Warum ich mir anstatt einer Berliner Wohnung lieber ein jüdisches Grab kaufe

Unser Autor wollte sich eine Wohnung in Weißensee kaufen. Bei einem Spaziergang besuchte er den jüdischen Friedhof und dachte sich: eine viel bessere Anlage! 

Der Friedhof in Weißensee gilt rein flächenmäßig als größter erhaltener jüdischer Friedhof Europas. In der NS-Zeit blieb er wundersamerweise unbeschadet.
Der Friedhof in Weißensee gilt rein flächenmäßig als größter erhaltener jüdischer Friedhof Europas. In der NS-Zeit blieb er wundersamerweise unbeschadet.UROŠ PAJOVIĆ

Ich kann nur vermuten, weshalb mehrere Freunde von mir sich im vergangenen Jahr eine Wohnung in Berlin gekauft haben: die steigenden Mieten, die angeblich solide Investition. Die Angst, dass es in ein paar Jahrzehnten keine ausreichenden Renten mehr gibt; der Anspruch, etwas zu besitzen – in einer Welt, die dir immer weniger Garantien bietet. Mit solchen Versprechungen hat auch die Firma Berlin Aspire geworben.

Laut Berichten der Berliner Zeitung soll der israelische Immobilienunternehmer Adi Keizman Wohnungen in Berlin an Anleger in Israel verkauft haben, ohne sie als Eigentümer ins Grundbuch einzutragen. Mit Renditegarantien wurden israelische Kunden geködert. Die ganze Welt wünscht sich Teilhabe am Immobilienmarkt unserer immer beliebter werdenden Metropole, und viele sind dafür auch bereit, ihr Geld hier anzulegen. Selbst die Nachfahren derer, die im glücklichen Fall schon vor dem Krieg aus Berlin geflüchtet sind – und deren Wohnungen damals vom Staat und von den Nachbarn geplündert wurden.

Nachdem ich zunehmenden Druck verspürte, selber Eigentümer in Berlin zu werden, ist es mir gelungen, meinen sehr hartnäckigen Ehemann zu überreden, mich zu einer Wohnungsbesichtigung in Weißensee zu begleiten. „Wenn du möchtest, kannst du gern nach Weißensee ausziehen“, machte er mir klar, „ich bleibe aber auf jeden Fall innerhalb des Rings“.

Wohnung in Berlin kaufen? Der Zug ist abgefahren

„Wohnung mit Potenzial“ hieß es in der Online-Anzeige der Ruine, in der wir nun standen – komplett sanierungsbedürftig, 8000 Euro pro Quadratmeter. Vor dem Haus lagen drei Stolpersteine. Ich traute mich allerdings nicht, den Makler zu fragen, aus welcher Wohnung im Haus die drei Personen deportiert wurden.

„Sage ich dir doch“, meinte mein Mann zu mir im Treppenhaus, nachdem wir uns höflich von dem Makler verabschiedet hatten. „Du hättest dir vor zehn Jahren eine Wohnung kaufen sollen. Nun ist der Zug abgefahren.“ Um mich zu trösten, schlug er mir vor, einen Ausflug zum nahegelegenen jüdischen Friedhof zu machen. Ich nahm das Angebot gern an, denn ich hatte zwar viel über den Friedhof gehört, allerdings noch nie Gelegenheit, ihn zu besuchen.

Am Eingang erinnert uns ein älterer Mann mit russischem Akzent freundlich daran, auf dem Gelände eine Kippa zu tragen. Ich muss mich sehr darüber amüsieren, als mein Mann sich die Kippa aufsetzt. Er sieht goyischer als je zuvor aus: wie eine verkleidete Kartoffel; eine interreligiöse Drag-Show, die sich hier vor meinen Augen abspielt.

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Foto: Lea Hoppe
Zur Person
Noam Brusilovsky ist ein deutsch-israelischer Theater- und Hörspiel-Regisseur. In seinem Stück „Woran man einen Juden erkennen kann“ spielt Brusilovsky mit Klischees über Juden. Sein zusammen mit dem Journalisten und Autoren Ofer Waldman produziertes Stück „Adolf Eichmann - Ein Hörprozess“ wurde mit dem Hörspiel-und-Publikumspreis der ARD ausgezeichnet.

Die Angst der Nazis vorm jüdischen Golem

Der Friedhof in Weißensee wurde 1880 eröffnet, weil der jüdische Friedhof in der Schönhauser Allee überfüllt war. Rein flächenmäßig gilt er als größter erhaltener jüdischer Friedhof Europas. Obwohl die Nazis europaweit mehrere jüdische Friedhöfe zerstörten, blieb dieser eine intakt – ausgerechnet in der Hauptstadt des Dritten Reichs. Wie lässt sich das erklären? Es zirkulieren Gerüchte, dass die Nazis an einen Golem glaubten, der die Gräber dieses Friedhofs schützt und sich im Falle einer Beschädigung rächen würde. Im Judentum darf die ewige Totenruhe auf keinen Fall gestört werden. Aus diesem Grund finden Umgrabungen von Juden nur in den seltensten Fällen statt. Die Nazi-Angst vorm Golem führte wohl dazu, dass der Friedhof unversehrt blieb.

Das Gelände ist größer, als ich mir es vorgestellt habe. In den 1920er Jahren waren 200 Personen für die Pflege des Friedhofs zuständig. Zwischen den großen Bäumen liegen über 100.000 Verstorbene. Die meisten wurden um die Jahrhundertwende dort begraben. Viele von ihnen hießen „Reinhardt“, „Heinz“ oder „Müller“. Namen, die für meine Ohren nicht gerade jüdisch klingen. Die Grabsteine und die prächtigen preußischen Mausoleen unterscheiden sich nicht elementar von denen, wie man sie von christlichen Friedhöfen in Berlin aus dieser Zeit kennt.

