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Dem Nebel auf flinken Brettern davonfahren

Skaten bis die Endorphine fliegen. Wer die Loipen in den Freibergen ausprobiert, hat die Qual der Wahl. Auch danach beim Restaurantbesuch.

Das Wunder geschieht, als wir aus dem nebligen Unterland hinauf in den Jura fahren. Unser Zug schleicht durch eine diffuse Watte. Die Bäume links und rechts vom Trassee huschen als Schemen an den Fenstern vorbei. Dann schimmert es von oben blau und immer stärker, bis unser U-Boot auf Schienen aus der grauen Watte ins Licht auftaucht und alles Schwere hinter sich im Nebelmeer zurücklässt. So, als ob man einen elektrischen Schalter andrehte, erfüllt mit einem Schlag das hellste Sonnenlicht die Welt.

Dem Nebel entfliehen

Wir Winterfrischler glauben, wir werden neu geboren. Die Erde glitzert weiss und gläsern, der Himmel wölbt sich blau, das Licht explodiert. Diese Sonnengeburt hat uns die Sprache verschlagen, wir schauen glücklich in die Welt. Wir gehen zur nahen Loipe, legen die schmalen Ski auf den Schnee. So leicht sind sie, dass sie sich beim leisesten Lüftlein allein davonmachen wollen. Skaterinnen und Anhänger des klassischen Stils drücken die Schuhspitzen in die Bindung, stecken die Hände in die Schlaufen der langen Stöcke. Der Schnee knirscht wie früher das frische Amalgam beim Zahnarzt. Die ersten Schritte sind noch zögerlich, Beine und Arme zittern noch ein wenig in der Kälte, dann werden die Bewegungen sicherer. Aus Schritten werden Züge, die Arme greifen sich Raum. Die Ski sind gut gewachst, mit jedem Schritt, links und rechts, fliegen wir hinaus ins unendliche Weiss.

Den Alltag vergessen

Wir müssen auch unter den Sonnenbrillen die Augen zusammenkneifen, so stark ist das Licht. Jetzt sind nur noch Himmel, Schnee, Tausende Tannen und das Licht im All, in das wir hineinfliegen. Die Bewegung wird nach und nach zum Tanz. Rhythmisch gleiten die Ski in die Landschaft, einmal links und einmal rechts, dazwischen markieren die eingesetzten Stöcke den Takt. Wir tanzen ohne Eile über die Loipe, mit einigem Schwung und wenig Kraft. Steigt das Terrain an, werden unsere Schritte kürzer, in der Ebene länger, und auf den Abfahrten machen wir Lara Gut und Didier Cuche Konkurrenz.

Das Zeitgefühl verlieren

Am Horizont tauchen die Windmühlen des Mont-Soleil auf. Fremdkörper sind sie und doch elementar. So majestätisch ist das Drehen der Propeller, dass uns beim Betrachten ganz seltsam wird. Wir wissen nicht mehr, was Technik und was Natur ist, glauben plötzlich, der Mont-Soleil sei ein grosser weisser Vogel, der mit seinen Luftschrauben bald abheben, ins sonnendurchflutete All fliegen und uns auf seinem Rücken wegtragen werde. Wir walzern weiter von Kuppe zu Kuppe, wir gleiten durch Mulden und Wälder, vorbei an Mooren und Zäunen. Hinter unserem Kopf reist stossweise eine Atemwolke mit, die Ski knistern und wispern, haspeln und raspeln über den Schnee, die Dorne der Stöcke knorzen im Untergrund.

Den Hunger stillen

Eine Stunde vergeht, zwei Stunden vergehen, ohne dass wir es merken. Wir vergessen die Zeit. So gehen wir den Freibergen ins Netz. Das ist ganz wörtlich zu nehmen. Bei den gut präparierten und ausgeschilderten Routen, die man in den verschiedensten Schlaufenkombinationen entdecken kann, haben wir die schöne Qual der Wahl, walzern einfach nach links oder nach rechts, wie die Lust uns gerade ankommt. Wir lieben die selbstverlorene Reise auf der Loipe, doch wenn die Kalorien ausgehen, sind wir wieder ganz einfach hungrige Langläufer. Kurz bevor der Hammermann zulangt, taucht am Horizont ein Gasthaus auf. Wenn man einfach so in ein Gasthaus fährt, mit dem Auto oder mit dem Tram, dann ist ein Gasthaus ein Gasthaus und weiter nichts. Doch wenn man auf Langlaufski angeglitten kommt, mit der Atemwolke im Schlepptau, mit knurrendem Magen und ausgetrocknetem Mund, dann bekommt die schlichteste Herberge so etwas wie einen Heiligenschein. Eine Wurst sollte her, eine Suppe oder ein Teller Teigwaren. Jeder dieser Gedanken, die einem den Mund wässrig machen, ist eine Verheissung, und wenn der Gedanke dann verwirklicht auf dem Tisch steht, ist die Zufriedenheit der Langläufer vollkommen.

Dem Charme erliegen

Plötzlich wissen wir nicht mehr, wo wir sind, doch angesichts dieses Wintertraums stimmt auch die Verwirrung. Auf dem Tisch liegt eine russische Zeitschrift, die eine Eislaufkünstlerin zeigt. Die Kellnerin kommt, nimmt errötend die Illustrierte vom Tisch und entschuldigt sich in gebrochenem Deutsch. Sie, die Kellnerin, ist nämlich die Eiskunstläuferin auf dem Titelbild. Damals wurde sie Juniorenmeisterin. Es ist ein paar Jahre her. Mein Freund – keine Ahnung, wo er so etwas gelernt hat – seufzt auf Russisch: Nascha duscha. Die Augen der Kellnerin beginnen zu leuchten, und sie gesteht: «Das hat mir noch kein Gast gesagt.»