Ausgabe April 2024

Modis neues Indien: Von der weltgrößten Demokratie zum Hindu-Reich

Narendra Modi bei der Eröffnung des Hindu-Tempels in Ayodhya. Ein umstrittenes Gebäude, denn es wurde auf den Ruinen einer Moschee erbaut, 22.1.2024 (IMAGO / ZUMA Wire / Pib / Press Information)

Bild: Narendra Modi bei der Eröffnung des Hindu-Tempels in Ayodhya. Ein umstrittenes Gebäude, denn es wurde auf den Ruinen einer Moschee erbaut, 22.1.2024 (IMAGO / ZUMA Wire / Pib / Press Information)

In diesem Frühjahr finden in Indien die 18. Parlamentswahlen statt. Und den Umfragen zufolge dürfte der amtierende Premierminister Narendra Modi dabei eine dritte Amtszeit erreichen. Dieser Triumph wird Modis einzigartige Stellung weiter festigen. Schon jetzt beherrscht er das Land wie ein politischer Koloss und verspricht den Indern, dass auch sie in der Welt aufsteigen werden. Jedoch drohen das Wesen von Modis Autorität und die aggressive Kontrolle, die der Premierminister und seine Partei über ein unglaublich vielfältiges und kompliziertes Land anstreben, Indiens Großmachtambitionen zu zerstören.

Modi ist ein enorm charismatischer Anführer, der aus armen Verhältnissen stammt und die politische Landschaft Indiens wie nur zwei seiner 15 Vorgänger dominiert: Jawaharlal Nehru, Premierminister seit der indischen Unabhängigkeit 1947 bis 1964, und Nehrus Tochter Indira Gandhi, Premierministerin von 1966 bis 1977 und erneut von 1980 bis 1984. In ihrer Glanzzeit erfreuten sich beide in ganz Indien großer Beliebtheit, über die Grenzen von Klasse, Geschlecht, Religion und Region hinweg, obwohl – wie so oft bei Staatsoberhäuptern, die zu lange im Amt bleiben – ihre letzten Amtsjahre von politischen Fehleinschätzungen geprägt waren, die ihr Ansehen untergruben.

Nehru und Indira Gandhi gehörten der Kongresspartei an, die Indiens Kampf um die Freiheit von der britischen Kolonialherrschaft anführte und nach der Unabhängigkeit drei Jahrzehnte lang an der Macht blieb. Modi hingegen ist Mitglied der Bharatiya Janata Party (BJP), die viele Jahre in der Opposition verbrachte, bevor sie zu dem wurde, als das sie heute erscheint: eine natürliche Regierungspartei. Ein wichtiger ideologischer Unterschied zwischen dem Kongress und der BJP besteht darin, wie sie das Verhältnis zwischen Religion und Staat bewerten. Vor allem unter Nehru setzte sich der Kongress für religiösen Pluralismus ein und folgte damit der verfassungsmäßigen Verpflichtung, den Bürgern „die Freiheit des Denkens, der Meinungsäußerung, des Glaubens und der Religionsausübung“ zu gewährleisten. Die BJP hingegen will eine Dominanz der Mehrheit im indischen Staat: Politik, öffentliche Ordnung und sogar das Alltagsleben sollen klar hinduistisch geprägt sein.

Modi ist nicht der erste BJP-Premier; diese Ehre gebührt Atal Bihari Vajpayee, der 1996 und von 1998 bis 2004 im Amt war. Aber Modi kann eine Macht ausüben, über die Vajpayee nie verfügte, da diesen seine Koalitionsregierung aus mehr als einem Dutzend Parteien zwang, unterschiedliche Ansichten und Interessen zu berücksichtigen. Nun hingegen hat die BJP seit zehn Jahren eine parlamentarische Mehrheit, und Modi ist viel durchsetzungsfähiger, als es der zurückhaltende Vajpayee je war. Vajpayee übertrug Macht an seine Minister, beriet sich mit Oppositionsführern und schätzte Parlamentsdebatten. Modi hingegen hat die Macht in erstaunlichem Maße zentralisiert, die Unabhängigkeit von öffentlichen Institutionen wie Justiz und Medien untergraben, einen Personenkult um sich aufgebaut und verfolgt die ideologischen Ziele seiner Partei mit rücksichtsloser Effektivität.

Trotz seiner Aushöhlung demokratischer Institutionen ist Modi nach wie vor äußerst beliebt. Er ist unglaublich fleißig und politisch scharfsinnig, spürt den Puls der Wählerschaft und passt Rhetorik und Taktik entsprechend an. Linke Intellektuelle tun ihn als reinen Demagogen ab. Aber damit irren sie sich gewaltig. An Engagement und Intelligenz übertrifft er bei weitem seine populistischen Pendants wie den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, den ehemaligen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro oder den ehemaligen britischen Premierminister Boris Johnson. Trotz einer durchwachsenen wirtschaftlichen Bilanz konnte Modi das Vertrauen vieler armer Menschen gewinnen, weil er ihnen Lebensmittel und Kochgas zu stark subventionierten Preisen zur Verfügung stellt und die entsprechenden Programme als sein persönliches Geschenk an sie verkauft. Er hat sich schnell auf digitale Technologien eingelassen, die eine direkte Bereitstellung von Sozialleistungen ermöglichen und die Korruption verringert haben. Auch bei der Infrastrukturentwicklung hat er erhebliche Fortschritte erzielt: Neue Autobahnen und Flughäfen gelten als Beweis für ein aufstrebendes Indien unter Modis Führung.