Nur die hebräischen Buchstaben, Steinchen und Davidsterne auf manchen Grabsteinen lassen erahnen, dass man sich hier auf einem jüdischen Friedhof befindet. Der Friedhof in Weißensee steht wie ein Mahnmal sowohl für die goldenen Zeiten als auch für den Untergang des Berliner Judentums. 1933 lebten in Berlin 160.000 Juden, ein Drittel der gesamten jüdischen Bevölkerung in Deutschland zu der Zeit. Deutschland war im übertragenen Sinne ihre Heimat. Auch wenn viele von ihnen sogenannte „Ostjuden“ waren – osteuropäische Juden, die sich ein paar Jahre zuvor in Deutschland angesiedelt hatten –, identifizierten sich die meisten mit dem deutschen Reich und verstanden sich als „deutsche Staatsbürger mosaischen Glaubens.“

1700 Jahre jüdisches Leben: historischer Versöhnungskitsch?

Ein Ehrenfeld aus dem Jahr 1914 steht im jüdischen Friedhof in Erinnerung an die jüdischen Soldaten, die im ersten Weltkrieg für „ihre Heimat Deutschland“ gefallen sind. Ich laufe am Ehrenfeld vorbei und muss leicht zittern, wenn ich daran denke, wie betrügerisch die eigene „Heimat“ doch sein kann. Im Jahr 1942 erreichte die Zahl der Bestattungen auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee einen Höhepunkt. Das lag an der dramatischen Zunahme von Selbstmorden unter Juden während der Deportationen. Insgesamt sind dort fast 2000 Juden begraben, die zwischen 1933 und 1945 Suizid begangen hatten.

Auf dem Friedhof sind auch zahlreiche Grabsteine von Juden zu sehen, die vor der Nazizeit begraben worden waren, auf denen die Namen verwandter Holocaust-Opfer im Nachhinein eingetragen wurden. Zu DDR-Zeiten war der jüdische Friedhof zwar aktiv, wenige Juden aus der kleinen Ost-Berliner Gemeinde wurden dort weiterhin bestattet. Der Friedhof war jedoch in keinem guten Zustand. Die zugewucherten Grabsteine waren kaum noch zu sehen. Mit mehreren Millionen Mark wurde der Friedhof nach der Wende saniert. Er ist heute immer noch in Betrieb und scheint etwas überfüllt zu sein. Auf den meisten neuen Grabsteinen stehen russische Namen in kyrillischen Buchstaben.

Während unseres Spaziergangs auf dem Friedhof frage ich mich, inwiefern ich als Einwanderer aus Israel – und als Nachfahre von Ostjuden – in diese prächtige Berliner Geschichte passe. Wie wird man in ein paar Jahrzehnten die Geschichten vieler Israelis erzählen, die sich vom zionistischen Projekt abgewendet und im Land der Täter eingerichtet haben? Haben 1700 Jahre jüdischen Lebens – und jüdischen Todes – in Deutschland überhaupt eine historische Kontinuität? Oder geht es nicht eigentlich um eine Geschichte, die man nur erfunden hat, um eine teure Reihe von Veranstaltungen mit Klezmermusik und Versöhnungskitsch zu finanzieren?

Eine Wohnung kann ich mir nicht leisten, ein Grab hingegen schon

Eigentlich habe ich nichts gegen Kitsch. Am Ende des Tages möchte ich auch selbst dazugehören. Möchte ein Teil werden dieses konstruierten Märchens. Ich könnte mir schon vorstellen, nach meinem Ableben zwischen dem Komponisten Louis Lewandowski, dem Schriftsteller Micha Josef Berdyczewski und der ganzen jüdischen Prominenz der Jahrhundertwende begraben zu liegen.

„Ich möchte hier in Weißensee begraben werden“, kündige ich meinem Ehemann also an. „Ich möchte, dass meine Leiche gewaschen und in ein Tuch gewickelt wird. Ich wünsche mir eine echte jüdische Trauerfeier mit einem echten, orthodoxen Rabbiner, mit Minjan, Kadisch und all den anderen dazugehörigen Gebeten. Ich möchte, dass alle religiösen Regeln beachtet werden und dass danach eine Schiwa stattfindet.“ Mein Ehemann guckt mich entsetzt an.

Als wir nach Hause zurückkehren, schreibe ich der Kultusabteilung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin eine E-Mail. „Ich bitte um die Reservierung einer Grabstelle in Weißensee“, schreibe ich. In einem jüdischen Friedhof dürfen bekanntlich nur Juden begraben werden. Der vom Christentum konvertierte Rabbiner auf der anderen Seite der Mail bittet mich um einen Nachweis, dass ich ein echter Jude bin – und den lege ich auch vor.

Ich falle fast um, als ich erfahre, wie viel das Grab kostet. Nach ein paar Minuten beruhige ich mich und stelle fest, dass ich mir zwar keine Eigentumswohnung in Berlin leisten kann, ein Grab wäre für mich aber durchaus bezahlbar. Ich war noch nie so nah dran, Eigentümer einer Immobilie in Berlin zu werden wie in diesem Moment.

„Du bist 32 Jahre alt, wieso beschäftigst du dich jetzt mit solchen Gedanken?“, fragt mich mein Ehemann. Er weiß wohl nicht, dass der Erwerb einer Grabstelle zu Lebzeiten im Judentum als Garantie für Langlebigkeit gilt. „Mich werden sie dort als Goy nicht begraben wollen, du lässt mich wohl alleine“, sagt er traurig. „Aber du wolltest doch eh im Ring bleiben“, antworte ich.

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.