Nach dem Ende beim 1. FC Union Berlin zeigt Max Kruse hellseherische Fähigkeiten

Kontinuierliche Arbeit hat Union bis in die Champions League geführt. Diese Protagonisten sind die Väter des Aufstiegs. Serie, Teil 10: Max Kruse.

Nach seinem wohl wichtigsten Tor für den 1. FC Union Berlin war Max Kruse von seinen Mitspielern kaum einzufangen.
Nach seinem wohl wichtigsten Tor für den 1. FC Union Berlin war Max Kruse von seinen Mitspielern kaum einzufangen.Contrast/Imago

Zunächst ist da Staunen. Verwunderung auch und ein Schuss Ungläubigkeit erst recht. An den souveränen Klassenerhalt hat die Konkurrenz sich im Sommer 2020 längst gewöhnt, da drehen die beim 1. FC Union Berlin schon wieder so ein für viele komisches Ding: Max Kruse heuert in Köpenick an!

Die bangen Fragen danach prasseln nur so daher: Kann das gut gehen? Wie soll das mit so einem nur funktionieren? Sind sie in Köpenick größenwahnsinnig geworden? Haben sie den Verstand verloren? Wie kommen sie nur darauf, einen derart verrückten und extrovertierten Typen zu verpflichten? All jene, die hinter jeder Ecke Gefahr vermuten und nur die miesen Seiten sehen, haben die erschreckende Antwort parat: Das ist das Ende der Idylle!

Viele der Zweifler kommen mit den immer gleichen Argumenten: Da ist einer in den sozialen Netzwerken engagierter als auf dem Trainingsplatz. Der bringt nur das Gefüge auf dem Platz und in der Kabine durcheinander. Für Egoisten gab es in der Alten Försterei noch nie einen Platz. Erst recht nicht für einen, der einfach mal so bei einer Taxifahrt 75.000 Euro, in einen Rucksack gepackt, mitführt, den Beutel samt Kohle beim Aussteigen im Kofferraum vergisst und den Schotter verliert.


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Max Kruse und der 1. FC Union Berlin: Zwei Welten prallen aufeinander

Da prallen zwei Welten aufeinander. Auf der einen Seite die Eisernen, die nach grandios schweren Zeiten endlich ziemlich weit oben auf der Wurstsuppe schwimmen und nach einer ersten Saison im Oberhaus noch nicht wissen, wo genau ihr Platz dort ist. Auf der anderen der Vielfach-Verdiener, den der Verlust einer Summe, die ein Normalsterblicher aus der rot-weißen Fankurve gerade mal in zwei Jahren zusammenklaubt, nicht sonderlich aus der Bahn zu werfen scheint. Im ZDF spricht Kruse sogar offen über die teuerste Taxifahrt seines Lebens und sagt fast defätistisch: „Der Rucksack ist auch noch weg, da kannst du ruhig noch einen Tausender draufrechnen.“

Das also soll kompatibel sein, die einstige bitterarme Kirchenmaus und der Fußball-Millionär, der neben Poker mit superschnellen Autos weitere Leidenschaften außer seiner eigentlichen Berufung und deshalb mit dem Max Kruse Racing einen eigenen Rennstall gegründet hat? Nie und nimmer, so die Meinung mancher. Vom Allerfeinsten, glauben andere, das passt wie der Hauptmann zu Köpenick und erst recht wie Eisern zu Union.

Was er jedoch ganz und gar ist: ehrlich. Deshalb begründet Kruse seine für einen Profisportler doch ein wenig furiosen Momente so: „Jeder braucht neben seinem Beruf auch ein wenig Spaß am Leben. Jeder hat mehr davon, wenn er es mit Spaß und Leidenschaft macht.“ Vor allem dann, wenn es einem wie ihm mit seinem überbordenden Talent und der manchmal einzigartigen Fußball-Intelligenz geradezu in die Wiege gelegt scheint.