Modis zahlreiche Anhänger betrachten seine Jahre im Amt als geradezu epochal. In ihren Augen hat er Indien zum Wiederaufstieg verholfen: Unter Modi hat Indien die frühere britische Kolonialmacht überholt und ist zur fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt aufgestiegen. Bald, so denken sie, werde es auch Japan und Deutschland in den Schatten stellen. Indien ist zudem inzwischen das erst vierte Land, dem eine Mondlandung geglückt ist. Doch Modis Wirkung geht über die materiellen Errungenschaften hinaus. Seine Anhänger sind stolz darauf, dass Indien seine zivilisatorischen Wurzeln im Hinduismus wiederentdeckt hat und sich nun verstärkt zu ihnen bekennt. Das habe zu einer erfolgreichen Entkolonialisierung des Geistes geführt – und damit sei die Unabhängigkeit nun sogar wahrer als jene, die die von Mahatma Gandhi angeführte Freiheitsbewegung erreicht hatte. Die Reden des Premierministers sind gespickt mit der Behauptung, Indien stehe an der Schwelle zur Weltspitze. Im Dienste dieser globalen Ambitionen richtete Modis Regierung im vergangenen Jahr das G20-Treffen in Neu-Delhi aus. Die Veranstaltung war sorgfältig choreografiert, um Modi im bestmöglichen Licht zu zeigen, wie er prächtig allein auf der Bühne stand, als er einen Staats- und Regierungschef nach dem anderen begrüßte, darunter US-Präsident Joe Biden, und zu seinem Platz führte. (Getrübt wurde die Party nur durch die planvolle Abwesenheit des chinesischen Staatschefs Xi Jinping, der sich wohl nicht auf Modis prestigeträchtigen Pomp einlassen wollte.)

Und dennoch: Die Zukunft der indischen Republik sieht weit weniger rosig aus als in der von Modi und seinen Gefolgsleuten versprochenen Vision. Seine Regierung hat Konflikte entlang religiöser und regionaler Grenzen, die für zunehmende gesellschaftliche Spannungen sorgen, nicht entschärft. Mehr noch: Sie hat sie aktiv angeheizt. Ihre Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft, die Zerstörung der Umwelt einzudämmen, bedroht die öffentliche Gesundheit und das Wirtschaftswachstum. Aufgrund der Aushöhlung demokratischer Institutionen könnte Indien bald nur noch auf dem Papier eine Demokratie, in der Praxis aber eine Wahlautokratie werden. Indien ist weit davon entfernt, sich zum Vishwa Guru („Lehrer der Welt“) zu entwickeln, wie Modis Lautsprecher behaupten. Es wird wohl eher das bleiben, was es heute ist: eine Mittelmacht mit einer pulsierenden Unternehmenskultur und meist fairen Wahlen, aber schlecht funktionierenden öffentlichen Institutionen und anhaltenden Spaltungen in Bezug auf Religion, Geschlecht, Kaste und Region. Die Fassade von Triumph und Macht, die Modi errichtet hat, verdeckt eine grundlegendere Wahrheit: Eine Hauptquelle für Indiens Überleben als demokratisches Land und für seinen jüngsten wirtschaftlichen Erfolg war stets der politische und kulturelle Pluralismus – und genau den wollen der Premierminister und seine Partei jetzt auslöschen.

Personenkult und politische Dominanz

Indien wurde zwischen 2004 und 2014 von Koalitionsregierungen unter Führung der Kongresspartei regiert. Premierminister war der gelehrte Ökonom Manmohan Singh. Am Ende seiner zweiten Amtszeit war Singh 80 Jahre alt und gesundheitlich angeschlagen, sodass der Kongress bei den Parlamentswahlen 2014 mit dem wesentlich jüngeren Rahul Gandhi ins Rennen ging. Er ist der Sohn von Sonia Gandhi, einer ehemaligen Präsidentin der Kongresspartei, und Rajiv Gandhi, der wie zuvor seine Mutter Indira Gandhi und sein Großvater Nehru Premierminister war. In einem brillanten politischen Schachzug präsentierte sich Modi, der zuvor ein Jahrzehnt lang Ministerpräsident des wichtigen Bundesstaates Gujarat gewesen war, als erfahrener und hart arbeitender Verwaltungsbeamter, der es ganz allein nach oben geschafft habe – ganz im Gegensatz zu Rahul Gandhi, dem Spross einer Dynastie, der nie ein politisches Amt bekleidet hatte und den Modi als privilegiert und verweichlicht darstellte.

Sechzig Jahre Demokratie und drei Jahrzehnte marktwirtschaftlichen Wirtschaftswachstums hatten die Inder zunehmend misstrauisch gegenüber Ansprüchen gemacht, die auf Abstammung oder Privilegien basieren. Modi kam außerdem zugute, dass er ein überzeugenderer Redner war als Rahul Gandhi und dass die BJP die neuen Medien und digitalen Technologien besser nutzte, um auch entlegene Winkel Indiens zu erreichen. Bei den Wahlen 2014 gewann die BJP 282 Sitze gegenüber 116 fünf Jahre zuvor, während die Kongresspartei von 206 auf nur noch 44 Sitze fiel. 2019 trat Modi erneut gegen Gandhi an: Die BJP errang 303 Sitze, der Kongress 52. Mit diesen eindeutigen Siegen hat die BJP nicht nur den Kongress geschlagen und gedemütigt, sondern auch ihre Vorherrschaft gesichert. In den Jahrzehnten zuvor waren indische Regierungen in der Regel bunte Koalitionen, die durch Kompromisse zusammengehalten wurden. Nun verschaffte die solide BJP-Mehrheit Modi einen großen Handlungsspielraum – und freie Hand, seine Ambitionen zu verfolgen.

Modi präsentiert sich als die Verkörperung der Partei, der Regierung und des Landes – als jemand, der nahezu ganz allein die Hoffnungen und Ambitionen der Inder erfüllt. In den vergangenen zehn Jahren ist er vielfach glorifiziert worden: Indien hat das größte Cricket-Stadion der Welt gebaut und nach Modi benannt. Auf den staatlichen COVID-19-Impfzertifikaten findet sich ein Porträt von Modi (das gibt es in keiner anderen Demokratie auf der Welt), auch alle staatlichen Sozialprogramme werden mit einem Foto von Modi präsentiert. Ein amtierender Richter des Obersten Gerichtshofs schwärmte öffentlich, Modi sei ein „Visionär“ und ein „Genie“. Modi wiederum verkündete, er sei von Gott gesandt worden, um Indiens Frauen zu emanzipieren.

