Angeklagter weint Tränen der Angst

20-Jähriger aus Allmersbach im Tal steht wegen Unterschlagung eines Polygo-Tickets vor Gericht.

Der Angeklagte hatte schon früher Probleme mit der Polizei. Symbolfoto: S. Cho/Pixabay

© Sang Hyun Cho auf Pixabay

Der Angeklagte hatte schon früher Probleme mit der Polizei. Symbolfoto: S. Cho/Pixabay

Von Heike Rommel

Backnang/Allmersbach im Tal. Er hätte mit der Einstellung seines Strafverfahrens eigentlich freudestrahlend den Gerichtssaal verlassen müssen und vergoss doch bittere Tränen der Angst: Für einen jungen Familienvater aus Allmersbach im Tal stand vor dem Waiblinger Jugendschöffengericht nun der Widerruf seiner Bewährung und damit eine Gefängnisstrafe zur Debatte – und das alles wegen eines Polygo-Tickets, das er am Backnanger Bahnhof unterschlagen haben soll. Der Angeklagte, in dessen Kulturkreis es nicht unüblich ist, jung zu heiraten und Kinder zu bekommen, zeigt nach dem Bericht seiner Bewährungshelferin seit der Geburt seines Kinds ein „vorbildliches Verhalten“. Die Sache mit der Unterschlagung hat die Stuttgarter Staatsanwaltschaft nach Einschätzung des Vorsitzenden Richters, Martin Luippold, nur so hoch gehängt, weil er schon vorbestraft war und die Bewährung auf dem Spiel stand.

Der 20-Jährige war am 15. Dezember 2020 gegen 17.40 Uhr in der Backnanger Bahnhofsunterführung von der Polizei kontrolliert worden. Dabei kam das Polygo-Ticket zum Vorschein, das ihm nicht gehörte. Die Beamten fragten sich, warum das Foto vom rechtmäßigen Besitzer aus Rietenau zerkratzt war, wofür dieser im Zeugenstand eine einfache Erklärung hatte: Seine Mutter hätte den Fahrausweis für den öffentlichen Personennahverkehr inklusive Car- und Bikesharing zu oft in seiner Jeanshose mitgewaschen.

Die Polizisten glaubten dem Angeklagten nicht, dass er das Polygo-Ticket just zum Zeitpunkt der Kontrolle zu seinem Besitzer zurückbringen wollte, und kassierten dieses ein. Dann kontaktierten sie den Besitzer, der angab, ausgeliehen hätte er das Ticket jedenfalls nicht.

Der Besitzer verzichtete auf eine Strafanzeige, weil er gar nicht mehr wusste, wo das Ticket zuletzt war. Er hatte mittlerweile nämlich den Führerschein erworben und fuhr lieber Auto. Die beiden jungen Männer kannten sich und ihre Angaben zur Sache stimmten so gut wie überein. Der Angeschuldigte erklärte, sie seien zusammen im Sporterlebnispark gewesen. Der andere sei dann noch mit zu ihm gekommen, bis dessen Mutter ihn abgeholt hätte. Seine eigene Mutter habe dann beim Kehren das Polygo-Ticket gefunden, worauf er den Besitzer angerufen und diesem mitgeteilt habe, er werde das Ticket bringen. „Zu dem Treffen kam es nicht mehr“, schilderte der Allmersbacher, wie ihn die Polizei angesprochen hat, „weil meine Coronamaske am Kinn unten hing“.

Der Besitzer des Tickets redete schon gar nicht mit der Polizei, da er „früher schon ein bisschen ein Problem“ mit dieser gehabt hatte. „Aber die Geschichte mit dem Anruf stimmt schon?“ „Ja“, sagte der Zeuge und vermeintlich Geschädigte zum Richter. „Meine Mutter hat den Anruf angenommen.“ Der Richter überlegte und glaubte am Ende nicht wirklich, dass sich die beiden jungen Männer nicht abgesprochen hatten. Aber so schlimm sei die Sache mit dem Polygo-Ticket nun auch wieder nicht, schlug er eine Einstellung des Verfahrens nach Jugendgerichtsgesetz vor.

Der Jugendgerichtshelfer beeilte sich zu sagen, dass ein Bewährungswiderruf wegen so etwas für ihn sowieso nicht infrage käme, und die Bewährungshelferin stellte dem Angeklagten, der seine kleine Familie gut versorgt, eine positive Sozialprognose aus. Der junge Familienvater, sagte sie, habe sich so gut entwickelt, dass er sie gar nicht mehr brauche. Der richterliche Rat an den Allmersbacher und alle, die etwas finden, was ihnen nicht gehört: „Abgeben – entweder beim Fundamt oder bei der Polizei.“

Der Besitzer des Tickets redete schon gar nicht mit der Polizei, da er wohl früher schon Probleme mit ihr gehabt hatte.

Zum Artikel

Erstellt:
12. August 2021, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Lesen Sie jetzt!

Stadt & Kreis

Seit 50 Jahren gibt er alles für die Weissacher Seemühle

Manfred Thiel feiert in diesem Jahr sein 50-Jahr-Betriebsjubiläum in der Seemühle in Unterweissach. 1974 begann er seine Lehre beim damaligen Müllermeister. Seit September 2023 ist er eigentlich Rentner. Arbeitstechnisch hat sich für ihn seither aber nicht viel geändert.

Stadt & Kreis

Kreistag kämpft für Notfallpraxen in Backnang und Schorndorf

Einstimmig beschließt das Gremium eine Resolution zur ambulanten medizinischen Versorgung und gegen die Schließung der Notfallpraxen in Backnang und Schorndorf. In Gesprächen mit der Politik und der KVBW soll eine Kompromisslösung gefunden werden.