Als ehemaliger Nationalspieler mit 14 Länderspielen unter Bundestrainer Joachim Löw und mit immerhin vier Toren dort ist er gekommen und wird in Köpenick zum Bessermacher. Manches, wenn nicht vieles, dreht sich auf dem Rasen um ihn. Die Mitspieler suchen ihn, und noch wichtiger – sie vertrauen ihm. Mit seiner Art, auf eine Weise frech und nassforsch, auf eine andere ehrlich und nahbar, kommt er an. Auch weil die Leistung stimmt und vor allem die Elfmeter sitzen. Alles vom Punkt geht rein, und wenn mal doch nicht, so wie gegen Kölns Schlussmann Timo Horn nach zuvor in der Bundesliga 16 verwandelten, dann eben, da kennt Kruse keinerlei Schmerz, im Nachschuss. Mit diesem nicht ganz astreinen Elfer sind es neun, die er für die Eisernen in lediglich anderthalb Jahren unterbringt. Seine Performance ist die eines Ballkünstlers, dem sie aus dem Fanblock sowieso ein „Fußballgott“ zuschmettern. Es ist sein letztes Halleluja.

Das sind durchaus angenehme Momente auch für Trainer und Anhänger, weil auf den coolen Max in nahezu jeder sportlichen Situation Verlass ist. Vor allem Taiwo Awoniyi profitiert von den teils genialen Einfällen seines Offensivpartners nach dem schlichten wie erfolgreichen Motto: Kruse Pass, Awoniyi Tor. Das ist für den Nigerianer schön, für Kruse aber auch. Womit er nämlich nicht mehr gerechnet hat, tritt nach seinem ersten Jahr in Köpenick ein wie ein Wunder: Im Sommer 2021 wird Kruse nach jahrelanger Abstinenz erneut zu einem Auswahlteam des DFB berufen. Nicht von Löw zur Europameisterschaft, dafür von Stefan Kuntz zu Olympia in Tokio, weil der Kruses „schlitzohrige Routine“ schätzt. Unions Oldie, inzwischen 31 Jahre alt und als einer von drei möglichen älteren Spielern dabei, ist nach seiner Nominierung „Feuer und Flamme“ und sieht den Trip nach Fernost, auch wenn er schon nach der Gruppenphase zu Ende ist, als „Highlight in meiner Karriere“.

2:1-Siegtreffer gegen RB Leipzig ist Kruses Höhepunkt als Eiserner

Den Höhepunkt als Rot-Weißer erlebt er kurz zuvor. Es ist das abschließende Saisonspiel gegen RB Leipzig. Es braucht für die Eisernen einen Sieg, um nach Europa zu kommen. Doch es steht nach einem 0:1-Rückstand unmittelbar vor Schluss nur 1:1. Die zweite Minute der Nachspielzeit läuft, und Sekunden zuvor hat auf der Gegenseite Christopher Nkunku den Pfosten getroffen, da köpft Kruse die Kugel nach Flanke von Sheraldo Becker zum 2:1 in den RB-Kasten. Union spielt in der Conference League, und wie alle anderen ist auch Kruse aus dem Häuschen: „Das war mein geilster Moment bei Union, dieses 2:1 gegen RB, weil es der bisher größte Erfolg war.“ Was er betont und mit nahezu hellseherischen Fähigkeiten prophezeit, ist ein echter Kruse: „Ich betone, es war der bisher größte Erfolg, denn es kann ja immer mehr kommen.“

Nicht für ihn, weil er im Januar 2022 so etwas wie den Davonschleicher macht. Nach 38 Spielen in der Bundesliga mit 16 Toren – ein Doppelpack beim 2:1 in Mönchengladbach beendet seine Zeit in der Alten Försterei – bricht er seine Zelte in Köpenick über Nacht ab. Für ihn geht es abwärts, nach einer Stippvisite in Wolfsburg ist Kruse seit 28. November vorigen Jahres ohne Verein, die Eisernen dagegen auch ohne ihn in Europas Königsklasse dabei. Trotzdem nimmt er all das wie immer sportlich, nahezu philosophisch, und gibt mit einem Blick auf das Leben zu: „Fehler gehören dazu, aber zu 90 Prozent hat es funktioniert. Deshalb: Bereuen tue ich nichts.“