Im Einklang mit diesem gigantischen Personenkult hat Modi Regierung und Verwaltung weitgehend zu einem Instrument seines persönlichen Willens gemacht – statt eines Gemeinschaftswerks, bei dem viele Institutionen und Einzelpersonen zusammenarbeiten. Im indischen System, das auf dem britischen Modell basiert, soll der Premierminister eigentlich bloß der Erste unter Gleichen sein. Die Minister sollen in ihren Zuständigkeitsbereichen relativ autonom arbeiten können. Unter Modi jedoch erhalten die meisten Minister und Ministerien ihre Anweisungen direkt aus dem Büro des Premierministers und von ihm loyal gegenüberstehenden Regierungsmitarbeitern. Ebenso ist das Parlament kein Debattenraum mehr, in dem die Ansichten der Opposition bei der Ausarbeitung von Gesetzen berücksichtigt werden. Viele Gesetzesentwürfe werden minutenschnell in mündlicher Abstimmung verabschiedet, wobei die Sprecher beider Kammern äußerst parteiisch agieren. Oppositionsabgeordnete wurden zu Dutzenden – und jüngst sogar zu Hunderten – des Saales verwiesen, weil sie den Premierminister und den Innenminister aufgefordert hatten, Erklärungen zu so wichtigen Themen wie blutigen ethnischen Konflikten in Indiens Grenzgebieten und Sicherheitsverstößen im Parlament abzugeben.

Leider unternimmt der Oberste Gerichtshof wenig, um Angriffe auf die demokratischen Freiheiten einzudämmen. Früher hatte sich das Gericht zumindest gelegentlich für die persönlichen Freiheiten und die Rechte der Provinzen eingesetzt und so die willkürliche Ausübung staatlicher Macht ein wenig gebremst. Seit Modis Amtsantritt hat der Oberste Gerichtshof das Fehlverhalten der Regierung jedoch häufig stillschweigend gebilligt, indem er beispielsweise Gesetze, die eindeutig gegen die indische Verfassung verstoßen, nicht aufgehoben hat. Dazu zählt das Gesetz zur Verhinderung rechtswidriger Handlungen (Unlawful Activities (Prevention) Act), nach dem es fast unmöglich ist, auf Kaution freizukommen. Unter Berufung auf dieses Gesetz wurden Hunderte Studenten und Menschenrechtsaktivisten verhaftet und als „Terroristen“ abgestempelt, weil sie friedlich auf der Straße gegen die Regierung protestiert hatten.

Auch der öffentliche Dienst und das diplomatische Korps neigen zu Gehorsam gegenüber dem Premierminister und seiner Partei, selbst wenn deren Forderungen mit den Verfassungsnormen kollidieren. Das Gleiche gilt für die Wahlkommission, die die Wahlen so organisiert und die Wahlregeln so gestaltet, dass sie den Präferenzen von Modi und der BJP entgegenkommen. Zum Beispiel werden die Wahlen im Bundesstaat Jammu und Kaschmir und zum Stadtrat von Mumbai, der reichsten Stadt Indiens, seit Jahren verschoben – vor allem weil die BJP nicht weiß, ob sie sie gewinnen wird.

Die Modi-Regierung hat zudem systematisch den Raum für demokratischen Dissens verengt: Finanzbeamte nehmen in unverhältnismäßiger Weise Oppositionspolitiker ins Visier. Große Teile der Presse fungieren als Sprachrohr der Regierungspartei, weil sie fürchten, staatliche Anzeigen zu verlieren oder mit Steuerrazzien konfrontiert zu werden. Indien belegt derzeit Platz 161 von 180 im World Press Index, der die Pressefreiheit analysiert. An den einst lebendigen öffentlichen Universitäten soll es möglichst keine freien Debatten mehr geben. Stattdessen hat die University Grants Commission die Vizekanzler angewiesen, „Selfie-Points“ auf den Campussen einzurichten, damit Studierende sich mit einem Bild von Modi fotografieren lassen können.

Der bedrohte Föderalismus

Die systematische Schwächung der demokratischen Grundlagen Indiens ist auch außerhalb des Landes zunehmend bekannt, und NGOs beklagen den Abbau der größten Demokratie der Welt. Doch hat eine weitere grundlegende Herausforderung weniger Aufmerksamkeit erregt: die Aushöhlung der föderalen Struktur des Landes. Indien ist ein Zusammenschluss von Bundesstaaten mit eigenen Regierungen, die auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts für Erwachsene gewählt werden. Laut der indischen Verfassung fallen einige Bereiche wie Verteidigung, Außenpolitik und Währungspolitik in die Zuständigkeit der Regierung in Neu-Delhi. Andere, wie Landwirtschaft, Gesundheit sowie Recht und Ordnung, obliegen den Bundesstaaten. Wieder andere, wie die Wälder und das Bildungswesen, müssen Zentralregierung und Bundesstaaten gemeinsam regeln. Diese Machtverteilung lässt den Regierungen der Bundesstaaten einen beträchtlichen Spielraum bei der Gestaltung und Umsetzung von Maßnahmen für ihre Bürger. Sie erklärt auch die großen politischen Unterschiede innerhalb des Landes – warum beispielsweise die südlichen Bundesstaaten Kerala und Tamil Nadu im Vergleich zu nördlichen Bundesstaaten wie Uttar Pradesh eine weitaus bessere Bilanz bei Gesundheit, Bildung und Geschlechtergerechtigkeit aufweisen.

