Bei weitem nicht alle, die als muslimisch wahrgenommen werden, sind auch religiös – geschweige denn in einem der Islam-Verbände organisiert.
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Bei weitem nicht alle, die als muslimisch wahrgenommen werden, sind auch religiös – geschweige denn in einem der Islam-Verbände organisiert.

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Muslime in Deutschland: Nicht alle sind religiös

Wer Muslim ist, ist automatisch fromm - diese Meinung wird oft vertreten. Doch in Verbänden sind die wenigsten organisiert. Dennoch werden oft alle "in einen Topf geworfen". Sollte man die Kategorie "muslimisch" mehr hinterfragen?

Über dieses Thema berichtet: radioWelt am .

"Die hier lebenden Muslime haben Anspruch auf Schutz vor rechtsextremer Gewalt", stellte Vizekanzler Robert Habeck in einer Anfang November veröffentlichten Rede klar. Der Grünen-Politiker sagte aber auch dies: "Sie müssen sich klipp und klar von Antisemitismus distanzieren, um nicht ihren eigenen Anspruch auf Toleranz zu unterlaufen."

Die Worte fanden viel Zuspruch. Habeck war damit einer von vielen, die in den vergangenen Wochen von Muslimen forderten, sich von Terror und Antisemitismus zu distanzieren. Laut deutscher Islamkonferenz betrifft das 5,3 bis 5,6 Millionen Menschen in Deutschland. Doch wer ist überhaupt gemeint, wenn von "Muslimen" die Rede ist?

"Die" muslimische Community gibt es nicht

Einen Hinweis geben kann das Modellprojekt "Muslimisch gelesene Vielfalt im Gespräch" von der Türkischen Gemeinde in Deutschland. Das Projekt will Vielfalt sichtbar machen. Beteiligt sind Türkeistämmige, Aleviten und Jesiden. "Wir haben auch atheistische Menschen, eigentlich alle Menschen, die von außen muslimisch wahrgenommen, muslimisch adressiert werden, aber vielleicht selbst gar nicht muslimisch sind", sagt Projektleiterin Sevinç Kuzuoğlu.

"Die" muslimische Community gebe es nicht. Aber vielen Menschen würden die Stempel "muslimisch" und "religiös" aufgedrückt, verbunden mit der klischeehaften Vorstellung, die meisten Musliminnen und Muslime seien gut organisiert. Dabei ist nach Angaben von Kuzuoğlu nur ein Bruchteil der Muslime an Verbände "irgendwie angedockt", vom Rest wisse man es nicht.

Das heißt aber auch, dass der Rest keine Verbände oder Sprecher hat, die sich zum Beispiel in ihrem Namen von Antisemitismus distanzieren könnten. Sie haben keine politische Stimme.

"Manche sind eben in veganen Räumen organisiert, manche in feministischen Räumen, wiederum manche sind interreligiös unterwegs", erklärt Kuzuoğlu. "Und sehr viele, die mir im Projekt begegnet sind, sind einfach gar nicht organisiert, sondern gehen vielleicht einfach nur einmal die Woche zum Freitagsgebet oder zum Fastenbrechen."

"Säkularisierungstendenzen" bei Muslimen

Was alle aber vereine: das an sie herangetragene Klischee, als Muslim oder Muslimin automatisch in Verbänden aktiv zu sein. Darunter litten die meisten, so Kuzuoğlus Erfahrung, denn aus einer diversen Gruppe von Menschen würde in der politischen und medialen Vorstellung eine einheitliche, als hochreligiös identifizierte Gruppe.

"Wir müssten wahrnehmen, dass es auch bei dieser Bevölkerungsgruppe Säkularisierungstendenzen gibt", sagt auch der Islamwissenschaftler Matthias Rohe von der Universität Erlangen - bei vielen schon seit Jahrzehnten. "Wenn wir beispielsweise an die muslimische Bevölkerung denken, die eine Familiengeschichte auf dem Balkan hat oder auch zum Teil in der Türkei: Da gibt es ja solche Tendenzen seit sehr langer Zeit, und das hat sich auch schon in der ersten Einwanderergeneration niedergeschlagen."

11. September 2001 beförderte Etikett "muslimisch"

Aus einer Studie der deutschen Islamkonferenz ist bekannt, dass sich zum Beispiel Menschen mit iranischem Migrationshintergrund nur noch zu 29 Prozent als muslimisch verstehen. Die gleiche Studie zeigt auch: Während sich die erste Generation von zugewanderten Musliminnen und Muslimen noch häufig als religiös versteht, sind in Deutschland geborene Musliminnen und Muslime oft weniger gläubig.

Während jahrzehntelang Menschen als "Ausländer" bezeichnet wurden oder zum Beispiel von "den Türken" oder "den Jugoslawen" die Rede war, liegt der Fokus seit dem Terrorangriff vom 11. September 2001 auf Religionszugehörigkeit. Dass sich die Attentäter sich auf den Islam beriefen, wurde auch in Deutschland zum Anlass genommen, die Debatte über Minderheiten zu verändern. Muslimisch sein wurde zur entscheidenden Kategorie für Politik und Medien – bis heute. Auch Menschen, für die Religion eigentlich keine große Rolle spielt, werden so zu Muslimen gemacht – und unter Umständen auch stigmatisiert.

"Vielfalt anerkennen und gesellschaftlich nutzen"

Studien zeigen: Durch diese anhaltende Fremdzuschreibung und auch Diskriminierung identifizierten sich Menschen dann tatsächlich als muslimisch, nicht etwa aufgrund einer wirklichen religiösen Überzeugung. "So, wie die Diskurse laufen, werden wir der Diversität, die wir tatsächlich hier haben, nicht und nie gerecht", ist Kuzuoğlu vom Modellprojekt "Muslimisch gelesene Vielfalt im Gespräch" überzeugt.

Stattdessen müsse man die "tatsächliche Diversität sehen" und "von ihren Ressourcen Gebrauch machen". Diese Vielfalt ist jedenfalls langsam auch in der Öffentlichkeit wahrnehmbar – von islamischen Theologinnen und Theologen an deutschen Universitäten bis zu muslimischen Schriftstellern oder Politikerinnen, von religiös bis säkular.

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