss ahnden will, ohne in der Amtszeit auch nur einen weiteren „Vorfall“ benennen zu können, muss sich etwas einfallen lassen. Tatsächlich liefen der Justiziar der Verwaltung sowie der zusätzliche externe Anwalt zu großer Form auf, um den Ballettchef vor Richtern und Presse unzumutbar aussehen zu lassen. Sie lasen aus seitenlangen intimsten Chats des Paares vor, sehr privat. Sie garnierten alles mit Behauptungen, er habe in der Schule liebestoll einer 17-Jährigen nachgestellt, sich aufgeführt „wie ein geiler Stelzbock“, großes Theater. Die Kündigung wurde trotzdem kassiert.

Die Presse-Prozesse

Staatssekretärin Stoffers hatte nach den Niederlagen vor Gericht offenbar nicht genug. Als 2021 der vorletzte Prozess verloren war, beauftragte sie den Presseanwalt Christian-Oliver Moser, gegen die Berliner Zeitung vorzugehen. Die hatte den Umgang der Politik mit der Ballettschule stets scharf kritisiert.

Der Presseanwalt verlangte nun Gegendarstellungen, drohte mit hohen Geldstrafen, griff in einer Klageschrift sogar zum Mittel krasser Verleumdung. Er schrieb, die Zeitung „verhöhnt die Opfer sexuellen Missbrauchs durch Prof. Gregor Seyffert“. So viel Fantasie: Missbrauch! Opfer! Auch noch in der Mehrzahl! Mit solchen Mitteln arbeitet der Presseanwalt, der auch Boris Becker vertritt. Seine Gegendarstellungsbegehren scheiterten, nur Staatssekretärin Stoffers bezeichnete eines davon öffentlich als erfolgreich.

Zuletzt verlangte auch noch der Justiziar der Verwaltung Alexander Schubart eine Gegendarstellung. Darin sollte stehen, dass er Seyffert nie als „geilen Stelzbock“ bezeichnet habe. Huch! Hatte ich den „Stelzbock“ nicht selbst gehört und mehrfach zitiert? Hatte Seyfferts Anwalt nicht auch deshalb einen Strafantrag wegen Beleidigung gegen den Justiziar angestrengt? Und jetzt sollte es für den Leser aussehen, als sei der „Stelzbock“ vor Gericht nicht gefallen – womöglich ausgedacht?

Gemach. Im Laufe der Prozesse kam heraus: Ja, die Beleidigung sei unstrittig, nicht aber der Urheber. Der sei nämlich nicht der Justiziar, sondern der Anwalt, erklären eidesstattlich die beiden Juristen, die die Verwaltung im Doppelpack bezahlte. Die Zeitung hat Zeugen, aber keine Beweise, es gibt kein Protokoll. Durchgesetzt wurde die Gegendarstellung nicht, aber Jahre später eine Unterlassung. In Online-Archiven muss das Wort „Verwaltungsjustiziar“ nun gegen „Anwalt der Verwaltung“ ausgetauscht werden, Namen waren ohnehin nicht gefallen. Das merkt kein Mensch, aber die Zeitung, die aufwändige Recherchen ohne Steuergeld finanziert, musste Juristen in Gang setzen.

Die Ballettschule

Jetzt zu der Frage, wie es nach dem Skandal eigentlich der Ballettschule geht. Nun, der Bachelorabschluss wird abgeschafft, das Landesjugendballett ist aufgelöst, die Zahl der Auftritte auf ein Minimum reduziert, die Schule büßte jegliches Renommee ein. Die Fortführung des Bachelorstudiengangs lehnte die kooperierende Ernst-Busch-Hochschule ab. Während der Pandemie gab es lange Zeit nicht mal Online-Training wie in anderen Ballettschulen. Mehrere besonders begabte Tanzelevinnen wechselten Schule und Stadt.

Heute klagen Lehrer über Führungslosigkeit, fehlende künstlerische Kompetenz, verweigerten Austausch: Wenn früher eine „Kultur der Angst“ geherrscht haben soll, sei es heute Angst ohne Kultur. Man weiß ja jetzt, wie schnell es zu Hausverboten kommen kann. Keiner wagt, offen mit der Presse zu sprechen, die amtierende Schulleiterin lehnt Interviewanfragen ohne Begründung ab. Mutige Lehrkräfte klagen, um ihre Stellung zu behalten oder einfach, um über fragwürdige Vorgänge an ihrer Schule informiert zu werden. Nun war das Kollegium immer gespalten – die einen gaben alles für Erfolge der Ausbildung, reisten mit in die Welt, die anderen beklagten Überlastungen der Schüler. Dann kam der früheren Eliteschule nicht nur ihre Spitze abhanden, sondern ein Erfolgssystem.

Nur die Bildungsverwaltung schwärmt bis heute ungehemmt von einer „Weiterentwicklung“ der Schule, ihrem „Umwandlungsprozess“. Umwandlung? Klar, der Schule wurde ein neuer Name aufgezwungen, den sich offenbar nicht mal die Behörde merkt.

Unter Kindertränen und Elternprotesten wurden die Klassen von Artisten- und Ballettschülern zusammengelegt – um sie dann wieder zu trennen. Die Schülerzahlen sanken dramatisch, aktuell soll es statt wie früher 25 bis 35 neue Ballettschüler nur neun neue geben. Vom Pressesprecher der CDU-Senatorin, der auch ihren Vorgängerinnen treu gedient hat, sind verlässliche Angaben nicht zu bekommen. Ganz aus dem Ruder laufen sie, wenn man nach den Gerichts- und Anwaltskosten für die Kündigungen fragt. Der Pressesprecher beziffert sie auf 35.770 Euro. Och, doch so günstig?

Klar, dass die Gehälter des Justiziars in dieser Summe nicht auftauchen. Aber wo versteckt sich das Honorar des externen Anwalts der Kanzlei Arvantage? Allein das fällt doppelt so hoch aus: 76.591 Euro. Ansehnlich, alles Steuergeld. Auf den Verschwendungszettel gehören außerdem 166.950 Euro für Kommissionen und Wirtschaftsprüfer, 79.500 Euro für eine Anzeige, die nach einem neuen Schulleiter suchte, der Presseanwalt, Gehälter für amtierendes Personal und so weiter.

Eine ehrliche Aufarbeitung wird von dieser Verwaltung offenbar provokant verzögert. Seit zwei Jahren kämpft der Anwalt Jens Brückner um die Rehabilitierung seiner Mandanten Ralf Stabel und Gregor Seyffert. Er hat für sie alle Prozesse gewonnen, doch die von der Politik zerstörten Karrieren lassen sich nicht wiederherstellen. Aber eine Ehrenerklärung, ein Eingeständnis der Fehler, die sollte drin sein, vier Jahre nach der Verbreitung des dubiosen Dossiers. Bis dahin können nur die Denunziantinnen triumphieren.