Als großer ausgedehnter Staatenbund ähnelt Indien den USA. Allerdings bestehen zwischen den indischen Bundesstaaten deutlich größere Unterschiede hinsichtlich Kultur, Religion und vor allem Sprache. In diesem Sinne ähnelt Indien ob der kontinentalen Dimension seiner Vielfalt eher der Europäischen Union. Bengalen, Kannadiga, Keraliten, Odia, Punjabis und Tamilen, um nur einige Völker zu nennen, haben alle eine außerordentlich reiche literarische und kulturelle Geschichte, die sich voneinander unterscheidet – und insbesondere von jener der nordindischen Kernlandstaaten, in denen die BJP dominiert. Während die Koalitionsregierungen diese Heterogenität respektierten und pflegten, versucht die BJP unter Modi auf dreierlei Weise, Einheitlichkeit zu erzwingen: Erstens zwingt sie Hindi, die Hauptsprache des Nordens, auch Bundesstaaten auf, in denen sie kaum gesprochen wird und als unwillkommene Konkurrenz zur Landessprache gilt. Zweitens betreibt sie einen Kult um Modi als einzigen bedeutenden Anführer in Indien. Und drittens nutzt sie die rechtlichen und finanziellen Befugnisse, die der Zen-tralregierung in Neu-Delhi zur Verfügung stehen.

Seit ihrem Amtsantritt hat die Modi-Regierung beharrlich die Autonomie der Regierungen jener Bundesstaaten untergraben, die nicht von der BJP geführt werden. Erreicht hat sie dies teilweise durch das angeblich überparteiliche Amt des Gouverneurs, der in den nicht von der BJP geführten Bundesstaaten oft als Agent der Regierungspartei in Neu-Delhi agiert. Das Nationalparlament hat zudem Gesetze in Bereichen wie der Landwirtschaft, die eigentlich in die Zuständigkeit der Bundesstaaten fallen, verabschiedet, ohne diese anzuhören. Da mehrere wichtige und bevölkerungsreiche Bundesstaaten – darunter Kerala, Punjab, Tamil Nadu, Telangana und Westbengalen – von anderen Parteien als der BJP regiert werden, hat die unverhohlene Feindseligkeit der Modi-Regierung gegenüber ihrer Autonomie für viel böses Blut gesorgt.

Auf diese Weise hat Modi während seiner zehn Jahre im Amt unermüdlich die politische Macht zentralisiert und personalisiert. Schon als Ministerpräsident von Gujarat gab er seinen Kabinettskollegen wenig zu tun und ließ die Regierung von loyalen Bürokraten führen. Außerdem arbeitete er hartnäckig daran, die Zivilgesellschaft und die Presse in Gujarat zu zähmen. Als Modi 2014 Premierminister wurde, übertrug er diesen autoritären Regierungsstil auf Neu-Delhi. Für seinen Autoritarismus gibt es allerdings einen Präzedenzfall: die mittlere Periode von Indira Gandhis Regierungszeit, von 1971 bis 1977, als sie einen Personenkult aufbaute und Partei und Regierung zu einem Instrument ihres Willens machte. Doch unter Modi geht die Unterordnung der Institutionen noch weiter. Sein Regierungsstil ist wie der von Indira Gandhi, nur hoch drei.

Trotz aller Ähnlichkeiten im politischen Stil unterscheiden sich Indira Gandhi und Modi in ihrer politischen Ideologie deutlich. Indira Gandhi war geprägt von der Feuerprobe des indischen Freiheitskampfes, inspiriert vom pluralistischen Ethos Mahatma Gandhis (mit dem sie nicht verwandt war) und ihres Vaters Nehru. Sie fühlte sich zutiefst der Idee verpflichtet, dass Indien seinen Bürgern aller Glaubensrichtungen gleichermaßen gehört. Für sie wie auch für Nehru sollte Indien keine hinduistische Version Pakistans sein – ein Land, das als Heimat für die Muslime Südasiens gedacht war. Indien sollte seine Staatskunst und seine Regierungsführung nicht nach den Ansichten der religiösen Mehrheitsgemeinschaft ausrichten. Die vielen religiösen Minderheiten Indiens – darunter Buddhisten, Christen, Jains, Muslime, Parsen und Sikhs – sollten über den gleichen Status und die gleichen materiellen Rechte wie Hindus verfügen. Modi ist da anderer Ansicht. Er ist vom Hardlinermilieu der hindunationalistischen Bewegung geprägt. Für ihn wurzelt der kulturelle und zivilisatorische Charakter Indiens in der demografischen Dominanz der Hindus – und ihrer angeblich lang unterdrückten Bestimmung.

Der paranoide Triumphalismus der Hindunationalisten

Modis Versuch, dem gegenwärtigen und zukünftigen Indien eine hinduistische Hegemonie aufzuzwingen, fußt auf zwei komplementären Elementen: Beim ersten geht es um Wahlen, um die Schaffung einer konsolidierten hinduistischen Wählerbasis. Der Hinduismus hat nicht die auf etwas Singuläres ausgerichtete Struktur abrahamitischer Religionen wie Christentum oder Islam. Er erhebt nicht einen religiösen Text wie Bibel oder Koran oder eine heilige Stadt wie Rom oder Mekka in einen besonders privilegierten Status. Im Hinduismus gibt es viele Götter, viele heilige Orte und viele Arten der Anbetung. Doch trotz seines pluralistischen rituellen Universums ist das Gesellschaftssystem des Hinduismus, historisch gesehen, höchst ungleich, gekennzeichnet durch hierarchisch organisierte Statusgruppen, die als Kasten bekannt sind. Vertreter unterschiedlicher Kasten heiraten nur selten, selbst das Brot brechen sie kaum miteinander.

