Theaterpädagogin Antje Wagner im Kostüm der 50-er Jahre zeigt ein Bild aus Ellingens Freibad vom Kunststudenten Herbert Bessel aus dem Jahr 1951
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Theaterpädagogin Antje Wagner im Kostüm der 50-er Jahre zeigt ein Bild aus Ellingens Freibad von Herbert Bessel aus dem Jahr 1951

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Wie 70 Kunststudenten eine fränkische Ortschaft aufmischten

Weil die Nürnberger Kunstakademie von Bomben zerstört war, zogen Professoren und Kunststudenten aufs Land. Zehn Jahre lang mischten Künstler die fränkische Kleinstadt Ellingen auf. Für die Ellinger waren es die "Pinselhupfer".

Über dieses Thema berichtet: Frankenschau aktuell am .

Es ist eine Geschichte von Inspiration und neuer Hoffnung. Eine Geschichte, die vor 80 Jahren in der fränkischen Kleinstadt Ellingen ihren Anfang nahm. Ein großes Barockschloss, Ellingens Wahrzeichen, spielt hierbei eine tragende Rolle. Zehn Jahre lang war es die Heimat von Kunstprofessoren und deren Studenten, als Ausweichquartier der Nürnberger Kunstakademie. Wie Künstler und die Landbevölkerung im Krieg, den Hungerjahren und der anschließenden Aufbruchszeit voneinander profitierten, soll nach und nach aufgearbeitet werden. Denn heute noch sind zahlreiche Spuren dieser Zeit zu finden.

Nürnberger Kunstakademie von Bomben zerstört

Ein Bombentreffer hatte im Jahr 1943 das Gebäude der Nürnberger Akademie der Bildenden Künste zerstört. 60 Kilometer südlich von Nürnberg stand ein großes, intaktes Gebäude zur Verfügung, das selbst ein Gesamtkunstwerk ist. Im Winter 44/45 be beenzogen Künstler das große Barockschloss in Ellingen, einige Monate bevor auch die kleine Stadt Ellingen das Ziel von Bombenangriffen wurde. An einem Tag im Februar 1945 waren 94 Todesopfer zu beklagen, zahlreiche Häuser wurden zerstört, das Rathaus zur Hälfte weggerissen. Doch das Wahrzeichen der Stadt blieb unversehrt stehen: das Ellinger Schloss. Zehn Jahre lang wurde es zur neuen Heimat für die bildenden Künste.

Bildhauerwerkstatt im Schloss Ellingen

Zunächst zogen sechs Kunstprofessoren der Nürnberger Kunstakademie und 15 Studenten ins Schloss Ellingen ein. Der Westflügel für die Studenten, der Südflügel für die Professoren, sagt der heutige Hausherr des Westflügels, Gunther Dehnert, Direktor des Kulturzentrums Ostpreußen. "Die Bildhauerwerkstatt war aus statischen Gründen im Erdgeschoss untergebracht", berichtet er, die Malerei weiter oben. Bis zu 70 Studenten sollen in Ellingen ausgebildet worden sein. Die Kunststudenten waren viel in der Stadt unterwegs. Sie zeichneten Gebäude, Menschen im Schwimmbad, Kinder auf einem Dreirad. "Damit gab es zum ersten Mal zahlreiche qualitätvolle Darstellungen der Stadt", so Dehnert. Von der Bevölkerung wurden sie liebevoll oder verächtlich "Pinselhupfer" genannt.

"Pinselhupfer" fertigen zahlreiche Gemälde in Ellingen

Fest steht, dass Kunststudenten und die Bevölkerung durchaus Berührungspunkte hatten. Gemälde fürs Schlafzimmer gabs als Gegenleistung für ein Bett und eine warme Mahlzeit. Kinder haben sich als Aktmodelle Geld verdient. Und Künstler halfen später mit ihren Gestaltungsfertigkeiten beim Wiederaufbau. Roswitha Buff vom Verein "Freundeskreis Barockstadt Ellingen" hat zahlreiche Gespräche mit Zeitzeugen geführt. "Es hat sich ein Mann aus Duisburg gemeldet, der als Kind Modell gestanden ist", sagt sie. Dieser schwärmte von einer wunderbaren Zeit in Ellingen. Auch Roswitha Buffs Eltern hatten zahlreiche Gemälde von Kunststudenten im Haus. Im zweiten Stock des Westflügels hat der Verein eine Ausstellung initiiert, lauter Gemälde mit "Ellinger Ansichten". Etliche stammen noch von damals. Und es sieht so aus, als könnte dies der Anfang sein für eine größere Initiative, dieses Kapitel der Stadtgeschichte der Vergessenheit zu entreißen.

