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Welches Gefühl darf es heute sein?

Die Angst vor dem weissen Blatt kennt Tim Krohn nicht. Er schreibt jeden Tag eine Geschichte über eine andere Gefühlsregung.

1000 Geschichten, 1000 menschliche Regungen. Das ist das Ziel von Tim Krohn – sofern die Leser bis zum Schluss dranbleiben. Denn diese haben Einfluss auf das Mammutprojekt des ambitionierten Schriftstellers. Auf der Crowdfunding-Plattform Wemakeit konnten Interessierte für einen Betrag ab 250 Franken eine persönliche Geschichte erwerben: Dafür durften sie sich ein Gefühl – von Aalglätte bis Zynismus – aussuchen und dem Autor drei Stichwörter mitliefern, die in der Geschichte vorkommen sollten.

Die ungewöhnliche Idee ist auf offene Ohren gestossen: «Nach nur einem Monat waren 130 Geschichten verkauft», freut sich Tim Krohn.Aus der Geschichtenflut soll eine 15-teilige Romanserie entstehen. Der erste Teil ist vor kurzem im Galiani-Verlag erschienen. Angesiedelt sind alle Episoden in einer Genossenschaft im Zürcher Kreis 5.

In den acht Wohnungen leben die unterschiedlichsten Menschen: charmante und grantige, kleingeistige und gutherzige, abenteuerlustige und zurückhaltende. Eine Wundertüte an Lebensgeschichten. Da ist zum Beispiel das Studentenpaar Pit und Petzi, das seine erste gemeinsame Wohnung dazu nutzt, sich sexuell auszutoben. Über das wollüstige Gepolter ärgert sich Efgenia im oberen Stock, die durch ihr Rückenleiden arbeitslos und unleidlich geworden ist. Die alleinerziehende Mutter Julia hat andere Sorgen: Ihr Chef ist mit ihrer Leistung als Lektorin unzufrieden, seit sie Arbeit und Kind unter einen Hut bringen muss.

Ein wenig Trost bringt der 23-jährige Sonnyboy Moritz aus der unteren Etage, mit dem sie eine Affäre beginnt. Das alte Ehepaar Wyss sorgt sich derweil um die Einhaltung der Hausordnung . . .

Geteilte Freuden und Leiden

Tim Krohn hat selbst 20 Jahre lang in einer Genossenschaftswohnung im lebhaften Kreis 5 ­gelebt. Aus diesen Erfahrungen rund um Waschküchenzoff, Liebeleien unter Nachbarn, geteilte Freuden und Leiden schöpft der Glarner Autor nun viele Jahre später. Inzwischen lebt er in einem umgebauten Bauernhaus im Bündner Dorf Santa Maria – zusammen mit seiner Frau, den zwei Kindern, den Schwiegereltern und seiner betagten Mutter, der er durch den Erlös aus dem Crowdfunding-Projekt ein ebenerdiges Badezimmer finanzieren konnte.

«Mit einem Roman, an dem ich zehn Jahre arbeite, kann ich meine Familie nicht ernähren.»

Tim Krohn

Rund 70 000 Franken sind bisher zusammengekommen. «Die meisten Reaktionen auf das Projekt sind positiv – und ein paar wenige finden es daneben», sagt Krohn frei heraus. «Aber mit einem Roman, an dem ich zehn Jahre arbeite, kann ich meine Familie nicht ernähren. Der Markt in der Schweiz ist klein.»

«Alle Facetten ausloten»

In der Ruhe des Münstertals zwischen den mächtigen Bergen, die alle menschlichen Regungen relativieren, hat er den Kopf frei für sein Projekt. «Ich möchte alle ­Facetten der jeweiligen Gefühls­regung ausloten, positive wie negative», betont er. «Zuerst überlege ich mir, bei welcher meiner Romanfiguren ich dieses Gefühl ansiedeln kann.» Daraus entstehen überraschende Verknüpfungen. Im Kapitel zur «Lebendigkeit» etwa taucht unverhofft das betagte Ehepaar Wyss auf, das sich oft übers Sterben Gedanken macht.

«Das Gefühl zeigt sich häufig schöner auf einer Negativfolie», ist Krohn überzeugt. Und dennoch sprühen seine Figuren meist vor Lebenslust – und fleischlicher Begierde. «Es gibt drei Grundorte, in denen sich der Mensch noch als Tier zeigt und wir auf unsere Biologie zurück­geworfen sind: das Sexualverhalten, die Nahrung und der Tod. Alle drei sind in meinen Büchern stark vertreten», sagt Krohn.

«Ich bin selbst überrascht»

Der Autor mag den Austausch mit anderen Menschen, daraus schöpft er seine lebensnahen Geschichten. Die Türen zum 400-jährigen Münstertaler Haus stehen offen, die Gäste gehen ein und aus. Trotzdem findet der Schriftsteller täglich Zeit für seinen Mittagsspaziergang, auf dem sich eine Geschichte im Kopf ­formiert, die er später in seiner Kammer niederschreibt. Täglich eine Geschichte, ein Gefühl, ein Kapitel seiner Romanserie. Die Angst vor dem weissen Blatt kenne er bei diesem Projekt nicht. Nach kurzem Nachdenken räumt er ein: «Ich bin selbst überrascht, dass ich so viel schreiben kann – und dass es funktioniert, beseelt ist.»

Tatsächlich zeigt sich der Autor in seinem Roman einmal mehr als feinfühliger Beobachter, der die Balance zwischen Ernst und Komik, Philosophie und Leichtigkeit findet. Nicht alle Geschichten sind gleich gelungen, manchmal fehlt die dichte Sprache seiner Werke wie «Quatemberkinder», «Vrenelis Gärtli» oder der früheren Erzählbände. Und dass seine Figuren Nachbarn gegenüber so schnell ihre Gefühle preisgeben, dient zwar der Projektidee, erscheint aber im zurückhaltenden Zürich zuweilen unglaubwürdig.

Insgesamt zeichnet Tim Krohn aber mit viel Schalk ein alltags­nahes Bild einer Genossenschaft. All die liebenswerten, schrägen Figuren würden sich auch für eine Fernsehserie eignen.

Vorerst jedoch lässt sich der Autor von seiner Leserschaft zu neuen Romanepisoden inspirieren. Wer sich eine eigene Geschichte sichern will, kann sich unter www.menschliche-regungen.ch ein Gefühl aussuchen. Frei sind etwa noch die Bockigkeit, die Grazie oder die Tollkühnheit.

Tim Krohn: «Herr Brechbühl sucht eine Katze», 480 S., Galiani-Verlag.