Unter Modi versucht die BJP, den pluralistischen Charakter des Hinduismus zu überwinden und bemüht sich deshalb, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen von Hindus in Bezug auf Kaste und Doktrin zu überbrücken. Sie verspricht die Errichtung eines „Hindu Raj“, eines Staates, in dem Hindus die Oberhand haben werden. Modi behauptet, dass die Hindus vor seinem Aufstieg 1200 Jahre lang von muslimischen Herrschern, wie der Mogul-Dynastie, und christlichen Herrschern, wie den Briten, versklavt worden seien. Nun werde er den Stolz der Hindus und ihre Kontrolle über das Land, das ihnen rechtmäßig gehöre, wiederherstellen. Zu diesem Zweck dämonisieren Hindu-Nationalisten systematisch die große muslimische Minderheit Indiens und behaupten, Muslime würden die Verbrechen der früheren muslimischen Herrscher nicht ausreichend bedauern und seien nicht loyal genug gegenüber dem heutigen Indien.

Der Hindutva oder Hindu-Nationalismus ist ein Glaubenssystem, das durch etwas gekennzeichnet ist, was ich „paranoiden Triumphalismus“ nenne. Er will den Hindus Angst machen und sie so zum gemeinsamen Handeln bewegen, um schließlich jene Inder zu beherrschen, die keine Hindus sind. So versucht die BJP, die Hindus dazu zu bringen, als Hindus zu wählen. Hindus stellen etwa 80 Prozent der Bevölkerung. Wenn also unter den Bedingungen eines reinen Mehrheitswahlsystems 60 Prozent von ihnen vor allem auf Basis ihrer Religionszugehörigkeit abstimmten, käme die BJP auf 48 Prozent der Stimmen. Das würde Modi und seiner Partei einen komfortablen Vorsprung verschaffen. Denn bei den Wahlen 2019 reichten der BJP 37 Prozent der Stimmen, um 56 Prozent der Sitze zu erobern.

So groß ist die Geringschätzung der BJP für die politischen Rechte der rund 200 Millionen indischen Muslime, dass sie bei Wahlen nur selten muslimische Kandidaten aufstellt, außer wenn es, wie in der mehrheitlich muslimischen Region Kaschmir, unvermeidlich ist. Dennoch gewinnt sie nationale Wahlen mit großem Abstand. Die BJP hat 397 Abgeordnete in den beiden Kammern des indischen Parlaments. Kein einziger davon ist ein Muslim.

Hindu-Kaiser für die Gegenwart

Diese Wahlsiege haben ermöglicht, das zweite Element der Hindutva durchzusetzen, nämlich dem Charakter des indischen Staates einen ausdrücklich hinduistischen Anstrich zu geben. Modi tritt bei Parlamentswahlen bewusst in Varanasi an, einer alten Stadt mit unzähligen Tempeln, die allgemein als wichtigstes Zentrum der hinduistischen Identität gilt. Er präsentiert sich als Bewahrer hinduistischer Traditionen und behauptet, in seiner Jugend wie die Weisen der Vergangenheit in den Wäldern des Himalaya gewandert zu sein und meditiert zu haben. Er hat erstmalig hinduistische Rituale in den Mittelpunkt wichtiger weltlicher Anlässe gestellt, wie bei der Einweihung eines neuen Parlamentsgebäudes, die er allein vornahm, flankiert von einer Phalanx singender Priester, während die Abgeordneten, die Vertreter des Volkes, auffällig abwesend waren. In ähnlicher Weise führte Modi auch den Vorsitz bei religiösen Ritualen in Varanasi, wobei die Priester „Ruhm dem König“ sangen. Im Januar stand Modi erneut im Mittelpunkt, als er einen großen Tempel in der Stadt Ayodhya eröffnete, angeblich am Geburtsort des Gottes Rama. Wann immer die Fernsehsender geflissentlich solche Veranstaltungen in ganz Indien live übertragen, richten sich ihre Kameras auf die elegant gekleidete Gestalt von Modi. Der selbsternannte Hindu-Mönch der Vergangenheit ist so zum Hindu-Kaiser der Gegenwart geworden, wenn auch nicht in der Substanz, so doch symbolisch.

Der Kaiser profitiert davon, dass er nur wenige plausible Konkurrenten hat. Modis anhaltender politischer Erfolg wird zum Teil dadurch ermöglicht, dass die Opposition zersplittert und nepotistisch ist. In einem verspäteten Versuch, eine dritte Amtszeit der BJP zu verhindern, haben sich nicht weniger als 28 Parteien zusammengeschlossen und wollen die bevorstehenden Parlamentswahlen unter einem gemeinsamen Dach bestreiten. Sie haben sich den Namen Indian National Development Inclusive Alliance gegeben, eine sperrige Bezeichnung, die sich aber auf ein knackiges Akronym eindampfen lässt: INDIA.

Einige Parteien in diesem Bündnis sind in ihren jeweiligen Bundesstaaten sehr stark. Andere haben eine Basis bei bestimmten Kasten. Aber die einzige Partei in diesem Bündnis, die den Anspruch erhebt, eine bundesweite Kraft zu sein, ist der Kongress. Dessen wichtigster Anführer bleibt, trotz seiner miserablen politischen Bilanz, Rahul Gandhi. Bei öffentlichen Auftritten wird er oft von seiner Schwester, die Generalsekretärin der Partei ist, oder seiner Mutter flankiert, was sein Anspruchsdenken noch verstärkt. Auch die großen Regionalparteien, die in Bundesstaaten wie Bihar, Maharashtra und Tamil Nadu Einfluss haben, sind Familienunternehmen, bei denen die Führung oft vom Vater auf den Sohn übergeht. Obwohl ihre lokale Verwurzelung sie bei Wahlen in den Bundesstaaten wettbewerbsfähig macht, sind sie bei landesweiten Wahlen aufgrund ihres dynastischen Hintergrunds deutlich im Nachteil gegenüber einer Partei, die von einem Selfmademan wie Modi geführt wird. Er kann sich als jemand präsentieren, der sich voll und ganz dem Wohl seiner Mitbürger verschrieben hat und kein Träger von Familienprivilegien ist. INDIA wird es daher schwer haben, Modi und die BJP zu stürzen, und kann bestenfalls darauf hoffen, deren überwältigende Mehrheit im Parlament zu schmälern.