Krasse Künstlerfeste und Exkursion nach Paris

Einige Fotos sind von aufregenden Künstlerfesten überliefert. Dies waren bunte Mottopartys, deren Dekorationen die Kunststudierenden aufwändig gestaltet hatten. Zu einem Fest aus der Unterwasserwelt wurde ein aus dem Boden herausragendes Schiffswrack aufgebaut. An der Decke hingen Wasserleichen aus Gips. Für ein Künstlerfest nach einer Paris-Reise gestalteten die Künstler eine zweistöckige Fassade mit Cafés und dem Rad des berühmten Varieté-Theaters Moulin Rouge. Und für Humor der Professoren spricht der Party-Titel "Die Kakadumie der billigen Dünste". Zu diesen Faschingsfesten mit Kostümpflicht war die Ellinger Bevölkerung eingeladen, erzählt Roswitha Buff. Über die Eintrittspreise haben sich die finanziell äußerst klammen Studentinnen und Studenten Materialien und Farben finanziert.

Neue Freiheit und Aufbruchsstimmung

Zur Exkursion nach Paris Anfang der 1950-er Jahre durften im Reisebus auch einige Ellingerinnen mitfahren. "Eine Reise, die sie vermutlich niemals vergessen haben", sagt Antje Wagner, Theaterpädagogin. "Sie haben mit den Studenten eine ganz neue Freiheit kennengelernt." Antje Wagner führt als "Pinselhupferin Luise" Schulklassen durchs Schloss. "Die Figur der Pinselhupferin verkörpert diese Aufbruchsstimmung, die Lust, nach all dem Kriegsdrama und Leid wieder etwas Neues zu gestalten", sagt Wagner.

Prekäre Verhältnisse und geistige Auseinandersetzung

Die Studierenden als auch Professoren kamen aus Gefangenenlagern und Lazaretten zurück, die Räume im Schloss waren kalt und leer. Die Lage war insgesamt prekär, geht aus einem Bericht des damaligen Professoren Wunibald Puchner hervor. Die Studenten betrieben eine kleine Mensa, um die größte Ernährungsnot zu lindern. Doch habe die geringe Studierendenzahl eine "lebendige geistige Auseinandersetzung ermöglicht, die für die künstlerische Bildung der jungen Menschen von nicht geringer Bedeutung war", so Puchner. Eine Handvoll der in Ellingen ausgebildeten Künstler sind später weltberühmt geworden.

Künstler erlangten später Weltruhm

So wurde etwa Heinz Schillinger später selbst Grafikprofessor und heimste mit dem Design von Briefmarken hunderte Preise ein. Michael Mathias Prechtl interpretierte Albrecht Dürer neu. Der Architekt Sep Ruf designte als junger Mann in Ellingen Gebäude und Häuserfassaden. Später schuf er in Nürnberg zahlreiche Gebäude, unter anderem das heute noch genutzte Gebäude der Akademie der Bildenden Künste beim Nürnberger Tiergarten. In Ellingen gestaltete einer der Professoren eine neue Christusfigur für die evangelische Kirche. "Er sieht aus wie ein Kriegsgefangener", meint Roswitha Buff.

Zeitzeugengespräche und neue Künstlerfeste

Dieses Kapitel der Stadtgeschichte soll nach dem Willen des Freundeskreises Barockstadt Ellingen jetzt noch ausführlicher aufgearbeitet werden. "Mir haben Ellinger immer wieder mit leuchtenden Augen von dieser Zeit erzählt", sagt Roswitha Buff. Auch Ellingen sei damals von Not und Elend des Krieges geprägt gewesen. "Wenn man sich daran erinnert, wird wieder deutlich, welche Errungenschaften Demokratie und die Freiheit sind", so Roswitha Buff. Schülerinnen und Schüler der Grundschule bekommen demnächst Besuch von Künstlern und gestalten mit ihnen zusammen Werke. Und vielleicht werden auch die Künstlerfeste in Zukunft nochmal neu interpretiert. Ideen dazu gibt es bereits.

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