Das strategische Schweigen des Westens

Der Premierminister steht auch von außen kaum unter Druck. Unter anderen Umständen könnte man von den Staatschefs westlicher Demokratien ein gewisses Maß an Kritik an Modis autoritärem Vorgehen erwarten. Diese bleibt jedoch aus – teils aufgrund des Aufstiegs von Xi Jinping. Der chinesische Präsident fordert aggressiv die westliche Hegemonie heraus und positioniert China als Supermacht, die den gleichen Respekt und das gleiche Mitspracherecht in globalen Angelegenheiten verdiene wie die USA. Das spielt Modi völlig in die Hände. Brillant hat er das US-Establishment umgarnt und dabei die große, wohlhabende indische Diaspora genutzt, um dem Weißen Haus seine (und Indiens) Bedeutung vor Augen zu führen.

Im April 2023 hat Indien offiziell China als bevölkerungsreichstes Land der Welt abgelöst. Das Land hat die fünftgrößte Wirtschaft der Welt und verfügt über ein großes und recht gut ausgerüstetes Militär. All diese Faktoren machen Indien für die USA als Gegengewicht zu China immer attraktiver. Sowohl die Trump- als auch die Biden-Administration haben Modi gegenüber eine außerordentliche Nachsicht an den Tag gelegt und ihn weiterhin als Anführer der „größten Demokratie der Welt“ gepriesen, selbst wenn diese Bezeichnung unter seiner Herrschaft an Glaubwürdigkeit verliert. Die Angriffe auf Minderheiten, die Unterdrückung der Presse und die Verhaftung von Bürgerrechtlern haben im US-Außenministerium und im Weißen Haus kaum eine gemurmelte Missbilligung hervorgerufen. Die jüngsten Anschuldigungen, wonach die indische Regierung versucht habe, einen US-Bürger mit Sikh-Hintergrund zu ermorden, werden wahrscheinlich ohne Maßnahmen oder auch nur scharfe öffentliche Kritik verhallen. Die Staats- und Regierungschefs Frankreichs, Deutschlands und Großbritanniens wiederum, die sich um einen größeren Anteil am indischen Markt bemühen (nicht zuletzt beim Verkauf von hochentwickelten Waffen), sind sehr gewandt darin, Modi zu schmeicheln.

Gegenwärtig ist Modi im eigenen Land dominant und gegen Kritik aus dem Ausland immun. Die Geschichte und die Historiker dürften sein politisches und persönliches Vermächtnis jedoch etwas weniger positiv beurteilen, als es seine derzeitige Vormachtstellung vermuten lässt. Zum einen trat er 2014 mit dem Versprechen an, für eine starke Wirtschaft zu sorgen, doch seine wirtschaftliche Bilanz ist bestenfalls durchwachsen. Zwar hat die Regierung den beeindruckenden Ausbau der Infrastruktur und die Formalisierung der Wirtschaft durch digitale Technologien beschleunigt, aber die ökonomische Ungleichheit ist sprunghaft angestiegen, während einige der BJP nahestehende Unternehmerfamilien extrem reich geworden sind. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, insbesondere unter jungen Indern, und die Erwerbsquote von Frauen niedrig. Auch sind die regionalen Unterschiede groß und nehmen weiter zu, wobei die südlichen Bundesstaaten bei der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung weitaus besser abschneiden als die nördlichen. Bemerkenswert ist dabei: Keiner der fünf südlichen Bundesstaaten wird von der BJP regiert.

Ein ökologisches Katastrophengebiet

Zusätzlich bedroht wird die Nachhaltigkeit des Wirtschaftswachstums durch die weit verbreitete Umweltzerstörung im ganzen Land. Selbst wenn es keinen Klimawandel gäbe, wäre Indien ein ökologisches Katastrophengebiet. Die Städte des Landes weisen die höchsten Luftverschmutzungsraten der Welt auf. Viele Flüsse sind ökologisch tot, da sie durch ungeklärte Abwässer aus der Industrie und den Haushalten verseucht werden. Die unterirdischen Grundwasserspeicher gehen rasch zur Neige. Ein Großteil des Bodens ist mit Chemikalien verseucht. Die Wälder sind geplündert und werden dank invasiver nichtheimischer Pflanzen immer artenärmer.

Befördert wurde dies durch eine antiquierte Wirtschaftsideologie, die dem Irrglauben anhängt, dass nur reiche Länder verantwortungsvoll mit der Natur umgehen müssen. Indien, so heißt es, sei zu arm, um grün zu sein. Tatsächlich aber müssen sich Länder wie Indien mit ihrer hohen Bevölkerungsdichte und ihren empfindlichen tropischen Ökosystemen genauso oder sogar noch mehr um einen vernünftigen Umgang mit den natürlichen Ressourcen kümmern. Doch sowohl die vom Kongress als auch die von der BJP geführten Regierungen haben der Kohle- und Erdölförderung und anderen umweltschädlichen Industrien freie Hand gelassen. Und keine Regierung hat zerstörerische Praktiken so aktiv gefördert wie die von Modi. Sie hat Umweltgenehmigungen für verschmutzende Industrien erteilt und verschiedene Vorschriften aufgeweicht. Der Umweltwissenschaftler Rohan D‘ Souza schreibt, dass ab 2018 „in Brandrodungsmanier die Aushöhlung und Schwächung bestehender Umweltinstitutionen, -gesetze und -normen auf Wälder, Küsten, Tierwelt, die Luft und sogar die Abfallwirtschaft ausgeweitet wurde“. Als Modi 2014 an die Macht kam, rangierte Indien auf Platz 155 von 178 Ländern, die nach dem „Environmental Performance Index“ bewertet wurden, der die Nachhaltigkeit der Entwicklung mit Blick auf den Zustand von Luft, Wasser, Böden, natürlichen Lebensräumen usw. beurteilt. Im Jahr 2022 lag Indien auf dem letzten Platz, als 180. Land von 180.

Diese verschiedenen Formen der Umweltzerstörung fordern hunderten Millionen Menschen horrende wirtschaftliche und soziale Kosten ab. Die zunehmende Schädigung von Weiden und Wäldern bedroht die Lebensgrundlage der Bauern. Der unkontrollierte Abbau von Kohle und Bauxit verdrängt ganze ländliche Gemeinden und macht ihre Bewohner zu Umweltflüchtlingen. Die Luftverschmutzung in den Städten gefährdet die Gesundheit von Kindern, die dadurch nicht zur Schule gehen, und von Arbeitnehmern, deren Produktivität sinkt. Ohne Gegenmaßnahmen wird all dies kommenden Generationen von Indern immer größere Lasten aufbürden.

Diese künftigen Generationen werden auch die Kosten für die von Modi und seiner Partei betriebene Demontage der demokratischen Institutionen tragen müssen. Eine freie Presse, unabhängige Kontrollinstanzen und eine unparteiische wie furchtlose Justiz sind für die politischen Freiheiten ebenso unerlässlich wie als Gegengewicht zum Missbrauch staatlicher Macht und für ein Klima des Vertrauens unter den Bürgern. Diese Institutionen aufzubauen – oder besser gesagt: wiederaufzubauen –, nachdem Modi und die BJP endlich die Macht abgegeben haben, wird eine mühsame Aufgabe sein.

Die wachsende Kluft zwischen Nord und Süd

Zudem könnte sich 2026 der Druck, unter dem der indische Föderalismus steht, entladen. Dann werden die Parlamentssitze auf Basis der nächsten Volkszählung, die in diesem Jahr durchgeführt wird, neu verteilt. Und damit droht aus den heutigen Unterschieden zwischen Nord und Süd eine echte Kluft zu werden. Schon als 2001 eine Neuverteilung der Sitze auf Grundlage der Bevölkerungszahl vorgeschlagen wurde, argumentierten die südlichen Bundesstaaten, das würde sie diskriminieren. Schließlich hatten sie in den vorangegangenen Jahrzehnten eine fortschrittliche Gesundheits- und Bildungspolitik betrieben, die die Geburtenrate gesenkt und die Freiheit der Frauen gestärkt hatte. Die damalige BJP-geführte Koalitionsregierung erkannte die Argumente der Südstaaten an und schlug mit Zustimmung der Opposition vor, die Neuverteilung um 25 Jahre zu verschieben.

Nun kommt es 2026 zur vereinbarten Neuauflage. Eine vorgeschlagene Lösung besteht darin, das US-Modell zu übernehmen, bei dem die Kongressbezirke die Bevölkerungszahl widerspiegeln, während jeder Bundesstaat, unabhängig von der Bevölkerungszahl, zwei Sitze im Senat hat. Vielleicht könnte eine Umstrukturierung der Rajya Sabha, des Oberhauses des indischen Parlaments, nach ähnlichen Grundsätzen dazu beitragen, das Vertrauen in den Föderalismus wiederherzustellen. Aber wenn Modi und die BJP erneut an die Macht kommen, werden sie mit ziemlicher Sicherheit die Neuverteilung der Sitze nach der Bevölkerungszahl sowohl in der Lok Sabha, dem Unterhaus, als auch in der Rajya Sabha anordnen, was die bevölkerungsreicheren, aber wirtschaftlich rückständigen nördlichen Bundesstaaten erheblich begünstigen würde. Daraufhin werden sich die südlichen Bundesstaaten zum Protest genötigt sehen. Das wird den Föderalismus und die Einheit Indiens vor eine schwere Belastungsprobe stellen.

Die Vorherrschaft der Hindus

Wenn die BJP im Mai einen dritten Wahlsieg in Folge erringt, könnte sich der schleichende Majoritarismus unter Modi in einen galoppierenden Majoritarismus verwandeln. Eine solche zunehmende Vorherrschaft der Hindu-Mehrheit stellt die indische Nation jedoch vor eine grundlegende Herausforderung. Demokratisch und pluralistisch gesinnte Inder warnen vor der Gefahr, dass Indien zu einem Land wie Pakistan wird, das sich durch seine religiöse Identität definiert. Noch deutlicher als warnendes Beispiel könnte Sri Lanka dienen: Mit seiner gebildeten Bevölkerung, der guten Gesundheitsversorgung, der relativ starken Stellung der Frau (im Vergleich zu Indien und allen anderen südasiatischen Ländern), seiner zahlreichen fähigen Fachkräfte und seiner Attraktivität als Reiseziel war Sri Lanka in den 1970er Jahren auf dem besten Weg, neben Singapur, Südkorea und Taiwan zu einem weiteren der sogenannten asiatischen Tigerstaaten zu werden. Doch dann trat eine fatale Mischung aus religiösem und sprachlichem Majoritarismus in Erscheinung. Die singhalesisch sprechende buddhistische Mehrheit formierte sich gegen die tamilisch sprechende Minderheit, die ihrerseits größtenteils aus Hindus bestand. Die Einführung des Singhalesischen als Amtssprache und des Buddhismus als Staatsreligion führten zu einer tiefen Spaltung. Die Proteste der Tamilen verliefen zunächst friedlich, wurden aber zunehmend gewaltsam vom Staat unterdrückt. Es folgten drei Jahrzehnte blutigen Bürgerkriegs. Der Konflikt endete offiziell im Jahr 2009, aber das Land hat sich davon weder in sozialer, wirtschaftlicher, politischer noch psychologischer Hinsicht auch nur annähernd erholt.

Indien wird wahrscheinlich nicht den Weg von Sri Lanka gehen. Ein ausgewachsener Bürgerkrieg zwischen Hindus und Muslimen oder zwischen Nord und Süd ist unwahrscheinlich. Aber die Modi-Regierung gefährdet eine wichtige Quelle von Indiens Stärke: die vielfältigen Formen des Pluralismus. Zum Verständnis sollte man Modis Amtszeit mit den Jahren zwischen 1989 und 2014 vergleichen, als weder die Kongresspartei noch die BJP eine Mehrheit im Parlament hatten. In dieser Zeit mussten die Premierminister andere Parteien in die Regierung einbinden und wichtige Ministerien an deren Spitzenleute vergeben. Dies förderte einen integrativeren und kooperativeren Regierungsstil, der der Größe und Vielfalt des Landes besser gerecht wurde. Jene Staaten, die von anderen Parteien als der BJP oder dem Kongress geführt wurden, sahen sich in der Hauptstadt politisch vertreten, ihre Stimmen wurden gehört und ihre Anliegen berücksichtigt. Der Föderalismus blühte auf, ebenso die Presse und die Gerichte, die über mehr Spielraum für einen unabhängigen Weg verfügten. Es ist vielleicht kein Zufall, dass Indien gerade in dieser Zeit der Koalitionsregierungen drei Jahrzehnte stetigen Wirtschaftswachstums erlebte.

Einheit durch Pluralismus

Als sich Indien 1947 von der britischen Herrschaft befreite, hielten viele Skeptiker das Land für zu groß und zu vielfältig, um als Nationalstaat bestehen zu können, und seine Bevölkerung für zu arm und ungebildet für ein demokratisches Regierungssystem. Viele sagten voraus, dass das Land sich balkanisieren, zu einer Militärdiktatur werden oder eine große Hungersnot erleben würde. Dass diese düsteren Szenarien nicht eintraten, war vor allem der Klugheit der Gründer Indiens zu verdanken, die ein pluralistisches Ethos pflegten, das die Rechte religiöser und sprachlicher Minderheiten respektierte, und die sich um ein Gleichgewicht zwischen den Rechten des Einzelnen und jener des Staates sowie zwischen denen der Zentralregierung und jener der Provinzen bemühten. Durch dieses komplizierte Kalkül konnte das Land geeint und demokratisch bleiben, und seine Bevölkerung überwand schrittweise die historische Bürde von Armut und Diskriminierung.

Im vergangenen Jahrzehnt wurden diese verschiedenen Formen des Pluralismus jedoch systematisch ausgehöhlt. Nun präsentiert sich vor dem Land und vor der Welt nur eine Partei, die BJP, und innerhalb dieser Partei nur ein Mann, der Premierminister, als Vertreter Indiens. Modis Charisma und seine Anziehungskraft auf die Bevölkerung haben diese Dominanz gefestigt, zumindest bei den Wahlen. Doch die Kosten steigen. Hindus versuchen, die Muslime zu dominieren, die Zentralregierung versucht, die Provinzen zu dominieren, und der Staat beschränkt immer stärker die Rechte und Freiheiten der Bürger. Gleichzeitig verursacht die gedankenlose Nachahmung westlicher Modelle einer energie- und kapitalintensiven Industrialisierung tiefgreifende und in vielen Fällen irreversible Umweltschäden.

Modi und die BJP scheinen kurz davor, die dritten Parlamentswahlen in Folge zu gewinnen. Dieser Sieg würde die Aura des Premierministers noch einmal vergrößern und sein Image als Indiens Erlöser festigen. Seine Anhänger werden prahlen, dass ihr Mann sein Land mit Sicherheit zum Vishwa Guru macht, zum Lehrer der Welt. Doch ein solcher Triumphalismus kann nicht über die massiven Verwerfungen hinwegtäuschen, die sich – wenn sie nicht erkannt und behoben werden – in den kommenden Jahren nur noch weiter vertiefen werden.

Deutsche Erstveröffentlichung eines Beitrags des Autors, der unter dem Titel „India’s Feet of Clay. How Modi’s Supremacy Will Hinder His Country’s Rise“ zuerst in der März/April-Ausgabe der „Foreign Affairs” erschienen ist. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Steffen Vogel.

Aktuelle Ausgabe Mai 2024

In der Mai-Ausgabe analysiert Alexander Gabujew die unheilige Allianz zwischen Wladimir Putin und Xi Jinping. Marion Kraske beleuchtet den neu-alten Ethnonationalismus und pro-russische Destabilisierungsversuche auf dem Balkan. Matthew Levinger beschreibt, wie Israel der Hamas in die Falle ging. Johannes Heesch plädiert für eine Rückbesinnung auf die demokratischen Errungenschaften der jungen Bundesrepublik, während Nathalie Weis den langen Kampf der Pionierinnen im Bundestag für mehr Gleichberechtigung hervorhebt. Und Jens Beckert fordert eine Klimapolitik, die die Zivilgesellschaft stärker mitnimmt.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Demokratie im Ernstfall: 75 Jahre Bundesrepublik, 25 Jahre Berlin

von Albrecht von Lucke

Putins Zerstörungskrieg gegen die Ukraine, dazu die hoch gefährliche Eskalation in Nahost, außerdem millionenfache Flucht nach Europa aufgrund von Krieg und Vertreibung: Kurzum, wenn die Republik nun ihren 75. Geburtstag feiert, könnte sich die Lage kaum radikaler verändert haben.

Streichposten Adenauer, Brandt, Schmidt?

von Johannes Heesch

Der Berliner Adenauerplatz steht auf dem Prüfstand. Der Grund der „potentiellen Umbenennung“: In einem „Dossier zu Straßen- und Platznamen mit antisemitischen Bezügen“, erstellt 2021 im Auftrag des Landes Berlin, fällt gleich an erster Stelle, alphabetisch bedingt und dennoch mit enormer Signalwirkung, der Name des ersten Bundeskanzlers der Bonner Republik.